Alexander Dumas Sohn
Die Dame mit den Kamelien
Alexander Dumas Sohn

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XIII.

Armand, durch diese von seinen Tränen oft unterbrochene Erzählung erschöpft, drückte beide Hände auf die Stirn und schloß die Augen, entweder um nachzusinnen oder um einzuschlafen, nachdem er mir das von Margaretens Hand geschriebene Tagebuch gegeben hatte.

Bald erkannte ich an Armands schnelleren Atemzügen, daß er schlief, aber sein Schlaf war offenbar so leicht, daß er durch das geringste Geräusch verscheucht werden konnte.

Ich las folgendes, das ich Wort für Wort abschreibe, ohne eine Silbe hinzuzusetzen oder wegzulassen.

»Heute ist der 15. Dezember. Ich bin seit drei bis vier Tagen leidend. Heute muß ich das Bett hüten; das Wetter ist trübe, ich bin traurig, es ist niemand bei mir. Ich denke an Dich, Armand. Wo bist Du in diesem Augenblicke, wo ich diese Zeilen schreibe? Weit, weit von Paris, wie man mir gesagt hat, und vielleicht hast Du die arme Margarete schon vergessen. Nun, ich wünsche Dir von Herzen Glück, ich verdanke Dir ja die einzigen freudevollen Augenblicke meines Lebens.

Ich konnte dem Wunsche nicht widerstehen, Dir eine Aufklärung über mein Benehmen zu geben, und ich hatte Dir einen Brief geschrieben; aber ein solcher Brief von einem Mädchen, wie ich bin, geschrieben, kann als eine Lüge betrachtet werden, wenn ihm nicht der Tod das Siegel der Wahrheit aufdrückt und ihn zum feierlichen Bekenntnis macht.

Heute bin ich krank; ich kann an dieser Krankheit sterben, denn ich habe immer eine Ahnung gehabt, daß ich jung sterben werde. Meine Mutter ist an einem unheilbaren Brustleiden gestorben und meine bisherige Lebensweise hat dieses angeerbte Übel, mein einziges Erbteil, das ich von ihr aufzuweisen habe, nur verschlimmern können; aber ich will nicht sterben, ohne daß Du weißt, was Du von mir zu halten hast, vorausgesetzt, daß Du Dich um das arme Mädchen, das Du einst so innig liebtest, nach Deiner Rückkehr noch kümmerst.

Der Inhalt des Briefes, den ich nicht an Dich abgeschickt habe, ist folgender: Ich nehme diese Zeilen mit Freuden hier auf, um Dir einen neuen Beweis meiner Rechtfertigung zu geben.

Du erinnerst Dich, Armand, wie uns die Ankunft Deines Vaters zu Bougival überraschte; Du erinnerst Dich des unwillkürlichen Schreckens, den mir diese Ankunft verursachte, des Auftrittes, der zwischen Dir und ihm stattfand und den Du mir am Abend erzähltest.

Als Du am folgenden Tage zu Paris warst und vergebens Deinen Vater erwartetest, erschien ein Mann in meiner Wohnung und brachte mir einen Brief von Herrn Duval.

Dieser Brief, den ich hier beilege, bat mich in den dringendsten Ausdrücken, Dich am folgenden Tage unter irgendeinem Vorwande von Bougival zu entfernen und Deinen Vater zu empfangen, der mit mir zu reden habe, und empfahl mir hauptsächlich das tiefste Stillschweigen über diese beabsichtigte Unterredung.

Du weißt, wie dringend ich Dich nach Deiner Rückkehr aufforderte, am folgenden Tage wieder nach Paris zu gehen.

Du warst seit einer Stunde fort, als Dein Vater kam. Ich schweige von dem Eindruck, den sein ernstes Gesicht auf mich machte. Dein Vater war der Meinung, jede Buhlerin sei ein herzloses, beinahe vernunftloses Wesen, eine Art Maschine zum Zusammenraffen des Goldes, die, gleich den eisernen Maschinen, jederzeit bereit sei, die Hand, die ihr etwas darreicht, zu zermalmen und jenen, der ihr Dasein fristet, blindlings und erbarmungslos zu vernichten.

Dein Vater, der mir einen sehr anständigen Brief geschrieben hatte, um mich günstig zu stimmen, zeigte sich bei seinem Erscheinen nicht ganz so, wie er geschrieben hatte. In den ersten Worten, mit denen er mich anredete, war so viel Hochfahrendes, Ungebührliches und selbst Drohendes, daß ich mich genötigt sah, ihm verstehen zu geben, ich sei in meinem Hause und habe ihm nur wegen meiner aufrichtigen Zuneigung zu seinem Sohne Rechenschaft über mein Tun und Lassen zu geben.

Herr Duval wurde etwas gelassener, machte dabei jedoch die Bemerkung, er könne nicht länger dulden, daß sich sein Sohn um meinetwillen zugrunde richte; ich sei allerdings schön, aber ich dürfe meine Schönheit nicht mißbrauchen, um durch einen Aufwand, wie ich ihn mache, die ganze Zukunft eines jungen Mannes zu vernichten.

Hierauf war nur eins zu antworten, nicht wahr? Ich mußte Deinem Vater beweisen, daß ich kein Opfer gescheut hatte, um Dir treu zu bleiben, ohne Dir größere Ausgaben aufzubürden, als Du bestreiten konntest. Ich zeigte ihm die Leihhausscheine, die Quittungen von Personen, denen ich andere Sachen, die nicht versetzt werden konnten, verkauft hatte; ich sprach von meinem Entschlusse, meine sämtlichen Möbel zu verkaufen, um meine Schulden zu bezahlen und mir selbst ein kleines Einkommen zu gründen. Ich schilderte ihm das Glück, das ich Dir verdankte, und das stille, anspruchlose, aber an Freuden so reiche Leben, das wir seit meiner Entfernung von Paris geführt; er wurde endlich überzeugt, reichte mir die Hand und bat mich um Verzeihung wegen der schonungslosen Sprache, die er anfangs gegen mich geführt.

Dann sagte er zu mir:

»Ich werde nun nicht mehr durch Vorwürfe und Drohungen, sondern durch Bitten ein Opfer von Ihnen zu erlangen suchen, welches größer ist als alle jene, die Sie meinem Sohne bisher gebracht haben.«

Ich zitterte bei dieser Vorrede. Dein Vater, dem meine Besorgnis nicht entging, faßte meine beiden Hände und fuhr in zutraulichem Tone fort:

»Mein Kind, nehmen Sie mir nicht übel, was ich Ihnen sagen werde, sehen Sie nur ein, daß uns das Leben zuweilen in eine traurige Notwendigkeit versetzt, der man sich unterwerfen muß. Sie haben ein edles Herz, ein edleres als viele Frauen, die vielleicht mit Verachtung auf Sie herabblicken. Aber bedenken Sie, daß neben der Geliebten die Familie steht; daß es außer der Liebe auch Pflichten gibt; daß den Jahren der Leidenschaften das reifere Alter folgt, in welchem der Mann einer sicheren, ehrenvollen Stellung bedarf, um geachtet zu werden. Mein Sohn besitzt kein Vermögen, und dennoch ist er bereit, Ihnen sein mütterliches Erbteil zu überlassen. Wenn er das Opfer, das Sie ihm bringen wollen, annähme, so würde er es seiner Ehre und Würde schuldig sein, Ihnen zum Ersatz diese Schenkung zu machen, durch welche Sie stets vor gänzlichem Mangel geschützt sein würden. Aber dieses Opfer kann er nicht annehmen, weil die Welt, welche Sie nicht kennt, in dieser Einwilligung einen unedlen Beweggrund finden würde, und von solchem Vorwurf muß unser makelloser Name frei bleiben. Die Welt fordert gewisse Rücksichten und stellt gewisse Ansprüche an jedermann, der eine geachtete Stellung behaupten will. Man würde nicht berücksichtigen, ob Armand Sie liebt, ob Sie ihn lieben, ob diese doppelte Liebe für ihn ein Glück und für Sie eine Sühne ist; man würde nur das eine sehen, daß Armand Duval von einer fille entretenue – verzeihen Sie mir, mein Kind, was ich nicht verschweigen darf – ein solches Opfer angenommen hat. Verlassen Sie sich darauf, der Tag der Vorwürfe und der Reue würde für Sie kommen, wie für alle anderen, und am Tage der Reue würden beide mit Fesseln, die Sie nicht zerbrechen könnten, beladen sein. Was würden Sie dann tun? Ihre Jugend wäre dahin, die Zukunft meines Sohnes vernichtet, und ich, sein Vater, würde nur von dem einen meiner Kinder den Lohn erhalten, den ich von beiden erwartete.

Sie sind jung, Sie sind schön, das Leben wird Sie trösten; Sie haben ein edles Gemüt, und das Bewußtsein einer guten Handlung wird Ihnen ein süßer Ersatz sein für manches, was Sie aus der Vergangenheit zu bereuen haben. Seit sechs Monaten, daß Armand Sie kennt, hat er mich vergessen. Viermal habe ich ihm geschrieben, ohne daß er mir geantwortet hat. Ich hätte sterben können, er wäre es nicht gewahr geworden, und Sie würden einst die Reue über diesen Undank mit ihm teilen.

Wie Sie auch immer Ihren Lebensplan entworfen haben und wie fest auch Ihr Entschluß sei, anders zu leben, als Sie vormals gelebt haben, so wird doch Armand bei seiner Liebe zu Ihnen nie in die Abgeschlossenheit und Einsamkeit willigen, zu welcher seine beschränkten Mittel Sie verurteilen würden, und die für Ihre Schönheit nicht gemacht ist. Wer weiß, was er dann tun würde? Er hat gespielt, ich habe es erfahren, und ich weiß auch, daß er Ihnen nichts davon gesagt hat; aber in einem Augenblicke der Trunkenheit hätte er einen Teil meines seit vielen Jahren ersparten und für die Ausstattung meiner Tochter, für ihn und für die Ruhe meiner alten Tage bestimmten Vermögens verlieren können. Was hätte geschehen können, kann noch geschehen! Wenn mein Sohn Schulden macht, wenn er verliert, so werde ich zahlen, denn ich will lieber ein Bettler werden als auf Armands Ruf einen Makel zu lassen. Wer würde dann meine Tochter versorgen? Die Zukunft dreier Menschen würde durch diesen einen Schlag vernichtet werden; die Zukunft eines Mannes, den Sie lieben, eines Vaters, der Ihnen nichts getan hat, und eines armen jungen Mädchens, das mir vielleicht einst die Vereitlung des geträumten Glückes vorwerfen und meine Schwäche verwünschen würde. Dies alles, ich gebe es zu, ist die Übertreibung des Möglichen, aber es kann sich ereignen. Überdies muß sich Armand eine Stellung gründen, er muß heiraten und eine Stütze im Alter haben.

Wissen Sie gewiß, daß das Leben, welches Sie um seinetwillen aufgeben, nie wieder einen Reiz für Sie haben wird? Wissen Sie gewiß, daß Sie nie einen anderen lieben werden? Wird es Ihnen nicht weh tun, wenn Sie Ihrem Geliebten in seinem Fortkommen hinderlich sind und wenn Sie ihm vielleicht weder Trost noch Ersatz bieten können für die Fruchtlosigkeit seiner ehrgeizigen Bestrebungen, die mit den Jahren an die Stelle der Liebesträume treten? Bekennen Sie dies alles, mein Kind, Sie lieben Armand, beweisen Sie es ihm durch das einzige Mittel, das Ihnen noch übrig bleibt; bringen Sie seiner Zukunft Ihre Liebe zum Opfer. Jetzt ist noch kein Unglück geschehen, aber es würde vielleicht noch ein größeres geschehen, als ich voraussehe. Armand kann eifersüchtig werden auf einen Mann, der Sie geliebt hat, er kann ihn herausfordern, kann sich schlagen und im Zweikampf fallen ... und bedenken Sie, wie viel Sie leiden würden, im Angesicht des Vaters, der Rechenschaft von Ihnen fordern würde über das Leben seines Sohnes.«

Ich vergoß stille Tränen, als ich alle diese Gründe anhörte, die ich selbst gar oft erwogen hatte und die in dem Munde Deines Vaters eine noch ernstere Wirklichkeit annahmen. Ich sagte mir alles, was Dein Vater mir nicht zu sagen wagte, und was ihm zwanzigmal auf den Lippen geschwebt hatte; daß ich im Grunde doch nur eine fille entretenue sei, und daß unser Verhältnis, welche Gründe ich auch immer dafür anführte, dennoch den Anschein einer Berechnung haben würde; daß mein früheres Leben mich nicht berechtigt, eine solche Zukunft zu träumen, und daß ich eine mehrfache Verantwortlichkeit, für welche mein Leben und mein Ruf keine Gewähr bietet, zu übernehmen willens sei. Kurz, ich liebte Dich, Armand. Die väterlich warnenden Worte, die Dein Vater zu mir sprach, die keuschen Gefühle, die er in mir, dem unglücklichen, verlorenen Mädchen, weckte, die Achtung dieses ehrenwerten Greises und Deine Achtung, deren ich für die Zukunft gewiß war, – dies alles weckte in meinem Herzen edle Gefühle, die mich in meinen eigenen Augen erhoben und mich zu hohen Entschlüssen begeisterten. Als ich mir dachte, daß dieser Greis, der die Zukunft seines Sohnes in meine Hand legte, einst seine Tochter bitten werde, meinen Namen in ihr Gebet einzuschließen, wie den Namen einer geheimnisvollen Freundin, fühlte ich mich ganz umgewandelt und ich war stolz auf mich selbst.

Die Begeisterung des Augenblicks übertrieb vielleicht die Wahrheit dieser Eindrücke, aber dies waren meine Gefühle, lieber Armand, und diese neuen Gefühle brachten die Erinnerung an die glücklichen Tage, die wir zusammen verlebt hatten, zum Schweigen.

»Es ist gut, Herr Duval,« sagte ich zu Deinem Vater, indem ich meine Tränen trocknete. »Glauben Sie, daß ich Ihren Sohn liebe?«

»Ja,« erwiderte er.

»Halten Sie meine Liebe für uneigennützig?«

«Ja.«

»Glauben Sie, daß diese Liebe die Hoffnung, der Wonnetraum und die Sühne meines Lebens war?«

»Ich bin fest davon überzeugt.«

»Nun, so küssen Sie mich einmal, wie Sie Ihre Tochter küssen würden, und ich schwöre Ihnen, daß dieser Kuß, der einzige wahrhaft keusche, den ich je erhalten, mich stark machen wird gegen meine Liebe, und daß Ihr Sohn binnen acht Tagen wieder bei Ihnen sein wird, – vielleicht unglücklich auf einige Zeit, aber geheilt auf immer.«

»Sie sind ein edles Mädchen,« erwiderte Dein Vater, indem er mich auf die Stirne küßte, – »und Sie fassen einen Entschluß, den Gott nicht unbelohnt lassen wird, aber ich fürchte sehr, daß Sie von meinem Sohne nichts erlangen werden.«

»Oh! tragen Sie keine Sorge, Herr Duval; er soll mich hassen.«

Es mußte eine Schranke zwischen uns errichtet werden, Armand, die für uns beide unübersteiglich war.

Ich schrieb an Prudence, daß ich den Anträgen des Grafen von R*** Gehör schenke, und ersuchte sie, ihm zu sagen, daß ich mit ihr und ihm soupieren würde.

Ich siegelte den Brief, und ohne Deinem Vater zu sagen, was er enthielt, ersuchte ich ihn, denselben nach seiner Ankunft in Paris abgeben zu lassen.

Er fragte mich gleichwohl, was er enthalte.

»Das Glück Ihres Sohnes,« antwortete ich.

Dein Vater küßte mich noch einmal. Ich fühlte auf meiner Stirn zwei Tränen des Dankes, welche gleichsam die Sühne meiner früheren Vergehen waren, und in dem Augenblicke, wo ich einen Entschluß faßte, den Du für einen Verrat an unserer Liebe halten konntest, fühlte ich mich voll stolzen Selbstbewußtseins, wenn ich bedachte, was ich durch diesen Entschluß wieder gut machte.

Es war ganz natürlich, Armand; Du hattest mir gesagt, Dein Vater sei der rechtschaffenste Mann, den man finden könne.

Herr Duval setzte sich wieder in den Wagen und kehrte nach Paris zurück.

Meine Liebe zu Dir ist unverändert geblieben, und als ich Dich wieder sah, brach ich unwillkürlich in Tränen aus, aber mein Entschluß wankte nicht.

Habe ich recht getan? Diese Frage lege ich mir jetzt vor auf dem Krankenlager, das ich vielleicht lebend nicht wieder verlassen werde.

Du bist Zeuge gewesen von meinem Schmerz, der immer größer wurde, je näher die Stunde unserer unvermeidlichen Trennung kam. Dein Vater war nicht mehr da, um mich in meinem Vorhaben zu unterstützen, und es gab einen Augenblick, wo ich schon im Begriffe war, Dir alles zu gestehen, so furchtbar war mir der Gedanke, daß Du mich hassen und verachten würdest.

Du wirst vielleicht nicht glauben, Armand, daß ich zu Gott inbrünstig um Kraft betete; er nahm mein Opfer an, denn er gab mir die Kraft, um die ich ihn anflehte.

Bei dem Souper bedurfte ich noch einer Hilfe, um meinen Mut aufrecht zu erhalten. Wer hatte wohl jemals gedacht, daß Margarete Gautier bei dem bloßen Gedanken an einen neuen Geliebten so sehr leiden würde? ... Ich berauschte mich, mein unendlicher Schmerz wurde in Champagner ersäuft ...

Dies ist die vollständige Wahrheit, lieber Freund. Urteile nun, ob ich recht gehandelt habe, und verzeihe mir, so wie ich Dir allen Schmerz verzeihe, den Du mir seit jenem Tage verursacht hast.«


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