Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

D Das Fräulein von Rochambeau war im Alter von vierundsiebzig Jahren dahingeschieden. Ihre sterblichen Überreste waren prächtig aufgebahrt in der großen Halle des Schlosses Rochambeau. Der hohe, gewölbte Raum mit den dunklen, holzverkleideten Wänden, an denen ringsum allerlei Waffen und Wappen von der ruhmreichen Vergangenheit eines alten Adelsgeschlechtes zeugten, bot einen wunderbar feierlichen und stimmungsvollen Anblick.

Der mit Blumen umgebene und von hohen Wachskerzen beleuchtete Sargaufbau erhob sich, von schönen Palmen überragt, in der Mitte des Raumes. Die flackernden Lichter schienen einiges Leben auf das kleine wachsgelbe Greisinnenangesicht zu zaubern, aus dem der Tod all die Falten und Fältchen gestrichen hatte, die das Leben hineingegraben. Am Fußende des Sarges war ein schwarzverhangener, mit Papieren bedeckter Tisch aufgestellt. Schwere Silberleuchter standen darauf, in denen gleichfalls Wachskerzen brannten, denn es war ein trüber Tag, und in die Halle fiel wenig Tageslicht, weil vor den Fenstern ein überdachtes Tor ihm den Eintritt verwehrte.

An diesem Tisch saß Anwalt Grillon, der langjährige Berater und Geschäftsführer des Fräulein von Rochambeau. Ihm gegenüber, vor den in Reihen sitzenden Trauergästen, die Fräulein von Rochambeau die letzte Ehre erweisen wollten, hatten auf zwei Sesseln zwei junge Menschen Platz genommen, ein etwa dreißigjähriger Mann und eine junge Dame von vielleicht zwanzig Jahren.

Das waren die einzigen Angehörigen des Fräuleins von Rochambeau, mit der ein altes, erlauchtes Geschlecht ausstarb.

Verwandt mit ihr war nur der junge Mann, Gaston von Beaucourt. Er war ihr Großneffe, der Sohn einer Nichte, die sie sehr geliebt hatte. Gastons Eltern waren früh gestorben, und Fräulein von Rochambeau, die all ihre anderen Verwandten überlebte bis auf ihn, nahm ihn zu sich, um ihn zu erziehen.

Sie hatte ihn allerdings mehr verwöhnt als erzogen. Ihr gütiges, nach Liebe verlangendes und Liebe ausstrahlendes Herz hatte sich nie zur Strenge zwingen können gegen den einzigen Menschen, der noch zu ihr gehörte, und der außerdem noch so sehr seinem Oheim glich, mit dem Fräulein von Rochambeau einst verlobt gewesen war. Dieser Oheim war im Kriege gefallen, ehe er sich mit Hermance von Rochambeau vermählen konnte – und sie hatte ihm die Treue gehalten bis in den Tod.

In Gaston sah sie ihre Jugend neu erblühen. Er rief ihr all die süßen Erinnerungen an eine glückliche Zeit zurück – wie hätte sie da hart und streng gegen ihn sein können?

Da war nun aus Gaston ein recht leichtsinniger, übermütiger Mensch geworden, der dem alten Fräulein mehr und mehr Sorge machte. Aber all seine Streiche vergaß sie, wenn er sie mit seinen dunklen, lebenslustiges Augen anstrahlte und sie lachend und schmeichelnd umfaßte. Seit Jahren lebte Gaston in Paris. Er wollte sich der diplomatischen Laufbahn widmen, schien aber wenig Ernst darauf zu verwenden. Seine Hauptbeschäftigung bestand darin, mit Geschmack den hohen Wechsel zu verbrauchen, den ihm Tante Hermance, wie er die Großtante nannte, ausgesetzt hatte, und allerhand feinen Liebhabereien zu leben. Das alles bedrückte Fräulein von Rochambeau noch nicht so schwer. Sie zahlte mit einer pflichtschuldigen kleinen Strafpredigt jedes Jahr einige Male beträchtliche Schulden für Gaston und war froh, wenn sie diese unvermeidliche Strafpredigt hinter sich hatte, froher als Gaston, der sie übrigens auch nie ernst nahm und sie oft bat, sich nicht selbst zu quälen. Aber in den letzten zwei Jahren waren diese Schuldbeträge ins Riesenhafte gestiegen, und wenn auch Fräulein von Rochambeau sehr reich war – es erfüllte sie doch mit Angst und Schrecken, denn zu ihrem Leidwesen kam sie dahinter, daß Gaston zu allen leichtsinnigen Torheiten nun auch noch ein Spieler geworden war.

Es beruhigte sie keineswegs, daß Gaston mehr aus Leichtsinn als aus Leidenschaft spielte. Ein Spieler ist ein Mensch, der dem Untergang zustrebt – so oder so. Unablässig sann sie darüber nach, wie sie ihren Liebling von dieser Untugend heilen könnte. Aber ehe sie ihr Ziel erreicht hatte, mußte sie sterben, und Gaston saß nun, ehrlich betrübt und traurig, aber ungebessert an ihrem Sarg und schaute bekümmert auf das gute, stille Gesicht, das ihm so oft liebevoll zugelächelt hatte.

All ihre Sorgen und Kümmernisse hatte Fräulein von Rochambeau mit Florence von Gramont, ihrem Pflegetöchterchen, besprochen. Das war die junge Dame neben Gaston. Außer diesem war Florence der Liebling der alten Dame gewesen. Florence war gleich Gaston eine Waise, die ihre Eltern in frühester Kindheit verloren hatte. Bis zu ihrem zwölften Jahre lebte Florence bei ihrer Großmutter, die eine Jugendfreundin des Fräuleins von Rochambeau war, in sehr bescheidenen Verhältnissen. Nach dem Tode der Großmutter blieb sie mittellos zurück, und deshalb nahm sich Fräulein von Rochambeau ihrer an. So lebte Florence nun schon über acht Jahre auf Schloß Rochambeau, und da sie von der Besitzerin desselben nur Güte und Liebe erfuhr und wie eine Tochter gehalten wurde, ist es zu verstehen, daß sie nun bleich und wie im Schmerz versteinert neben Gaston saß.

Dieser hatte Florence in seiner gutmütig lustigen Art immer wie eine unbedeutende junge Schwester behandelt, mit der man je nach Wunsch und Laune sich beschäftigt oder nicht. Florence war weder schön noch häßlich, und er hatte für ihre stillen, feinen Reize nie einen Blick gehabt. War er doch gewohnt, nur den schönsten Frauen von Paris zu huldigen. Und seine Geliebte, eine Dame vom Theater, Fräulein Desmont, war denn auch eine der hervorragendsten Schönheiten der Seinestadt.

Daß seine Großtante im stillen hoffte, er werde sich eines Tages mit Florence vermählen, ahnte er nicht. Nie war darüber ein Wort gefallen. Auch gegen Florence hatte sie nie etwas von diesem Herzenswunsch geäußert. Sie wollte nicht eingreifen in eine Herzenssache, die nur diese beiden anging.

Aber vor einer Stunde, ehe man sich, wie es die Tote bestimmt hatte, an ihrer Bahre zur Testamentseröffnung zusammenfand, hatte der Anwalt Grillon Florence ein Schreiben übergeben, welches Fräulein von Rochambeau für sie hinterlassen hatte. Dieses Schreiben sollte Florence sofort, noch vor der Testamentseröffnung, lesen. Das hatte sie auch getan, war dann aber so blaß und verstört wieder zum Vorschein gekommen, daß sich die Trauergäste mitleidig auf sie aufmerksam machten. – –

Zu beiden Seiten der Halle hatten die Diener und Beamten des Schlosses Aufstellung genommen. Auf allen Mienen lag ein feierlicher Ernst, und immer wieder flogen Blicke hinüber auf das bleiche, von flackernden Lichtern belebte Totengesicht.

Anwalt Grillon erhob sich, machte eine Verbeugung gegen die Anwesenden, wandte sich noch einmal wie fragend zu den Gerichtsbeamten, die hinter ihm standen, räusperte sich und erbrach das Siegel des Testaments.

Aller Augen hingen an seinem glattrasierten, scharfzügigen Gesicht, dessen Kinn fast in den hochstehenden Kragenecken verschwand. Nachdem er mit der Hand gewohnheitsmäßig über den spärlichen grauen Haarwuchs seines Schädels gefahren war, begann er zu lesen.

Zuerst kam eine förmliche Einleitung in der etwas weitschweifigen rechtsüblichen Art. Dann hieß es weiter in dem Testament:

»Nach reiflichem Ermessen habe ich davon Abstand genommen, meinen Großneffen Gaston von Beaucourt zu meinem Alleinerben einzusetzen. Er hat mir in den letzten Jahren Ursache zu schweren Sorgen gegeben, wie er wohl selbst weiß. Ich fürchte, daß er als Erbe eines großen Vermögens unhaltbar dem Untergang zustrebt. Das darf nicht sein. Er muß den Ernst des Lebens kennen lernen, wenn er sich nicht ganz verlieren soll. Deshalb muß ich angesichts des Todes mich zu der Härte und Strenge aufraffen, die ich im Leben nie gegen ihn anwenden konnte, weil er meinem Herzen so teuer war.

Ich bestimme daher, daß er von heute an, nachdem all seine bisherigen Schulden noch einmal geregelt worden sind, nur eine jährliche Rente von zehntausend Frank aus meinen Einkünften beziehen soll. Diese Rente wird ihm ausgezahlt bis zu seinem fünfundvierzigsten Lebensjahr. Hat er das fünfundvierzigste Jahr zurückgelegt, dann geht Schloß Rochambeau mit allem Grundbesitz und Inventar in seinen Besitz über, sofern er nachweisen kann, daß er bis dahin keine neuen Schulden aufgenommen hat. Auf keinen Fall ist ihm gestattet, Rochambeau selbst in irgendeiner Weise zu belasten. – Die Einkünfte von Rochambeau gehören bis dahin, nach Abzug der Rente für meinen Großneffen, meiner geliebten Pflegetochter, Fräulein Florence von Gramont. Auch mein gesamtes Vermögen im Betrage von etwa zweieinhalb Millionen Frank vermache ich Fräulein von Gramont. Abzuziehen davon sind einige unten angegebene Stiftungen an treue Diener und Beamte. Das von mir erworbene Landhaus in der Nähe von Fontainebleau, welches früher den Großeltern des Fräulein Florence von Gramont gehörte, geht ebenfalls in den Besitz der jungen Dame über. Wie ich Florence von Gramont kenne, ist es nicht unmöglich, daß sie diese Erbschaft ausschlägt. Ich kenne ihre vornehme und edle Gesinnung zur Genüge, um diesen Fall in Erwägung zu ziehen. Deshalb bestimme ich, daß sie erst heute über ein Jahr ihre endgültige Erklärung abgeben soll, ob sie die Erbschaft annimmt oder nicht. Für diesen Fall habe ich noch einen Nachtrag zu diesem meinem Testament verfaßt und gerichtlich niedergelegt. Dieser Nachtrag soll heute in einem Jahr eröffnet werden. Er enthält vornehmlich die Bestimmung, was in dem Falle der Ablehnung der Erbschaft durch Florence von Gramont mit meinem Vermögen geschehen soll.

Ich habe, bevor dies Testament verlesen wird, durch Herrn Grillon einen Brief an Fräulein von Gramont ausliefern lassen und bitte meine liebe Florence noch einmal herzlich, die darin enthaltenen Wünsche zu erfüllen. Sie wird es tun, wenn sie mich ein wenig geliebt hat. Vor allem soll sie noch ein volles Jahr in Schloß Rochambeau wohnen bleiben; es steht ihr der ganze linke Schloßflügel zur Verfügung. Nach Ablauf dieses Jahres steht es ihr frei, das Landhaus bei Fontainebleau, welches vollständig zu ihrer Aufnahme bereit ist, zu beziehen. Auch an meinen herzlich und innig geliebten Großneffen habe ich noch eine dringende Bitte: Ich wünsche, daß er die diplomatische Laufbahn, die ihn nicht so auszufüllen vermag, daß seinem Leben eine ernste Aufgabe gestellt wäre, aufgibt, und bitte ihn, Rochambeau zu bewirtschaften.

Da er in Paris ohnehin das bisher gewohnte Leben mit der bescheidenen Rente nicht fortsetzen kann, wird er vielleicht nicht abgeneigt sein, seinen ständigen Aufenthalt in Schloß Rochambeau zu nehmen, da er hier durch freie Wohnung und freien Unterhalt sein Einkommen verbessern kann. Solange Fräulein von Gramont in Rochambeau weilt, muß er allerdings den rechten Schloßflügel bewohnen, wo ja auch zu meinen Lebzeiten seine Zimmer lagen.

Ich bitte meinen lieben Gaston noch einmal herzlich, seine Kräfte der Erhaltung seines einstigen Besitzes zu weihen. Tüchtige Beamte und Berater werden ihm zur Seite stehen und ihn in die Verwaltung einweihen. Er möge mir nicht zürnen, daß ich so hart mit ihm verfahre, und überzeugt sein, daß nur sorgende Liebe mein ganzes Verhalten bestimmt.«

Hieran fügten sich dann die Bestimmungen über die Stiftungen für die Untergebenen der Verstorbenen und der formübliche Schluß des Testaments. –

Aller Augen hatten sich während der Vorlesung desselben auf Gaston von Beaucourt und Florence von Gramont gewandt. Der erstere saß mit blassem, verstörtem Gesicht auf seinem Platz und sah mit starren Augen in das unbewegte Gesicht des Rechtsanwalts Grillon. Er faßte nur eins: enterbt! Denn einer Enterbung glich dies alles. Vorbei war es nun auf lange mit Glanz und Reichtum – vielleicht für immer. Daß Florence die Erbschaft nicht ausschlagen würde, bezweifelte er keinen Augenblick. Vorübergehend stieg sogar der Verdacht in ihm auf, daß sie klug ihren Vorteil benutzt und Tante Hermance beeinflußt hatte zu seinem Nachteil. Er warf einen kurzen Seitenblick auf Florence. Sie saß noch immer wie zu Stein erstarrt, bleich und mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel. Ein seltsamer Schmerzenszug lag um den weichen jungen Mund und gab dem Gesicht etwas Herbes, Abwehrendes. Wie eine lachende Erbin sah sie jedenfalls nicht aus. Im Gegenteil!

Aber war das vielleicht nur Verstellung?

Ärgerlich wandte er sich von ihr ab. Was ging es ihn an, wie sie diese glänzende Erbschaft aufnahm? Für ihn kam nur in Betracht, was ihn selbst betraf. Und das war hart genug. Zehntausend Frank Rente! – Mehr als das Vierfache hatte er bisher verbraucht. In letzter Zeit hatte er oft genug mehr als zehntausend Franken an einem Abend verspielt. Er hatte verteufeltes Pech, das ließ sich nicht leugnen – und schlimm hatte er es schon getrieben. Tante Hermance hätte ihm schon die Zügel etwas straffer ziehen können. Aber so hart brauchte sie nicht zu sein. Jetzt sollte er plötzlich mit einer für seine Ansprüche mehr als bescheidenen Rente auskommen – lächerlich! – Was würde Claire Desmont, seine Geliebte, dazu sagen?

Wie in einem schweren, beängstigenden Traume saß er da, bis das Geräusch der sich erhebenden Versammlung ihn aufschreckte.

Was dann folgte, die Beisetzung seiner Großtante in der Schloßgruft, ging alles wie ein Traum an ihm vorüber. Fast unbewußt folgte er dem Sarge, und als dieser versank, durchzuckte ihn dennoch ein herber Schmerz.

»Trotz allem hat sie mich doch geliebt, mehr als sonst ein Mensch – und nun bin ich allein,« dachte er ergriffen. Aber dann wandten sich seine Gedanken sogleich wieder seiner schlimmen Lage zu.

* * *

Nachdem die Trauergäste das Schloß verlassen hatten, ließ Gaston den Rechtsanwalt Grillon um eine Unterredung bitten. Dieser wollte bis zum nächsten Tage bleiben, um noch allerlei Geschäftliches zu regeln. Er empfing Gaston in seiner gewohnten streng gemessenen Haltung und mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck. Gaston ging nach einigen höflichen Redensarten sogleich auf sein Ziel los und fragte Grillon, ob er das Testament seiner Großtante nicht umstoßen oder anfechten könne. Grillon strich, ehe er antwortete, bedächtig über sein spärliches Haupthaar, bedeckte einen Augenblick wie nachdenklich die Augen, räusperte sich und setzte dann Gaston umständlich, aber sicher auseinander, daß daran nicht zu denken sei.

»Da Sie nicht ein unmittelbarer Leibeserbe Ihrer Fräulein Großtante sind, konnte sie über ihren Nachlaß ganz nach eigenem Ermessen verfügen. Ich rate Ihnen, von jedem Prozeß abzusehen, da Sie nur Schaden davon haben würden. Im übrigen, Herr von Beaucourt, ist Ihre Lage durchaus keine trostlose. Rochambeau präsentiert immerhin den Wert von einundeinhalb Millionen Frank,« sagte er zum Schluß tröstend.

Gaston machte dazu eine ärgerliche Handbewegung.

»Sie wissen doch selbst, daß mir Rochambeau erst nach zurückgelegtem fünfundvierzigsten Lebensjahr zufällt.«

»Sehr wohl. Aber was will das heißen? Sie sind jetzt fast dreiunddreißig Jahre – in zwölf Jahren gehört Ihnen Rochambeau.«

Gaston lachte bitter auf.

»Und bis dahin habe ich das fürstliche Einkommen von zehntausend Frank. Dreitausend Frank bezieht allein mein Kammerdiener.«

»Den müßten Sie wohl entlassen. Wenn Sie, wie Fräulein von Rochambeau wünscht, hier im Schloß Ihren ständigen Aufenthalt nehmen, wird das keine Schwierigkeiten machen. Einer der Diener hier wird sich vielleicht zu Ihrer persönlichen Bedienung eignen.«

Gaston starrte zum Fenster hinaus auf die Bäume des Parkes, von denen der Regen herabtropfte. Die Rosensträucher, die vor dem Schloß zu Gruppen vereinigt das Rasenrondell zierten, waren vom Wetter übel zugerichtet worden. Den Rasen bedeckten rundum die abgefallenen Rosenblätter. Es sah trostlos aus, gar nicht, wie es einem Junitag zukam.

Gaston seufzte tief auf und schlug mit der Hand gegen das Knie.

»Nun – so wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als dem erwählten Beruf Lebewohl zu sagen und Kohlbauer zu werden,« sagte er voll grimmigem Spott. Grillon zuckte zustimmend die Achseln. Die beiden Herren verabschiedeten sich kurz und höflich. Auf Grillon warteten schon die Beamten des Schlosses, und Gaston wollte seine Zimmer aufsuchen, um erst einmal seine Lage ruhig zu überdenken.

Als er die große Halle durchkreuzte, in der noch vor kurzem die Verstorbene aufgebahrt war, und die breite Steintreppe nach dem ersten Stock hinaufgehen wollte, stand plötzlich Florence vor ihm. Sie wurde abwechselnd rot und blaß und rang nach Worten.

Er sah sie kühl und befremdet an.

»Wünschen Sie etwas von mir, Fräulein von Gramont?«

Sie zuckte leise zusammen wie unter einem Schlag und umklammerte wie Halt suchend das Treppengeländer. Bisher hatte Gaston sie stets beim Vornamen genannt und sie ihn auch. Die förmliche Anrede kam in diesem Augenblick einer Beleidigung gleich. Er sah, wie sie mit Tränen kämpfte, und gutmütig, wie er war, tat es ihm leid, daß er sie gekränkt hatte. Sein Argwohn, eine Erbschleicherin vor sich zu haben, zerfloß in nichts, als er ihr in die Augen blickte.

Florence faßte sich mühsam.

»Herr von Beaucourt,« – sie brauchte nun auch die förmliche Anrede – »ich wollte Sie nur bitten – ach, mein Gott – Sie sehen mich so bestürzt und fassungslos von alledem. Ich wollte Sie nur herzlich bitten, mir nichts nachzutragen, daß – ach, mein Gott – ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll –«

Noch einmal regte sich der Argwohn in ihm. Konnte das nicht alles Verstellung sein? Er sah ihr kalt in das erregte Gesicht.

»Wozu die Worte, Fräulein von Gramont? Ich bitte, lassen wir das.«

Sie preßte die Hände gegen die Brust und sah ihn mit einem Blick an, der ihn erschütterte. Es lag so viel Wahrheit in ihrem Wesen, daß aller Zweifel bei ihm auf immer entfloh. Dies Mädchen konnte unmöglich eine Erbschleicherin sein. Wenn diese reinen Augen mit dem wahrhaften, kindlichen Ausdruck der Spiegel einer niedrigen Seele waren – wem konnte man da noch glauben?

Florence lehnte sich zitternd gegen das Geländer.

»Herr von Beaucourt, ich muß mir Ihre schroffe Ablehnung gefallen lassen. Sie müssen ja nach allem, was geschah, glauben, daß ich Tante Hermance in irgendeiner Weise zu meinen Gunsten und Ihren Ungunsten beeinflußt habe. Aber ich schwöre Ihnen bei allem, was es Heiliges gibt: nie ist mir so etwas in den Sinn gekommen. – Ich bitte Sie – glauben Sie mir das!«

Gastons Gesicht hatte einen ganz anderen Ausdruck bekommen. Er reichte ihr schnell die Hand.

»Ich glaube Ihnen, daß Sie ganz schuldlos sind,« sagte er warm.

Sie faßte seine Hand in krampfhaftem Druck und atmete tief auf.

»Ich danke Ihnen – o – ich danke Ihnen tausendmal für Ihre Worte,« stieß sie hervor, und plötzlich neigte sie sich, einem Antrieb gehorchend, und drückte ihre Lippen auf seine Hand.

Ehe er es fassen konnte, war sie dann in dem langen Gang, der nach dem linken Schloßflügel führte, verschwunden.

Er sah ihr nach und starrte dann betroffen auf seine Hand herab, die sie geküßt hatte. Noch meinte er, die heißen Lippen darauf zu fühlen, und da – da schimmerte es feucht. Eine Träne aus ihren Augen war auf seine Hand gefallen. Er wischte sie nicht fort, obwohl sie wie Feuer brannte. Dann stieg er langsam die Treppe empor. Und plötzlich mußte er daran denken, was wohl Claire Desmont zu diesem Vorgange gesagt haben würde, wenn sie Zeugin gewesen wäre. Ihr schönes Gesicht mit dem feinen Spottlächeln stand vor ihm, und Florence war vergessen. Er dachte nur noch an Claire. Was würde sie zu seinen veränderten Verhältnissen sagen? Sie erwartete, ihn als Alleinerben seiner Großtante beglückwünschen zu können. Statt dessen kehrte er mit einer Rente von zehntausend Frank zurück. Es war ihm, als höre er Claires spöttisches Lachen.

»Du tust mir leid, mein Lieber,« würde sie sagen, »aber unter diesen Umständen ist es wohl besser – wir trennen uns.«

Ja, ja – so ähnlich würde sie sagen. Und er konnte es ihr kaum verargen. Mit zehntausend Frank Einkommen kann man nicht länger auf die Liebe einer Claire Desmont rechnen.

* * *

Zwei Monate waren seit dem Tode des Fräulein von Rochambeau vergangen. Gaston hatte wirklich, der Not gehorchend, von Paris Abschied genommen und war nach Rochambeau übergesiedelt.

Im Anfang sagte ihm das Landleben wenig zu. Paris und seine Zerstreuungen fehlten ihm wie Licht und Sonne, und der Abschied von Claire Desmont ging ihm sehr nahe. Es kränkte ihn doch, daß sie ihn so leichtherzig aufgegeben hatte.

Aus lauter Langeweile begann er schließlich zu arbeiten, und seltsamerweise fand er nach und nach einige Befriedigung dabei. Je mehr er sich in seinen Wirkungskreis einlebte, desto mehr begann er sich wohlzufühlen. Mit Florence kam er anfangs sehr selten und nur bei flüchtigen Begegnungen zusammen. Es schien, als sei der rechte Schloßflügel von dem linken durch eine unübersteigliche Mauer geschieden. Obwohl Florence eine Offizierswitwe als Ehrendame angeworben hatte und seinem Besuch drüben nichts entgegengestanden hätte, vermied er es, den linken Schloßflügel zu betreten.

Zuweilen sah er Florence allein oder mit ihrer Hausdame, Frau von Baranta, auf ihren Spaziergängen im Wald oder im Park. Aber sie strebte immer hastig an ihm vorbei und vermied es, mehr als einen Gruß mit ihm zu tauschen. Er sah nur, daß sie jedesmal errötete. Wahrscheinlich schämte sie sich des übereilten Handkusses.

Im Anfang war es ihm gerade recht, daß sie sich von ihm zurückzog. Ihr Anblick weckte doch noch zuweilen bittere Empfindungen. Sie, die er früher nur mit einer Art lässigen Mitleids behandelt hatte, war ja nun eine reiche Erbin.

Je wohler sich Herr von Beaucourt in Rochambeau fühlte, je mehr er einsah, welch ein nichtiges Leben er früher geführt hatte, desto mehr verwischten sich die bitteren Empfindungen bei Florences Anblick. Und eines Tages sagte er sich, daß es eine Torheit sei, jeden Verkehr mit ihr zu meiden. Weshalb sollte er seine Abende wie ein Einsiedler verbringen? Florence wußte sehr klug und anregend zu plaudern, das fiel ihm jetzt wieder ein. Früher waren ihm, wenn er von Paris herüberkam, diese Plauderstündchen mit ihr allerdings nur ein schwacher Ersatz für die Pariser Zerstreuungen gewesen. Aber jetzt, in der verödenden, geistigen Stille des Landlebens, mußte es sehr angenehm sein, zuweilen mit ihr plaudern zu können.

Und noch etwas lockte ihn. Florence war eine vortreffliche Klavierspielerin und hatte eine sehr angenehme, gutgeschulte Altstimme. Oft hatte er ihren Liedern und ihrem Spiel mit Vergnügen gelauscht. Und er liebte gute Musik leidenschaftlich. Zuweilen überkam ihn ein wahrer Heißhunger danach, und die Musik war es, die er in Rochambeau am meisten entbehrte, zumal er selbst nur ein mittelmäßiger Klavierspieler war.

Nachdem er sich einige Tage mit diesen Gedanken beschäftigt hatte, begegnete er eines Morgens Florence im Park. Sie trug einen Strauß Wiesenblumen, die sie sehr liebte, im Arm. Dagegen hob sich das schwarze Kleid doppelt ernst und düster ab. Er vertrat ihr einfach den Weg, als sie wieder schnell an ihm vorbeihuschen wollte.

»Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen, – gnädiges Fräulein?«

Er hatte sie erst, wie früher, beim Vornamen nennen wollen. Aber er fühlte doch, daß sie sich dazu zu fremd geworden waren.

Florence war bei seiner Anrede dunkelrot geworden und blickte befangen zu ihm auf.

»Ich danke Ihnen, Herr von Beaucourt, mir geht es gut. Ich hoffe, Ihnen auch,« sagte sie leise, mühsam nach Fassung ringend.

Er sah sie scharf an. Wahrhaftig, wenn diese großen braunen Augen nicht so engelsrein blickten, man hätte meinen können, sie habe ein schlechtes Gewissen. Warum wurde sie bei seiner Anrede so rot? Er drehte ein wenig an seinem eleganten Lippenbart und reckte seine schlanke, sehnige Gestalt, die in einem festen, aber gutsitzenden Wetteranzug steckte, empor, als wolle er prüfen, wie wohl er sich fühlte.

»Man muß zufrieden sein. Langsam beginne ich Geschmack am Landleben zu finden,« entgegnete er heiter.

Ein strahlendes Leuchten verklärte ihr liebes Gesicht. »Wirklich – o – wie mich das freut,« sagte sie mit einem sonderbar erregten Ausdruck. Aber gleich darauf sah sie scheuen Blickes zur Seite.

»Warum freut Sie das so sehr?« fragte er, beharrlich in ihr Gesicht blickend, das sehr reizend aussah in der Verwirrung.

»O – ich meine nur – weil – nun – weil Sie doch nun einmal hier sind,« stotterte sie nicht eben geistreich hervor. Er mußte lachen.

»So – weil ich nun einmal hier bin.« Sie wurde noch verlegener. Eine kleine Pause entstand, und er sah, wie sie an ihm vorbei nach einem Ausweg spähte. Ihre Verwirrung gab ihm zu denken. Nicht umsonst hatte er die Frauen erforscht.

»Wissen Sie, was ich am schmerzlichsten hier in Rochambeau vermisse, gnädiges Fräulein?« – Sie sah ihn fragend an.

»Nun?«

»Musik. – Ich höre so gern Musik, das wissen Sie wohl noch von früher?«

Sie nickte eifrig.

»O ja – das weiß ich noch.«

»Nun denken Sie sich in meine Lage. Ich entbehre die Musik wirklich schmerzlich. Und da wollte ich Sie bitten, mir zu erlauben, daß ich zuweilen des Abends ein Stündchen bei Ihnen und Frau von Baranta verbringen darf. Tante Hermance würde sicher nicht zürnen, wenn Sie mir zuweilen etwas vorspielen oder singen würden. Darf ich kommen?«

Florence drückte, wie immer, wenn sie sehr erregt war, die Hände ans Herz und sah ihn an, als habe er ihr soeben ein herrliches Geschenk gemacht.

»Ach – wenn Sie das wollten – wie würde ich glücklich sein – ich –«

Sie verstummte plötzlich, weil ihr zum Bewußtsein kam, daß ihre Freude ihm zu viel von ihrem Empfinden verraten könnte. Und dann fuhr sie steif und förmlich fort:

»Wir würden uns sehr freuen, Frau von Baranta und ich, wir sind ja auch immer allein des Abends.«

Er sah ihr so fest und forschend in die Augen, daß sie noch viel verwirrter wurde.

»Und Sie versprechen mir, zu musizieren?«

Sie atmete tief auf.

»Gern, obwohl ich seit Tante Hermances Tod keine Taste berührt habe. Sie würde ja nicht wollen, daß ich Ihnen diesen Wunsch versage.«

»Wann darf ich kommen?«

»Gleich heute abend,« antwortete sie schnell, eine unruhige Bitte im Auge.

»Gut – ich komme.«

Wieder ein Aufleuchten in ihren Augen, trotz aller Selbstbeherrschung. Er faßte ihre Hand und küßte sie. Und da fühlte er, wie diese kleine schmale Hand in der seinen zitterte, wie ein gefangenes Vögelchen. Sie dachte wohl gleich ihm an den Kuß, den sie eines Tages auf seine Hand gedrückt hatte.

Gleich darauf riß sie sich los, und an ihm vorbeihuschend wie auf der Flucht, strebte sie dem Schlosse zu. Er sah ihr überrascht nach. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. – »Steht es so? Ei, mir scheint, da sollte es mir nicht schwer fallen, das zurückzuerobern, was mir das Schicksal genommen hat. Wenn ich nun nicht nur ein leichtsinniger, sondern auch ein gewissenloser Mensch wäre, dann brauchte ich der kleinen Florence nur den Kopf noch ein wenig mehr zu verdrehen! Aber nein, das wollen wir hübsch bleiben lassen; ein ehrlicher Kerl ist Gaston Beaucourt noch immer gewesen und wird es auch bleiben, trotz der Mißgunst des Schicksals.«

So dachte er, als er Florence nachsah. Dann, als sie seinen Blicken entschwunden war, schnippte er mit den Fingern und ging weiter. Aber seine Gedanken beschäftigten sich doch noch eine ganze Weile mit Florence.

»Übrigens sah sie sehr niedlich aus, wie sie die Hände an das Herz drückte und mich anstrahlte mit ihren frommen Kinderaugen.«

»Kleines, dummes Mädchen,« sagte er zum Schluß halblaut vor sich hin. Und dann ließ er vor seinen geistigen Augen all die schönen Frauen vorbeiziehen, denen er in seinem Leben schon gehuldigt hatte. Daneben verblaßte Florence Gramonts schlanke Gestalt mit dem stillen, feinen Gesicht. Mochten die schweren braunen Zöpfe sich noch so anmutig um ihren schöngeformten Kopf legen, mochten die großen braunen Augen noch so leuchtend aufstrahlen – vor den Reizen jener schönen Pariser Frauen konnte ihr Bild nicht bestehen. –

Am Abend vertauschte er zum ersten Male wieder seinen Hausanzug mit dem vornehmen, seidengefütterten Abendrock und begab sich durch die große Halle in den linken Schloßflügel hinüber.

Er ließ sich den Damen melden. Sie empfingen ihn in dem kleinen Raum, in dem er früher immer des Abends mit seiner Großtante und Florence zusammen den Tee genommen hatte. Der Raum lag unmittelbar neben dem Musikzimmer.

Es war nun fast genau so, wie es früher so oft gewesen war: da stand vor ihm der Teetisch mit demselben Gerät besetzt, und ihm gegenüber saß Florence und bediente ihn mit ihren schlanken weißen Händen. Nur daß statt Tante Hermances kleiner, etwas gebückter Gestalt die aufrechte und sehr stattliche der Frau von Baranta neben Florence saß.

Es fiel ihm auf, wie wenig das stille, bescheidene Wesen der jungen Dame dem einer reichen Erbin entsprach. Sie schien fast noch bescheidener und unsicherer geworden zu sein als früher. Aber in ihren Augen lag ein stiller Glanz, so, als würden sie durch eine heimliche Freude von innen aus verklärt. Das rührte ihn wider Willen.

Auch Frau von Baranta bemerkte, daß ihre junge Herrin heute froher und angeregter war. – »Ich freue mich sehr, daß Sie uns jetzt öfter die Ehre geben werden, Herr von Beaucourt. Fräulein Florence war immer so traurig und bedrückt, solange ich hier bin. Fast nie sah ich ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Heute sieht sie ganz anders aus,« sagte sie.

Florence senkte erschrocken die Augen, als sich Gastons Blicke forschend auf ihr Gesicht richteten. Hastig erhob sie sich.

»Sie wollten doch Musik hören, Herr von Beaucourt. Haben Sie besondere Wünsche?«

Er erhob sich gleichfalls und folgte ihr in das Musikzimmer.

»Ich überlasse Ihnen die Wahl, gnädiges Fräulein.«

Sie ließ sich vor dem Flügel nieder, und er nahm seitwärts in einem Sessel Platz. Leise, wie unschlüssig, begann sie ein Vorspiel, dann ertönten die wunderbaren Klänge der Mondscheinsonate unter ihren Fingern hervor. Ihr Spiel war meisterhaft und beseelt, es sprach zum Herzen und füllte Gastons Gemüt mit weihevoller Ergriffenheit. Verstohlen sah er zu Florence hinüber, deren feines Gesicht hell beleuchtet war. Sie schien eine ganz andere geworden zu sein. Ihre Augen flammten, und um den Mund zuckte es, als wären herbe Schmerzen aufgewühlt. Der kindlich unsichere Ausdruck war verschwunden – da saß ein junges Weib, das die Sprache verstand, die diese Töne redeten, die sie mitempfand als ein Stück eigenen Lebens.

Atemlos lauschte er, gleich Frau von Baranta, die drüben am Teetisch sitzen geblieben war. Und als die Klänge verrauscht waren und Florence sich in den Sessel zurücklehnte, blieb es eine Weile ganz still.

Dann wandte Florence, jetzt wieder ganz das liebe, schüchterne Kind, ihren Kopf und sah fragend zu Gaston hinüber, als wollte sie wissen, ob er zufrieden war. Da erhob er sich und küßte ihr langsam dankbar beide Hände.

»Hab ich's getroffen?« fragte sie leise.

»Herrlich war es. Ich danke Ihnen. Wie ein Trank nach langem Dürsten. Und nun singen Sie mir noch ein Lied – dann will ich Sie heute nicht mehr bemühen.«

Sie sah in die flammenden Kerzen und atmete gepreßt.

»Ich weiß nicht, ob ich noch singen kann. Mir ist's, als könnte kein Ton mehr aus meiner Kehle.«

Er lehnte sich gegen den Flügel.

»So sehr trauern Sie um Tante Hermance?«

Sie sah in heißer Bitte zu ihm auf.

»Ich traure um sie, wie ein Kind um die verlorene Mutter. Aber es ist nicht das allein. Etwas anderes lastet auf mir – so schwer – daß ich es kaum ertragen kann.«

Tränen glänzten bei diesen Worten in ihren Augen, die noch immer flehend an seinem Gesicht hingen.

»Was ist es, das Sie so niederdrückt? Darf ich es nicht wissen?«

»Ja – Sie sollen es wissen. Es quält mich so sehr, daß Sie vielleicht an der Liebe Tante Hermances zu Ihnen zweifeln könnten, weil sie ein so seltsames Testament verfaßt hat. Ich fürchte, die Bitterkeit, die Sie darüber fühlen, löscht die Liebe aus, die Sie für Tante empfanden. Es drängt mich schon seit langer Zeit, Ihnen zu sagen, daß Sie dann Unrecht tun. Ach, glauben Sie mir, nie war Tantes Liebe zu Ihnen größer und inniger, als da sie sich zu diesem Testament entschloß. Sie hat es mir selbst geschrieben – in jenem Brief, den Herr Grillon mir vor der Testamentseröffnung übergab.«

Gaston sah sehr ernst aus.

»Warum erinnern Sie mich jetzt an das leidige Testament? Lassen wir das ruhen! Und wenn es Sie beruhigt, so will ich Ihnen sagen, daß ich weder an Tante Hermances Liebe zweifle, noch ihr meine Liebe entzogen habe. Ich weiß, daß ich allein schuld bin, daß sie so hart mit mir verfuhr. Im Anfang war ich nicht ohne Bitterkeit, das gestehe ich offen. Man ist zu selbstsüchtig, um seelenruhig auf etwas zu verzichten, was man schon fest zu besitzen wähnt. Aber jetzt hab ich das überwunden, und ich glaube sogar – es war gut so. Es war ein etwas gewaltsames Mittel, mich zu bessern – aber es war nicht wirkungslos.«

Florence preßte wieder die Hände aufs Herz und sah unter Tränen lächelnd zu ihm auf.

»Wie glücklich bin ich darüber – ach – unsagbar glücklich,« flüsterte sie weltvergessen. Und dann sich aufraffend, fuhr sie fort: »Nun will ich auch, ohne zu murren, ertragen, daß Sie mir grollen.«

»Ich Ihnen grollen? Wer sagt Ihnen denn, daß ich das tue?«

Sie lächelte schmerzlich. Er meinte, noch nie in einem Frauenantlitz ein Lächeln gesehen zu haben, das ihm so an das Herz gegriffen hätte.

»Es ist doch so natürlich, daß Sie mir zürnen. Wenn ich nicht wäre, dann wäre Tante Hermance nie auf den Einfall gekommen, mich – mich zu ihrer Erbin einzusetzen.«

»Trotzdem gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich Ihnen nicht zürne. Habe ich es in einer dunklen Stunde getan, dann ist es längst überwunden.«

Sie saß da, ohne sich zu rühren, aber große Tränen rannen über ihr Gesicht. Nie hatte Gaston eine Frau so weinen sehen, so still, so ergreifend und rührend. Nie hatten ihm Frauentränen einen ähnlich tiefen, erschütternden Eindruck gemacht.

»Warum weinen Sie? Bin ich schuld an Ihren Tränen?« drängte er.

Sie schüttelte den Kopf und schluckte tapfer die Tränen hinunter.

»Nein – nicht schuld. Nur – ich dachte, Sie müßten mir noch zürnen, weil Sie mich immer Fräulein von Gramont oder gnädiges Fräulein nennen. Früher nannten Sie mich immer Florence.«

Er lächelte und faßte nach Ihrer Hand.

»Wußte ich denn, ob Ihnen das recht war? Sie nennen mich doch auch Herr von Beaucourt und nicht mehr Gaston.«

»O, Sie haben aber zuerst angefangen,« sagte sie eifrig wie ein glückliches Kind. »Ich weiß es noch ganz genau – es war am Tage der Beerdigung Tante Hermances. Wissen Sie – in der Halle an der Treppe.«

Er nickte ernst.

»Ich weiß – und damals hatte ich ein wenig den Glauben an Sie verloren – aber nur auf kurze Minuten.«

»Wenn Sie ihn nun wiedergefunden haben und mir nicht mehr zürnen, dann bin ich sehr glücklich,« sagte sie aufatmend.

»Also nun aufs neue denn: Gut Freund, liebe Florence! Sind Sie jetzt zufriedengestellt?«

Sie legte ihre Hand in die seine: »Nie sollen Sie eine treuere Freundin haben als mich, Gaston.« – Und dann wandte sie sich schnell dem Flügel wieder zu und sang ein paar schlichte, kleine Lieder, die, so anspruchslos sie auch waren, nicht ohne Wirkung blieben, weil sie von den Empfindungen des jungen Mädchens beseelt waren.

Darauf gingen sie beide in den Teeraum zurück und plauderten noch eine Weile mit Frau von Baranta, die nichts von ihrem Gespräch verstanden hatte und sich harmlos über die gehobene Stimmung ihrer jungen Herrin freute. Als sich Gaston später verabschiedete, versprach er, am nächsten Abend wiederzukommen. Er küßte der jungen Dame sehr ausdrucksvoll die Hand und sagte:

»Gute Nacht, liebe Florence, schlafen Sie gut! Und morgen auf Wiedersehen!« Ihren glücklichen Gesichtsausdruck nahm er in der Erinnerung mit.

»Sie ist ein liebes, gutes Kind, die kleine Florence,« dachte er, ehe er einschlief. Und eine beinahe onkelhafte Zärtlichkeit erfüllte ihn für sie, das junge, anspruchslose Mädchen. – –

Von nun an kam er fast jeden Abend in den linken Schloßflügel, nahm den Tee mit den Damen und plauderte mit ihnen. Jedesmal musizierte Florence eine Weile, und sie traf fast immer das, was seiner Stimmung am meisten zusagte. Auf das Gespräch vom ersten Abend kamen sie nicht wieder zurück. Zuweilen begleitete Gaston die Damen auch auf ihren Spaziergängen. Die kluge Frau von Baranta merkte gar bald, daß Florences Stimmung sehr von Gaston beeinflußt wurde. War er heiter, dann strahlte sie über das ganze Gesicht; schien er verstimmt, dann war sie traurig und bedrückt.

So vergingen der Sommer und der Herbst. Dann kamen die stillen Wintertage, an denen es Gaston an reger Tätigkeit fehlte. Um wieder einmal Großstadtluft zu genießen, fuhr er im Januar einige Tage nach Paris.

Er ahnte nicht, daß ihm Florences Gedanken in heißer Angst folgten. Würde er nicht von neuem den Lockungen des Pariser Lebens erliegen – würden ihn nicht schöne Flauen mit ihren Zauberkünsten wiederum festzuhalten suchen?

Ach, wie beklommen harrte die arme kleine Florence auf seine Wiederkehr!

Vierzehn Tage hatte Gaston in Paris bleiben wollen, und zu diesem Zwecke hatte er fast sein ganzes Jahreseinkommen zu sich gesteckt. Aber es erging ihm merkwürdig: Paris war ihm nicht mehr das, was es früher gewesen war. Er hatte die Fühlung mit seinen Freunden verloren, und die schönen Frauen mit ihren gepuderten Gesichtern erschienen ihm fremd und reizlos. Das laute, glänzende Treiben dünkte ihm so nichtssagend und inhaltlos gegen das Leben in Rochambeau.

Einige Nächte durchschwärmte er und suchte sich gewaltsam in eine vergnügte Stimmung hineinzusteigern. Am fünften Abend suchte er mit einer lauten, heiteren Gesellschaft eines jener glänzenden Weinhäuser auf, in denen er früher so oft gespeist hatte, auch in Gesellschaft von Claire Desmont. Und als er durch den langen Saal an den Einzellauben vorüberging, erblickte er an einem Tisch seine ehemalige Geliebte mit einem anderen Herrn. Sie lächelte ihm zu und warf einen spöttisch mitleidigen Blick zu ihm hinüber. Er begriff plötzlich nicht mehr, daß er jemals etwas für dieses stark gepuderte, seelenlose Geschöpf empfunden hatte. Inmitten der ausgelassenen Gesellschaft überkam ihn plötzlich eine so heftige Sehnsucht nach dem Frieden von Rochambeau, daß er am nächsten Morgen schon Paris verließ.

Als er gegen Mittag in Rochambeau eintraf – er hatte den Weg von der Station zu Fuß gemacht, weil man ihn nicht erwartete und keinen Wagen geschickt hatte – begegnete er Florence im Park.

Sie schrie leise auf bei seinem Anblick. »Schon zurück, Gaston? Was ist geschehen?« Eine schwere Bangigkeit lähmte die Freude an seiner Heimkehr.

»Er hat gespielt und alles, was er besaß, verloren, deshalb ist er schon wieder hier! Mein Gott – mein Gott – so war denn alles umsonst!« dachte sie zitternd.

Gaston lächelte ihr aber vergnügt zu und machte ein schelmisches Gesicht.

»Etwas Tolles ist geschehen, Florence – ich habe mich in Paris sträflich gelangweilt. Und die Sehnsucht nach Rochambeau trieb mich schon heute zurück. Was sagen Sie dazu? Ist das nicht unglaublich?«

Die Knie zitterten ihr. Sie lehnte sich an einen Baum und schloß, erblassend vor dem jähen Glücksgefühl, das sie überflutete, einen kurzen Augenblick die Augen.

Er trat besorgt an ihre Seite.

»Sie fühlen sich unwohl, Florence?«

Sich mühsam fassend, rückte sie den schweren Pelzkragen, den sie trug, zurück. »Es ist schon vorüber – ich glaube, ich bin ein wenig erschrocken, weil ich Sie so unerwartet wiedersah.«

Er half ihr gewandt über ihre Verlegenheit hinweg und schritt dann harmlos plaudernd neben ihr her bis zum Schlosse. – – –

In wenigen Tagen ging das Jahr nach dem Tode des Fräulein von Rochambeau zu Ende. Am 15. Juni sollte Florence die endgültige Erklärung abgeben, ob sie die Erbschaft annahm oder nicht. Und dieser Erklärung folgte dann die Eröffnung des Zusatzes.

Gaston hatte kaum mehr daran gedacht. Daß Florence auf das Erbe verzichten würde, hielt er für unmöglich. Mochte sie noch so großdenkend und edel veranlagt sein – zweiundeinehalbe Million weist man nicht einfach von der Hand, wenn man ein armes Mädchen ist. –

Florence aber dachte nur zu oft an diesen Tag, und je näher er rückte, desto unruhiger und bedrückter wurde sie. Immer wieder zog sie in diesen Tagen das Schreiben hervor, welches ihr Grillon kurz vor der Testamentseröffnung übergeben hatte. Sie las es von neuem, obwohl sie längst jedes Wort auswendig wußte.

Noch immer kam Gaston fast täglich zum Tee in den linken Schloßflügel. Sein Verhältnis zu Florence hatte mehr und mehr den Charakter einer brüderlichen Zärtlichkeit angenommen, wenigstens hielt er das warme Gefühl für sie für ein brüderliches Wohlwollen.

Wenn ihm Florence zuweilen besonders liebreizend und anmutig erschien, dann sagte er sich wohl: »Wahrhaftig, dieses liebe kleine Mädchen könnte eine passende Frau für dich werden! Ihre sanfte, stille Art legt sich wie Balsam auf deine Wunden. Ihre Nähe wirkt auf dich wie eine liebe, einschmeichelnde Melodie und ihr Gesang verursacht dir ein wohliges Behagen – so, als wenn liebevolle Frauenhände dich streichelten. Aber es wäre einfach lächerlich, wenn du dich um sie bewerben wolltest. Jeder Mensch würde glauben, du wolltest sie nur der Erbschaft wegen heiraten. Und in einen solchen Verdacht willst du doch nicht kommen. Um das zu tun, müßtest du mindestens eine große, alles zum Schweigen bringende Leidenschaft für sie empfinden. Aber das ist nicht der Fall. Du lebst ja ganz friedlich neben ihr hin. Und Liebe und Leidenschaft sehen anders aus – das weißt du doch, mein Lieber. Das kommt wie ein Sturmwind und gibt nicht Ruhe, bis man die Geliebte besitzt. Freilich – ohne Florences Nähe würdest du dich hier kaum so glücklich fühlen, und wenn sie einmal nicht mehr hier wäre – ja dann, dann –«

Weiter kam er nie in seinen Gedanken. Die Möglichkeit einer Trennung von Florence mochte er gar nicht in Erwägung ziehen.

Es war am Abend des 13. Juni. Gaston saß wie immer bei den Damen am Teetisch. Er merkte nicht, daß Florence unruhig und nervös war, und hatte keine Ahnung, daß drüben in Florences Schlafzimmer seit gestern große Körbe und Koffer gepackt wurden.

Frau von Baranta sah verstohlen mit ihren klugen Augen von einem der jungen Leute zum andern. Sie hätte gern Gaston einen kleinen Wink gegeben, daß etwas vorging im Schlosse, wovon er nichts wußte. Aber Florence hatte ihr streng verboten, etwas zu verraten.

Im Laufe des Abends verließ die junge Dame auf eine Weile den Raum, um ein Buch, von dem man gesprochen, herbeizuholen.

Frau von Baranta sah Gaston forschend an.

»Finden Sie nicht, Herr von Beaucourt, daß Florence jetzt ein wenig nervös ist?« Gaston nickte zustimmend.

»Es ist mir auch schon aufgefallen. Woran mag das liegen?«

Die alte Dame zuckte vielsagend die Achseln und sagte dann scheinbar harmlos: »Wie kommt das bei so jungen Mädchen? Florence ist in einem heiratsfähigen Alter. Es wird ja nicht mehr lange dauern, dann werden sich genug Bewerber um ihre Hand melden. Das Trauerjahr ist in wenigen Tagen zu Ende.«

Gaston durchzuckte ein seltsames Schmerzgefühl. Florence und heiraten – das war etwas, was er sich nicht zusammendenken mochte! Er sah starr vor sich nieder, ohne zu antworten, und merkte nicht, daß ein verstohlenes, befriedigtes Lächeln um die Lippen der alten Dame zuckte. – –

Als Florence zurückkehrte, betrachtete er sie wie etwas Neues – Unbegreifliches. Wäre sie nicht selbst innerlich stark in Anspruch genommen gewesen, hätte ihr sein verändertes Wesen auffallen müssen. So aber bemerkte es nur Frau von Baranta.

Diese sorgte auch dafür, daß die Unterhaltung nicht einschlief.

Aber Gaston verabschiedete sich doch früher als sonst. Als ihm Florence die Hand reichte, fühlte er, daß sie kalt war und leise zitterte. Und ihre Augen blickten starr, wie erloschen, als sie ihm leise ein ›Gute Nacht‹ sagte. Sie fügte nicht wie sonst ein ›Auf Wiedersehen‹ hinzu.

Nachdenklich und verstimmt suchte Gaston sein Zimmer auf. Florence aber saß diesen Abend noch lange an ihrem Schreibtisch.

Am nächsten Tage, dem 14. Juni, traf Anwalt Grillon in Rochambeau ein. Erst dadurch wurde Gaston an den Testamentsanhang erinnert. Es beschäftigte ihn nicht weiter. Er begrüßte Grillon nur bei Tisch und besprach allerlei Geschäftliches mit ihm, ohne auf das Testament zurückzukommen. Aber nach Tisch sprach Grillon selbst davon.

»Wie Sie sich erinnern werden, soll morgen der Nachtrag zum Testament Ihrer Fräulein Großtante eröffnet werden. Außer Ihnen und Fräulein von Gramont braucht bei diesem Akt niemand zugegen zu sein. Ich bitte Sie, Herr von Beaucourt, daß Sie sich morgen um zehn Uhr hier in diesem Zimmer einfinden.«

Gaston verneigte sich.

»Ich werde zur Stelle sein. Haben Sie Fräulein von Gramont schon benachrichtigt?«

»Nein, aber ich habe mich in einer Stunde bei ihr zu einem Besuch angesagt und werde ihr dann Mitteilung davon machen.«

Gaston war noch immer in einer gedrückten Stimmung. Er wußte selbst nicht, was ihm die gute Laune verschlagen hatte, und wollte sich nicht eingestehen, daß es nichts war als die Worte der Frau von Baranta, was ihn bedrückte.

Als er am Abend hinüberkam in den linken Schloßflügel, wurde ihm durch den Diener gemeldet, daß Fräulein von Gramont um Entschuldigung bitte, wenn sie Herrn von Beaucourt nicht empfangen könne, sie habe starkes Kopfweh.

Das war noch nie vorgekommen und besserte Gastons Stimmung natürlich nicht. Er ging noch eine Weile im Park spazieren und schaute zu den matterleuchteten Fenstern von Florences Zimmern empor. Er sah zuweilen einen Schatten, als ob jemand hin und her gehe. Und ihm war es zumute, als sei er ausgeschlossen aus einem Paradiese.

Noch verdrießlicher als gestern ging er zu Bett.

Am nächsten Morgen um zehn Uhr betrat er pünktlich das Zimmer, in dem ihn Grillon erwartete. Dieser saß an einem mit Akten bedeckten Tisch, neben ihm ein Beamter, der sich mit dem Schreibzeug zu schaffen machte.

Grillon erhob sich und begrüßte Gaston mit einer tiefen Verbeugung und dem schwachen Schatten eines Lächelns in dem scharfen Gesicht.

»Fräulein von Gramont ist noch nicht anwesend, wie ich sehe,« sagte der junge Mann in leiser Ungeduld.

Grillon verneigte sich wieder.

»Fräulein von Gramont ist heute in aller Frühe abgereist.«

Gaston zuckte zusammen und trat betroffen einen Schritt zurück.

»Abgereist? Das – das ist doch wohl ein Irrtum?«

»Nein, nein, sie ist in Begleitung der Frau von Baranta nach Fontainebleau gereist.«

»Aber davon hatte ich ja keine Ahnung! Was hat sie gerade heute zu dieser Reise veranlaßt? Ich denke, sie soll heute ihre Erklärung abgeben bezüglich der Erbschaft,« sagte Gaston unruhig.

Grillon lächelte beschwichtigend.

»Keine Sorge, Herr von Beaucourt, das ist bereits geschehen. Heute morgen um acht Uhr war sie bereits hier, weil sie den Zug um neun Uhr benutzen wollte.«

»Und weshalb bin ich nicht davon benachrichtigt worden?«

»Sie waren kurz zuvor auf die Felder geritten.«

»Aber das kommt mir alles so unerwartet. Konnte Fräulein von Gramont ihre Reise nicht aufschieben?«

Grillon zuckte die Achseln.

»Damen sind unberechenbar, Herr von Beaucourt. Im übrigen bin ich beauftragt, Ihnen ein herzliches Lebewohl zu bestellen und Ihnen diesen Brief zu übergeben.«

Gaston faßte, aufs äußerste betroffen, nach dem Brief.

»Wann kehrt das gnädige Fräulein zurück?«

Grillon blickte ihn erstaunt an. »Zurückkehren? Davon weiß ich nichts; ich weiß nur, daß Fräulein von Gramont das Schloß verlassen hat, um in Zukunft ihren Aufenthalt in dem Landhaus zu nehmen, das ihr auch jetzt noch gehört, nachdem sie die gerichtlich beglaubigte Erklärung gegeben hat, daß sie die Erbschaft der zweieinhalb Millionen Frank zurückweist.«

Gaston verfärbte sich. – »Sie weist die Erbschaft zurück?« stieß er heiser hervor.

Grillon stutzte.

»Ich denke, Sie sind davon unterrichtet. Fräulein von Gramont sagte mir doch, daß sie Ihnen das alles mitgeteilt hat. – Ah so – der Brief – ich vergaß. Der Brief wird alles Nähere enthalten.«

Gaston sah fassungslos auf den Brief in seiner Hand herab. Er empfand nur eines klar und mit peinigender Schärfe: Florence war fort – ohne Abschied – für immer.

Endlich raffte er sich auf.

»Sie gestatten, daß ich mich zurückziehe und den Brief erst lese. Die Angelegenheit mit dem Testamentsnachtrag eilt ja wohl nicht.«

Grillon lächelte eigentümlich zu diesen Worten.

»Mir eilt sie nicht – ich kann warten.«

Gaston nickte ihm flüchtig zu und ging in das Nebenzimmer. Es war ihm unmöglich, den Brief unter Grillons kalten, scharfen Augen zu lesen.

Drüben warf er sich in einen Sessel und erbrach hastig den Brief. Einige beschriebene Blätter fielen heraus. Sie trugen Florences und Tante Hermances Schriftzüge.

Florence schrieb:

 

»Lieber Gaston! Beiliegend der Brief, den ich heute vor einem Jahr von Grillon überreicht bekam. Sie werden daraus sehen, daß ich ein Jahr lang mit einer großen Lüge neben Ihnen lebte. Glauben Sie mir, es war sehr schwer.

Sie werden es mir nicht verzeihen können, und weil ich es nicht ertragen könnte, Sie zornig zu sehen, reise ich lieber ab, ehe Sie alles erfahren. So bleibt mir ungetrübt die Erinnerung an die schönen Tage und Stunden, die wir gemeinsam verlebten. Ich bitte nicht für mich um Verzeihung. Nur eins bitte ich Sie, so sehr ich kann: Lassen Sie uns, Tante Hermance und mich, nicht umsonst unwahr gewesen sein. In treuer Freundschaft

Ihre Florence Gramont.«

 

Gaston schüttelte verständnislos den Kopf und griff zu den Blättern, die Tante Hermance beschrieben hatte. Der Inhalt war folgender:

 

»Meine teure, liebe Florence! Eine Stunde, nachdem Du dies gelesen hast, wird mein Testament eröffnet. Nur Du allein sollst wissen, daß dieses Testament ein Scheintestament ist und gar nicht meinen letzten Willen enthält. Mein wirklicher letzter Wille ist in dem Nachtrag enthalten, der heute in einem Jahr eröffnet werden soll.

Ich kann nicht sterben, ohne noch einen letzten Versuch gemacht zu haben, meinen herzlieben Gaston von dem Abgrund zurückzureißen, dem er zustrebt. Er ist ein Spieler geworden – und das ist immer der Anfang vom Ende. So will ich, um ihn zu retten, angesichts des Todes eine Posse aufführen, zu der ich Deine Hilfe brauche. Ich weiß, Du liebst Gaston nicht minder als ich. Scheinbar entziehe ich ihm in meinem Testament mein Vermögen und vermache es Dir. Ich weiß, Du würdest im Ernst dieses Erbe zurückweisen. Aber um Gaston den Ernst des Lebens zu zeigen, darfst Du das nicht tun, mußt im Gegenteil den Anschein erwecken, als nähmest Du an. Nach einem Jahre, wenn meine Arznei gewirkt hat und der Nachtrag eröffnet wird, sollst Du die Erbschaft zurückweisen. In dem Nachtrag setze ich dann Gaston zu meinem Alleinerben ein – ohne Beschränkung seines Willens.

Für Dich, mein liebes Kind, setze ich im Nachtrag dreimalhunderttausend Frank aus und vermache Dir das Landhaus in Fontainebleau. Gehen meine innigsten Wünsche in Erfüllung, dann bleibst Du immer in Rochambeau. Gib diesen Brief Gaston am Tage der Eröffnung der Nachtrags. Gott segne Euch Beide.

In treuer Liebe

Deine Tante Hermance.«

 

Gaston starrte erschüttert auf die letzten Worte einer geliebten Toten herab. Wie sehr hatte sie ihn geliebt! Und Florence, – seine liebe kleine Florence, – – o jetzt wußte er, warum sie geflohen war. Nicht aus Angst vor seinem Zorn, sondern in echt weiblicher Scheu. Gleich ihm mußte sie den Sinn der letzten Worte der Großtante erfaßt haben. Die heimlichsten und innigsten Wünsche Tante Hermances galten einer ehelichen Verbindung zwischen ihm und Florence, das ging klar aus ihrem Schreiben hervor. Und Florence hatte das gefühlt, so gut wie er, und vielleicht gerade, weil ihr eigenes Herz die gleichen Wünsche hegte, floh sie in Angst und Scham vor ihm.

»Liebe kleine Florence,« flüsterte er leise, und sein Herz klopfte stark und weitete sich, als müßte es ein großes, heißes Gefühl aufnehmen.

Nach einer Weile erhob er sich und ging hinüber zu Grillon. Dieser sah ihm mit einem wahrhaft verschmitzten Lächeln entgegen. Dies Lächeln durchzog das Gesicht des Rechtsanwalts mit tausend Falten und Fältchen. Gaston trat rasch zu ihm heran. »Sie wissen, was der Nachtrag enthält, Herr Grillon?«

»Alles, mein lieber Herr von Beaucourt. Deshalb riet ich Ihnen auch so dringend ab, einen Prozeß anzustrengen. Aber, bitte, nun zu dem Testament.« –

Nachdem Grillon vom Schloß abgefahren war, schritt Gaston mit einem seltsamen Empfinden durch den langen Säulengang nach dem linken Flügel. Es trieb ihn nach Florences Zimmern, als sei er ihr dort näher. Tief atmete er zuweilen auf. Nun war er hier auf diesem Boden unumschränkter Herr, und das eine Jahr, in bescheidenen Verhältnissen gelebt, war nichts gewesen als ein Zwischenspiel. Nichts hätte ihn nunmehr hindern können, nach Paris zurückzukehren und das alte glänzende Leben von neuem aufzunehmen. Aber keinen Augenblick dachte er daran.

Wohl war es ihm ein angenehmes Gefühl, wieder reich zu sein. Aber er wollte nun aus freiem Willen das neue Leben der Arbeit fortsetzen. Zu segensreich hatte es sich ihm erwiesen. In Rochambeau wollte er auch in Zukunft bleiben. Aber jetzt wußte er genau – ohne Florence würde seinem Leben das Beste fehlen. Ihre Flucht hatte ihm gezeigt, wie teuer sie ihm geworden war.

Gleich am nächsten Morgen reiste er nach Fontainebleau. Schnell fand er das hübsche Landhäuschen vor dem Städtchen.

Ein geräumiger Garten umgab es, und in diesem Garten stand Frau von Baranta bei den Erdbeerbeeten, als er eintrat. Sie lachte über das ganze Gesicht. »Sie, Herr von Beaucourt! Ach, wie gut, daß Sie kommen, ich weiß mir keinen Rat mehr mit Florence. Sie ist so traurig und weint sich noch die Augen aus dem Kopfe.«

»Wo ist sie?« fragte er ungeduldig.

»Drinnen in ihrem Salon, gleich rechts die zweite Tür.« – Gaston verschwand eiligst im Haus. Frau von Baranta nickte lächelnd vor sich hin.

»So ist es gut. Der Posten einer Hausdame in Schloß Rochambeau ist mir sicher,« dachte sie befriedigt.

Gaston betrat inzwischen das bezeichnete Zimmer. Florence saß in einem Sessel am Tisch und hatte das Gesicht in den Händen verborgen. Er trat dicht hinter sie und umfaßte ihre Schultern.

»Florence, liebe, kleine Florence!« Wie ein Schlag ging es durch ihren Körper. Sie richtete sich in die Höhe und sah mit einem herzzerreißenden Blick zu ihm auf.

»Sie, Gaston? Was – was wünschen Sie?«

»Ich will dich heimholen nach Rochambeau, Florence. Willst du mich jetzt verlassen, wo ich erkannt habe, wie sehr ich dich liebe? Du gefährdetest dein ganzes Rettungswerk, wenn du mich jetzt allein ließest. Denn wenn du nicht meine liebe kleine Frau werden willst, ergebe ich mich vor Kummer wieder dem alten wilden Leben.«

Sie sah ihn an, wie von einem süßen Traum befangen.

Er zog sie zu sich heran und hielt sie in seinen Armen fest.

»Nun – sagst du mir kein Wort, du schlimmer Ausreißer? Soll ich Faustrecht üben und dich küssen, bis du um Gnade flehst? Oder liebst du mich nicht?«

Da warf sie mit einem Aufschluchzen ihre Arme um seinen Hals. »Ich wäre gestorben fern von dir,« schluchzte sie zitternd.

»Meine süße, törichte kleine Florence! Deine Torheit kann nur von meiner übertroffen werden,« erwiderte er zärtlich.

Und dann übte er doch Faustrecht.

* * *


 << zurück