Charles Dickens
Skizzen aus dem Londoner Alltagsleben
Charles Dickens

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Drittes Kapitel

Die vier Schwestern.

Dieselbe Reihe, in welcher die Häuser der alten Dame und ihres gewaltthätigen Nachbars stehen, umfaßt unstreitig eine größere Anzahl Originale als der ganze Rest unseres Kirchspiels zusammengenommen. Da wir aber nach dem uns vorgesteckten Plane die Zahl unserer Parochialskizzen nicht über sieben ausdehnen können, so wird es wohl am besten sein, die besonders ausgezeichneten auszuwählen, und sie auf ein Mal ohne weitere Erläuterung unsern Lesern vorzuführen.

Die vier Miß Willis wohnen bereits dreizehn Jahre in unserem Kirchspiele. Es ist eine fatale Betrachtung, daß das alte Sprichwort: »Ebbe und Fluth warten auf Niemand«, sich mit gleicher Macht auf die schönere Hälfte der Schöpfung anwenden läßt; und gerne wollten wir die Thatsache verschweigen, daß sogar schon vor jenen dreizehn Jahren die vier Miß Willis bereits über ihre Jugendblüthe hinausgerückt waren; allein unsere Pflicht als Parochialchronikschreiber überwiegt jede andere Rücksicht, und wir können nicht umhin, kund zu thun, daß die Autoritäten in Heirathsangelegenheiten schon vor dreizehn Jahren des Dafürhaltens waren, daß es um die Aussichten der jüngsten Miß Willis sehr prekär stände, während die der ältesten Schwester, als über alle menschliche Hoffnung hinausgehend, vollkommen aufgegeben werden müßten.

Die vier Miß Willis also mietheten ein Haus; es wurde von oben bis unten neu gemalt und tapezirt, die gemalten Piecen wurden vollständig getäfelt, der Marmor gesäubert; die alten Kamine abgenommen und durch Registeröfen ersetzt; in dem Garten hinter dem Hause wurden vier Bäume gepflanzt, der Platz vor dem Hause mit einigen kleinen Körben Kies überschüttet, große Vorräthe eleganter Möbeln langten an, Federn-Jalousien wurden an den Fenstern angebracht; die Zimmerleute, welche verschiedene Zubereitungen, Veränderungen und Reparaturen vorgenommen hatten, erzählten den verschiedenen Mägden des Quartiers von der Pracht, mit welcher die Miß Willis ihre Einrichtungen getroffen hätten; die Mägde theilten es ihren »Mississes« und die Mississes ihren Freundinnen mit, und das Gerücht verbreitete sich mit reißender Schnelle durch das ganze Kirchspiel, daß sich in Nr. 25 auf dem Gordonplatze vier unverheiratete, unermeßlich reiche Damen eingemiethet hätten.

Endlich zogen die vier Miß Willis ein, und das Besuchemachen nahm seinen Anfang. Das Haus war der Inbegriff alles Niedlichen und Säuberlichen – die vier Miß Willis waren es gleichfalls. – Alles war förmlich, steif und kalt, – das waren die vier Miß Willis auch. Immer stand jeder einzelne Stuhl an seiner bestimmten Stelle, – und immer befand sich jede Miß Willis auf dem ihrigen. Sie saßen stets auf derselben Stelle und thaten genau dasselbe zu ein und derselben Stunde. Die älteste Miß Willis war gewohnt zu stricken, die zweite zu zeichnen, die beiden jüngsten vierhändige Sonaten auf dem Fortepiano zu spielen. – Sie schienen blos ein einziges unabgesondertes Dasein zu haben und entschlossen zu sein, ihr Leben vereint durchzuwintern. Es waren die drei Grazien, freilich nicht in Kostüme und etwas hochgewachsen, zu denen sich eine vierte gesellte – gleich einem Schulmittagessen, wo zum dritten langen Gratias noch ein viertes hinzukommt – die drei Parzen mit einer vierten Schwester – die Siamesenzwillinge durch zwei multiplizirt. Wurde die älteste Miß Willis gallsüchtig, so wurden es im Augenblicke auch die andern drei. Die älteste Miß Willis wurde übellaunig und andächtig – sogleich waren auch die drei jüngeren Miß Willis übellaunig und andächtig. Was auch immer die älteste that, das thaten ihr die jüngeren nach, und was irgend sonst Jemand that, wurde von Allen getadelt. – So vegetirten sie – in einer Harmonie, wie man sie nur bei einer Nordpolexpedition trifft, und wenn sie zuweilen in eine Gesellschaft gingen, oder eine stille Gesellschaft bei sich sahen, so wurden die Nachbarn durchgehechelt. Drei Jahre waren auf diese Weise hingegangen, als ein unvorhergesehenes, unerwartetes Phänomen eintrat. Die Miß Willis zeigten Symptome von Sommer; das Eis ging nach und nach auf; ein vollständiges Thauwetter trat ein. War es möglich? eine der vier Miß Willis war im Begriff sich zu verheirathen.

Aus welchem Welttheile aber der Zukünftige gekommen, welche Gefühle und Beweggründe den armen Mann geleitet haben mochten, oder durch welchen Verstandesprozeß die vier Miß Willis dahin gelangt waren, sich zu überzeugen, es sei möglich, daß Eine von ihnen einen Mann heirathe, ohne daß er alle vier zugleich mitehelichte? – dieß sind Fragen, die uns zu tief liegen, um sie analisiren zu können. Soviel ist übrigens gewiß, daß die Besuche Herrn Robinson's (eines Gentlemans, der eine Anstellung im Staatsdienste mit einem guten Gehalt hatte und einiges eigenes Vermögen besaß) angenommen wurden – daß den vier Miß Willis von besagtem Herrn Robinson in aller Form der Hof gemacht wurde – daß die Nachbarn vor Begierde fast rasend waren, zu entdecken, welche von den vier Miß Willis die Beglückte wäre, und daß die Schwierigkeiten, die sich der Lösung dieses Problems entgegenstellten, nicht sehr durch die Eröffnung der ältesten Miß Willis gehoben wurden: »Wir sind im Begriff Herrn Robinson zu heirathen.«

Es war wirklich ein außerordentlicher Fall – es war die Eine mit der Andern so vollständig identifizirt, daß die Neugierde der ganzen Reihe – sogar der alten Dame selbst – fast nimmer auszuhalten war. Man brachte den Gegenstand bei jeder noch so geringfügigen Gelegenheit, am Spieltische, beim Thee u. s. w. zur Sprache. Der alte Seidenwürmerzucht-Gentleman säumte nicht, seine Meinung entschieden dahin auszusprechen, daß Herr Robinson aus dem Orient komme, und sämmtliche Schwestern zumal zu heirathen gedenke; und die Bewohner der Reihe schüttelten ernsthaft den Kopf, und erklärten, daß die Sache äußerst geheimnißvoll wäre. Man hoffte, es werde alles gut enden; zwar hätte es wahrlich einen höchst sonderbaren Anschein, aber noch würde es ungerecht sein, eine vielleicht unbegründete Meinung darüber auszusprechen, auch wären die Miß Willis unstreitig vollkommen alt genug, um sich selbst am besten berathen zu können; Jedermann müsse selbst am besten wissen, wo ihn der Schuh drücke, und dergleichen mehr.

Endlich fuhren eines schönen Morgens, eine viertel Stunde vor acht Uhr, zwei Glaskutschen bei den Miß Willis vor, in deren Wohnung Herr Robinson schon zehn Minuten früher in einem Cabriolet angelangt war. Er trug einen hellblauen Rock und doppelt gewalkte Kersey-Pantalons, ein weißes Halstuch, Schuhe, und Glacé-Handschuhe, und war sehr erregt, wie das Hausmädchen von Nr. 23 bemerkt haben wollte, das zur Zeit seiner Ankunft gerade die Thürtreppe abgekehrt hatte. Durch dieselbe Gewährsperson erfuhr man auch die weitere Neuigkeit, daß die Köchin, die ihm die Hausthüre geöffnet, eine ungewöhnlich große, prächtige, weiße Schleife an einer weit schmuckeren Kopfbedeckung trage, als gewöhnlich durch das Haubenreglement der vier Jungfern dem im Allgemeinen allerdings etwas übertriebenen Geschmacke der Dienstboten gestattet werde.

Diese Neuigkeiten verbreiteten sich rasch von Haus zu Haus. Es unterlag nun keinem Zweifel mehr, daß der ereignißvolle Morgen endlich angebrochen war; alle Bewohner der ganzen Reihe stellten sich im ersten und zweiten Stockwerke hinter den Jalousien oder Vorhängen an die Fenster, und warteten der Dinge, die da kommen sollten, in athemloser Spannung.

Endlich that sich die Hausthüre der vier Miß Willis auf und zugleich wurde der Schlag des vordersten Glaswagens geöffnet; zwei Herren und zwei Damen (der Gleichheit wegen) – ohne Zweifel Anverwandte der Familie – erschienen; stiegen ein, der Schlag schloß sich, der Wagen fuhr ab, und der zweite vor.

Abermals that sich die Hausthüre auf; die Spannung der ganzen Reihe hatte ihren höchsten Grad erreicht. – Herr Robinson und die älteste Miß Willis erschienen. »Das dachte ich mir,« sagte die Dame in Nr. 19; »ich habe es ja immer gesagt, es werde Miß Willis sein.« – »Das hätte ich in meinem Leben nicht geglaubt.« rief die junge Dame von Nr. 18 der jungen Dame von Nr. 17 zu. – »Wer hätte das gedacht, meine Theure!« antwortete die junge Dame von Nr. 17 der von Nr. 18. – »Es ist zu lächerlich!« rief ein Mädchen, über deren Alter man nicht recht in's Klare kommen konnte, aus Nr. 16 dazwischen. Wer aber vermag das Erstaunen auf dem Gordonplatze zu beschreiben, als Herr Robinson allmählig sämmtliche Miß Willis, Eine nach der Andern, in den Wagen hob, und sich darauf selbst in einen spitzigen Winkel der Glaskutsche drückte, die nun im raschen Laufe der ersten nachfuhr, welche schon die Richtung nach der Pfarrkirche eingeschlagen hatte. Wer vermag die Bestürzung des Geistlichen zu beschreiben, als sämmtliche Miß Willis am Altar niederknieten und die bei der Trauungsliturgie üblichen Antworten mit lauter Stimme aussprachen? – Oder wer vermag die Verwirrung zu schildern, die nun folgte, als nach kaum erfolgter Schlichtung der vorerwähnten Schwierigkeiten – sämmtliche Miß Willis am Schlusse der Feierlichkeit in lautes Schluchzen ausbrachen, so daß die Hallen des heiligen Gebäudes von ihrem vereinten Wehklagen wiederhallten.

Da die vier Schwestern und Herr Robinson nach diesem merkwürdigen Ereignisse dasselbe Haus zu bewohnen fortfuhren, und da die verheirathete Schwester, welche es nun auch sein mochte, sich nie ohne die andern drei öffentlich zeigte, so ist es uns nicht völlig klar, ob die Nachbarschaft erfahren haben würde, welche die wirkliche Mistreß Robinson sei, wenn nicht ein Umstand eingetreten wäre, von dem sich am sichersten Aufschluß erwarten ließ – ein erfreulicher Umstand, der sich zuweilen in den geordnetsten Familien ereignet. Drei Vierteljahre waren abgelaufen, als die weiblichen Bewohner der Reihe, welchen schon seit einiger Zeit ein neues Licht aufgegangen zu sein schien, mit einer Art Zurückhaltung darüber zu sprechen, und ihre Neugierde auszudrücken anfingen, wie Mistreß Robinson – nämlich die jüngste Miß Willis – sich befinde. Jeden Morgen sah man zwischen neun und zehn Uhr die Mägde der Reihe die Treppe des Hauses hinaufrennen, »Missis' Empfehlungen überbringen, und Missis' wünschen zu wissen, wie sich Mistreß Robinson heute befände?« Und die Antwort lautete stets: »Mistreß Robinson ließe sich ebenfalls empfehlen, befände sich sehr wohl und im Geringsten nicht schlimmer als gestern.«

Das Fortepiano hörte man nicht mehr – die Stricknadeln waren bei Seite gelegt – das Zeichnen wurde vernachlässigt – und Kleider- und Putzmacherei in der kleinst denkbaren Miniaturskala schien die Lieblingsbeschäftigung der ganzen Familie geworden zu sein. Im Wohnzimmer herrschte nicht mehr die strenge Ordnung, die man sonst gewohnt war, und wenn man des Morgens zum Besuche kam, konnte man auf einem Tisch zwei bis drei besonders kleine Häubchen in ein altes Zeitungspapier sorgfältig eingewickelt liegen sehen, – sie waren ein klein wenig größer, als wenn sie für eine mittelmäßig große Puppe bestimmt gewesen wären, und mit einem kleinen Stückchen Band verziert, das in der Gestalt eines Hufeisens hinten hinunterhing; vielleicht bemerkte man auch ein weißes Kleidchen nicht sehr groß im Umfange, aber von unverhältnißmäßiger Länge mit einem Spitzenbesatze, der oben rings herumlief, unten aber mit einer Stickerei garnirt war; ja, als wir einst hinkamen, wurden wir sogar eines großen weißen Wickelbandes mit bläulichem Seitenrande ansichtig, dessen Nutzen wir nicht zu ermitteln vermochten. Ferner glaubten wir die Bemerkung zu machen, daß Herr Dowson, der Wundarzt u. s. w., welcher vor seinem Hause an der Ecke der Reihe eine große Laterne, deren jede Scheibe aus anders gefärbtem Glas besteht, ausgehängt hat, öfters als gewöhnlich bei Nacht herausgeklopft wurde; und einst wurden wir noch mehr beunruhigt, als Morgens um halb drei Uhr eine Miethkutsche vor Herrn Robinsons Hausthüre vorfuhr, aus welcher eine dicke alte Frau in Mantel und Nachthaube, mit einem Packete in der einen und einem Paar Ueberschuhen in der andern Hand herausstieg; eine Person, die ganz so aussah, als wenn sie plötzlich zu einem besondern Zwecke aus dem Bette geholt worden wäre.

Als wir am andern Morgen hinkamen, sahen wir den Thürklopfer der Miß Willis mit einem alten weißen Lederhandschuh umwickelt, und dachten in unserer Unschuld (wir leben nämlich im Junggesellenstande), was in aller Welt das wohl zu bedeuten haben möge, bis wir die älteste Miß Willis in eigener Person mit großer Feierlichkeit als Antwort auf die zunächst erfolgende Erkundigung sagen hörten: »Meine Empfehlung und Mrs. Robinson befände sich so wohl, als es die Umstände erwarten ließen, und das kleine Mädchen nehme wunderbar zu.« Hiermit war auf ein Mal unsere Neugierde sowohl als die der ganzen Reihe befriedigt, und wir fingen nun an, uns zu wundern, daß uns bis daher die wahre Ursache gar nicht eingefallen war.



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