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Laut weinend warf sie sich in Frau Terrasson's Arme.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Bittre Reue

Armer Carlet! Wie lange Zeit war es her, daß Thränen über diese gefurchten Wangen geflossen waren, und nun saß er und weinte die ganze Nacht hindurch, als könne er nie wieder froh werden.

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»Die Undankbare,« murmelte er seufzend vor sich hin und drückte sein Gesicht in ein rothcarrirtes Taschentuch, das auch in so hohem Grade die Heiterkeit der Dorfjugend von Couëron erregt hatte. »Das undankbare Kind! Ich war so glücklich, sie auf's Schönste zu schmücken, und mit all meiner Mühe habe ich nun nichts erreicht, als daß ihr Herz schlecht und verdorben ist! Sie hat sich meiner geschämt und ist erröthet, weil sie zu mir gehörte!«

Und Vater Carlet, der bis jetzt niemanden gehaßt oder Böses gewünscht hatte, fühlte sein Herz von Zorn gegen Ella erfüllt. Aber gar bald siegte wieder seine unendliche Liebe für das Kind. Er fing an, milder über ihr Vergehen zu urtheilen und suchte sie zuletzt sogar zu entschuldigen und alles Unrecht auf seine eigenen Schultern zu nehmen.

»Sie ist noch so jung, noch ein vollständiges Kind! Sie weiß nicht, was sie thut und sagt! Und es ist ja auch das erste Mal, daß sie mir in all den Jahren Kummer macht. Wie viele Eltern müssen Tag für Tag über ihre Kinder klagen und seufzen! Sie hat gewiß bemerkt, wie einige Leute über mich gelacht haben, und das war ihr unangenehm. Sie war so wunderhübsch, eine wahre Augenweide! Ich hätte daran denken und nicht mit zum Feste gehen sollen. Frau Robert hätte sicher für die Kleine gesorgt, und ich hätte dem armen Kinde dann nicht das ganze Vergnügen zerstört. Ich habe es wohl bemerkt, daß sie den ganzen Nachmittag still und traurig war, aber ich ahnte ja den Grund davon nicht … Könnte ich mich denn nicht etwas eleganter kleiden? Ich weiß nur nicht, wie man das anfängt, und dann habe ich auch kein Geld mehr, um neue Kleider zu kaufen … Ach! wer weiß, ob sie mich überhaupt noch, so wie ich bin, lieb haben mag!«

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Während Vater Carlet so seinen traurigen Gedanken nachhing und, auf dem Kaminrande sitzend, endlich einschlief, war Ella in ihrem Kämmerchen nicht weniger unglücklich, als der Alte. Fast ohne zu wissen, was sie that, entkleidete sie sich und legte sich zur Ruhe. Aber vergeblich wartete sie, daß der Schlaf ihre müden Lider schließe. Immer sah sie Vater Carlet's Blick voll Vorwurf und Schmerz auf sich gerichtet, und die bitterste Reue fand mehr und mehr Eingang in dies kleine Herz, das einen Augenblick von Eitelkeit verblendet gewesen war. Aus dem Nebenzimmer drangen von Zeit zu Zeit Carlet's Seufzer an ihr Ohr und raubten ihr alle Fassung. Voller Verzweiflung mußte sie sich sagen, daß der Vater ihr zürne, daß er über sie weine, daß sie die Ursache seines Kummers sei. Sie fühlte sich so trostlos und so schuldig, daß sie nicht einmal mehr wagte, zu ihm zu eilen und seine Verzeihung zu erbitten. Schluchzend verbarg sie das Gesicht unter der Decke und weinte bitterlich. Wie konnte sie ihren Vater so betrüben, ihn, der so gut war, dem sie alles verdankte! Von neuem erinnerte sie sich aller Einzelheiten; wie er sie vom Tode errettet, bei sich aufgenommen und nun seit Jahren auf's Liebreichste für sie gesorgt hatte. Und dies alles lohnte sie ihm nun auf solche Weise! Wie sehr mußte er ihr deshalb zürnen! Wie unendlich gut war es von ihm, daß er sich über sein Kind aufs Tiefste grämte, anstatt die Undankbare fortzujagen und ihr zu fluchen. Undankbar! Gegen dieses Wort, daß sie selbst sich beigelegt, lehnte Ellas Herz sich doch verzweifelnd auf. »Nein, Vater Carlet! ich bin nicht undankbar!« schluchzte sie. »Ich liebe dich so unaussprechlich, und ich will nie wieder so böse sein. Vergieb mir nur dies Mal, lieber, guter Vater Carlet, und gräme dich nicht mehr über mich, denn das bricht mir das Herz.«

Den Kopf tief in die Kissen vergraben, flüsterte Ella schluchzend diese Worte vor sich hin, und der leidenschaftliche Wunsch stieg wieder in ihrem Herzen auf, zu Vater Carlet zu eilen und zu seinen Füßen um Vergebung zu bitten; aber sie wagte nicht, sich ihm wieder zu nähern.

»Er kann mir mein Unrecht nicht verzeihen,« rief sie voll Verzweiflung; »er wird es niemals, niemals thun.«

Als Ella am andern Morgen nach kurzem, unruhigen Schlaf erwachte, tauchten die Vorgänge des verflossenen Abends sogleich wieder in ihrer Erinnerung auf, und sie fragte sich mit stiller Angst, wie Vater Carlet ihr wohl entgegentreten werde. Geräuschlos kleidete sie sich an, und als sie leise die Thür zum Nebenzimmer öffnete, sah sie Carlet noch immer schlafend auf dem Kaminrand sitzen. Er war auffallend blaß, und ein kummervoller Zug lag noch immer auf seinem Gesicht. Die Kleine trat dicht an ihn heran, und regungslos blieb sie vor ihm stehen, bis er nach wenigen Minuten die Augen aufschlug. Sein Blick fiel sogleich auf Ella, aber ihr Gesichtchen hatte einen so traurigen, niedergeschlagenen Ausdruck, daß er nicht den Muth hatte, ihr Vorwürfe über ihr gestriges Betragen zu machen.

»Wo bin ich denn?« sagte er sich aufrichtend und reckte seine langen Arme. »Ich muß gestern Abend sehr müde gewesen sein, daß ich hier eingeschlafen bin; alle Glieder thun mir weh, ich bin wie zerschlagen. Geht es dir gut, Kleine?«

Er küßte Ella bei diesen Worten, wie an jedem Morgen, liebevoll auf die Stirn; aber er zögerte dabei ein wenig, denn er fragte sich, ob ihr diese Zärtlichkeit auch nicht unangenehm sein werde. Die Kleine aber begriff den Grund dieser Zögerung nicht; sie glaubte, daß er sie nur mit Ueberwindung liebkose und senkte traurig das Köpfchen. Nun wagte sie um so weniger, ihr Unrecht zu bekennen und um Vergebung zu bitten.

»Wir wollen uns heut mit dem Frühstück recht beeilen, und mit den Arbeiten im Hause,« nahm Carlet wieder das Wort. »Ich bringe dich dann gleich nach der Rosenstadt hinaus, denn du kannst doch gewiß die Zeit kaum erwarten, Frau Terrasson und Fräulein Pauline von den Freuden des gestrigen Tages zu erzählen.«

Ella seufzte nur leise und eilte, ihre Arbeiten zu beenden. Frau Peters scharfem Auge entging es aber nicht, daß mit Ella eine Veränderung vorgegangen war. Sie bemerkte die traurige Miene des Kindes und sagte beim Frühstück zu dem Alten:

»Es taugt ganz und gar nichts, wenn man der Jugend zu viel Vergnügen macht. Die Kleine hat entschieden mehr getanzt, als ihr zuträglich war, denn sie sieht heut ganz schlecht aus. Es ist gut, daß sie nicht oft solche Festtage hat.«

Schweigend stimmte Ella der guten Frau von ganzem Herzen bei; aber freilich dachte sie dabei nicht an den Tanz. Sie wußte, wie wenig derselbe die Schuld an ihrer Verstimmung trug.

Als sie auf die Straße hinab kamen, ging Ella schweigend neben Vater Carlet her; auch er sprach kein Wort und suchte sich immer in einiger Entfernung von dem Kinde zu halten. Ella bemerkte dies gar bald; sie glaubte, daß er ihre Nähe meide, weil er keine Liebe mehr für sie empfinde, und doch that es der gute Alte nur, damit sie sich nicht von neuem seiner zu schämen habe. Traurig sah er dabei vor sich nieder und wiederholte sich immer wieder den einen Gedanken, der ihn nicht verließ: »Sie schämt sich meiner! Ihr wäre es lieber, ich wäre nicht bei ihr.«

Endlich hatten sie Terrasson's Haus erreicht, und während sich Ella still ihre Arbeit zur Hand nahm, setzte Carlet seinen Weg durch die Stadt fort. Ohne es selbst zu wissen, nahm er von Zeit zu Zeit die Flöte an den Mund und ließ einige langgezogene Töne durch die Straßen schallen; aber der gewohnte Vers kam heut nicht über seine Lippen. Das Herz war ihm zu schwer; er konnte nicht singen, sondern mußte immer wieder an das Kind denken, das sich seiner schämte.

Ella saß indessen fleißig bei ihrer Näharbeit. Frau Terrasson und Pauline sahen sie erstaunt an und waren verwundert, sie am Tage nach dem vielbesprochnen Feste so einsilbig zu finden.

»Ich hatte geglaubt, sie würde schwatzen wie eine Elster,« dachte Pauline bei sich. »Ich freute mich schon auf ihre endlosen Erzählungen; was mag ihr nur sein?«

Pauline wartete noch eine Viertelstunde, als Ella aber auch dann noch immer schweigend vor sich niedersah, konnte sie ihre Neugierde nicht mehr bezähmen.

»Erzähle doch nur ein wenig, Ella,« rief sie ungeduldig, »du sprichst ja kein Wort. Hast du deinen Mund in Couëron gelassen? Wie war es denn gestern? Hast du viel getanzt? War das Essen gut? Ist die Gegend von Couëron hübsch? War die Braut schön angezogen?«

Ella erhob den Kopf und machte einen Versuch zu antworten; aber sie war es nicht im Stande, die Thränen erstickten ihre Stimme. Sie ließ die Arbeit zur Erde gleiten, und laut aufschluchzend warf sie sich Frau Terrasson voller Verzweiflung in die Arme.

»Aber mein gutes Kind, was fehlt dir denn?« sagte die junge Frau liebevoll und hob Ella's Kopf in die Höhe.. »Du mußt mir deinen Kummer sagen, damit ich dich trösten kann.«

»Niemand kann mich trösten,« rief die Kleine leidenschaftlich; »ich kann mir selbst nie vergeben, und Vater Carlet kann es auch nicht! Ich bin zu schlecht gewesen, und wenn Sie wüßten, was ich gethan habe, so würden Sie gewiß sagen: Ich will nichts mehr von dir wissen, du schlechtes, kleines Geschöpf.«

»Das würde ich vielleicht zu einem Kinde sagen,« erwiederte Frau Terrasson ernst, »das einen Fehler nicht bereuen will, und wäre er auch nur klein. Aber einem Kinde, das sich weinend selbst anklagt, dem sage ich so etwas sicher nicht. Das will ich trösten und will ihm helfen, damit es sein Unrecht wieder, gut macht, und sei es auch noch so groß. Komm, mein armes Kind, sage mir alles, was Du auf dein Herzen hast; Pauline kann indessen gehen und die Brüder zur Arbeit hereinrufen.«

Bei diesen Worten machte Frau Terrasson ihrer Tochter ein Zeichen, nicht so bald wieder zurückzukehren; Pauline verstand es und verließ das Zimmer.

Kaum waren sie allein, als Ella unter Thränen und Selbstanklagen ein umfassendes Geständniß ihrer Schuld ablegte. Frau Terrasson redete dem kleinen Mädchen freundlich zu, und nach einiger Zeit gelang es ihr, das erregte Kind wieder zu beruhigen und ihre Thränen zu trocknen.

»Jetzt laß uns einmal daran denken, was nun zu thun ist,« nahm die junge Frau mit freundlicher Miene das Wort. »Das Unrecht, das du gethan hast, kannst du nicht ändern; aber du kannst es, zum Theil wenigstens, wieder gut machen, und das muß jetzt vor allem deine Aufgabe sein. Weiß denn Vater Carlet alles, was du mir soeben gesagt hast?«

»Nicht alles; er weiß noch nicht, daß ich »nein« gesagt habe, als man mich fragte, ob ich ihn kenne. Sobald ich ihn sehe, will ich es ihm sagen und ihn um Verzeihung bitten.«

»Nein, mein Kind, das darfst du ihm nicht sagen,« unterbrach die junge Frau Ella's Rede. »Ich kann mir wohl vorstellen, daß es dir eine Genugthuung wäre, dich vor ihm zu demüthigen, dich anzuklagen und dann in seinen Armen mit tausend Liebkosungen die Verzeihung zu erschmeicheln. Aber das ist nicht das Richtige. Denke doch, welchen Kummer es Vater Carlet bereiten würde, wenn er wüßte, daß du ihn verläugnet hast. Das darf er niemals erfahren; verstehst du mich? Niemals! Freilich wird dies Geheimniß dein Herz bedrücken; aber das mußt du als deine Strafe ansehen; du wirst daran erkennen, wie viel du thun mußt, um Vergebung zu verdienen. Wenn du dir rechte Mühe giebst, so wird Vater Carlet bald nicht mehr an den Kummer denken, den du ihm verursacht hast, und dann kannst du dir auch selbst verzeihen. – Und nun komm, sei ruhig und setze dich wieder an die Arbeit. Ich denke, wenn Vater Carlet kommt, wirst du ihm mit neuen, guten Vorsätzen entgegen gehen.«

Ella gehorchte, und als Carlet am Mittag kam, um sie abzuholen, war sie ruhig und entschlossen, alles zu thun, um ihr Unrecht wieder gut zu machen. Und hätte Carlet seinen Rock verkehrt angezogen, sie hätte doch keinen Augenblick gezögert, ihm die Hand zu reichen.

Als er an das Fenster des Arbeitszimmers klopfte und Ellas Namen rief, stand Frau Terrasson auf, öffnete die Thür und bat den Alten, hereinzutreten.

»Vater Carlet,« sagte sie freundlich und winkte Ella zu sich heran, »hier steht ein kleines Mädchen vor Ihnen, das sein Unrecht bitter bereut. Sie ist sehr unglücklich über das, was sie gestern gesagt hat, und sie bittet Sie von Herzen, ihr zu verzeihen, wenn auch nicht heut, so doch später, wenn sie Ihre Verzeihung verdient haben wird.«

Tief bewegt schloß Carlet das Kind in seine Arme, und mit zitternder Stimme flüsterte er ihr zu:

»Ich glaubte schon, Ella, du hättest mich nicht mehr lieb.« – – – »Auf Wiedersehn, morgen,« rief Frau Terrasson, als Ella sich jetzt von ihr entfernte. Noch einmal die Hand des alten Carlet herzlich schüttelnd, sah sie den Beiden mit glücklichem Lächeln nach, wie sie Hand in Hand die Straße hinabschritten.

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