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In der Peter-Pauls-Festung

In der Kanzlei des Gefängnisses empfing mich der Vorsteher und ersuchte mich höflich, zu unterschreiben, daß ich einen alten zerrissenen Lampenschirm, der im Zeughaus aufbewahrt war, erhalten hätte. Was das Geld, welches sich in der Kanzlei befand, anbetraf, sagte er nur, daß man es mir an den »Ort der neuen Bestimmung« nachsenden würde.

In der Kanzlei erwartete mich der Gendarmerieoberstleutnant und zwei Unteroffiziere. An der Einfahrt stand eine Droschke. Als wir alle vier Platz genommen hatten, sagte der Offizier leise zum Kutscher: »In die Festung!«

Trotzdem es für mich nicht unerwartet kam, zog sich mir das Herz doch bei diesen Worten zusammen. Das Jahr 1884, wo man mich gerade so in die Peter-Pauls-Festung geführt, und alle Leiden, die ich damals ertragen hatte, tauchten wieder in meinem Gedächtnis auf. Vieles hatte Rußland in diesen 23 Jahren erlebt, aber unsere Bastille steht noch unerschüttert da, genau wie früher hielt man dort viele Menschen monatelang ohne jeden Grund, nur auf Befehl irgend eines rohen, beschränkten, öffentlichen oder geheimen Pogromanstifters aus dem Polizeidepartement fest.

Der Wagen hielt vor dem massiven eisernen Tor, das man von innen öffnete. Alles beim alten, alles bekannt!

Im Korridor begegnete uns ein Oberst, der wahrscheinlich die Obliegenheiten eines Inspektors erfüllte. Er fragte mich nach meinem Namen, worauf ich erwiderte, daß ich Deutsch heiße.

»In Numero siebzig,« sagte er zu dem Gendarmen.

»Gut wenigstens, daß ich nicht in die untere Etage komme,« dachte ich, indem ich die Treppe hinaufstieg.

Die für mich bestimmte Zelle befand sich fast am Ende eines sehr langen Korridors.

Darauf begann, genau so wie in alter Zeit, eine sorgfältige, peinliche Durchsuchung, worauf man mir befahl, meine Kleidung abzulegen und die Kerkerkleidung anzulegen, die wie früher aus Leibwäsche, Schlafrock und Pantoffeln bestand. Die Zelle und die Möbel waren ebenso unverändert und standen genau auf demselben Platz; kärglich drang das Tageslicht durch das vergitterte Fenster, welches sich unter der hohen gewölbten Decke befand, dieselben schmutzigen Wände und der gefärbte Steinboden, der einen besonderen muffigen feuchten Geruch verbreitete. Schwer und drückend war der Eindruck, den die Zelle mit ihrer Einrichtung auf mich machte, trotzdem ich schon damit bekannt war und auch jetzt aus der Zelle eines Gefängnisses kam.

»Welchen Eindruck,« dachte ich, »muß das auf einen Menschen, der aus der Freiheit kommt und dem fremd gegenübersteht, machen.« Wirklich, das ist ein großer Steinsarg. Ebenso wie früher herrscht auch jetzt ringsum Totenstille, die Uhr schlägt die Viertelstunden und spielt jede Stunde: »Ehre, Ehre usw.« und mittags und mitternachts noch dazu die Nationalhymne »Gott schütze den Zaren«. Aber es gab eine bedeutende Neueinrichtung: elektrische Lampen und Glocken!

Endlos zog sich das eintönige, durch seine Einförmigkeit erdrückende langweilige Leben hin, genau so, ohne die geringsten Veränderungen, wie beim »alten Regime«. Nach sieben Tagen kamen zwei Unteroffiziere vom Gendarmerie- und Festungskommando in meine Zelle, überreichten mir meine eigenen Kleider und sagten, ich solle mich ankleiden, man wäre wegen meiner Person gekommen.

»Wohin geht es wieder?« dachte ich, war aber dennoch über die kleine Zerstreuung erfreut.

An der Einfahrt stand dieselbe Droschke wie das erstemal, derselbe Gendarmerieoffizier und die beiden Unteroffiziere, die mich hergebracht hatten. Ich nahm neben ihnen Platz, und schweigend wie auch früher legten wir den Weg zurück.

*

Das Gebäude, an dem wir nach einer halben Stunde hielten, war die Petersburger Gendarmerieverwaltung. Man führte mich in ein Kabinett, wo ich den Gendarmerieoberstleutnant vorfand, der seinerzeit in das Zellengefängnis gekommen war, um mich zu verhören.

»Sie haben ein Bittgesuch um eine Zusammenkunft mit Ihrer Verwandten eingereicht,« sagte er und zeigte auf das vor ihm liegende Gesuch, von dem ich schon früher berichtet habe; »obwohl Sie es mit Ihrem wirklichen Namen unterzeichnet und dadurch eingestanden haben, wer Sie sind, genügt das offiziell noch nicht.«

Ich fand es daher aus gewissen Gründen zweckmäßig, einige nähere Angaben über meine Person zu machen. Ich wollte erfahren, wessen man mich beschuldigte und welche Beweise man gegen mich hatte.

Er zitierte mir einige Artikel der Strafprozeßordnung, betreffs »Zugehörigkeit zu einer geheimen Verbindung, die sich den Umsturz der bestehenden Staatsordnung zum Ziele setzt durch Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes, wozu sie Waffen und Explosivstoffe anschafft«. Auf meine Frage, worauf die Voraussetzung meiner Angehörigkeit zu einer solchen schrecklichen Verbindung beruhe, erhielt ich unter anderem folgende Antwort:

Bei der Verhaftung der Mitglieder des Exekutivkomitees des Arbeiterdeputiertenrats, wovon ich schon oben gesprochen habe, wurden auch die Protokolle der vorhergegangenen Sitzungen und das Quittungsbuch des Kassierers beschlagnahmt. In dem Abriß, welchen der Gendarmerieoberstleutnant mir aus dem Protokollbuch vorlas, stand folgendes: »Ein Genosse aus dem Ausland legte noch die Gründe dar, welche für die Reise der Delegierten ins Ausland zu der Feier des 9. Januar sprechen, da sie eine große Bedeutung im Sinne der Agitation und außerdem auch in materieller Beziehung haben könne.« Außerdem stand im Quittungsbuch eine Bescheinigung von mir über den Empfang eines Vorschusses, welchen ich zur Reise ins Ausland erhalten hatte, mit meiner Unterschrift.

»Aus allem geht deutlich hervor,« bemerkte der Oberstleutnant, »daß gerade Sie ›der Genosse aus dem Ausland‹ sind. Sie haben den Sitzungen des Exekutivkomitees beigewohnt, haben Vorschläge eingebracht, man hat Sie zum Delegierten gewählt, Ihnen Geld auf die Reise gegeben, folglich sind Sie ein Mitglied dieser geheimen Verbindung.«

Ich fand es vollständig unnötig, diese Tatsachen abzustreiten, aber ich bewies ohne die geringste Anstrengung, daß aus dem Vorgelesenen nichts dafür sprach, daß ich auch ein Mitglied des Arbeiterdeputiertenrats war. Also bestand mein ganzes Verbrechen darin, daß ich ins Ausland zur Agitation und zum Sammeln von Geld reisen wollte.

»Ist die Absicht, den westeuropäischen Sozialisten für ihre teilnahmsvolle Haltung zu der Lage unserer Arbeiter und für die materielle Unterstützung der Streikenden und von der Regierung Verfolgten zu danken, ein Verbrechen?« fragte ich.

»Daß das Geld zur Unterstützung der Arbeitslosen gebraucht wird, ist nur eine Redensart,« antwortete er. »Bei Ihnen existiert ja eine so strenge Einteilung der Kassen nicht, und die im Ausland gesammelten Mittel konnten ja auch für Anschaffung von Waffen, Bomben usw. verausgabt werden.«

»Das ist bei der Regierung und der Administration so gang und gäbe,« sagte ich, »häufig genug kommt es ja vor, daß Geld, welches für das Rote Kreuz und wohltätige Zwecke bestimmt war, in den Taschen der Befehlshaber und verschiedener Vorgesetzten verschwindet. Was aber die Verwendung des Geldes, welches ich im Ausland sammeln sollte, anbetrifft, so ist doch die Bestimmung darüber getroffen, daß es zur Unterstützung der Arbeiter verwendet werden soll; folglich kann mir aus meiner Absicht, Geld zu sammeln, kein Verbrechen angedichtet werden.«

Vielleicht wollte der Oberstleutnant, der die kaiserliche Militärakademie absolviert hatte, nicht zugeben, daß ich ihn vollständig widerlegt hatte, denn er begann plötzlich zu erzählen, daß die Revolutionäre im Interesse der westeuropäischen Kapitalisten und der jüdischen Bankiers handelten, von denen sie natürlich eine entsprechende Belohnung erhielten. Das geschehe deshalb, weil der überwiegende Teil der Revolutionäre aus Juden bestehe. Der Arbeiterdeputiertenrat habe sein bekanntes Manifest, in dem er dazu auffordert, die Anleihen der Regierung usw. nicht zu zeichnen, nur zum Vorteil der jüdischen Börsenspieler erlassen, die mit der Erhöhung und dem Fallen unserer Werte spekulierten. Und dieses Manifest habe auch der »Bund« unterschrieben, der ja nur aus Juden bestehe und folglich auch mit den jüdischen Bankiers und Kapitalisten der ganzen Welt Verbindung habe. Die Führer der sozialistischen Parteien seien ja auch nur Juden, wie Lenin, Markow, Starowèr und andere.

Beim Anhören dieser Tirade mußte ich mich halten, um nicht in Lachen auszubrechen. Ich antwortete ihm kühl, daß mir solche antisemitischen Ansichten wohl bekannt seien, und wenn man sie in den ausländischen Zeitungen wiedergeben würde, so könnte das zum Fallen der russischen Werte sehr viel beitragen. Die westeuropäischen Kapitalisten könnten daraus etwa folgenden Schluß ziehen: »Wenn ein Oberst, ein Mann mit höherer Bildung, so denkt, wie kann man zur Regierung eines solchen Landes Vertrauen haben?«

Er wurde verlegen und wollte weiter sprechen, aber ich erklärte ihm, ich wolle mich über dieses Thema nicht weiter mit ihm unterhalten.

Darauf erklärte er, daß außer der Beschuldigung wegen des Zweckes meiner Auslandreise man mich noch wegen Teilnahme am Moskauer bewaffneten Aufstand anklage.

Staunend fragte ich: »Worauf begründen Sie denn das?«

»Nun, hören Sie!« Er nahm ein Schreiben und las mir den Polizeibericht vor, worin stand, daß ich laut Hausbuch im Dezember mich abmeldete mit der Angabe, ich reise nach Moskau, und als ich zurückkehrte, hätte ich gemeldet, ich wäre aus dem Ausland gekommen. »Das war ja gerade zu der Zeit, als in Moskau der Aufstand war und von hier ganze Züge mit Revolutionären dorthin abgingen; das Ziel ihrer Reise haben Sie zweifellos richtig angegeben, als Sie aber nach der Unterdrückung des Aufstandes wieder zurückkehrten, meldeten Sie, Sie kämen aus dem Ausland.«

Aus seiner Stimme sprach die feste Überzeugung, daß ich in diesem Falle schuldig sei, deshalb hatte er diese Mitteilung bis zuletzt aufgehoben.

Meine Wirtin hatte damals aus Vergeßlichkeit oder aus Versehen ins Hausbuch »Moskau« anstatt »Mohilew« geschrieben. Aber bei unseren Sitten und Gebräuchen ist ein solch kleiner Fehler schon genügend, um ernste Unannehmlichkeiten hervorzurufen: es ist bei uns leicht, bezahlte und unbezahlte Zeugen, soviel man nur will, zu finden, die beschwören würden, daß sie mich selbst in Moskau auf den Barrikaden hätten kämpfen sehen.

Der ganzen Welt ist bekannt, wie schnell die verschiedenen Strafexpeditionen, Feldgerichte und andere Gerichts- und Administrativbehörden über vollständig unschuldige Menschen, die ihnen zufällig in die Hände kommen, Gericht halten. Wieviel haarsträubende Todesurteile werden bei uns nur auf die Aussagen von Gendarmen, Polizisten, Spionen und sonstigen Angehörigen des »schwarzen Hundert« hin gefällt!

Doch mir wurde es nicht schwer, diese blödsinnige Behauptung zu widerlegen. Die Polizei hatte wahrscheinlich aus Nachlässigkeit von meiner wirklichen Reise ins Ausland nichts berichtet, aber dafür hatte sie die unrichtige Notiz aus dem Hausbuch angegeben. Ich begriff das sofort und sagte, daß ich geschäftlich im Ausland war, davon könne man sich sehr leicht überzeugen, man brauche nur aus dem Archiv des Stadthauptmanns meinen Auslandpaß, den ich dort zurückgegeben hatte, zu verlangen.

Mein Paß bewies dem Oberstleutnant – er ließ ihn sich aus der Kanzlei kommen –, daß die Beschuldigung, ich hätte am Moskauer Aufstand teilgenommen, nicht aufrecht zu erhalten war. Es blieb also noch die Frage des mir abgenommenen Geldes übrig. Die Summe von 150 Rubeln gehörte wirklich dem Deputiertenrat, und ich gestand dies auch ein; das übrige Geld war mein eigenes, das ich durch literarische Arbeiten verdient hatte, was mir auch nicht schwer war zu beweisen; aber ich halte es für unbedingt nötig, beim Verhör nie einen Namen zu nennen, wenn auch die genannten Personen nicht im geringsten darunter leiden konnten. Ich überließ es den Behörden selbst, den richtigen Ursprung meines Geldes zu entdecken.

Als er sah, daß man mir gegenüber keine Anklage aufrecht erhalten konnte, bemerkte er:

»Sie mußten doch einen Grund haben, unter fremdem Namen zu leben?«

»Ich befolgte nur den Rat des Vizedirektors des Polizeidepartements.«

»Wieso das?« fragte er verwundert.

»Als ich aus dem Ausland zurückkam, wandte ich mich an die Rechtsanwaltskommission zugunsten der Administrierten mit der Bitte, sich gehörigen Ortes zu erkundigen, ob ich ungehindert in Petersburg leben könne. Nach einigen Tagen teilte man mir mit, daß der Vizedirektor des Polizeidepartements gesagt hätte, daß ich nur ›vorläufig so leben sollte‹. Diesen Rat befolgte ich und lebte auch ›so‹.«

In diesen Tagen beschäftigten sich viele Beamte der Regierungsbehörden und des Polizeidepartements mit der Vorbereitung von Pogromen, und andere, die nicht wußten, welche Strömung die Oberhand im Lande behalten würde, schwankten: sie waren sogar bereit, etwas zu »liberalisieren«. Nur aus dieser unbestimmten Lage heraus war es zu erklären, daß der Vizedirektor mir geraten hatte, daß ich »vorläufig so leben sollte«.

Ich weiß nicht, ob der Oberstleutnant dem nachgeforscht hat; späterhin war davon nicht mehr die Rede. Zum Schlusse des Verhörs mußte sogar dieser Gendarmerieoffizier anerkennen, daß gegen mich wirklich keine Verdachtsgründe vorlagen.

»Wozu hält man mich denn in der Peter-Pauls-Festung gefangen?« fragte ich.

»Ich weiß nicht,« antwortete er, »vielleicht für Ihre alten Sünden.«

Aber für meine alten Sünden hatte ich doch in der Zwangsarbeit gebüßt; es schien, als ob man mir gegen die herrschende Regel von zwei Seiten das Fell über die Ohren ziehen wollte.

*

Zurück in die Festung begleiteten mich nur die Gendarmerieunteroffiziere, und dieser Umstand löste uns allen dreien die Zunge.

Die Gendarmen wechselten erst gegenseitig ein paar Worte, und dann kam die Unterhaltung in Fluß.

»Was gibt es Neues in der Freiheit?« fragte ich.

»Es ist ringsum still, alles ist erstorben,« antwortete einer von ihnen. In dem Tone, mit dem er dies sagte, lag eine sympathische Färbung.

»Und wie geht es euch?« warf ich ein.

»So schlecht, daß Gott bewahre!« riefen beide in einem Tone aus und fingen an, sich über ihre schlechte materielle Lage zu beklagen. Sie jammerten über die Unmöglichkeit, bei ihrem Gehalt die Ausgaben mit den Einnahmen in Einklang zu bringen.

»Was macht es euch denn für Vergnügen, als Gendarmen zu dienen? Ihr wißt ja, daß euch alle verachten,« bemerkte ich.

»Das wissen wir wohl,« erwiderte der eine, »man zählt uns zu den schlimmsten Mördern. Ja, was soll man denn tun? Essen und trinken muß man doch!«

Der weiche Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, zeigte, daß dieser Gendarm nicht zum »schwarzen Hundert« gehörte; ich wollte ihn kennen lernen.

»Warum sind Sie denn Gendarm geworden?« fragte ich ihn.

»Ich konnte nirgends unterkommen. Ich habe hier den Dienst in der Garde beendet, dann ging ich wieder ins Dorf zurück. Unsere Familie ist sehr groß, der Landanteil ganz geringfügig. Meine Brüder schlagen sich kaum mit Brot und Kwas durch, und wenn noch eine Mißernte eintritt, dann hungern sie. Ich ging fort, um Arbeit zu suchen. Glauben Sie mir, ich habe oftmals den ganzen Tag für 20 Kopeken gearbeitet. Alle Knochen haben mir weh getan, aber ich konnte mich nicht einmal in Brot sattessen. So habe ich mich halb hungernd durchgeschlagen, dann verkaufte ich den Brüdern meinen Landanteil für 20 Rubel und kehrte wieder zurück. Zuerst ging ich in eine Fabrik, aber ich kenne kein Handwerk. Als Taglöhner erhielt ich 70 bis 80 Kopeken im Tage. Kaum hat man einen Tag gearbeitet, so braucht man uns nicht mehr; dann entsteht ein Streik, und man sitzt wochenlang ohne jedes Einkommen. Da bin ich schließlich in diesen verfluchten Dienst eingetreten.«

Auch der andere Gendarm erzählte mir seine Schicksale. Er war ein Petersburger Kleinbürger, verheiratet und hatte Familie. Er mußte bei der Mobilisierung mit einrücken, hatte die Port-Arthur-Belagerung mitgemacht, wurde verwundet und kehrte nach seiner Wiederherstellung in die Hauptstadt zurück. Hier quälte er sich mit seiner Familie ab, bis es ihm schließlich gelang, Gendarm zu werden.

»Nun seht ihr ja selbst, wie schwer es einem armen Menschen wird, das Leben zu fristen; wenn wir Sozialisten euch erklären wollen, woher das kommt und wie man das ändern kann, dann sagt ihr, wir gehen gegen den Zaren, sind Vaterlandsfeinde und – verhaftet uns!«

»Solche Dummköpfe, die das sagen, finden Sie schon nicht mehr oft unter uns,« sagte der Gendarm aus dem Dorfe. »Unter den Herren Offizieren gibt es ja genug solche, aber wir unteren Chargen verstehen sehr gut, daß ihr für uns, für das Volk seid, daß ihr Land und Freiheit und eine konstituierende Versammlung wollt. Glauben Sie denn, wir verstehen nichts? Wir lesen auch Bücher und Zeitungen. Nur zu den Meetings kann unsereiner nicht gelangen: man verabscheut unsere Uniform und glaubt, wir sind gekommen, etwas auszuschnüffeln. Und wenn wir einen Zivilanzug anlegen, glaubt die Obrigkeit, daß wir nicht auf ihrer Seite stehen, und jagt uns aus dem Dienste.«

Inzwischen erreichten wir das erste Tor der Peter-Pauls-Festung.

»Es ist wahrscheinlich sehr schwer, hier zu sitzen?« fragte mit sichtbarem Mitgefühl der Gendarm, der den Krieg mitgemacht hatte.

»Abscheulich!« antwortete ich. »Und was würden Sie wählen, wenn man Ihnen vorschlagen würde, entweder wieder in den Krieg zu ziehen, wo man Sie verwunden und töten kann, wo Sie viel Unglück und Entbehrungen ertragen müssen, oder ein Jahr in dieser Festung zu sitzen, wie wir?«

»Im Kriege ist es viel besser!« rief der Petersburger aus. »Dort ist es zwar gefährlicher, schwerer, aber immerhin ist dort Leben, Kampf! Und hier wird es einem schwer ums Herz, wenn man nur das Gebäude ansieht. Wie viel wir auch in Port Arthur durchgemacht haben, ich würde doch vorziehen, noch einmal dort alles mitzumachen, als in diesem Steinsarg zu sitzen. Wir wundern uns alle, wie Sie das ertragen können!«

*

Die Unterhaltung mit dem Oberstleutnant und dann mit den Unteroffizieren war für mich eine große Zerstreuung; sie brachte etwas Neues in dieses eintönige Leben und gab den Gedanken Nahrung für einige Tage.

Es ist schlecht um den Monarchismus bestellt, dachte ich, wenn die Freiheitsideen auch unter den Gendarmen Einzug gehalten haben. Ich erinnerte mich dabei früherer Zeiten und im Geiste zogen an mir manche Episoden der Vergangenheit vorüber.

Ich sah mich als unmündigen Jüngling, der die tiefe Überzeugung hatte, daß es genügen würde, dem Volk die Ursachen seiner Entbehrungen und Leiden zu erklären und ihm unser Ideal des Zukunftstaates zu zeigen; es würde uns leicht verstehen, sich von unseren Ideen durchdringen lassen und sich dann wie ein Mann zum Kampfe für unser Ideal erheben. Wie leicht und einfach schien mir und vielen anderen damals unsere Aufgabe! Man brauchte nur seinen bürgerlichen Gewohnheiten zu entsagen, und sich vollständig der Sache des Volkes zu widmen, dann mußte jene Schranke fallen, die wir nicht imstande waren zu überwinden.

Wie lebendig erstanden sie vor mir, die herrlichen Gestalten, jene Mädchen und Jünglinge, welche frei und ungebunden unsere Ideen unter den Arbeitern und Bauern verkündeten! Gleich jenen zahllosen Kreuzträgern, welche untergingen, bevor sie ihren weiten und gefahrvollen Weg zurücklegten, mußte auch die große Mehrzahl der jungen russischen Enthusiasten ihr Leben lassen, ohne das geringste Anzeichen, daß ihr Ziel in der Nähe sei, gesehen zu haben. Selbst als sie in den Gefängnissen Sibiriens und in der Zwangsarbeit verschmachteten, waren sie fest davon überzeugt, daß die Zeit nicht mehr fern wäre, wo alle Arbeitenden sich gleicher Rechte erfreuen und glücklich sein würden.

»Ich bin fest überzeugt,« sagte Kibaltschitsch im Jahre 1877, »daß in höchstens zehn Jahren die Revolution ausbrechen wird.«

Nicht nur junge Mädchen und Jünglinge waren von einem solchen Optimismus erfüllt, sondern auch die ergrauten Führer der damaligen Jugend, wie Lawrow, Bakunin und andere, sie glaubten an eine nahe bevorstehende soziale Umwälzung in Rußland.

»Die soziale Revolution in Rußland wird entweder bald stattfinden oder niemals,« schrieb im Jahre 1875 Tkatschow in seinem offenen Brief an Engels.

Ich gedachte dann einer zwar nicht so zahlreichen, aber noch immer langen Reihe anderer Altersgenossen, welche die Tätigkeit der Propagandisten und Narodniki für erfolglos hielt und mutig den noch nie dagewesenen Zweikampf, der die Verwunderung der ganzen zivilisierten Welt hervorrief, aufnahm.

Aber auch dieses Häuflein Helden, die alle durch ihre Energie und wunderbare Erfindungskraft Staunen erregten, ging in dem ungleichen Kampf mit dem mächtigen und starken Feinde unter, ohne den schweren, alle bedrückenden und allen gleich verhaßten Staatsbau einen Zoll von der Stelle zu rühren. Diese Kämpfe für eine bessere Zukunft Rußlands waren von tiefem Glauben an die Nähe der besseren Zeit beseelt.

Lebendig stiegen die Gespräche mit dem schon längst ins Grab gesunkenen Sheljabow, mit Perowskaja, Kwjatkowski und anderen vor mir auf.

»Einige erfolgreiche Zarenmorde, und in Rußland wird eine Staatsordnung erstehen, wie sie besser nirgends existiert,« hatte einst Alexander Michailow, welcher, wie bekannt, zu den berühmtesten und entschiedensten Terroristen gehörte, zu mir gesagt.

Daher ist es nicht zu verwundern, daß manchem mit dem Untergang dieser Revolutionäre der letzte Lichtstrahl erloschen zu sein schien. Viele wurden damals vollständig von der revolutionären Tätigkeit enttäuscht und gerieten in Verzweiflung. Die einen verschwanden ganz von der Bildfläche, mit anderen ging etwas noch viel Schrecklicheres vor: sie gingen in das Lager der Unterdrücker alles Lebendigen und Gesunden im Lande über, in das Lager der Feinde des Volkes. Aber beide Teile irrten sich sehr.

Nach einer langen, andauernden Reaktion traten neue Kämpfer, die noch stärkere Waffen als ihre Vorgänger zur Verfügung hatten, in den Vordergrund.

»Nicht durch Zarenmorde wird Rußland aus seinem jetzigen Zustand in neue Bahnen geführt werden!« sagte G. W. Plechanow nach dem erfolgreichen Attentat auf Alexander II., während alle fortschrittlichen Leute von dem Erfolg der »Norodowolzi« hingerissen waren. »Den Terroristen wird es vielleicht noch gelingen, eine oder zwei solcher Taten auszuführen, aber sie werden keine bedeutende Änderung des herrschenden politischen Systems herbeiführen. Nur die Lehre Karl Marx', die auch auf die russischen Zustände anzuwenden ist, nur die Propaganda und die Agitation unter den Arbeitern auf Grundlage dieser Lehre wird den unbesiegbaren Bekämpfer der Selbstherrschaft schaffen.« Viele werden sich noch des Spottes und der Geringschätzung, mit der die Lehre eines der größten Denker der Menschheit bei uns aufgenommen wurde, erinnern. Doch Plechanow und seinen Anhängern gelang es sehr bald, die frühere Theorie, welche lange Zeit unumschränkt unter dem vorgeschrittenen Teil unserer Genossen geherrscht hatte, wie einen alten Trödel beiseite zu schieben. Auf der Bildfläche erschien ein neuer Faktor, der russische Arbeiter, welcher sich mit aller Energie des von dem fortgeschrittenen Teil der russischen Gesellschaft angefangenen Werkes annahm.

Außer den sympathischen Zügen, welche der revolutionären Jugend eigen waren, trug das Proletariat gerade das in den Freiheitskampf, was dieser fehlte. Der russische Arbeiter, hervorgegangen aus den Schichten des arbeitenden Volkes, mußte beständig die Folgen der Not, der Rechtlosigkeit und Unwissenheit an seinem eigenen Leibe ertragen und verfügte daher über das Mittel, in die Tiefen des Volkes einzudringen und von diesem leicht verstanden zu werden. Deshalb gelang es ihm, die neuen Ideen und Bestrebungen in die verschiedensten Kreise zu tragen.

Natürlich war die Mühe der früheren Revolutionäre nicht umsonst. Langsam und unbemerkt für den täglichen Beobachter ging der in den Boden des Volkes gestreute Same auf und erhielt sich trotz des anhaltenden Winters mit der grimmigen Kälte und den rauhen Stürmen an manchen Orten und trieb bei den ersten Strahlen der Frühlingssonne gesunde Keime.

Nein, der Tag, wo die Freiheit in Rußland wirklich triumphieren wird, kann nicht mehr lang auf sich warten lassen, und das Volk, welches infolge des jetzt herrschenden grausamen Regimes sinn- und zwecklos zugrunde ging, wird ein neues Leben beginnen.

So dachte ich, indem ich auf dem schmalen Pfad, den viele Geschlechter von Gefangenen in der Peter-Pauls-Festung in den Steinboden eingetreten hatten, auf und ab ging.

*

Seit meiner Überführung in die Peter-Pauls-Festung waren zwei Wochen verstrichen und mein Geld, welches in der Kanzlei des Zellengefängnisses aufbewahrt wurde, war noch immer nicht »dem Ort meiner neuen Haft« zugestellt worden. Ich schrieb darauf dem Inspektor des Zellengefängnisses einen Brief, in dem ich anfragte, nach welchem Gesetz oder auf wessen Befehl hin mein Geld nicht, wie üblich, dem Ältesten der Eskorte, die mich hierher brachte, eingehändigt worden wäre, damit er es der Kanzlei der Festung übergeben könnte. Mir war ganz genau bekannt, daß es sogar Personen gegenüber, die zu Zwangsarbeit verurteilt waren, auch so gehalten wurde.

Einige Tage darauf zeigte man mir die schriftliche Mitteilung des Direktors des Polizeidepartements an den Kommandanten der Peter-Pauls-Festung, worin ihm mitgeteilt wurde, daß anbei so und so viel mir gehörige Rubel folgten. Auf meine Anfrage erhielt ich natürlich keine Antwort; aber es war mir ohnedies klar, daß man mich auf direkte Verfügung des Direktors des Polizeidepartements längere Zeit der Möglichkeit beraubt hatte, mit meinen eigenen Mitteln die Gefängniskost zu verbessern. Dieses deutliche Bestreben der Departementshelden, meine Lage möglichst zu verschlechtern, setzte mich mehr in Erstaunen, als es mich kränkte. Wie aus den Enthüllungen des Gehilfen des Ministers des Innern Fürsten Urussow und des Direktors des Polizeidepartements Lopuchin hervorging, hatten jene Menschen, die sich mit der Inszenierung von Pogroms beschäftigten, vollständig freie Hand, ein Mittel anzuwenden, um mich die Herrlichkeiten der Einkerkerung im steinernen Sarg vollauf fühlen zu lassen und dadurch bei mir den Skorbut zu bewirken oder sonst eine ernstere und gefährliche Krankheit zum Ausbruch zu bringen.

Geistig hielt ich mich anfangs ganz gut, jedenfalls hielt mein jetziger Zustand keinen Vergleich mit dem vor zwanzig Jahren aus. Doch Monat um Monat verging, ich wurde festgehalten, obwohl selbst der antisemitische Gendarmerieoberst zugegeben hatte, daß gegen mich keine Verdachtsgründe vorlagen.

Bald begann sich auch bei mir die Abgeschiedenheit von der Welt fühlbar zu machen.

Schon die Einzelhaft erzeugt bei vielen eine eigenartige Stimmung, die man ruhig als krankhaften Zustand bezeichnen darf. In der von mir beschriebenen Zeit war der Aufenthalt im Gefängnis und hauptsächlich in der Peter-Pauls-Festung, wohin nicht die geringste Nachricht von der Außenwelt dringt, manchmal unbeschreiblich qualvoll. Die Nerven waren äußerst abgespannt und alle Gedanken nur auf den einen Punkt konzentriert: »Was mag wohl jetzt jenseits der Kerkermauern vorgehen?« Besonders schlecht fühlte man sich in der Dämmerstunde, kurz nach dem Abendessen. Die geringste Ursache genügte, um die Nerven ganz zu zerrütten.

An einem solchen Abend, gegen Ende März, ertönte plötzlich auf dem Korridor der verzweifelte, herzerschütternde Schrei einer Frau. Ich dachte sofort an irgend eine Katastrophe und erinnerte mich an die Geschichte der unglücklichen Wetrowa, die sich in ihrer Kasematte mit Petroleum begossen hatte und verbrannte.

Ohne nachzudenken und zu erwägen, was für Folgen die Unterbrechung der ringsum herrschenden Stille haben konnte, stürzte ich zur Tür und schlug mit Händen und Füßen dagegen. Das taten wahrscheinlich auch meine Nachbarn, denn ringsum ertönte ein ohrenbetäubender Lärm. Bald hörte man Schritte; die Gucklöcher in den Türen wurden geöffnet, die Stimmen jedoch konnte ich nicht unterscheiden; aber das schreckliche Schreien der Frau verstummte nicht. Endlich kam man auch an meine Tür; das Guckloch wurde von den wachthabenden Gendarmen und Unteroffizieren aus dem Festungskommando geöffnet.

Laut der Instruktion mußten immer mehrere zusammen sein, um sich gegenseitig zu beobachten und damit eine Annäherung an die Gefangenen zu vermeiden.

»Was hat es gegeben? Warum schreit die Gefangene?« fragte ich die Wachthabenden.

»Wir können es nicht sagen, es ist uns verboten, Ihnen irgend etwas zu erzählen. Beruhigen Sie sich, es ist wirklich nichts Besonderes!« antworteten die Wachthabenden ziemlich höflich.

»Nun, dann rufen Sie den Oberst; wir können uns nicht beruhigen, solange wir das Schreien hören!«

»Es ist schon zu spät, um es ihm zu berichten, morgen früh wird er kommen.«

Es blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Das Schreien hörte indes nicht auf, obwohl es schwächer, gedämpfter wurde und manchmal aussetzte. Ich konnte lange nicht einschlafen, immer dachte ich, die unglückliche Frau liege in den letzten Zügen. Morgens ertönte wieder dasselbe schreckliche Schreien. Ich rief den Wachthabenden und forderte abermals, den Direktor herbeizurufen. Dieser kam denn auch gegen Mittag.

Oberst Werowkin, der im Kriege am Kopfe verwundet wurde, war taub und bediente sich eines Hörrohrs. Sich mit ihm zu unterhalten, war deshalb keine leichte Aufgabe, man mußte die Worte laut sprechen, und dennoch kamen Mißverständnisse vor.

»Sie wünschten mich zu sehen?« wandte er sich an mich, als er in die Zelle trat.

»Ich möchte nur erfahren, was die Ursache des schrecklichen Schreiens war. Sie werden wohl verstehen, daß die Nerven bei allen Gefangenen sich schon ohnehin in sehr gereiztem Zustand befinden, und es genügt die kleinste Veranlassung, um sie ganz zu zerrütten. Wir können uns nicht gleichgültig verhalten, wenn jemand leidet, ohne daß wir wissen warum.«

»Es ist nichts Schreckliches passiert,« sagte er, »es ist ein nervenkranker Mensch. Ich war gerade mit dem Arzt bei ihm; man wird den Kranken bald ins Hospital überführen.«

Er hielt sich streng an die Instruktion, die verbot, dem Gefangenen etwas zu berichten, und verheimlichte mir, daß es eine Frau war. Doch sein Ton war überzeugend und seine Worte wirkten beruhigend auf mich ein.

»Sie müssen unbedingt alle Gefangenen aufsuchen, um sie zu beruhigen,« sagte ich. Das Geräusch, welches das Öffnen der Schlösser verursachte, zeigte mir an, daß er meinen Rat befolgt hatte.

Später gelang es mir zu erfahren, daß die Nervenkranke eine ältere Frau O. war, die man zusammen mit ihrer Tochter verhaftet hatte. Da die unglückliche Mutter nicht wußte, was aus ihrer Tochter geworden, geriet sie vollständig in Verzweiflung. Doch man brachte sie nicht in ein Krankenhaus, wie Oberst Werowkin mir gesagt hatte, sondern sperrte sie erst zwei Tage lang in den Karzer und brachte sie dann ins Lazarett des Litauer Gefängnisses.

Während meines Aufenthaltes in der Peter-Pauls-Festung kamen auf meinem Korridor noch zwei ähnliche Fälle von Nervenerkrankungen vor. Das furchtbare Schreien der Kranken wirkte geradezu vernichtend auf mich, und ich mußte alle meine Kraft anstrengen, um dem ansteckenden Beispiel nicht zu folgen.

Mein Befinden verschlimmerte sich täglich. Als die Zeit der Wahlen zu der Reichsduma näher kam, erreichte meine Abgespanntheit den Höhepunkt. Daß die Duma am 27. April (10. Mai) 1906 zusammentreten sollte, erfuhr ich ganz zufällig. Mit diesem Tag begann meine qualvollste Zeit.

»Findet eine Wahlagitation statt? Welche Parteien haben die meisten Aussichten auf Sieg? Wen haben sie als Kandidaten aufgestellt?« Diese und ähnliche Fragen bohrten sich gleich einem Nagel in meinen Kopf, verhinderten jede Möglichkeit, an irgend etwas anderes zu denken oder etwas Ernstes zu lesen. Unerträglich war der Gedanke, daß in allernächster Zeit sich Ereignisse abspielen würden, die für das Land von größter Wichtigkeit waren und an deren Verwirklichung Generationen, unbekümmert um die endlose Reihe von Opfern, gearbeitet hatten; daß ich in solcher Zeit nicht einmal flüchtig in ein Zeitungsblatt blicken konnte, um zu erfahren, was draußen vorging, das brachte mich fast in Verzweiflung.

*

Im Jahre 1906 hielt der Frühling sehr früh seinen Einzug in Petersburg: schon anfangs April taute auf dem von allen Seiten von Mauern umgebenen Festungshof der tiefe Schnee, und es zeigte sich das erste Grün. Die wenigen Bäume und Sträucher, die sich dort befinden und ein kleines Gärtchen bilden, fingen an, sich mit Knospen zu bedecken. Außer der großen Anzahl Tauben, die sich überall in der Festung eingenistet hatten, flatterten noch andere Vögelchen umher und zwitscherten. Ein Widerschein der zum neuen Leben erwachten Natur drang auch durch die hohen steinernen Kerkermauern zu uns und brachte mit den ersten Strahlen der Frühlingssonne auch die Hoffnung auf baldige Befreiung. Mit Beginn des Frühlings wurde die Zeit des Spazierganges von fünfzehn auf zwanzig Minuten verlängert. Fünf Minuten länger sich im Freien anstatt in der dumpfen Gruft aufhalten zu dürfen, ist für den Eingekerkerten ein Genuß, mit dem sich nur wenige Vergnügen, die man in der Freiheit genießt, vergleichen lassen. Die plötzliche Verlängerung der Spaziergänge war auch ein erfreuliches Zeichen dafür, daß die Zahl der Gefangenen sich verringert hatte.

»Beginnt man allmählich, uns zu befreien? Kommt vielleicht auch bald die Reihe an dich?« ging es unwillkürlich mir durch den Kopf.

Für mich brachte diese Zeit auch ein frohes Ereignis. Als ich einst auf meinem Spaziergang dem auf Posten stehenden Gendarm nicht sichtbar war, da mich die kleine, im Hofe befindliche Badestube seinen Blicken entzog, fragte mich der neben mir her gehende Unteroffizier in leisem Tone: »Kennen Sie Parvus?« Ich verstand nicht, von wem er sprach. Als ich zum zweitenmal die Runde machte und mich wieder hinter der Badestube befand, fragte ich ihn, wen er meine, und erfuhr, daß er meinen Freund, den bekannten Schriftsteller Parvus, im Sinne hatte. Diese plötzliche Entdeckung bereitete mir unaussprechliches Vergnügen, und bei der nächsten Gelegenheit sagte ich dem Unteroffizier, daß ich den Herrn sehr wohl kenne. »Nun, er hat gebeten, Sie zu grüßen,« flüsterte er mir zu.

Wie ich bereits erzählt habe, hatte ich Parvus am Vorabend meiner Verhaftung zum letztenmal gesehen, und seit jener Zeit wußte ich nicht mehr, was mit ihm vorgegangen war. Seinen Gruß konnte ich mir nur auf folgende Weise erklären: entweder war dieser Unteroffizier einer der Unseren und traf sich mit den Genossen hinter den Mauern des Kerkers, oder Parvus saß auch in der Festung.

Bei der nächsten Runde bestätigte der Unteroffizier meine letzte Vermutung und nannte die Nummer der Zelle, in welcher Parvus sich befand. Nähere Einzelheiten von ihm zu erhalten, gelang mir nicht.

Während der vielen Monate meiner Festungshaft war dies das einzige Mal, daß es mir gelang, Nachricht von einem meiner Genossen, die auch dort saßen, zu erhalten. Ich erfuhr später während einer Unterhaltung mit Parvus, daß dieser Unteroffizier aus gutem Herzen seine Bitte erfüllte, obwohl er sich durch diesen kleinen Dienst der größten Gefahr aussetzte.

Trotzdem sich die wachthabenden Gendarmen und Festungsoffiziere gegenseitig streng beobachteten und trotz der strengen Aufsicht über alle von seiten des »älteren« Inspektors und sonstiger Beamten, gelang es doch, hier und da ein kurzes Gespräch mit einem Gendarmen oder Festungsoffizier anzuknüpfen; denn unter ihnen gab es sehr sympathische Menschen, die von aufrichtiger Teilnahme für uns durchdrungen waren. Ihr Dienst ist außerordentlich schwer und wird sehr kärglich bezahlt. Sie setzten deshalb auch ihre Hoffnung auf die Reichsduma.

»Vielleicht wird die Duma auch für uns etwas tun!« sagte einst ein Gendarm zu mir.

Und endlich brach der von der ganzen Bevölkerung sehnsüchtig erwartete 27. April (10. Mai) an. Es war, als ob an diesem Tage etwas Besonderes geschehen müsse. Ich konnte unmöglich glauben, daß er in der Festung unbemerkt vorübergehen sollte. Jedoch der Morgen verging wie immer; es wurde Mittag, die Dämmerung brach an, wie gewöhnlich öffnete man die Türen und Gucklöcher, man brachte uns das Essen, dann machten wir unseren Spaziergang, dann wurde es Abend. Dasselbe Spiel der Glocken und der bis zum Tode verleideten Hymne!

»Ist der Tag auch draußen so eintönig und farblos verlaufen? Hat die erste Versammlung der Erwählten des Volkes nicht die geringste Veränderung im gewöhnlichen Gange der Dinge gebracht? Nein, dort herrscht sicher überall große Lebhaftigkeit; es finden Meetings, Demonstrationen statt, das Volk jauchzt den Abgeordneten zu, diese wenden sich zu ihm mit Reden ... Aber ist es dann möglich, daß bei uns alles so bleibt wie in den reaktionärsten Zeiten?« zweifelte ich wieder.

So verbrachte ich die Zeit in vollständiger Unkenntnis, was in der Welt vorging. Ich wußte nicht einmal, ob die Duma zusammengetreten war. Man kann sich deshalb leicht vorstellen, was wir lebendig Begrabenen in diesen Tagen durchmachten.

Nach ungefähr vierzehn Tagen klopfte mir mein Nachbar, daß die Duma zusammengetreten wäre und die führende Rolle die konstitutionellen Demokraten hätten. Auf welchem Wege er das erfahren hatte, kann ich hier nicht berichten. Nur wenige waren in dieser Beziehung so glücklich wie mein Nachbar und ich.

Die überwiegende Bedeutung der konstitutionell-demokratischen Partei in der Reichsduma und zugleich die fortgesetzte Verhaftung vieler »Staatsverbrecher« ohne die kleinste Änderung des Regimes, das waren für mich unvereinbare und unbegreifliche Widersprüche. Da ich von den Debatten über eine allgemeine Amnestie nichts wußte, glaubte ich, daß die Abgeordneten uns Eingekerkerte gänzlich vergessen hätten, und fand es deshalb empörend, daß intelligente, denkende und fühlende Menschen imstande waren, über irgend etwas zu beratschlagen, bevor nicht alle Gefangenen der Freiheit zurückgegeben waren.

»Alles geschieht nicht auf einmal,« überlegte ich und bemühte mich, ruhig und vorurteilslos zu sein. »Sicher wird ein neues Gesetz über Staatsverbrechen ausgearbeitet, und bevor es nicht angenommen worden ist, kann eine allgemeine Amnestie nicht erlassen werden.«

Woche auf Woche verging und bei uns blieb alles beim alten.

Die Ungeduld wuchs, und mein Zustand wurde immer gereizter.

Das leiseste Geräusch, die geringste Bewegung auf dem Korridor rief die Hoffnung wach, man komme, uns die Freiheit zu bringen. Oft öffnete sich die Tür wirklich, und dann kam die Enttäuschung, denn immer nur war der Gendarm oder Festungsunteroffizier gekommen, um die gewöhnlichen Obliegenheiten zu erfüllen. Dadurch wurde natürlich die Ungeduld von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde gesteigert.

»Was tun sie denn eigentlich in der Duma?« fragte ich mich und beantwortete mir die Frage selbst nicht gerade schmeichelhaft für die Mitglieder: »Wahrscheinlich verbringen sie die Zeit mit langen und nutzlosen Reden!« Bald erfuhr ich durch Zufall, daß die Duma ein Gesetz über Amnestie und Übergabe des Bodens an das Volk eingebracht hatte. Das war ungefähr einen Monat nach ihrem Zusammentritt.

»Nun, jetzt wird man uns wohl alle bald befreien.« Ebenso dachten wohl auch die Beamten, denn der Inspektor schlug meine Bitte, meine Brille reparieren zu lassen, ab, indem er erklärte, daß man uns bald entlassen werde. »Wo werde ich Sie dann finden, um sie Ihnen zurückzugeben?« fügte er hinzu.

Der Mai ging vorüber, es wurde Juni, und wir saßen noch immer in der Festung. Erst Mitte Juni erschien eines Tages ein Gendarm und der Festungsunteroffizier in meiner Kasematte, übergaben mir meine eigenen Kleider und sagten, ich solle mich auf den Weg machen.

Ich warf mit einem Rucke die Arrestantenkleider ab und zog meine eigene Wäsche und Kleider an. Ich beeilte mich soviel ich konnte, weil ich glaubte, meine Befreiungsstunde hätte geschlagen. In Begleitung der Gendarmen ging ich durch den Korridor, und als ich an den anderen Kasematten vorbeiging, schrie ich aus Leibeskräften:

»Lebt wohl, Genossen!« und ich nannte meinen Namen.

Die Gendarmen waren entsetzt, daß ich die ringsum herrschende Grabesstille zu unterbrechen wagte. Der ältere stürzte auf mich zu, um mir den Mund zu verstopfen, doch es gelang mir noch einmal, meinen Abschiedsgruß zu rufen.

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