Alphonse Daudet
Fromont junior und Risler senior - Zweiter Band
Alphonse Daudet

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Fünfzehntes Kapitel.

»Mamselle Zizi, armes Kind.«

Désirée war glückselig.

Wie in der alten, schönen Zeit setzte sich Franz auch jetzt wieder Tag für Tag auf den Schemel zu ihren Füßen, aber nicht, um von Sidonie zu sprechen.

Sobald sie morgens zu arbeiten anfing, sah sie langsam ihre Thür aufgehen. »Guten Morgen, Mamsell Zizi . . .« er nannte sie jetzt immer so, mit ihrem Kindernamen, und es war nicht zu sagen, wie hübsch dies »Mamsell Zizi« klang.

Abends warteten sie zusammen auf den »Vater«, und er erzählte ihr so schaurige Geschichten von seinen Reisen, daß sie aus dem Grauen nicht herauskam.

»Was ist's denn mit dir? Du bist ja ganz verändert!« sagte Mama Delobelle, voll Erstaunen, sie jetzt so heiter und vor allem so beweglich zu sehen. Denn statt wie bisher, mit der Entsagung einer kleinen Großmutter in ihrem Lehnstuhl auszuharren, stand die kleine Lahme jetzt alle Augenblicke auf, ging mit einer Leichtigkeit, als ob ihr Flügel gewachsen wären, ans Fenster, blieb dort hochaufgerichtet stehen und fragte ihre Mutter im Flüstertone: »Sieht man es auch, wenn ich nicht gehe?«

Bisher hatte sich ihre Eitelkeit auf ihr hübsches, kleines Köpfchen beschränkt, jetzt erstreckte sie sich, wie ihr gelöstes, leicht gelocktes Haar, über ihre ganze zierliche Gestalt. Sie war jetzt wirklich sehr, sehr eitel . . . das mußte jedermann auffallen. Selbst die Vögel und Käfer hatten ein ganz ungewöhnlich kokettes Aussehen.

Ja, Désirée Delobelle war glückselig. Seit einigen Tagen sprach Monsieur Franz davon, sie alle aufs Land hinauszuführen, und da der Vater, der immer so gütig, so großmütig war, nichts dagegen hatte, daß sich Mutter und Tochter ein Erholung gönnten, brachen sie alle vier eines Sonntagmorgens auf.

Man kann sich's gar nicht vorstellen, wie schön das Wetter an diesem Tage war. Als Désirée um sechs Uhr früh das Fenster öffnete und durch den Morgennebel die warme, leuchtende Sonne sah, als sie an Bäume, Felder und Wege dachte, an die ganze wundervolle Natur, die sie so lange nicht gesehen und nun am Arme ihres Franz begrüßen sollte, traten ihr Thränen in die Augen. Das Glockengeläut, der Pariser Straßenlärm, der zu ihrem Fenster emporstieg, der Sonntagsputz, die Festfeier der Armut, die selbst von den Wangen der Kohlenträger leuchtet, das ganze Morgenrot dieses ungewöhnlichen Tages wurde von ihr in andächtiger Freude genossen.

Am Abend zuvor hatte ihr Franz einen Sonnenschirm gebracht, ein kleines Schirmchen mit Elfenbeingriff; sie selbst hatte sich einen sehr hübschen aber sehr einfachen Anzug zurecht gemacht, wie er für ein armes kleines Wesen paßt, das unbemerkt bleiben möchte; und doch ist es kaum genug, die kleine Lahme reizend zu nennen.

Punkt neun Uhr kam Franz mit einem Wagen, den er auf den ganzen Tag genommen hatte, und stieg die Treppen hinauf, um seine Gäste abzuholen. Mademoiselle Zizi ging, sich auf die Rampe stützend, ohne Zaudern ganz allein hinunter; Mama Delobelle, die sie überwachte, kam hinterdrein, und der berühmte Schauspieler, mit dem Ueberrock auf dem Arme, eilte mit dem jungen Manne voran, um den Wagenschlag zu öffnen.

O wie herrlich war die Fahrt! wie schön die Gegend, der Strom, die Bäume!

Fragt nicht, wohin sie fuhren . . . Désirée weiß es nicht. Sie wird euch nur sagen, daß die Sonne an diesem Orte glänzender schien, als anderswo, die Vögel lustiger, die Wälder schattiger waren . . . und das ist sicherlich keine Uebertreibung.

In ihrer frühen Kindheit hatte sie hin und wieder einen Tag auf dem Lande, in frischer Luft verlebt; später aber wurde sie durch unablässige Arbeit, Armut und das allen Kränklichen eigne Behagen am Stillsitzen in dem alten Pariser Stadtviertel, das sie bewohnte, festgehalten und seine hohen Dächer, seine Fenster mit eisernen Balustraden, seine Fabrikschornsteine, deren neue rote Ziegelmauer sich grell von den altersschwarzen Gebäuden ehemaliger Edelhöfe abheben, bildeten ihren immer gleichen, ihr völlig genügenden Gesichtskreis. Seit langer Zeit hatte Désirée keine andern Blumen gesehen, als die Winden an ihrem Fenster, und keine andern Bäume als die Akazien der Fromontschen Fabrik, die sie aus der Ferne durch Dampf und Rauch erkennen konnte. Darum war ihr Herz von Freude geschwellt, als sie sich wieder einmal im Freien befand. Von neu erwachender Jugendlust belebt, entdeckte sie immer neue Ueberraschungen, die sie mit Händeklatschen, mit leisen Jubelrufen, mit Ausbrüchen kindlichen Entzückens begrüßte, unter denen sie die Unsicherheit ihrer Schritte verbarg. – Von ihrem Gebrechen war wirklich nicht viel zu sehen, auch war Franz beständig in ihrer Nähe, voll Aufmerksamkeit und mit zärtlichen Augen immer bereit, sie zu stützen und ihr beim Ueberschreiten der Gräben die Hand zu reichen. Wie ein Traum ging der herrliche Tag vorüber. Der weite blaue Himmel, der durch die Zweige schimmerte, das Unterholz, das sich in behaglicher Sicherheit zu den Füßen der Bäume schmiegt, wo alle Blumen höher aufsprießen und goldige Moose wie Sonnenstrahlen an den Eichenstämmen glänzen, die plötzlichen Ausblicke auf sonnige Lichtungen, alles, selbst die Ermattung nach dem langen Aufenthalt in freier Luft, bezauberte und beglückte sie.

Gegen Abend, als sie vom Waldessaum aus, im ersterbenden Tageslicht, die weißschimmernden, sich durch die Felder schlängelnden Wege, den silbernen Strom und weit in der Ferne, im Einschnitt zwischen zwei Hügeln, ein Durcheinander grauer Dächer, Türme und Kuppeln erblickte, schloß sie dies blühende, von Liebe durchleuchtete, von Frühlingsdüften erfüllte Landschaftsbild in die tiefste Tiefe ihres Herzens, als ob sie dergleichen niemals, niemals wiedersehen sollte.

Der Strauß, den die kleine Lahme von diesem Ausfluge mitgebracht hatte, durchduftete ihr Zimmer eine ganze Woche lang. Zu den Hyacinthen, Veilchen und Weißdornblüten gesellten sich darin zahllose Blumen ohne Namen, jene bescheidenen, den Armen aber wohlbekannten Blumen, deren Same, vom Winde verstreut, an allen Wegrändern aufsprießt.

Beim Anblick dieser winzigen Blütenkelche in mattem Blau, lebhaftem Rosa, allen jenen feinen Farbentönen, welche die Blumen schon vor unsern Koloristen erfunden haben, machte Désirée in diesen acht Tagen den schönen Spaziergang immer aufs neue. Die Veilchen erinnerten sie an den moosigen Abhang, wo sie dieselben gepflückt und beim Suchen so oft die Hand des Freundes berührt hatte; die großen Wasserblumen hatten am Rande eines noch vom Winterregen nassen Grabens gestanden, und um sie erreichen zu können, war Désirée genötigt, sich fest auf Franz zu stützen. Alle diese Erinnerungen tauchten während der Arbeit in ihr auf, indes im Sonnenschein, der durch das Fenster fiel, die Federn der Kolibris schimmerten. Frühling, Jugend, Gesang und Blumen hatten die düstere Arbeitsstube im fünften Stock völlig verwandelt, und Désirée sagte im vollen Ernst zu Madame Delobelle, indem sie den Duft des Straußes, den ihr der Freund gebunden, immer wieder einatmete: »Hast du wohl bemerkt, Mama, wie gut dies Jahr alle Blumen riechen?«

Auch Franz begann denselben Zauber zu empfinden. Nach und nach bemächtigte sich »Mamsell Zizi« seines Herzens und verdrängte selbst die Erinnerung an Sidonie. Wahr ist's, daß der arme Rächer alles aufbot, um dies Ziel zu erreichen. Zu jeder Stunde des Tages war er bei Désirée, an die er sich anschmiegte wie ein Kind. Nicht ein einziges Mal hatte er nach Asnières zurückzukehren gewagt . . . er fürchtete sich noch zu sehr vor jener Frau.

»Komm doch heraus . . . Sidonie verlangt nach dir,« sagte der brave Risler immer wieder, wenn ihn Franz in der Fabrik aufsuchte. Aber der junge Mann blieb fest und schützte allerlei Geschäfte vor, um seinen Besuch von Tag zu Tag hinausschieben zu können. Uebrigens machte das Risler gegenüber durchaus keine Schwierigkeiten, da ihn seine Druckmaschine, deren Herstellung begonnen hatte, mehr als je in Anspruch nahm.

Jedesmal, wenn Franz seinen Bruder verließ, erwartete ihn der alte Sigismund in großen wollenen Schreiberärmeln, die Feder hinter dem Ohre und das Federmesser in der Hand, um ihn einige Schritte zu begleiten und ihm vom Stand der Dinge Bericht zu geben. Seit einiger Zeit schien alles besser zu gehen; Monsieur Georges kam täglich in sein Fabrikcomptoir und fuhr jeden Abend nach Savigny; an der Kasse liefen keine Rechnungen ein, selbst die Dame draußen in Asnières schien sich ruhiger zu verhalten.

Der Kassierer triumphierte.

»Siehst du wohl, Kleiner, wie gut es war, daß ich dir schrieb. Du hast nur zu kommen brauchen, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Und doch,« fügte er in alter Gewohnheit hinzu, »doch glaub' ich noch immer, daß es gar nicht gut steht.«

»Sorgen Sie sich nicht, Monsieur Sigismund,« sagte der Rächer; »jetzt bin ich da!«

»Und du willst noch nicht fort, nicht wahr, lieber Junge?«

»Nein, nein, noch nicht . . . ich habe erst noch eine wichtige Angelegenheit zu ordnen.«

»Um so besser!«

Die wichtige Angelegenheit, von der Franz hier sprach, war seine Heirat mit Désirée Delobelle. Noch hatte er niemand davon gesagt – auch dem jungen Mädchen nicht. Aber Mamsell Zizi schien etwas zu ahnen, denn von Tag zu Tag wurde sie heiterer und hübscher, als ob sie den Augenblick herannahen fühle, für den sie aller ihrer Schönheit und Freude bedürfen würde.

An einem Sonntagnachmittage waren sie allein im Atelier. Mama Delobelle war ausgegangen, voller Stolz, sich einmal wieder am Arme ihres großen Mannes zeigen zu dürfen, und hatte Freund Franz ihrer Tochter zur Gesellschaft zurückgelassen. Sorgfältig gekleidet, mit einem gewissen festlichen Ausdruck in seinem ganzen Wesen, hatte Franz ein zugleich schüchternes und entschlossenes, gerührtes und feierliches Aussehen, und schon die Art und Weise, in der sich der niedrige Schemel an den großen Lehnstuhl heranschob, verriet, daß man ihm etwas Wichtiges anvertrauen wollte, und er hatte vielleicht eine leise Ahnung, was es sein werde. Das Gespräch begann mit ganz nichtssagenden Worten, die jeden Augenblick durch lange Pausen unterbrochen wurden – wie man während einer Wanderung immer wieder stehen bleibt, um für den weiteren Weg Atem zu schöpfen.

»Wie schön ist das Wetter heute.«

«Wunderschön!«

»Unser Strauß riecht noch immer gut.«

»Sehr gut!«

Und bei diesen gleichgültigen Worten lag die Erregung dessen, was kommen sollte, im Ton ihrer Stimmen.

Endlich näherte sich der kleine Schemel dem großen Lehnstuhle noch etwas mehr, und indem sich die Blicke und Hände der beiden jungen Leute fanden, sprachen sie leise und langsam ihre Namen aus: »Désirée!« »Franz!«

In diesem Augenblick wurde an die Thür geklopft. Es war das leichte Anklopfen mit fein behandschuhtem Finger, der sich bei der leisesten Berührung zu beschmutzen fürchtet.

»Herein!« sagte Désirée mit einer Regung des Unmuts, und über die Schwelle trat Sidonie, schön, kokett und freundlich. Sie kam, ihre kleine Zizi zu besuchen, wollte sie im Vorübergehen einmal wieder umarmen; sie hatte sich schon so lange danach gesehnt.

Daß Franz hier war, schien sie zu überraschen, und sie gab sich so ganz der Freude hin, einmal wieder mit ihrer alten Freundin plaudern zu können, daß sie ihn kaum beachtete. Nach allerlei Gefühlsausbrüchen, Liebkosungen und langen Gesprächen von vergangenen Zeiten wünschte sie das Flurfenster und die Rislersche Wohnung wiederzusehen . . . Es machte ihr so viel Vergnügen, dabei gleichsam ihre ganze Jugendzeit wachzurufen.

»Erinnern Sie sich, Franz, wie die Prinzessin Kolibri in Ihr Zimmer kam und ihr Köpfchen unter einem Diadem von Federn hoch aufgerichtet trug?«

Franz antwortete nicht; er war zu tief bewegt, um Worte zu finden, denn ein gewisses Etwas sagte ihm, daß diese Frau um seinetwillen – nur um seinetwillen gekommen sei; daß sie ihn wieder haben, ihn verhindern wolle, einer andern zu gehören, und der Unglückselige fühlte, daß ihr dies nur zu leicht gelingen werde. Gleich als er sie eintreten sah, war sein Herz aufs neue gefangen.

Désirée hatte von dem allem keine Ahnung; Sidonie sah so freundlich, so unbefangen aus. Ueberdies waren die beiden Bruder und Schwester – von Liebe konnte zwischen ihnen nicht mehr die Rede sein.

Dennoch überschlich die kleine Lahme ein Vorgefühl ihres Unglücks, als Sidonie schon auf der Thürschwelle, im Begriff zu gehen, sich nachlässig umwendete und zu ihrem Schwager sagte: »Eben fällt mir ein, Franz, daß mir Risler aufgetragen hat, Sie zum Diner mitzubringen . . . der Wagen steht unten . . . wir holen Ihren Bruder in der Fabrik ab.« Und mit dem reizendsten Lächeln der Welt fügte sie hinzu: »Nicht wahr, du bist bereit, ihn uns zu überlassen, liebe Zizi? . . . Sei ohne Sorge . . . du sollst ihn wieder haben.«

Er hatte wirklich den Mut zu gehen, der Undankbare!

Ohne Zaudern, ohne sich noch einmal umzusehen, ging er von dannen, von seiner Leidenschaft fortgerissen wie von einer wilden Meeresströmung, und weder an diesem, noch einem der folgenden Tage, überhaupt nie im Leben erfuhr Mamsell Zizi, was ihr der kleine Schemel so Besondres zu sagen gehabt hatte.


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