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Fünftes Kapitel

Nach herzlichem Abschiede von ihren Gastgebern brachen die Geschwister Rosales am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne über die Kordilleren gestiegen war, auf.

»Geht zu Manuel Garcia, Calle del Puerto!« riet Don Felipe. »Das ist ein Bekannter von mir, der dort ein gutes Gasthaus hält. Ich besuche ihn stets, wenn ich nach Valparaiso komme. Grüßt Garcia von mir und sagt ihm, daß ich euch gesandt hätte! Ihr werdet gut aufgenommen werden, um so mehr, als er im stillen auch ein Anhänger unserer Partei ist.«

Dann wandte er sich an Rosario. »Und Euch«, sagte er, »edle Tochter eines edlen Vaters, begleiten meine und meiner Gattin besondere Segenswünsche. Die Heiligen mögen Euch schützen und Euch in allem gnädig sein!«

Alle Dankesbezeugungen der Geschwister, die bereits im Sattel saßen, lehnte das wackere Ehepaar ab. »Wir haben euch gegenüber nur unsere Pflicht getan«, erklärte Don Felipe. »Lebt wohl und auf Wiedersehen!«

Dann trabten die Reiter weiter fort. Einige hundert Schritte vom Hause entfernt hielten sie die Pferde an und kehrten sich nochmals nach der Stätte um, wo sie so herzliche Aufnahme gefunden hatten. Da sahen sie Don Felipe und Frau Ines außerhalb des Gartens stehen. Ein gegenseitiges letztes Winken, dann verschwanden die Geschwister Rosales hinter dem nächsten Bergrücken.

»Das war die Hand Gottes, die uns hierher zu solch guten Menschen geführt hat«, sprach Rosario nach langem Sinnen zu ihrem Bruder. »Sieh, Joaquin, ich nehme das als ein Zeichen des Allmächtigen dankbar an und hoffe nun erst recht, mein Ziel zu erreichen.«

»Das walte Gott!« entgegnete Joaquin feierlich. »Wir haben mehr Freunde als ich gedacht, und wenn Männer wie Don Felipe unserer gerechten Sache anhängen, wird der endliche Erfolg doch auf unserer Seite sein.«

»Das wird er! Oh, ich ahne es, Joaquin, daß unserm Lande durch das Martyrium unseres Vaters und der andern ausgezeichneten Männer die Augen darüber geöffnet werden, was es von diesen Spaniern zu erwarten hat!«

»Die Augen sind uns allen mehr oder weniger schon lange geöffnet«, erwiderte Joaquin trübe; »aber noch sind wir machtlos, weil wir, wie ich dir schon sagte, der richtigen Führung beraubt sind und auch mangels Waffen gegen Osorios Soldateska einstweilen nichts ausrichten können.«

»Warum aber helfen uns unsere Brüder von jenseits der Kordilleren nicht?« fragte Rosario ungeduldig.

»O liebe Schwester, die haben augenblicklich genug mit sich selbst zu tun! Auch sie drückt des Spaniers Joch. – Doch sieh, dort unten in der Ferne zeigt sich das Meer!«

»Ach, das Meer! Nun sehe ich es endlich einmal mit eigenen Augen!« rief Rosario freudig erregt. »Wie schön sie ist, diese gewaltige Wassermenge, die sich schäumend am felsigen Ufer bricht! Wie die Wogen glitzern und funkeln im Lichte der Sonne!«

»Ja, es ist etwas Großartiges, Gewaltiges um das Meer«, bestätigte Joaquin. »Bald sind wir in Valparaiso; nur noch etwa eine Stunde Geduld, Rosario, dann ist die Reise zu Ende.«

Lebhafter wurde es auf der Straße. Mächtige Ochsenkarren fuhren der Stadt zu, Landleute zu Pferd ritten an den Geschwistern vorbei; mehr und mehr zeigte das Leben auf der Straße die Nähe einer großen Stadt an. Rechts und links vom Wege mehrten sich die Häuser; das Land war sorgfältig angebaut und verriet die Wohlhabenheit seiner Bewohner.

Eine eigenartige Stimmung bemächtigte sich Rosarios, als sie an der Seite des Bruders in die Stadt Valparaiso einritt. Hoffnung, Freude, Furcht und Sorge bewegten sie zugleich. Jetzt, in der Nähe des gefangenen Vaters, kam ihr die Schwierigkeit ihres Unternehmens doppelt klar zum Bewußtsein. Zweifel beschlichen ihr Herz; aber es gelang ihr, sie zu bannen, sich selbst und ihre Willenskraft nach kurzem Kampfe wiederzufinden.

In dem von Don Felipe genannten Gasthause wurden die Reisenden gut aufgenommen. Während Rosario in ihrem Zimmer mit Umkleiden beschäftigt war, erkundigte sich Joaquin beim Wirte in der Gaststube nach den von Santiago hieher gebrachten Gefangenen.

»Das war gestern abend eine gewaltige Aufregung hier in Valparaiso, als die vielen Santiaginer mit ihrer militärischen Begleitmannschaft durch die Stadt zogen«, erzählte Garcia in behaglicher Weitschweifigkeit. »Ja, ja, es sieht nachgerade schlimm in Chile aus, wenn man die ersten Bürger des Landes wie Spitzbuben behandelt, mit Stricken aneinander bindet, meilenweit durchs Land schleppt und zum Schlusse noch übers Meer schickt. – Vorerst sind sie zwar noch hier«, fuhr Garcia fort, als Joaquin, dem der Schreck über die zuletzt gehörten Worte im ersten Augenblick die Sprache geraubt hatte, nichts sagte; »sie sollen aber dieser Tage, sobald die Sebastiana segelfertig ist, nach Juan-Fernandez, draußen im Pazifik, gebracht werden. So hörte ich wenigstens.«

»Und wo befinden sich die Gefangenen hier?« fragte Joaquin.

»Wo anders als im Gefängnis? Ich wollte, ich könnte es öffnen lassen, um unsern armen Mitbürgern die Freiheit zurückzugeben! So aber – Carramba! Doch, Herr, entschuldigt, ich muß noch andere Gäste bedienen!«

Damit wollte Garcia aufstehen; doch Joaquin hielt ihn zurück. »Nur noch ein Wort!« bat er. »Wer ist der Statthalter vom hiesigen Platze?«

»Augenblicklich ist es Don José Villegas.«

»Kennt Ihr ihn?«

»O ja!« Garcia lachte. »Den kenne ich wohl; er war früher Kapitän, verkehrte viel bei mir und«, fügte er hinzu, »ist immer noch einer der besten Spanier, die hier herrschen.«

»Wie meint Ihr das?«

»Er gibt und zeigt sich äußerlich anders, als er innerlich tatsächlich ist. Er muß nach oben zu gehorchen und benimmt sich daher entsprechend; aber ich traue seiner Ergebenheit Osorio gegenüber nicht ganz, obgleich ich, wie gesagt, keine andern Beweise hiefür habe als meine eigenen Beobachtungen.«

»Das ist für mich von größter Bedeutung. Wir haben ein Anliegen an den Gouverneur, und da begreift Ihr wohl, daß ich und meine Schwester gerne wissen möchten, wie der Mann ist.«

»Er ist ein alter Seebär, rauh, ungeschliffen, grob, aber ehrlich. Ihr könnt es schon wagen, ihn zu besuchen. Nur laßt Euch nochmals gesagt sein, daß er grob ist wie eine Kratzbürste, und daß Ihr ihm ebenso grob kommen müßt, um Eindruck auf ihn zu machen. Übrigens wohnt er in der Intendantur hier in meiner Nähe.«

Garcia überließ Joaquin sich selbst, und dieser war froh, daß bald darauf Rosario ins Gastzimmer trat und sich zu ihm setzte. Sofort teilte er ihr mit, was er von dem Wirte gehört hatte. Die Geschwister kamen überein, daß Rosario noch am selben Mittag bei Villegas eine Audienz nachsuchen solle. Doch als sich das Mädchen nach Tisch auf den Weg machte, traf sie Villegas nicht an. Auch am folgenden Tage erging es ihr nicht besser; alle Versuche, zum Statthalter zu gelangen, scheiterten. Rosario war der Verzweiflung nahe, sollte doch das Schiff, das die Gefangenen fortzubringen hatte, in wenigen Tagen segeln. Ebenso vergeblich waren bisher ihre Versuche gewesen, den Vater im Gefängnis zu besuchen. »Ohne Erlaubnis des Statthalters nicht gestattet.« Mit diesen kurzen Worten wurden alle Bitten Rosarios von der Wache abgewiesen.

Der dritte Tag in Valparaiso brach an. Morgen sollte die Sebastiana den Hafen verlassen. Alle Trostsprüche Joaquins waren vergeblich. Rosario befand sich in einem solchen Zustande seelischer Störung, daß sie nicht einmal mehr auf die Worte des Bruders zu hören vermochte. »Ich lasse mich nicht mehr abweisen«, erklärte sie; »ich dringe zu Villegas vor, sollten mich auch seine Schergen töten. Lieber sterben, als in solch schrecklicher Ungewißheit weiterleben!« Ihre alte Entschlossenheit war plötzlich wieder erwacht, und fort eilte sie, noch bevor Joaquin ein Wort der Entgegnung gefunden hatte.

Allen Verboten der wachhaltenden Soldaten zum Trotze drang Rosario wirklich in das Zimmer Villegas' vor. Dieser saß an einem Tische, von mehreren Offizieren des Landheeres umgeben. Ärgerlich über die Störung wandte Villegas das Gesicht gegen Rosario, das Mädchen lange und scharf ansehend. Doch ohne ein Wort an sie zu richten, ließ er sie stehen, wo sie stand, und unterhielt sich ruhig weiter mit den Offizieren. Minute auf Minute verging; sie kamen Rosario, die in banger Erwartung dem Kommenden entgegensah, wie Ewigkeiten vor. Mehr und mehr drohte die Hoffnungslosigkeit ihre mühsam errungene Willensstärke wieder zu brechen, als sie nun eine volle Stunde dastand, ohne daß Villegas ihr auch nur die geringste Beachtung geschenkt hätte. Sie flehte im stillen zu Gott um Kraft und Mut. Dann trat sie festen Schrittes gegen den Statthalter vor und bat ihn um die Gnade, ihr für einige Augenblicke Gehör schenken zu wollen.

Dem Zauber des von Rosario ausgehenden Liebreizes konnte sich auch Villegas nicht entziehen. »Was will man? Man mache es kurz!« sagte er kalt.

Rosario erzählte ihm all das über sie und den Bruder durch die Gefangennahme und Fortführung des Vaters hereingebrochene Leid und bat flehentlich, ihr entweder den Vater wieder geben oder ihr doch wenigstens gestatten zu wollen, sein Los zu teilen. Während sie schmerzerfüllt mit den ergreifendsten Worten zu Villegas sprach, schien dieser sich in Gedanken mit etwas ganz anderm als mit dem Schicksal des Mädchens zu beschäftigen. Er schrieb etwas auf ein Stück Papier, strich wieder durch, um nochmals einige Schriftzüge auszuführen.

Als Rosario geendet hatte und nun mit Tränen in den Augen auf den Entschluß Villegas' harrte, blieb dieser einen Augenblick in Stillschweigen versunken sitzen. Dann stand er plötzlich auf und fuhr Rosario hart an: »Genug der Tränen, Señorita! Was nicht sein kann, kann nicht sein!«

Rosario stand bei dieser Erklärung wie versteinert. Sie vermochte sich nicht zu bewegen. Das Bild des geliebten Vaters, wie er krank und verlassen, ohne jede Hilfe, in der Verbannung sterben müsse, keines seiner Kinder zur Seite, niemand, der ihm die müden Augen schloß, wenn sie gebrochen vor Schmerz und Kummer, trat vor ihre Seele. Starr und still stand sie da. Der Statthalter wurde im höchsten Grade ungeduldig, als er sah, daß das arme Mädchen, anstatt zu gehen, wie eine Bildsäule dastand. Halb grob, halb höflich, nahm er Rosario am Arm und führte sie zum Ausgang. Wie im Traume sah sie, daß ein zusammengeknäueltes Stück Papier über sie hinweg in den Gang geworfen wurde, dann schloß sich die Türe.

Einen Augenblick stand Rosario noch betäubt vor dem Gemache des Gewaltigen, nicht wissend, was sie nun anfangen sollte. Wie von Gott gesandt, kam ihr plötzlich der Gedanke, den auf dem Boden liegenden Papierstreifen aufzuheben. Sie bückte sich, nahm und entrollte ihn und las nun mit freudigem Staunen immer und immer wieder die von Villegas niedergeschriebenen und unterzeichneten Worte: »Der Tochter Rosales' ist es gestattet, ihren Vater zu sehen und ihn, falls sie es noch wünscht, in die Verbannung zu begleiten. José Villegas.«

Rosario rollten Freudentränen über die Wangen, als sie so unverhofft ihren sehnsüchtig gehegten Wunsch erfüllt sah und sich endlich überzeugte, daß keine Täuschung ihrer Augen vorlag. Sie faltete die Hände, und ein heißes Dankgebet stieg aus tiefbewegtem Herzen gen Himmel.


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