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11.

Marianne wurde nervös. Eine volle Woche war nach dem Weihnachtsabend schon vergangen und Herr Ernö Kalmar war unsichtbar geblieben.

Sah so die Freundschaft aus, die am heiligen Abend begonnen hatte?

Sie brauchte dringend den Rat eines weltklugen Menschen, denn die Zustände wurden in Wien von Tag zu Tag unerträglicher.

Irgendetwas mußte sie endlich anpacken – die Situation verlangte es gebieterisch.

Die Preise stiegen in wilden Sprüngen aufwärts. Die kleinste Kleinigkeit kostete ein Vermögen. Nichts war mehr zu erschwingen. Wie sollte das weitergehen? Täglich stellten die Zeitungen die anschwellende Zahl der Arbeitslosen fest und täglich kamen noch immer Kriegsgefangene zurück und vermehrten die Zahl der Hungernden und Stellenlosen.

Sie hatte Angstzustände, wenn sie an ihre nächste Zukunft dachte. Sie empfand es als tiefe Demütigung, aber sie wußte sich nicht anders zu helfen und schrieb Herrn Ernö Kalmar einen Brief und mahnte ihn an sein Versprechen, sich mit ihr über ihre Zukunft zu beraten.

Ernö Kalmar zögerte einen vollen Tag. Er hatte das Gefühl, sich da vielleicht in eine Sache einzulassen, die ihn von seinen Geschäften ablenken könnte.

Aber schließlich klopfte er doch vormittags – unmittelbar vor seinem Fortgehen – an ihre Türe.

Marianne erschien verlegen und nervös. Entschuldigte sich, daß sie ihn nicht herein bitten könne – das Zimmer sei noch nicht in Ordnung.

Eine Unterredung für Sonntag nachmittag wurde vereinbart.

Ernö Kalmar hielt Wort und kam.

Marianne saß da wie ein Schulmädchen, die Hände im Schoß, die Augen erwartungsvoll auf ihn gerichtet. »Was wird er mir zu sagen haben? Was geschieht mit mir? Ich bin so ungeschickt und er ist so ungeheuer erfahren und tüchtig.«

»Ich habe mir Ihren Fall genau überlegt. Es hat keinen Zweck, Sie in irgendein Bureau zu stecken, wo Sie bei einem Bettelgehalt verkümmern und außerdem tausend Zudringlichkeiten ausgesetzt sind. Es gibt nur eine Möglichkeit. Sie müssen Ihren Namen und Ihr Aussehen verwerten.«

»Ja, aber wie macht man das?«

»Vor allem müssen Sie anständige Kleider haben. Nicht auffällig – sehr einfach, aber durchaus nobel.«

Er sprach hart und kühl und absolut sachlich.

Marianne wurde dunkelrot, senkte den Kopf und die Tränen flossen.

»Sie sind Baronin, Sie haben einen Vater gehabt, der Offizier war – das kann man ausnützen. Es liegen in Österreich noch so viele Sachen herum, von denen niemand weiß, außer den Leuten, die sie verwalten. Diese Sachen sollen dem Staat abgeliefert werden. Aber woher wissen die Leute, die jetzt an der Spitze des Staates stehen, was da ist und was nicht. Also die Verwalter erkaufen. Aber man muß das Vertrauen dieser Leute gewinnen. Wenn eine Generalstochter kommt, ist das ganz anders, als wenn unsereins kommt. Ich werde Sie zu verschiedenen Leuten schicken. Sie werden diesen Leuten Ihre Not klagen – in beweglichen Worten – Sie werden ihnen sagen, daß sie verdienen müssen und sie sollen Ihnen Kommissionen geben, die Sie an mich weiterleiten. Das übrige lassen Sie meine Sache sein. Sie werden ab und zu in die Schweiz reisen müssen, mit einem Kinderhilfszug ... oder nach Holland ... vielleicht werden Sie auch Ihrer angegriffenen Gesundheit wegen einen Winterkurort aufsuchen müssen ... Sie werden Dinge mit hinausnehmen und Dinge mit hereinnehmen, über die Sie sich weiter nicht den Kopf zu zerbrechen brauchen. Die Koffer werden so präpariert sein, daß nicht einmal Sie merken werden, was Sie eigentlich mitführen. Je weniger Sie von den Sachen wissen und verstehen, desto glaubwürdiger werden Sie wirken und Ihre Rolle spielen.«

Mariannens Augen waren vor Entsetzen ganz groß geworden.

»Aber das sind ja lauter Sachen, die durch das Gesetz verboten sind.«

»Meine liebe Baronesse, wenn man sich an die Gesetze halten würde, käme man nicht weit. Reich und mächtig wird man nie mit den Gesetzen – sondern gegen sie.«

»Ich glaube, zu all dem, was Sie da von mir verlangen, bin ich viel zu ungeschickt«, stammelte Marianne. »Ich glaube, man würde mir alles sofort von der Stirne herablesen und ich würde alles verraten. Das kann ich nicht! Das kann ich nicht! Dazu bin ich nicht schlau genug ... Vielleicht später einmal«, fügte sie rasch hinzu, weil sie Angst bekam, daß Ernö Kalmar, gelangweilt durch ihren Widerstand, sie ebenso fallen lassen würde wie Doktor Pummerer, der für sie nicht mehr zu sprechen war, seit jenem Abend, wo sie sich nicht gefügig gezeigt hatte, auf die Pläne ihrer Protektoren bedingungslos einzugehen.

Ernö Kalmar war ehrlich enttäuscht und man sah es ihm an.

Er trommelte nervös auf die Tischplatte und zerbiß seine Zigarre.

Er hatte sich die Sache so herrlich vorgestellt, mit Hilfe Mariannens einen großartigen Saccharin- oder Salvarsanschmuggel zu inszenieren und namhafte Beträge fremdländischer Wertpapiere unauffällig ins Ausland zu verschieben, ehe sie der Staat für seine Zwecke in Anspruch nähme und sie mit wertlosen Kronen bezahlte.

Also damit war es nichts.

»Ja, also wenn Sie nicht mit Ihrem Kopf arbeiten wollen oder können ... so müssen Sie eben mit Ihrem Körper arbeiten! Was Drittes gibt es nicht!«

»Was heißt das, bitte?« fragte Marianne beklommen.

»Sie sind gut gewachsen, haben ein Rassegesicht, das gefällt und Interesse erweckt. Sind Sie musikalisch?«

»Ich habe einmal eine sehr hübsche Stimme gehabt – aber ...

»Also mit dem Singen geht es auch nicht! Dann bleibt eigentlich nur der Tanz oder so was ähnliches. Etwas mit Kostüm – oder ohne, in irgendeiner sensationellen Aufmachung und viel Geschrei dazu. Haben Sie Talent zum Tanzen?«

»Ich glaube schon.«

»Na also, wenigstens etwas Positives!«

Er hatte etwas rauh, jedenfalls höchst ungeduldig gesprochen.

Er liebte keine Menschen, welche unnütze Widerstände machten und tatsächliche oder vermeintliche Notwendigkeiten nicht sofort begriffen.

Marianne sah ihn scheu von der Seite an. Halb war es Furcht, halb etwas wie Bewunderung für diese kurz angebundene Entschlossenheit. Jedenfalls hatte noch nie ein Mensch mit ihr so gesprochen. Sie fühlte sich wehrlos und förmlich entmündigt und war ganz kleinlaut geworden.

»Ich werde mich erkundigen, wer in Artistenkreisen als guter Lehrer gilt und etwas versteht. Sobald ich Näheres weiß, werde ich mit Ihnen zu dem Manne hingehen. Er soll eine Prüfung mit Ihnen veranstalten. Und je nachdem sein Urteil ausfällt, werden wir weitersehen, was zu tun ist. Und jetzt, verehrte Baronesse, muß ich gehen. Ich habe noch eine wichtige Konferenz.«

Marianne war enttäuscht. So geschäftsmäßig hatte sie sich die Unterredung nicht vorgestellt. Sie hatte auf einen hübschen Plaudernachmittag gehofft, so wie es der heilige Abend gewesen war.

Eine leichte Enttäuschung zeigte sich in ihren Augen.

»Sie gehen schon?«

Ernö Kalmar zögerte eine Sekunde. Seine Eitelkeit war geschmeichelt – und dieses Weib war so schön! Aber die Vernunft siegte.

»Ich muß leider ...«, und er gewann die Tür.

Zwei Tage später fand Marianne an ihrer Tür einen zusammengefalteten Zettel, auf dem kurz und bündig stand: »Bitte sich morgen um vier Uhr nachmittag Praterstraße 26, erster Stock, Tür 12, einzufinden. Ich werde Sie erwarten.«

 

Pünktlich um vier Uhr stand Marianne am andern Tag vor einem ehemaligen Palais, das sich im Zustand peinlichster Vernachlässigung befand. Der Maueranwurf war abgebröckelt. Die rohe Ziegelwand trat überall hervor. Von den Empirepilastern waren die Kapitäle herabgefallen, die Parterrefenster waren zum Teil ihrer schönen schmiedeeisernen Gitter beraubt worden, ausgebrochen, dienten sie als Gewölbetüren für allerlei Laden, die sich eingenistet hatten. Die Wohnungsnot kannte keine Rücksichten. Eine schmutzige Hauseinfahrt, eine zerbrochene Glastüre, eine monumentale Treppe mit ausgetretenen Stufen. Im ersten Stock an einer Türe, die ehemals weiß gewesen sein mochte, ein großer Zettel und darauf mit Handschrift: Luisa Ratazzi, ehem. Primaballerina der k. u. k. Hofoper, erteilt Tanzunterricht täglich von zehn bis zwei und von vier bis neun. Ausbildung für Ballett und Varieté. Auch Einzelunterricht.

Ein verschwenderisch großes Vorzimmer empfing Marianne, nachdem ihr ein erhitztes kleines Mädchen mit zerzausten Haaren geöffnet hatte.

»Sie wünschen?«

»Ich bin bestellt. Bitte, melden Sie Baronesse Hartenthurn.«

Das Mädchen verschwand.

Gleich darauf kam Ernö Kalmar heraus.

»Bitte, kommen Sie. Ich habe mit der Meisterin schon gesprochen«, und er führte sie hinein.

Es war wohl der ehemalige Prunksalon des Palastes gewesen, in den Marianne eintrat. Von einer herrlichen Stuckdecke mit den schönsten Barockornamenten hing ein venezianischer Luster, dessen Prismen halb zerschlagen waren. Die lachsfarbenen Seidentapeten waren schwärzlich und rissig geworden; außer einem Marmorkamin stand da ein eiserner Füllofen, dessen Abzugsrohr durch den halben Raum ging. Drei große Bogenfenster ohne Vorhänge öffneten sich zur Straße; an einer Wand stand ein Klavier. Das war der Tanzübungsraum.

Ein paar rote Damastsessel, deren Füllung überall herausquoll, vervollständigten die Einrichtung, nebst einem halbblinden Spiegel, in dem alle möglichen Namenszüge eingekratzt waren.

In einem Fauteuil saß eine Dame, die jetzt aufstand und Marianne entgegenkam.

Ernö Kalmar stellte die Damen einander vor.

»Baronesse Hartenthurn – Madame Ratazzi, unsere gefeierte Meisterin.«

»Also, Sie wollen Künstlerin werden?«

»Jawohl gnädige Frau.«

»Haben Sie tanzen gelernt?«

»Nein, nein. Ich hab's von selbst getroffen.«

»Na ja. Das Richtige ist das natürlich nicht. Können Sie auch die modernen Tänze?«

»Ein bißchen, aber nicht präzise.«

Die Meisterin musterte Marianne durchs Lorgnon. Sie selbst trug offenbar eine Perücke, denn das Haar war unnatürlich schwarz; das Gesicht scharf, böse und verwittert. Aber die Figur wirkte noch immer imposant in Form und Haltung. Marianne empfand diesen Blick wie einen körperlichen Schmerz.

»Wir wollen eine kleine Probe abhalten.«

Luisa Ratazzi ging zur Türe des Nebenzimmers, öffnete sie halb, sah hinein und befahl:

»Steh' auf und mach' dich fertig – ich brauche dich.«

Dann wandte sie sich wieder zu Marianne:

»Ein Bekannter ist zufällig da – ein junger Offizier. Er soll mit Ihnen ein paarmal herumtanzen, damit ich mir mein Urteil bilden kann.«

Nach einigen Minuten trat ein eleganter, junger Mann mit einem hübschen, blonden Friseurkopf heraus, begrüßte die Anwesenden mit tadelloser Höflichkeit und wurde als Oberleutnant Sauer vorgestellt.

»Willi, du wirst mit der Baronesse tanzen. Sie will eine Nummer werden und sich prüfen lassen.«

»Ja, aber der Klavierspieler ist noch nicht da.«

»Ach, der muß jeden Moment kommen. Ich habe ihn doch ausdrücklich für vier Uhr herbestellt.«

Man wartete schweigend und nervös.

»Wenn er sich noch einmal verspätet – fliegt er«, bestimmte Madame Ratazzi.

Von außen ein schwaches Klingelzeichen.

»Da ist er schon«, beruhigte der Oberleutnant. »Er wird keine Elektrische bekommen haben.«

»Das geht mich gar nichts an«, knurrte Madame Ratazzi, noch immer gereizt.

Eine schlotternde Figur in einem schäbigen, längst spiegelig gewordenen Smoking schob sich herein, grüßte linkisch und sank sofort auf den Klavierstuhl, ohne auch nur eine Frage zu stellen.

Niemand erwiderte seinen demütigen Gruß.

»Zuerst einen Walzer – gefühlvoll, getragen – und dann reißerisch mit Temperament«, kommandierte Luisa Ratazzi.

Marianne ließ mit leisem Mißbehagen und großer innerer Unsicherheit mit sich geschehen, was angeordnet wurde.

Der blonde Oberleutnant ergriff sie und ihr Probetanz begann.

Der Oberleutnant führte ausgezeichnet.

Mit jedem Takt wurde sie sicherer, und der Klavierpauker spielte mit hinreißendem Rhythmus. Das hätte man ihm nicht zugetraut!

Marianne vergaß ihren Eintänzer, vergaß den schäbigen Saal, vergaß die Meisterin und Ernö Kalmar. Sie war hingegeben an die Musik und den Rhythmus. Ein völlig anderer Mensch kam zum Vorschein.

Ihre Wangen begannen zu glühen, ihre Augen zu leuchten.

»Ich weiß genug, Sie brauchen nicht weiter zu tanzen. Aus Ihnen könnte man etwas machen. Ein ausgesprochenes Talent ist da.«

Marianne erwachte aus ihrer Tanzhypnose zur Wirklichkeit und blickte verwirrt und erstaunt um sich.

Ernö Kalmar kam auf sie zu und schüttelte ihr die Hand.

»Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen. Da war Schwung und Temperament und sinnlicher Zauber – ohne den geht's nämlich nicht.«

Marianne lachte vor Glück.

»Also zu etwas bin ich doch zu brauchen?!« Und zu der pompösen Meisterin gewendet: »Es ist wirklich wahr? Und Sie glauben auch?«

»Unbedingt. Aber stellen Sie sich die Sache nicht zu leicht vor! Zur gewöhnlichen Parkettänzerin wollen Sie sich ja nicht hergeben. Sie wollen eine Tanzattraktion sein. Und das kostet Arbeit! Richtige körperliche Arbeit! Sie werden sich rackern müssen!«

»O, ich werde fleißig sein! Es geht ja um meine Zukunft!«

»Und nun möchte ich Sie auf noch etwas aufmerksam machen. Ich werde aus Ihnen herausholen, was Sie nur immer zu geben haben. Aber billig wird Sie die Sache nicht kommen. Ein gutes Stück Geld wird es Sie wohl kosten, bevor Sie soweit sind, daß es einen Zweck hat, Sie auftreten zu lassen.«

Marianne blieb das Wort im Hals stecken.

»Geld? Vorher? Ich dachte ...«

Da fiel Ernö Kalmar ein. Sein Ton war geschäftsmäßig.

»Die Ausbildungskosten übernehme selbstverständlich ich.«

»Ja, aber Herr Kalmar, wie kann ich das annehmen? Wie und woher soll ich das zurückzahlen? Sie wissen doch.«

»Über diesen Punkt zerbrechen Sie sich vorläufig nicht den Kopf – da wird sich schon ein Ausweg finden! Sobald Sie monatlich mehr als eine Million verdienen werden, können Sie mit Raten anfangen.«

Der junge Offizier hatte Marianne wortlos und mit brennenden Blicken gemessen. Die Meisterin fing einen dieser Blicke auf.

»Lieber Willi, ich danke dir. Wir brauchen dich nicht länger. Es ist gut!«

Der Oberleutnant wurde sehr verlegen, machte eine stumme Verbeugung und verschwand im Zimmer, aus dem er gekommen war.

Marianne strahlte vor Glück. Ihre Wangen brannten. Ihr ganzes Wesen war nichts als Dankbarkeit, Seligkeit und Eifer. Ein über das andere Mal drückte sie Kalmar in überströmender Herzlichkeit die Hand.

Es wurde vereinbart, daß Marianne jeden Nachmittag zum Einzelunterricht kommen sollte. Vorerst galt es, alle üblichen Tänze und Schritte zu lernen – Geschmeidigkeit zu bekommen und den plastischen Ausdruck aller Empfindungen wiedergeben zu können, Mimik und Pantomime waren als wichtigster Teil des Unterrichtes angesetzt. Erst nach drei Monaten sollte bestimmt werden, ob die Dame in Charakter- oder Phantasietänzen und vor allem in welcher szenischen Aufmachung sie hinausgestellt werden sollte.

Vor dem Herbst war an ein Fertigwerden nicht zu denken.

Auch die Kostümfrage und die Begleitmusik und die choreographische Komposition sollte später geregelt werden. Vorerst reinste Muskelarbeit und Training des Körpers.

Freilich, für gewisse Übungen an den Stangen war es zu spät. Die müssen in den Kinderjahren begonnen werden, wenn sie einen Zweck erfüllen sollen.

Somit war alles geregelt und abgemacht.

Marianne und Ernö Kalmar gingen zusammen fort.

Wieder wollte sie beginnen, von ihrer grenzenlosen Dankbarkeit zu sprechen. Aber er schnitt ihr kurz das Wort ab.

»Liebe Baronesse – lassen Sie! Es ist ein Geschäft mehr, das ich entriere – vielleicht glückt es! Dann werde ich mich schon schadlos halten.«

Marianne verstummte gekränkt.

Schweigend gingen sie weiter.

Schüchtern begann Marianne: »Wollen Sie vielleicht nicht doch den Ring meines Papas als Pfand annehmen?«

Jetzt wurde Ernö Kalmar ernstlich böse.

»Es gibt Leute, mit denen ich Geschäfte mache – und solche, mit denen ich keine mache. Sie gehören zur zweiten Gruppe ... ich bin kein undankbarer Mensch. Als ich nach Wien kam, war ich sehr auf Hilfe angewiesen, denn ich bin in Fetzen und ohne Kreuzer Geld hier angekommen. Wien hat mir geholfen. Da ich aber als Gegenleistung nicht allen, die es nötig hätten, wieder helfen kann, so will ich wenigstens einem Menschen auf die Beine helfen ...«

Ein etwas zynisches Lächeln spielte über seinen vollen Mund.

»... und da diese Beine vermutlich sehr hübsch sein dürften, so wird mir Wien sehr dankbar sein – und wir sind quitt.«

»Eine sonderbare Anschauung haben Sie über diese Dinge. Man sollte Ihnen eigentlich böse sein. Aber ich bin so froh, daß sich nun endlich doch eine Möglichkeit geboten hat, weiterzukommen. Und darüber wollen wir auch wieder reden, wenn es soweit ist. Ich bin halt doch immer eine Optimistin geblieben. Daß ich Sie getroffen habe, ist doch auch ein Glücksfall.«

Ernö Kalmar fühlte seinen inneren Widerstand langsam weichen. Er fing an, diesem Mädchen gut zu werden.

Unwillkürlich drängte sich ihm ein herzliches Wort auf die Lippen ... aber er verbiß es und sagte nur kühl und beherrscht:

»Hoffentlich erleben wir keine Enttäuschung aneinander. Aber Sie verzeihen, Baronesse, ich habe dringend zu telephonieren und kann Sie nicht weiterbegleiten.«

»Er läuft vor mir davon«, empfand Marianne diesmal ganz deutlich. »Aber warum? Mag er mich nicht, oder hat er Angst ... daß ich zu viel von ihm verlangen könnte – komischer Mensch. Und dabei hilft er mir ja doch ...«

»Ja, wenn Sie gehen müssen, darf ich Sie nicht halten.«

»Allerdings – ich muß.«

Aber diesmal war es Kalmar, der nach dem »ich muß« verlegen wurde.

Und mit einem Händedruck und mit einem Blick, der ein bißchen wärmer war als sonst, schied er von Marianne.

Marianne schlenderte langsam weiter, quer durch die »Innere Stadt« – ihrer Vorstadt zu.

Sie spürte nicht die Winterkälte, schämte sich nicht ihrer einfachen Kleider, sah nicht die Pelze in den Auslagen, bemerkte nicht die begehrlichen Blicke der Männer, die ihr folgten – in ihr war Lebensfreude und Hoffnungsseligkeit: Ich habe einen Menschen, der mich führt, und ich bin auf dem rechten Weg. Ich werde irgendetwas Großes, Strahlendes, Berühmtes – werde vielleicht sogar noch reich. Von all dem Widrigen, das der neue Beruf sicherlich auch bringen würde, wollte sie derzeit nichts wissen. Sie wollte nur auf das Schöne sehen, das langsam nah und näher kommen mußte.

Halb war es Feigheit – halb war es Klugheit, was sie so denken und fühlen ließ.

Aber mitten hinein in ihren Freudentaumel platzte ein Gedanke, der in wenigen Sekunden schwarz und riesengroß ihr ganzes Denken erfüllte.

Gut, ich habe eine Zukunft ... im kommenden Herbst werde ich wer sein ... muß wer sein ... ich fühle es ... und es lügt nicht ... aber was geschieht bis dahin? ... Wovon werde ich bis dahin leben ...?

Und alle ihre bunten Zukunftsträume wurden aschgrau, vergingen wie Seifenblasen.

Mit schwerem Gemüte kehrte sie heim.

So viel sie auch rechnete, und wenn sie noch so sparte, von der Zimmermiete allein war es unmöglich, das Leben zu fristen.

Sie hatte keine Kohlen im Haus, keine Fett- und Mehlvorräte ... alle Leute sagten, es würde noch ärger werden. Die Regierung hatte kein Geld, Lebensmittel für die Bevölkerung einzukaufen. Es wird zu Hungerrevolten kommen, es wird geplündert werden, die Regierung wird abdanken müssen. Wien wird in den Abgrund versinken.

Aber plötzlich fiel ihr wieder ein: Ich bin ja nicht mehr allein. Er ist ja gescheit und wird auch da einen Ausweg finden, wie man über diese paar Monate hinüberkommt, ehe der Glanz und das große Glück sie hoch emporheben werden über alle Not und Sorge dieses Lebens.

Er hatte doch gemeint, sie solle Reisen für ihn machen, mit geheimen Aufträgen.

Sie hat sich dummerweise geweigert, und er ist nicht einmal böse geworden, obwohl er ein gutes Recht dazu gehabt hätte, sondern hat sofort einen anderen Ausweg gewußt.

Aber morgen wird sie alles gut machen und ihm sagen, daß sie bereit ist, für ihn zu reisen – und daß sie vernünftig geworden ist und alles eingesehen hat – und er möge sie nur richtig instruieren, damit sie keine Dummheiten mache.


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