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Sechstes Kapitel

Die Wirtschaft zum Sonnengarten ist schon außerhalb der eigentlichen Stadt.

Es ist keine anregende Gegend.

Halbfertige Straßen, halbfertige Häuser, eingefriedigte Bauplätze und Schuttablagerungsstätten sind allenthalben zu sehen.

Dann und wann auch eine grüne Stelle, wo dürftiges zertretenes Gras wächst. Hier tummeln sich die Kinder, spielen ihre alten hergebrachten Spiele.

Die Knaben schlagen den Ball oder exerzieren, mit Stangen und hölzernen Säbeln bewaffnet. Die Mädchen singen ihr Ringelringelreihen und werden ab und zu von den übermütigen Knaben gejagt und auseinandergetrieben.

Hier also liegt die Wirtschaft zum Sonnengarten und sie verdient ihren Namen insofern mit vollem Recht, als vor dem niederen schmucklosen Giebelhaus mit der Laterne über der Haustür und den Eisenstangen zum Anbinden der Pferde ein mit einer Taxushecke eingefriedigtes Plätzchen den Namen Garten in Anspruch nehmen kann, ein Plätzchen, das im übrigen mehr Sonne als Schatten bietet.

Nur ein einziger Baum steht in der Ecke des Gärtchens, er ist dürftig belaubt und das Laub hat ein eigenartiges, verstaubtes, dunkelfarbiges Aussehen.

In dem Schatten dieses Baumes ist ein einfacher hölzerner Tisch aufgeschlagen, einige eiserne Klappstühle sind anscheinend mehr aus dem Gesichtspunkt der Billigkeit als der Bequemlichkeit aufgestellt. Der übrige Raum harrt noch der Ausnützung, denn der Sonnengarten ist noch in der Entwicklung begriffen.

Der Zulauf von Gästen beschränkt sich, von einzelnen Wanderern oder vorüberfahrenden Fuhrleuten abgesehen, auf die besonderen Freunde des Wirts und einige Nachbarn, und diese finden, wenn sie den Aufenthalt im Freien der dumpfen Wirtsstube vorziehen, ausreichend Platz an dem vorgenannten Stammtische.

Der Wolkenschleier am Himmel hat sich allmählich verzogen und die Sonne ringt sich durch. Es beginnt sogar schon wieder heiß zu werden, obwohl es dem Abend zugeht.

Das empfindet auch Schutzmann Häfele, der nun über eine Stunde seinen Dienstgang ausführt.

Er lüftet den schweren Helm und trocknet sich mit einem buntgeblümten Taschentuche die perlende Stirne.

Er ist mißgestimmt, denn alle seine Nachforschungen sind erfolglos geblieben. Es ist, wie wenn sich alles scheu zurückzöge, sobald der Mann des Gesetzes kommt. Kein Mensch will etwas wissen von dem, worüber die ganze Stadt spricht, und er kommt mehr und mehr zur Überzeugung, daß man dem Wachtmeister Rink oder gar dem Herrn Polizeiinspektor einen Bären aufgebunden hat.

Mit Absicht hat er die Peripherie der Stadt aufgesucht, denn wenn irgendwo etwas vor sich gegangen ist, so ist es außerhalb zu suchen.

Es ist also nicht etwa so, daß ihn das einsame, abgelegene Sonnengärtchen anzieht, wie böse Leute annehmen, sondern es ist reiner Zufall, daß ihn der Dienst hierher führt.

Er ist sich wohl bewußt, daß er, von außerordentlichen Fällen abgesehen, während des Dienstes keine Wirtschaft betreten darf, und da er ein pflichtgetreuer Mann ist, fällt es ihm auch nicht ein, seinen Fuß in den verbotenen Raum zu setzen. Obgleich es auch nicht zu leugnen ist, daß man nur ein Mensch ist und daß es menschlich ist, Gelüste nach einem Glas Bier zu haben, wenn man durstig ist und mitansehen muß, wie der Wirt das schäumende Getränk aus dem Hause bringt und auf dem schattigen Tische unter dem schützenden Baume niedersetzt.

Häfele kannte den einsamen Gast, der dort saß. Es war sogar ein guter Bekannter, der Fischer Hofmeister.

Gewiß würde er sich freuen, wenn ihm Häfele Gesellschaft leistete, aber es geht nicht, weil der Dienst es nicht erlaubt; er muß es dem Wirt Ackerknecht überlassen, den Gast zu unterhalten.

Häfele sah, wie er sich einen Stuhl hervorzog und neben dem Fischer Platz nahm.

Langsam wandelte er an der Taxushecke vorüber.

Er kann nicht hören, was die beiden miteinander reden, aber sie unterhalten sich so angelegentlich, daß sie ihn nicht einmal bemerken.

Unwichtiges ist es nicht, denn ihre Gesichter sind ernst und die Gebärden des Fischers deuten darauf hin, daß er ein nicht alltägliches Erlebnis zu erzählen hat.

Häfele blieb stehen und plötzlich, da die nahe Sägmaschine eine Pause machte und ihr durchdringendes Stoßen einer tiefen Stille Platz machte, verstand er einige Worte des Fischers.

»Ich wette meinen Kopf,« sagte er, »daß hier etwas Böses geschehen ist.«

Der Wirt Ackerknecht ist ein fetter Mensch mit glotzenden, glanzlosen Augen. Bedächtig neigt er seinen Kopf.

»Ich bin kein Feigling,« sagte der Fischer, »aber ich hatte eine Angst, wie nie, so lange ich lebe, und ich glaube, jedem andern wäre es auch so ergangen.«

»Wenn nur nicht einer einen umgebracht hat,« meinte der Wirt mit großer Gemütsruhe.

Nun mochte der Wirt Ackerknecht einen guten Teil seiner Gemütsruhe bewahren. Er ist als ein Trinker bekannt, den nichts anficht, außer wenn ihm der Brauer ein schlechtes Bier liefert oder ein fremder Gast geht und das Zahlen vergißt. Sein Geist ist abgestumpft über all dem Geschäft, das sein Gewerbe mit sich bringt und hauptsächlich darin besteht, den Rest des Bierfasses vor dem Verderb zu bewahren, indem er ihn selbst trinkt.

Aber bei Häfele ist das anders. Wie ein elektrischer Funke geht es ihm durch den Leib. »Das ist es,« sagte er. »Hier ist die Spur, die ich suche, halleluja!«

Und nun hält ihn nichts mehr zurück, jetzt ist es Pflicht, den Garten zu betreten.

Der Fischer Hofmeister erzählte ihm harmlos, was er gestern erlebte.

Dem Schutzmann Häfele will es den Atem benehmen, was er da alles hört ... »Ein halbunterdrückter Fluch einer Männerstimme, sagen Sie?«

»Ein wilder Fluch und sogleich ein gräßlicher Schrei einer Weibsperson ... mir stockte das Blut in den Adern ...«

»Und der gutgekleidete Mann?«

»Es war ein Mensch, wissen Sie, schlank, muskulös gebaut, ein solcher, der eiserne Kraft hat, wenn man es ihm auch nicht ansieht.«

»Und der Knabe?«

»Ist jedenfalls durchgegangen vor Angst.«

»Aber der andre? Der Vagabund?«

»Ein Strolch, ein Riesenkerl, der wie ein Räuber aussieht, wie einer, dem es auf ein Menschenleben nicht ankommt. In der Tat, Herr Häfele, ich bin kein Feigling, aber ich bin froh gewesen, wie ich über dem Damm war. Sehen Sie, ich gehe nicht mehr hin, obgleich dort der beste Angelplatz ist. Es stehen Rotfische dort, dreißig Pfund schwer. Aber ich gehe nicht mehr hin, nicht um alle Welt.«

»Herr Häfele, Sie trinken doch noch ein Gläschen?« sagte der Wirt schläfrig und völlig unempfänglich für die Erzählung des Fischers.

Der Schutzmann Häfele stand auf, sein frisches rötliches Gesicht war bleicher geworden, aber seine Augen funkelten. »Nein, nein,« sagte er hastig. – Er stellt sich völlig gleichgültig, aber es will ihm nicht recht gelingen, denn seine Stimme zittert vor Erregung, wenn es auch die andern nicht merken dürfen. »Ein andermal, denn ich habe Eile«

*

Um halb sieben Uhr abends hat Wachtmeister Rink dienstfrei.

Er ist im Begriffe gewesen, nach Hause zu gehen. Denn wenn man den ganzen Tag hindurch angestrengt gearbeitet hat, ist man müde und man freut sich, sich erholen zu können.

Auch Eberle hat schon die Mütze aufgesetzt und umgeschnallt, alles zusammengerichtet für den kommenden Tag, der Mühe genug bringt. Aber wenn solche Meldungen eintreffen, wie sie der Schutzmann Häfele bringt, denkt keiner an Ruhe und Häuslichkeit, denn in erster Linie kommt die Pflicht.

Mit atemlosem Staunen haben sie die Erzählung des Mannes gehört und nun stehen sie schweigend und die Gedanken stürmen wild auf sie ein.

Alle drei überlegen und beraten, streiten und denken nach, ziehen Schlüsse und verwerfen sie wieder, aber sie finden keinen Ausweg aus dem Wirrwarr, keinen Lichtstrahl in dem Dunkel.

Die Sache ist und bleibt unklar und rätselvoll.

Während Rink am meisten Verdacht hat auf den gutgekleideten jungen Mann, kann Häfele sich des Gedankens nicht erwehren, daß der Strolch die Hauptrolle bei dem geheimnisvollen Vorgang spielt. Eberle aber, der zu tieferen Kombinationen unfähig ist, denkt in erster Linie an den Knaben und sucht alle Schuld bei ihm, da er ja unmittelbar zum Halten aufgefordert wurde und sich geflüchtet hat.

Die Besprechung wird hitzig, die Kriminalbeamten kommen beinahe hintereinander, sie vergessen ihre Unterordnung und es scheinen sich die Bande der Disziplin zu lockern.

Keiner findet die Ansicht des andern vernünftig, keiner kann doch selbst einen vernünftigen Zusammenhang finden. Nur darüber sind sie einig, daß es eine ganz verteufelte Geschichte ist und daß sie der Polizei eine harte Nuß zu knacken geben wird.

Endlich entschied der Wachtmeister Rink: »Wir müssen sofort dem Herrn Inspektor Meldung machen.« – – –

Polizeiinspektor Höhnerlein arbeitete noch.

Es ist klar, er ist derjenige, in dessen Hand alle Fäden der Kriminalabteilung zusammenlaufen.

Wenn die von den Wachtmeistern ausgebesserten Meldungen der Schutzleute einkommen, muß er sie prüfen und sieben, die unbrauchbaren zurückgeben, oder schleunige Anordnungen treffen. Denn wenn er die Meldungen dem Herrn Polizeirat vorlegt, so muß die Sache glatt sein.

Darum lastet auf ihm die schwerste Verantwortung und ist er der erste und letzte im Amt.

Als der Wachtmeister mit Eberle und Häfele zu ihm kam, sah er sogleich, daß etwas von besonderer Wichtigkeit geschehen sein mußte.

Mit tiefem Ernste hörte er alles an, ohne den Wachtmeister nur ein einziges Mal zu unterbrechen.

Als Rink mit seinem Vortrag zu Ende war, sahen die drei Männer ihren Vorgesetzten in ehrerbietigem Schweigen voll Spannung an.

Keine Miene verzog sich in dem strengen Gesichte: »Und Ihre Ansicht?« wandte er sich kurz an den Wachtmeister.

»Daß hier etwas geschehen ist, was das Licht des Tages scheut, und Täter ist der jüngere gutgekleidete Mann.«

»Häfele?«

»Genau so, Herr Inspektor. Aber ich glaube bestimmt, es ist der Strolch.«

»Und was sagen Sie zu der Geschichte, Eberle?«

»Vielleicht ist es bloß der Knabe oder es sind alle drei miteinander.«

Nun schwiegen sie wieder und verrieten nur einige Ungeduld, die Ansicht ihres Vorgesetzten zu hören.

Höhnerlein überlegte und sann. »Wann ist die Sache passiert? Gestern nachmittag? ... Und bisher ist kein Regen gefallen?«

»Kein Tropfen.«

Er überlegte aufs neue. »Es ist alles nichts,« sagte er auf einmal kurz. »Es sind nichts als müßige Vermutungen. Ich werde morgen bei Tagesanbruch an Ort und Stelle die Untersuchung aufnehmen. Sie werden mich begleiten. Häfele, Sie gehen noch heute abend zu dem Fischer Hofmeister, wir brauchen ihn, er muß dabei sein.«

Dies ist alles. Damit sind sie entlassen. Aber sie spüren alle drei, daß sie vor dem Auftakte eines Dramas stehen. Man liest diesen Gedanken aus ihren blitzenden Augen, ihren entschlossenen Mienen.

Sie verlieren kein Wort mehr, mit militärischer Kürze treten sie weg, wenden sie sich zur Tür.

Aber eines hat er doch noch vergessen, der Inspektor Höhnerlein. »Was ich mir noch ausgebeten haben will,« gibt er ihnen auf den Weg mit, »kein Wort davon andern gegenüber! Absolutes Schweigen! Wenn Sie die Sache an die große Glocke hängen, ist sie von vornherein aussichtslos!« –

Nun erst löste sich die Starrheit seines Gesichts, als er die schweren Tritte der Männer in dem hallenden Gange sich entfernen hörte. Ein Leuchten des Triumphes geht über seine Züge.

Es war eine schwere Kränkung, die er diesen Nachmittag erlebte. Er wird dem Herrn Polizeirat zeigen, daß in dem alten Höhnerlein noch Tatkraft steckt, daß nur die Gelegenheit fehlte, sie zu entfalten.

Nun ist die Gelegenheit gekommen und er wird zeigen, daß der Polizeiinspektor Höhnerlein noch lange nicht zum alten Eisen gehört. – »Gestatten der Herr Polizeirat, eine Meldung von höchster Wichtigkeit,« sagte er laut zu sich selbst und er malte sich in Gedanken aus, wie er den Herren Vorgesetzten mit der vollendeten Tatsache der Lösung dieses Rätsels überraschen wird, eines schreckenvollen Rätsels, von dem die ganze Stadt spricht. Und der Herr Polizeirat wird ihm kein zweites Mal zu sagen haben: »Mehr Tatkraft, Herr Inspektor.«

Danach setzte er sich in den alten wurmstichigen Armstuhl mit dem durchgewetzten Lederbezug und begann sich die Geschichte sorgfältig und nach allen Seiten zu überlegen.


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