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Der Burggraf von Drachenfels.

Wir saßen alle zusammen seit drei Wochen in Königswinter, nämlich die Frau Professor mit ihren vier Töchtern, mein Verleger, meine Wenigkeit und einige andere Herren und Damen, auf die es nicht weiter ankommt, und gebrauchten die Traubenkur, das heißt, wir fuhren, ritten und gingen spazieren und aßen Trauben, wenn sie uns schmeckten. Es war ein schöner Herbst mit durchsichtiger Luft und windstillen, sonnenwarmen Tagen, und je länger, desto deutlicher sah ich ein, daß meine Frau wieder einmal Recht gehabt hatte, als sie zu mir sagte: »Mach, daß Du fortkommst.« Ich war nämlich etwas nervös gewesen, schlug im Schlafe um mich und hielt Reden, so daß sie Angst bekam, ich möchte schließlich an die Gespenster glauben, die ich im Traume sah. Jetzt war das anders; ich schlief wie ein Murmeltier, und das Träumen kam mir nur noch, wenn ich abends Rotwein trank; denn der geht ins Blut, schon wenn er rein ist, und im entgegengesetzten Falle erst recht.

Eines Tages blieb der Nebel liegen, der sonst regelmäßig vor der steigenden Sonne wich, und zwar so gründlich, daß man keine zwanzig Schritte weit sehen konnte. Nun besitzt Königswinter bei schlechtem Wetter außer einem halben Hundert Wirtshäuser, der Zahnradbahn, den Reiteseln und einer Statue der Germania nur eine einzige Sehenswürdigkeit: die Dampfschiffe, deren Ankunft von den Kurgästen mit der Uhr in der Hand kontrolliert wird – und daß die entweder gar nicht oder mit sechs Stunden Verspätung kamen, konnte man ihnen nicht übel nehmen.

Als wir uns, jeder für sich und alle einander, bis vier Uhr nachmittags gelangweilt hatten, kam mir der tolle Gedanke, einen Ausflug auf dem Drachenfels vorzuschlagen. »Vielleicht ist das Wetter besser,« fügte ich spöttisch bei. Aber Leuten, die sich langweilen, darfst du alles vorschlagen: sie tun's, wenn es nur etwas Neues ist. Eine Viertelstunde darauf waren wir also auf dem Wege zur Eselsstation; denn die Bergbahn hatte aus Verdruß über den schlechten Tag ihre Fahrten eingestellt.

Jetzt begann meine Strafe. Die Professorin, eine Dame von ebenso viel Geist als Korpulenz, sah ruhig zu, wie die Gesellschaft sich beritten machte, hängte sich dann an meinen Arm und erklärte kaltblütig, sie werde gehen – ob aus Sparsamkeit oder um mager zu werden, wage ich nicht zu entscheiden. Ich konnte leider nicht nein sagen; aber noch bevor der letzte Eselsschwanz im Nebel verschwunden war, ahnte ich schon die Schwierigkeit meiner Aufgabe. Mit Ach und Krach brachte ich meine Begleiterin hinauf, bis sie gegenüber der neuen Drachenburg – vermutlich wenigstens, denn man sah keinen Stein davon – auf einer Bank strandete. Mit Hilfe eines von oben zurückkehrenden Grauschimmels machte ich sie flott. Ich durfte nebenher traben und zur Entschädigung eine Vorlesung über Spiritismus und Geister-Erscheinungen anhören.

Als wir nicht mehr weit vom Gipfel waren, schimmerte es hell durch die Dünste – noch einige Schritte, und wir standen in blendendem Sonnenlicht unter tiefblauem Himmel. Auf der Terrasse empfing uns ein donnerndes Hoch und eine wohlgesetzte Rede auf den Wetterpropheten, der die Depeschen der Seewarte entbehrlich mache. In bester Stimmung wurden die sämtlichen Merkwürdigkeiten besichtigt: Wirtshaus und Atelier für Photographie, Denkmal und Bierhalle, die Ruine, die über das Nebelmeer emporragenden Bergspitzen und die Richtung, in welcher man den Kölner Dom gesehen haben würde, wenn er sichtbar gewesen wäre. Daran schloß sich ein dunstiger Sonnenuntergang und eine längere Sitzung hinter Bowle und Flasche, bei welcher es etwas ausgelassen herging. »Doktor, Sie trinken wieder Rotwein,« warnte mich der Verleger, den Finger aufhebend; aber ich lachte ihn aus.

In dem allgemeinen Leichtsinn dachte kein Mensch daran, wie wir eigentlich wieder hinunter kommen sollten. Erst als einige Damen ihre Mäntel und einige Herren ihre Zylinder verwechselt hatten, fiel es mir schwer aufs Herz, daß mir voraussichtlich wieder der Transport der Professorin zufallen werde, und daß die Schlepperei zu Tal im Dunklen noch schwieriger sich gestalten könne als die Bergfahrt. Über meine eigene Steuerfähigkeit war ich zwar ruhig – Rotwein geht ja nur ins Blut – aber mit dieser Ladung mußte ich den Kurs verlieren. Die Verantwortlichkeit war mir zu groß, und ich beschloß, so lange unsichtbar zu werden, bis ein anderer Bugsierdampfer sich gefunden hätte. Um meiner Sache ganz sicher zu sein, eilte ich sofort die wenigen Schritte zur Ruine hinauf.

Auf der höchsten Spitze des Berges steht über einem Steinbruch der Rest eines mächtigen, viereckigen Turmes, das in Millionen von Bildern verbreitete Wahrzeichen des Siebengebirges. Vor fünfzig oder sechzig Jahren haben die braven Steinmetzen von Königswinter hier so fleißig gewirtschaftet, daß eines schönen Tages die Felswand mit der Hälfte des Turmes herunter kam. Jetzt stehen nur noch zwei Turmwände, einen engen Raum umschließend, vor welchem der Steinbruch lotrecht abstürzt. Wer hinein will, muß an einem glatten Felsen und an den unbehauenen Turmquadern zu einem Fenster emporklettern. Früher hatte ich diese Turnübung oft gemacht, aber an jenem Abend muß ich besonders unternehmend gewesen sein, sonst hätte ich schwerlich riskiert, das nicht ganz leichte Kletterstückchen im Dunkeln zu wiederholen. Aber es gelang. Drinnen legte ich mich flach auf den Boden, schob mich bis an die Kante vor und hörte mit boshaftem Vergnügen zu, wie in allen Tonarten vom Baß bis zur Fistel mein Name gerufen wurde. »Er wird schon vorausgegangen sein,« sagte schließlich mein Verleger. »Frau Professorin, darf ich Ihnen meinen Arm anbieten? Bitte, stützen Sie sich fest; der Weg ist schlecht.« Dann hörte ich einen Schrei, ein unbestimmtes Geräusch, als ob ein schwerer Körper zur Erde schlage, halb unterdrücktes Gelächter, und die Stimmen verloren sich in der Ferne.

Nur noch ein paar Minuten wollte ich warten, um der Gesellschaft auf einem Fußpfad zuvorzukommen und sie dann mit meinem unschuldigsten Gesicht im Hotel zu empfangen. Aber ich zauderte immer wieder; denn das Schauspiel war zu schön. Der Nebel hatte sich ein wenig gesenkt, so daß die schroffen Zacken an der Südseite des Berges wie Türme daraus hervorragten. Noch ruhen die Dunstmassen unbeweglich. Der Mond geht auf, vollkommen klar, sobald er über den weißen Rand emportaucht, und übergießt mit geisterhaftem Licht die seeähnliche Fläche, aus welche die Felshörner schwarze Schatten werfen. Jetzt kommt ein leichter Luftzug von Norden her, und der glänzende See zu meinen Füßen gerät in sanfte Bewegung; ein Windstoß und noch einer – es wallt und wogt, es ballt sich und stiebt in Fetzen auseinander; durch einen breiten Riß schimmert der Rhein, im nächsten Augenblick wieder verschwindend. Wie Riesenschleier schwebt es zu mir herauf, es verhüllt den Turm, es geht und kommt zurück; wiederum setzte der Wind ein und wirbelt mit triumphierendem Sausen die lustigen Gebilde durcheinander. Nun läßt er nach, hier und da noch ein Stoß, endlich nur noch ein sanftes Lüftchen, und die zerrissenen Nebelstreifen beginnen sich von neuem zu ballen.

Eine schneeweiße Wolke schwimmt langsam an mir vorbei. Was ist das? Hätte mir nicht heute nachmittag die Frau Professor so überzeugend vordemonstriert, daß es keine Geister gebe, noch geben könne, ich wäre überzeugt, ein menschlicher Kopf habe aus der Wolke hervorgeschaut. Aber das kann ja nicht sein! Und doch – da ist er schon wieder! Ein zweiter, ein dritter, die Umrisse werden schärfer, Rumpf und Glieder tauchen auf, und jetzt tanzen sie zu Dutzenden auf der Wolke herum: Riesen und Zwerge und Wasserjungfern und Kobolde, die ganze wunderliche Gesellschaft, mit welcher die Phantasie unserer Vorfahren das Naturreich bevölkerte. Wenn das doch die Gebrüder Grimm sehen könnten! Das Herz im Leibe würde ihnen lachen. Mir freilich wird die Sache unbehaglich, und ich trete den Rückzug an. Ich strecke schon den Kopf durch das Turmfenster; aber siehe da: das ganze Plateau wimmelt von bunten Gestalten: Ritter und Edelfrauen, Knappen, Trotzbuben, Mägde, Fußknechte und Reiter, ein Stück Mittelalter, wie es im Buche steht. Ich bin Altertümler genug, um zu sehen, daß die gespenstischen Herrschaften aus verschiedenen Jahrhunderten stammen; aber sie tun ganz bekannt miteinander, und als ich genau zuhöre, sprechen sie alle das schönste Hochdeutsch, bis auf einige Mönche, die untereinander Latein reden.

Gerade unter mir saß eine Gruppe Landsknechte. »Schon wieder der 16. Oktober,« begann der eine und gähnte ganz natürlich; »nun sind es fast vierhundert Jahre, daß wir auf den Tag umgehen müssen, weil der Drachenfelser Heinrich seinen Ohm erschlagen.«

»Soll mich wundern, wann er endlich Ruh im Grabe kriegt,« sagte sein Nachbar. »Der Wolkenburger hat einmal geredet, erst müsse ein lebendig Menschenkind darüber kommen und die ganze Geschichte aufschreiben, dann gehe er zur ewigen Ruhe ein. Es ist ein sonderbar Ding mit ihm. Begraben haben sie ihn in Heisterbach, das steht fest; aber der Grabstein steht seit Menschengedenken an der Kirche zu Röhndorf, und Gott allein weiß, wo sein sündiges Gebein modert und wandert. Ich will seiner armen Seele schon den Frieden gönnen und uns auch.«

»Das will ich meinen,« stimmte der erste zu; »das Umgehen wird mir immer mehr zuwider. Alles ist anders in der Welt geworden, und im ganzen lobe ich mir doch die alte Zeit; da wußte man wenigstens, woran man war. Ein Glück ist es, daß wir durch die Luft reisen können, sonst hätt' ich wahrhaftig den Weg nicht mehr gefunden. Heute hab' ich versucht, aus alter Gewohnheit zu Fuß zu gehen, aber es ging nicht. Zuerst fiel ich drunten bei Königswinter in einen offenen Keller, darin soll nur reiner Wein gelegt werden – muß wohl heutigen Tages nötig sein, daß man es extra dabei sagt –, und hätte mir alle Knochen gebrochen, wenn ich welche gehabt hätte. Wie ich dann den Berg hinauf spazierte, habe ich mich total verlaufen an der neuen Drachenburg; denn da ist alles herumgedreht, und man kennt sich nicht mehr aus vor lauter Wegen. Und jetzt sitze ich schon zehn Minuten hier, und der Wolkenburger ist noch nicht da. Es ist schon längst Mitternacht.«

»Jawohl, unten im Flecken; aber er richtet sich nach der Uhr auf der Drachenburg, weil er vom Adel ist, und die geht immer nach. Horch. Da schlägt es.«

Von der Drachenburg klang es hell durch die Nacht. Beim zwölften Schlage sauste etwas an meiner Nase vorbei; mitten unter den Geistern, die Vorderhufe hart an die Kante des Altans gestemmt, der neben dem Turm über dem Abgrund hängt, stand ein schwarzes Roß; darauf sich ein Ritter mit rotem Haar und kühnem, aber nicht unfreundlichem Gesicht. Ich war so erschreckt, daß ich niesen mußte. Er schaute zu meinem Fenster hinauf und rief: »Holla, wen haben wir denn dort?«

Im nächsten Augenblick war die ganze Gesellschaft bei mir im Turm. Wie sie so geschwinde herein konnten, war mir unbegreiflich; nun, dafür waren es ja auch Geister. Von allen Seiten drängten sie auf mich ein, und wenn ich sie mir mit einem Hieb vom Leibe halten wollte, so schlug ich in die leere Luft, worüber sie große Freude halten.

»Halt!« rief der rote Ritter. »Wer seid Ihr, Mann, und was habt Ihr hier zu schaffen?«

»Ich bin ganz von ungefähr in den Turm geraten, Herr Rutger von Wolkenburg,« sagte ich – denn ich hatte ihn auf den ersten Blick erkannt –; »wenn Ihr es wünscht, kann ich gleich wieder gehen. Indessen – wenn Ihr hört, wer ich bin, erlaubt Ihr mir vielleicht zu bleiben.«

Damit gab ich ihm meine Visitenkarte. Er sah ein wenig verdutzt aus, offenbar weil ihm diese Art der Vorstellung neu war; sobald er aber meinen Namen gelesen hatte, wurde er sehr höflich. »So, so, Herr Kerner,« sagte er; »freut mich, in der Tat. Also wirklich derselbe Herr, der mich voriges Jahr in der Zeitung abkonterfeite? Zwar ist nicht alles genau so passiert, wie Sie geschrieben haben, aber es hätte doch ungefähr so passieren können. Was mich betrifft, so haben mich eher zu gut als zu schlecht gemalt, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Willkommen auf Drachenfels. Ich bedauere nur, daß ich Ihnen keinen Stuhl anbieten kann; das Schloß ist ein bißchen außer Stand geraten.«

»Hat gar nichts auf sich,« entgegnete ich. »Also Sie gestatten, daß ich bleibe? Und – und die andern Herren Geister –?«

»Daß keiner von Euch sich untersteht!« rief Rutger drohend. »Wer dem Herrn etwas tut, den blase ich über den Petersberg, und außerdem kommt er in die Zeitung.«

Ich weiß nicht, ob die erste oder die zweite Drohung die wirksamste war; Tatsache ist, das die sämtlichen Gespenster je nach Rang und Stand mehr oder minder tief sich verbeugten und mich von da an mit dem größten Respekt behandelten.

»Gut, daß Sie gerade heute gekommen sind,« begann er wieder. »Nun, hoffe ich, wird der Fluch hinweggenommen werden, der uns jährlich an dieser Stätte bannt.«

»Burggraf Heinrich ...« warf ich dazwischen.

»Ah, Sie wissen es schon?« rief er freudig. »Dann brauche ich Ihnen nichts weiter zu sagen. Und nun geben Sie acht.«

Er legte mir beide Hände auf die Schultern und hauchte mich an. Ein sonderbares Gefühl durchrieselte mich vom Scheitel bis in die Zehen. Beschreiben kann ich es nicht; ich kann nur sagen, daß mir plötzlich ganz leicht zu Mute wurde, so ähnlich, wie manchmal im Schlafe, wenn ich träume, ich könnte fliegen. Ohne daß ich es wollte, lösten sich meine Füße vom Boden, und ich schwebte frei in die Luft. Rechts und links sah ich die Geister fliegen; keiner von ihnen sprach, nur nickten mir einige zu, als wollten sie sagen: Jetzt gehörst du zu uns.

Die Situation war mir begreiflicherweise sehr ungewohnt; aber, darüber zu staunen oder gar zu erschrecken, hatte ich keine Zeit, weil ich zuviel zu sehen hatte. Alles war verändert. Es war heller Tag. Die Dörfer und Städtchen am Rhein hatten Mauern und Türme bekommen, auf der Löwenburg, dem Rolandseck und der Wolkenburg, die ein gutes Stück höher geworden war, ragten stattliche Schlösser, und fern am Horizont stand deutlich der Dom; aber man sah nur das Chor und den einen Turm mit dem Krahnen, gerade wie ich ihn als Junge so oft gesehen hatte. An den Bergen reichten die Wälder tiefer hinunter, auch in der Ebene sah man hin und wieder ausgedehnte Haine; über das Siebengebirge war ein einziger grüner Mantel gebreitet, und auch oben am Drachenfels standen knorrige Sträucher und einzelne alte Eichen, wo jetzt der kahle Steinbruch gähnt. Der Turm hatte wieder seine vier Wände und ein spitzes Dach, auf dem eine Fahne flatterte; daneben stand ein massives Burghaus; eine halbkreisförmige Mauer umschloß den kleinen Burghof nach Osten, und weiter unten sah man noch zwei starke Mauerringe mit runden Türmen.

Es wird mir schwer, dem Leser eine Vorstellung davon zu verschaffen, in welcher Weise alles das, was ich jetzt erzählen will, in wechselnden Bildern sich abspielte. Ich kann eigentlich nicht sagen, daß ich es sah und hörte: ich habe es erlebt, nicht gebunden an die Schranken von Raum und Zeit. Alle diese Leute, die sich vor mir bewegten, waren mir bekannt, als sei ich seit Jahren ihr Hausgenosse gewesen; ich wunderte mich nicht, wenn plötzlich der Schauplatz sich änderte, Jahre waren mir wie Minuten, und feste Bauern boten mir kein Hindernis. Weder der Jagdhund, der dicht neben mir schläfrig blinzelnd im Hofe lag, noch die Landsknechte, deren Spieß ich mit der Hand hätte berühren können, nahmen von mir die geringste Notiz. Ungesehen, mit unhörbarem Tritt wanderte ich über den Hof, durch Ställe und Kammern, die Treppen hinaus zu dem großen Saal mit der Altane, auf der soeben noch das Roß Rutgers von Wolkenburg gestanden hatte.

Auf dem Altan saß eine Frau von hohem Wuchs in der geschmackvollen Tracht, wie die Edeldamen des fünfzehnten Jahrhunderts sie trugen. Sie hatte ein schönes edles Gesicht; aber die Wangen waren bleich und die blauen Augen trübe. Emsig arbeitete sie an einer feinen Stickerei; in langen Zwischenräumen schaute sie auf und blickte hinunter in den blitzenden Strom. Niemand sagte es mir, aber ich wußte, daß es die Burggräfin Agnes war, und der blühende Mann, der zu ihr trat, der Burggraf Heinrich.

Sie war aufgestanden und begrüßte ihn. Er winkte ihr ungeduldig, sitzen zu bleiben. Mehr denn einmal sah sie schüchtern zu ihm empor, während er wortlos, mit verschränkten Armen, an der Brüstung lehnte; doch immer wieder senkten sich die traurigen Augen vor seinem finstern Blick. Tapfer kämpfte sie gegen die Tränen, nur einen Seufzer konnte sie nicht unterdrücken.

»Was sitzest du wieder und greinst?« fragte er rauh. »Als ich dich freite vor zehn Jahren, bist du anders gewesen. Kein Ritt war dir zu weit, und bei jedem Fest warst du zu finden. Jetzt willst du nimmer heraus aus deinen vier Pfählen, und wenn Gäste kommen, tust du kaum den Mund auf.«

»Du weißt, warum,« gab sie sanft zurück.

»Gewiß weiß ich's; aber drückt es mich nicht noch schwerer als dich? Sechs Brüder sind mir gewesen, stark wie die Eichen, und ich bin der letzte. Kein Sohn und Erbe, nicht einmal ein Mädchen, das mir einen Tochtermann ins Haus bringt. Wenn ich zum Sterben komme, wird der letzte Drachenfelser begraben mit Schild und Helm! Was habe ich nun davon, daß ich das beste Schloß im Erzstift besitze und die Leute mich den reichen Burggrafen schelten? Wahrlich, ich wünschte, wir hätten uns niemals gesehen.«

Sie schlug die Hände vor das Gesicht, und zwischen den weißen Fingern sah ich die hellen Tropfen schimmern. Er war mit einem Fluch von dannen gegangen.«

Es mochte ein Jahr später sein, da war auf der Burg alles in gespannter Erwartung. Die Mägde gingen nur auf den Zehen und wagten kaum zu flüstern, selbst die Knechte polterten nicht wie sonst über die Treppen. Der Burgherr wandelte ruhelos durch Haus und Hof und immer wieder zu der Kammer zurück, die neben dem Altan über dem Absturz nach Westen lag. Erst am Abend, als die Sonne die letzten Strahlen durch die kleinen Spitzbogenfenster warf, saß er mit strahlendem Gesicht neben dem Bett der bleichen Frau, und in der Wiege daneben lagen zwei kleine Wesen.

»Er ist klein,« sagte er, »aber das wird sich machen; denn er scheint kräftig und gesund. Das Mädchen – nun ja, es ist einmal da; doch ich glaube nicht, daß es am Leben bleibt.«

Sie gab keine Antwort, und ihre Augen wurden naß. Als er fort war und die Kleinen wach wurden, herzte und küßte sie das Pärchen, wie nur eine Mutter ihre Kinder liebkosen kann. –

Sie saß neben dem Bettchen der Zwillinge, noch schmal und blaß, aber mit glücklichem Lächeln, und sang ein Wiegenlied. Da trat der Burggraf ein, und auf seinen Zügen lag es wie eine Wetterwolke. Schwer ließ er sich in einen Stuhl fallen, warf einen Brief auf den Tisch und murrte: »Das hat heut' morgen ein Bote gebracht. Graf Niklas kommt zurück, und in einer Stunde will er hier sein.«

»Dein Vatersbruder?« rief sie. »Das ist ja schön. Er war mir gut und ließ mich manchmal auf seinem Rappen reiten, als ich noch ein kleines Kind war.

»Du freust dich am Ende noch über die Unglücksnachricht,« sagte er höhnisch. »Ja, so seid Ihr Weiber. Weißt du auch, was das bedeutet? Mehr als zwanzig Jahre ist's her, seit er das Land räumen mußte, weil er im Neußer Krieg mit dem burgundischen Karl gegen den Kaiser stand. Er sei über das Meer gefahren, hieß es; er war verschollen und vergessen, tot und begraben, wie ich wähnte. Jetzt ist er wieder da, hat sich aus der Acht gelöst und gesinnt von mir die Hälfte der Burg zu fordern. Nicht zu ertragen ist es! Ich habe das Schloß aufgebaut, welches fast in Trümmern lag, die verpfändeten Güter zusammengebracht, und nun will er meinem Jungen das halbe Erbe nehmen; denn einen Sohn hat er auch, der irgendwo in Welschland sitzt. Wie er es nur angefangen haben mag, daß Kaiser Max und der Erzbischof Hermann ihm zu seinem Recht verhalfen, wie er das nennt? Aber bei meinem Eid, lebend kommt er mir nicht in die Burg.«

»Um Gottes willen, Heinrich'« rief sie, »was willst du tun? Laß ihn kommen und mich mit ihm reden; denn er hatte mich gern. Vielleicht nimmt er Geld und läßt dir das Schloß. Und tut er es nicht, was willst du anfangen gegen den Erzbischof und Kaiser? Du weißt, sie nehmen es ernst mit dem Landfrieden.«

Er gab eine heftige Antwort und stürmte zur Türe. Sie wollte ihm nacheilen, aber zornig wies er sie zurück Mit gerungenen Händen warf sie sich vor dem Christusbild nieder.

Eine Viertelstunde später ritt er mit einem halben Dutzend Knechte den schmalen Weg hinunter, der von der Burg nach Königswinter führt. Agnes winkte und rief aus dem Fenster; er kehrte sich verdrossen ab. Hundert Schritte weiter begegnete ihm ein Reiter mit weißem Bart, den ein einziger Knappe begleitete. Beide stiegen ab und setzten sich auf eine Bank, welche links vom Wege auf einem Felsvorsprung unter hohen Bäumen stand. Agnes sah, wie die beiden lange und eifrig miteinander sprachen; dann sprangen sie auf und machten drohende Gebärden. Da bemächtigte sich eine furchtbare Angst der einsamen Frau. Sie stürzte zur Türe – sie war verschlossen, und niemand antwortete auf ihr Rufen.

»Eingeschlossen hat er mich,« schrie sie verzweifelnd; »aber ich muß zu ihm, und sollte es mir das Leben kosten. O himmlische Mutter, erbarme dich meiner Kinder!«

Im Nu hatte sie die Laken von den Betten gerissen und aneinander geknüpft mit fast übermenschlicher Kraft. Noch einen Blick auf die Kinder, dann flog sie zum Fenster, schlang das eine Ende fest um das Fensterkreuz und ließ sich hinab. Es war ein grauenvoller Weg: Vier Mannslängen fiel senkrecht die Mauer ab und der Fels, auf dem sie ruhte; dann kam eine schmale Leiste – kaum reichte die Leine bis zu derselben – auf der knapp ein menschlicher Fuß Platz fand. Von hier aus senkte sich der Felsen fünfzig Fuß oder mehr im schroffer Neigung; hier und da rauhes Gestrüpp seine Wurzeln in die Spalten geklemmt. Kein Laut kam über ihre Lippen, als sie, bald auf dem Rücken liegend, bald an Zweigen sich haltend oder einen Vorsprung umklammernd, sich langsam bergab schob. Ein Stein wich unter ihrem Tritt, sie schoß hinunter, mit den Füßen voran – Gottlob, es war nur ein kurzer Fall. Endlich stand sie auf dem Wege, von Schweiß überströmt, Gesicht und Hände blutend, mit zerrissenen Kleidern. Sie sah und fühlte es nicht, nur vorwärts, vorwärts! Dort stehen die beiden Männer noch, mit erhobener Faust, noch einen Augenblick, und sie hat die Streitenden erreicht, da – ein Schlag, ein schrecklicher Schrei, und rücklings taumelt der Alte über den Rand der Felsplatte.

Ein Jammerruf aus tiefster Brust: »Heinrich, Heinrich! was hast du getan!«

Er antwortete nicht; aber sein Gesicht war fahl geworden. Er warf sich nieder und schaute in die gähnende Tiefe. »Dort unten liegt er,« schrie er, sich aufrichtend; »er lebt, er muß leben! Rasch, holt Leitern und Stricke!«

Sie liefen und arbeiteten, und mehr als einer hatte sein Leben gewagt, als endlich der Leib des Alten auf den Rasen gelegt wurde. Neben ihm kniete der Burggraf, nach dem Herzschlag forschend. Zu spät, zu spät! Der Schädel war gespalten; wie der Blitz mußte der Tod ihn getroffen haben.

Sie luden die Leiche auf eine Bahre. Scheue Blicke streiften den Burggrafen, der mit stieren Augen daneben ging. Kein Wort wurde gesprochen, bis der Zug das Tor erreichte. So hielt Graf Niklas seinen Einzug in die Burg seiner Väter, nach der er sich so lange gesehnt, lebend nicht – der Neffe hatte seinen Eid gehalten.

Der Abend war gekommen. Draußen heulte der Sturm, und kein Stern blickte durch das Dunkel. Ruhelos schritt Heinrich in der Kammer auf und ab, während die Frau weinend auf dem Boden kniete. »Das habe ich nicht gewollt,« murmelte er. »Gehaßt habe ich ihn, das ist wahr; aber töten wollte ich ihn nicht, nur schlagen in meiner Wut, und da hat mir der Satan die Faust geführt.«

Neben der Wiege seines Söhnchens blieb er stehen. Das Kind lag in gesundem Schlaf, mit roten Bäckchen, und lächelte im Traum. Im Antlitz des Grafen zuckte keine Muskel. »Tot ist er,« sagte er langsam, »der dir das Erbe nehmen wollte; aber dein Vater ist darüber zum Mörder geworden.«

Sie war zu ihm getreten und faßte nach seiner Hand. Er zog sie zurück und sagte: »Laß das, es klebt Blut daran.« Da schlang sie die Arme um seinen Hals und rief: »Nein, das glaube ich nicht, du selbst hast ja eben gesagt, daß dein Herz nichts wußte von dem, was deine Hand getan. Mag kommen, was da will, ich lasse nicht von dir. Jetzt aber mahne ich dich als dein treues Weib und um unserer Kinder willen: Fliehe, ehe die Rache der Menschen dich ereilt, und suche Gottes Gericht zu versöhnen.«

Er überlegte einen Augenblick, dann antwortete er kurz: »Geflohen bin ich noch niemals und werde es niemals tun, am wenigsten, um mit Weib und Kind ins Elend zu gehen. Laß sie nur kommen und sich die Schädel einrennen; ich weiche nicht, und wenn die Mauern über mir zusammenbrechen.«

Er fuhr zusammen und horchte gespannt zum Fenster hinaus. »Was war das? Ein Schrei? Nein, es wird der Wind gewesen sein, der um den Turm fährt. Verflucht,« rief er, mit dem Fuße stampfend, »bin ich denn zur Memme geworden? Immer tönt mir der Angstruf in den Ohren, den der Ohm ausstieß, und eben habe ich gemeint, ich sehe sein blutiges Gesicht hereinschauen. Noch einmal: gewollt habe ich es nicht; aber habe ich die Sünde auf mein Gewissen geladen, so soll mein Sohn wenigstens die Frucht ernten. Gib dir keine Mühe, Agnes,« setzte er freundlicher hinzu; »du meinst es gut, doch meinen Sinn kannst du nicht beugen.« Er schritt zur Türe und rief mit fester Stimme hinaus: »Sechs Mann auf die Wachtposten, und keine Seele kommt mir in die Burg, ohne daß ich die Erlaubnis gebe.«

Wieder zuckte er zusammen und warf einen scheuen Blick über die Schulter zum Fenster. Es war nur ein Schreckbild seines bösen Gewissens gewesen; die Schatten, die wehklagend um die Burg flogen, sah und hörte er nicht. Jetzt schwebte der ganze Schwarm am Turm empor; auf der Zinne stand Rutger von Wolkenburg und rief in die Nacht hinaus: »Verflucht sei dieses Haus und verflucht dieser Tag, bis er, der es getan, die Schuld bezahlt hat bis auf den letzten Heller.« –

Die Rache der Menschen war über ihn gekommen. In der Bischofspfalz zu Köln hatten die Vasallen des Stifts vor Erzbischof Hermann, dem Landgrafen von Hessen, das Manngericht gehalten und das Urteil gewiesen: Heinrich von Drachenfels, der den eigenen Ohm erschlagen und trotz dreimaliger Ladung dem Gericht sich nicht gestellt habe, solle ehrlos sein, des Eigens und der Lehen verlustig; zwei Ritter sollen reiten zu Kaiser Max, daß er den Frevler in die Acht tue; das Aufgebot des Stifts soll sich seiner Burg bemächtigen und ihn greifen, lebend oder tot. Dann waren sie herangerückt zu vielen Hunderten und berannten das Schloß. Von der Wolkenburg schossen sie mit Kartaunen herüber; aber Heinrich hatte besseres Geschütz und setzte ihnen zu mit Steinkugeln, bis drüben das Feuer schwieg.

Die Wege, die von Königswinter und Rhöndorf herausführten, hatte er durch Verhaue gesperrt; dreimal warf er die Erzbischöfe zurück. Eines Tages aber, als dichter Nebel auf dem Berge lag und kein Schütze auf zehn Schritte sein Ziel sehen konnte, kletterten sie an schwindelnden Abhängen herauf, fielen den Wegwächtern in den Rücken und jagten sie in Wald und Klüfte. Heinrich konnte nicht hindern, daß sie sich auf der Platte im Süden der Burg festsetzten, und als endlich die Sonne durch den Nebel brach, hatten sie sich eingegraben, und mit unsäglicher Mühe Kartaunen heraufgeschleppt. Tag für Tag donnerte jetzt ihr Geschütz, bis breite Breschen klafften in den beiden vorderen Mauern. Morgen sollte es zum Sturm gehen auf den innersten Ring.

Der Erzbischof selbst war gekommen und hatte den Burggrafen Heinrich mahnen lassen, er möge die Feste überliefern, dann wolle er ihn des Lebens versichern; denn ihn dauerte der tapfere Mann. Aber trotzig hatte Heinrich sich geweigert, obwohl er sah, daß es zu Ende ging.

Kein Schlaf kam während dieser Nacht in seine Augen. Wenn er nicht auf der Mauer die Runde machte, stand er, zitternd vor Angst, in der Schlafkammer, wo sein Weib über das Lager des Sohnes sich beugte. Das Kind glühte vor Fieber und warf sich unruhig hin und her. »Er stirbt,« stöhnte der unglückliche Mann, »und das Mädchen lebt. Nun, mir ist recht geschehen. Jetzt mag das Ende kommen – je eher, desto besser!« – Dumpfes Geräusch scholl vom Hofe her, eilige Schritte, dann Schüsse, wildes Geschrei und jetzt lauter Siegesruf. »Das ist Verrat!« rief der Burggraf und griff zum Schwert.

Doch schon hatte sein Weib sich zwischen ihn und die Türe geworfen und flehte mit aufgehobenen Händen: »Um aller Heiligen willen, laß mich dich nicht auf dem Rad sehen, sondern fliehe, so lange es noch Zeit ist. Alles ist bereit.« Sie drängte ihn auf der Altane und warf ein Seil über die Brüstung. Gerade konnte man beim ersten Grauen des Morgens den Weg sehen, welche sie an jenem Unglückstag in ihrer Verzweiflung gemacht hatte. Noch zauderte er. Erst als Stöße wider die Türe donnerten, schwang er sich hinüber und glitt gewandt in die Tiefe. »Wenn ich am Leben bleibe, komme ich zur Servatius-Kapelle,« rief sie ihm nach, als er auf der Felsleiste stand. Sie sah noch, wie er den Abhang hinunterkletterte und jenseits des Weges in die Büsche sprang. Dann riß sie die kleine Agnes aus der Wiege; hoch aufgerichtet stand sie, als die Türe zusammenkrachte und drei Knechte in den Saal stürmten. Mit der Rechten wies sie auf ihren Sohn: der Erbe von Drachenfels war tot.

Es waren wilde Gesellen; aber sie wichen bestürzt zurück. »Komm Hans,« sagte der eine, »das ist keine Arbeit für unsereins. Wir wollen's dem Hauptmann melden.« Sie schlichen hinaus, und ohnmächtig brach die arme Mutter zusammen.

Durch das Waldtal, welches von Rhöndorf zur Löwenburg emporführt, schritt mühsam ein blasses Weib, ein schlafendes Kind auf den Arm tragend. Der Schnee knisterte unter ihren Füßen, und wo der Wind ihn zusammengefegt hatte, sank sie bis zu den Knien ein. Oft blickte sie scheu zurück, und wenn ein Reh die dürren Zweige knickte, floh sie in die Büsche. Obwohl der Ostwind kalt von der Höhe ihr entgegen blies, stand ihr der Schweiß vor der Stirne, und als sie den Hof erreichte, der am Fuße des Löwenburger Kegels liegt, sank sie erschöpft auf die Bank neben dem Herde. Mit zitternden Fingern nestelte sie die Decke los, in der sie das Kind getragen hatte. Es war wach geworden und streckte ihr lächelnd die Ärmchen entgegen.

»Was lauft Ihr in dem Wetter über Land?« fragte mitleidig die Frau des Hofbauern, welche ihr warme Milch brachte. »Und das arme Würmchen da! Es könnte sich den Tod holen. Bleibt bei uns über Nacht; es geht schon auf den Abend, und morgen ist auch ein Tag.«

Sie schüttelte sanft den Kopf, ließ die Kleine trinken, und nach kurzer Rast eilte sie weiter auf verschlungenen Pfaden durch einen mächtigen Buchenwald. Bald ging es vorwärts, und rasch kam sie voran, da in dem dichten Forst der Schnee kaum den Boden bedeckte.

In einer Lichtung lag eine kleine Kapelle. Die Türe war nur angelehnt; als sie eintrat, erhob sich ein Mann, der vor dem einfachen Altar gekniet hatte. Sie gab ihm die Hand und reichte ihm das Kind mit einem bittenden Blick.

»Du bringst nur das Mädchen? fragte er finster. »Wo ist mein Sohn?«

Sie antwortete mit Schluchzen, und er starrte, die Zähne zusammenbeißend, zu Boden.

»Er steht noch über der Erde,« begann sie endlich, leise weinend. »Ich konnte nicht warten, bis sie ihn begruben, aus Furcht um dich. Sie waren gut mit mir, und der Hauptmann kam, um mich zu trösten. Was ich an Geld und Steinen finden konnte, habe ich zu mir gesteckt. Niemand hat mich gefragt, wohin ich ging, als ich das Schloß verließ. Aber nun komm, Heinrich: laß uns in ein fernes Land gehen, wo niemand unsern Namen kennt, hier stürbe ich vor Angst, man möge dich finden.«

Erst in der Nacht kamen beide nach Ägidienberg. Hier kaufte Heinrich am nächsten Morgen ein starkes Pferd, ließ die Frau darauf sitzen und zog die Sieg hinauf durch die Grafschaft Berg. Sie klagte nicht und weinte nur bei Nacht, wenn er es nicht sehen konnte. Aber als sie nach Siegen kamen, war es aus mit ihrer Kraft. Wochen lang lag sie im Fieber; als sie wieder aufstehen konnte, war das neue Jahr gekommen. Auch jetzt noch mußte sie schwach und bleich im Sessel sitzen.

Eines Abends hörten sie in der Stube nebenan, in welcher die Spießbürger ihr Bier zu trinken pflegten, lautes Gespräch. Anfangs achteten sie nicht darauf, was die Leute redeten vom Korn, vom Vieh und von den Weltläufen. Da kam ein neuer Gast, ein Landsknecht, der vom Rhein nach Hessen wanderte und begann zu erzählen vom Burggrafen von Drachenfels und seiner Untat. »Das Kammergericht hat ihn in die Reichsacht getan,« schloß er, »und der Kaiser hat den Spruch bestätigt. Ehrlos und rechtlos ist er; zur Witwe soll sein Weib werden und seine Kinder zu Waisen. Ihm aber möge geschehen, wie dem Grafen Friedrich von Isenburg, der auch seinen Ohm, den Erzbischof Engelbert, meuchlerisch erschlagen. Mörder und Mordbrenner und Kirchenschänder soll man radbrechen, heißt es im alten Recht, und so ist's noch heute. Ich wollte nur, daß ich ihn greifen und mir den Preis verdienen könnte, der auf seinen Kopf gesetzt ist.«

Die Bürger stimmten zu und sprachen wieder von andern Dingen. Heinrich war totenbleich geworden, und Frau Agnes zitterte an allen Gliedern. Dann redete sie auf ihn ein, weiter zu ziehen. Gleich am andern Tage saß sie wieder zu Roß, obwohl sie kaum im Sattel sich halten konnte. Ruhelos zogen sie nach Osten, durch Hessen, Thüringen und das Voigtland, bis sie ins Böhmische kamen. »Hier sind wir sicher,« meinte er; »es sind halbe Ketzer die hier wohnen, und des Kaisers Befehl kümmert sie nicht.«

Ein böhmischer Junker, der nicht weit von Eger auf einer Waldburg wohnte, nahm ihn in Dienst als Torwart, und damit er die Aufsicht führe im Hundestall und bei den Pferden. Seitdem Heinrich ihm auf einer Sauhatz das Leben gerettet, indem er einen Keiler abfing, der gerade auf den Junker losrannte, war er dem stillen Mann gewogen und duldete nicht, daß die Böhmen des Deutschen spotteten. Unverdrossen tat der Fremde, was seines Amtes war. Nie sah man ihn lachen, und selten sprach er ein Wort, wenn er nicht gefragt wurde. Wenn er daheim war, saß er stumm in der Herd-Ecke, und wenn Agnes, das Kind auf dem Schoß, sich zu ihm setzte und so gern einen freundlichen Blick von ihm gehabt hätte, wendete er sich ab oder ging zur Türe hinaus. Niemals aber gab er ihr ein hartes Wort, und als einmal einer von den Knechten sich vermaß, an ihr seinen Witz zu üben, faßte er ihn mit eiserner Faust am Kragen und hielt ihn schwebend, bis er mit schlotternden Knien versprach, er werde es nicht wieder tun. Das tat ihr wohl.

Um die kleine Agnes kümmerte er sich nicht. Er schien gar nicht zu bemerken, daß aus dem schwachen Kinde ein schlankes Mädchen wurde, das alle im Schloß lieb hatten. Hätten die Mutter und der Burgkaplan sie nicht so eifrig gelehrt, daß man die Eltern ehren müsse und sie erst recht lieben, wenn sie unglücklich sind, sie hätte sich gefürchtet vor dem finstern Mann, der sie niemals liebkoste und meistens tat, als sehe er sie nicht. Aber sie war ein frommes Kind, trug herzliches Mitleid mit dem Vater und tat alles, was sie ihm an den Augen absehen konnte.

Eines Tages ließ der Junker das Mädchen auf einem Zelter reiten, und als ihr Vater ihr zusah, wie sie etwas ängstlich am Sattelbogen sich festhielt, während das Gesichtchen vor Freude strahlte und ihr Haar wie Gold in der Sonne glänzte, da fuhr es ihm wie der Blitz durch den Sinn: genau so ist dein Weib gewesen, als du es zum erstenmal gesehen. Bis dahin hatte er kaum gefühlt, daß er ein Kind habe; jetzt wurden ihm die Augen feucht. Er half ihr herunter und legte ihr zögernd, als ob er ein Unrecht begehe, die Hand auf den Scheitel. Sie wurde rot vor Freude und küßte ihm dankbar die Hand. Auch von jenem Tage ab sprach er selten mit ihr; aber wenn sie nicht daheim war, fehlte ihm etwas.

Zeit war es, daß Gott ihm diesen Trost schickte, denn sein Weib siechte dem Grabe entgegen. Schmerzen hatte sie nicht; aber immer hohler wurden die Wangen, immer müder die Füße, und endlich konnte sie das Bett nicht mehr verlassen. Als es zu Ende ging, rief sie das Mädchen zu sich und erzählte ihm alles. Es war eine schreckliche Stunde für das arme Kind; aber es hatte das starke Herz der Mutter geerbt und gelobte der Sterbenden feierlich, den Vater nie zu verlassen. Dann ließ Agnes ihren Mann kommen, und als er schluchzend neben ihr kniete, mußte er ihr versprechen, dem Mädchen ein treuer Vater zu sein.

Es war mehr, als er halten konnte; denn als er sein Weib begraben hatte, wurde sein Sinn verwirrt. Zu Zeiten konnte er noch sein wie früher und seine Arbeit tun; aber dazwischen kamen Tage, wo er brütend umherging und unverständliche Reden führte. Den Grund seines Elends hatte er vergessen, auch den Tod seiner Frau; seine Tochter hielt er für die Tote. Er folgte ihr in allen Dingen, und wenn sie bei ihm saß, war er zufrieden.

So lebten sie ein paar Jahre still dahin. Er war vor der Zeit alt geworden und für seinen Dienst kaum noch zu gebrauchen. Nur aus Dankbarkeit und aus Mitleid mit der Tochter ließ der Junker ihn im Schlosse. Dann tauchte langsam die Erinnerung an die Heimat wieder in ihm auf, doch nur stückweise und in dunklen Umrissen. Er könne nicht länger bleiben, sagte er; auf der Burg Drachenfels sei er nötig, denn sein Sohn sei noch nicht alt genug, um sie allein zu bewahren, und sein Ohm habe ihm geschrieben, daß er ihn heimsuchen wolle.

In der ersten Zeit machte Agnes ihm sanfte Vorstellungen und suchte ihn auf andere Gedanken zu bringen mit allerhand kleinen Künsten. Dann wurde er heftig, drängte sie von Tag zu Tag und drohte: wolle sie nicht mit, so werde er allein reisen. In ihrer Angst beriet sie sich mit dem Junker und dem Burgkaplan und berichtete ihnen, wie der Vater ins Unglück gekommen sei. Die schüttelten die Köpfe und gaben ihm viele gute Worte, doch umsonst. Er sei alt genug, um sich selbst zu beraten, beschied er sie; übrigens erachte er sie für seine lieben Freunde, und wenn sie ihn besuchen wollten auf Drachenfels, sollten sie von Herzen willkommen sein. Da erwogen sie seit der bösen Tat seien mehr als zehn Jahre verstrichen: über der Reichsacht sei wohl längst Gras gewachsen, zumal man sich in deutschen Landen um einen solchen Spruch nicht viel zu kümmern pflege; zudem sie Erzbischof Hermann tot, und sein Nachfolger werde dem kindischen Greise wohl nichts zuleide tun. So möchten sie denn ziehen in Gottes Namen. Auch gaben sie Agnes Briefe an Herren geistlichen und weltlichen Standes, in Voigtland und Franken, daß sie ihnen Herberge gäben, und an andere Herren, an deren Schlössern ihr Weg vorbeiführte.

So ritten denn Heinrich und Agnes an einem Maimorgen von dannen. Verwundert sahen die Leute auf den Greis und das zarte Mädchen, die ohne einen Knappen durchs Land zogen. Heinrich war wohlgemut auf der ganzen Reise und wußte nicht genug zu erzählen von seiner Heimat, wo es viel schöner sei, und wo Agnes es viel besser haben werde als im böhmischen Wald. Sie hörte ihm still zu und betete immer bei sich, Gott möge ihn schützen in seiner Torheit. Auf den Burgen, wo sie einkehrten, waren sie gern gesehen; die Frauen hatten stets ihre Freude an dem lieblichen Kinde, und die Männer fanden Gefallen an dem Ritter, der so klug und verständig sprach. Bei Fremden ließ er nichts merken von seiner Unvernunft; nur wenn er allein war mit seiner Tochter, führte er die alten törichten Reden. Dann zog sich ihr Herz zusammen und die Angst sah ihr aus den Augen. Er aber lachte: »Mache dir keine Sorge, Agnes; bald sind wir zu Hause, und dann wird alles gut.«

Sie waren den Main hinabgeritten und reisten nun den Rhein entlang. Es waren heiße Tage, er fing an zu klagen, es liege ihm wie Blei in den Gliedern, und er habe Schmerzen im Kopfe. »Hier wollen wir einen Tag Rast machen,« sagte er in Linz, »damit ich recht frisch in unsere Burg einreiten kann.« Sie nahmen Herberge im Fremdenhause der Brüder Minoriten, das eine kleine Strecke vor dem Ort lag. Er ging früh zu Bett, aber nach wenigen Stunden wurde er wach und sprach die ganze Nacht, während Agnes zitternd neben ihm saß. Gleich am Morgen rief sie den Pater Arzt. Als er mit dem Kranken gesprochen hatte, schüttelte er mit dem Kopf und machte ein ernstes Gesicht. Dann winkte er Agnes, ihm zu folgen, und fragte sie aus worauf sie ihm die ganze Wahrheit kund tat.

»So habe ich es mir gedacht,« sagte er. »Höre, Kind, ich will dir nichts verheimlichen; denn du bist ein wackeres Mädchen. Ich glaube nicht, daß er noch lange lebt, denn das Blut steigt ihm in den Kopf; aber vor seinem Ende wird er noch einmal zur Vernunft kommen. Bis dahin mußt du gut acht geben und, wenn Gott seinen kranken Geist erleuchtet, dafür Sorge tragen, daß du ihm zu einem christlichen Tode verhilfst und seine arme Seele rettest. Daß er nach Drachenfels reiten will, gefällt mir schlecht; denn droben sitzt des Grafen Niklas Sohn, Werner. Er ist ein guter Mann, aber wenn er hört, wer dein Vater ist, so fürchte ich, er wird seiner nicht mächtig bleiben. Gott gebe, daß es mir gelingt, deinen Vater zurückzuhalten; ich will es versuchen.«

Er ging wieder hinein, gab dem Kranken einen beruhigenden Trunk. Auf seine wirren Reden ging er ein, und tat garnicht, als wenn ihm dabei etwas auffiele.

»Also, Ihr wollt nach Drachenfels, Herr Burggraf?« fragte er endlich. »Ja, ja, ich kann mir schon denken, daß es Euch hinzieht, nachdem Ihr so lange in der Fremde gewesen. Aber die Sache hat einen Haken. Ich meine, gehört zu haben, der Kaiser habe es Euch verboten. Sonderbar, wie sich das trifft: gerade heute kommt der Kaiser von Frankfurt, um in Bonn den Erzbischof von Köln zu treffen. Da dürft Ihr es erst recht nicht tun ohne seine Erlaubnis, sonst wird er böse.«

»Der Kaiser!« antwortete Heinrich langsam und rieb sich den Kopf. »Wahrhaftig, da habt Ihr recht. Er ist vor langen Jahren einmal zornig auf mich gewesen warum, weiß ich nicht mehr. Nun, wenn er kommt, will ich ihn erst fragen; dann hat er gewiß nichts dagegen. Meint Ihr nicht auch, Herr Pater?«

»Wir wollen alles Gute hoffen,« antwortete der Mönch aufstehend. »Jetzt aber müßt ihr schlafen, sonst ist es nicht möglich, daß Ihr mit dem Kaiser sprecht.«

Es war Nachmittag. Der Burggraf lag seit einigen Stunden in ruhigem Schlummer; ein leises vorsichtiges Klopfen, Agnes schlüpfte hinaus. Vor der Türe stand der Pater. »Sie kommen,« flüsterte er, »nur Mut!«

Auf der Straße von Hönningen her trabte ein Trupp Reiter auf reich geschirrten Rossen heran, in der vordersten Reihe ein stattlicher Herr mit einer Habichtsnase und zwei prächtigen, blauen Augen. Jung war er nicht mehr, doch zeigte das lange, blonde Haar noch keine graue Stelle, und wenn sich auch scharfe Falten um Mund und Nase zogen so nahmen sie doch dem Gesichte nicht den freundlichen Ausdruck.

»Ein heißer Tag,« sagte er zu einem seiner Begleiter und trocknete sich die mächtige Stirne. »Bin froh, daß wir zu Linz sind. Ist ein sauberes Städtlein, wohnen gute Leute darin und trinken auch gern einen guten Tropfen. Ich fürchte nur, jetzt stehen Bürgermeister und Rat nebst allen unseren getreuen Bürgern schon zum Empfang bereit, und ehe der vorüber ist, können wir schier verdursten. Aber, seht einmal, da haben die Linzer ihr schönstes Mägdlein schon vors Tor geschickt.«

Die kleine Agnes war vors Haus auf die Landstraße getreten und ging mit pochendem Herzen, aber festen Schrittes auf den Reiter zu. Dicht neben ihm blieb sie stehen, sah ihm mit den klaren Augen voll ins Gesicht und sagte, »Du bist der Kaiser Max, das sehe ich dir an.«

»Nun, dann wird es wohl wahr sein,« sagte er belustigt. »Andere Leute haben mich freilich nicht so rasch erkannt und sich nicht wenig gewundert, wenn sie hörten, mit wem sie es zu tun hatten. Aber was bringst du mir, Kleine?«

»Traurige Dinge!« antwortete sie ernst und faltete bittend die Hände. »Was ich dir zu melden habe, ist nur für dich, du mußt mich allein hören.«

»Hoho, Jungfräulein,« rief der Kaiser lachend. »Muß ich wirklich? Das habe ich noch nicht von manchem zu hören bekommen. Aber hast du denn so große Geschäfte mit mir abzumachen? Ist dir deine Puppe zerbrochen und ich soll dir eine neue kaufen? Wer bist du denn, kleine Königin?«

Sie wurde rot vor Scham und Ärger; die zarte Gestalt richtete sich höher auf, und aus ihren Augen schoß ein Blitz. Leise, daß nur Max selbst es hören konnte, antworte sie: »Mein Name ist dir bekannt, aber du liebst ihn nicht, ich bin die Tochter des Burggrafen Heinrich von Drachenfels, den du vor Jahren geächtet hast. Glaubst du noch ich wolle um Puppen betteln?«

Dem Kaiser war das Lachen vergangen. Mit einem Satz war er vom Roß herunter und winkte seinen erstaunten Begleitern, vorwärts zu reiten. Dann ergriff er Agnes bei der Hand und ging mit ihr hinein. »Kennt Ihr das Mädchen?« fragte er im Vorbeigehen den Pater Arzt, der mit tiefer Verbeugung die Türe öffnete. »Gewiß, kaiserliche Majestät,« antwortete er, »und Ihr könnt ihr jedes Wort glauben.«

Die guten Linzer waren niemals so böse über den Kaiser Max gewesen, als an diesem Tage. Sie hatten Vivat gerufen aus Leibeskräften, als der Bürgermeister würdevoll vor die Reiter trat, eine schöne Rede hielt und den Pokal kredenzte. Der Reisemarschall hatte ihn ausgetrunken und spöttisch gesagt: »Das war ein guter Wein. Bitte, Herr Bürgermeister, laßt noch etliche Krüglein kommen, denn es ist heiß, und wir sollen am Tor auf den Kaiser warten.« Da gab es auf der einen Seite Gelächter, auf der andern lange Gesichter, und eine geschlagene Stunde standen sie alle in glühender Sonne, des Kaisers harrend. Der saß mittlerweile mit Agnes in der Stube. Sie verschwieg nichts und setzte nichts hinzu; und ihre einfachen Worte gingen ihm tief zu Herzen. »Du darfst es mir glauben, Herr Kaiser,« schloß sie, der Vater hat es nicht mit bösem Willen getan; er ist nicht bei Sinnen gewesen. Das hat mir die Mutter beteuert, als sie im Sterben lag, und die hat in ihrem ganzen Leben nicht gelogen. Jetzt aber gib mir Bescheid, ob du ihm verzeihen und mir helfen willst, daß der Vetter aus der Burg nicht Rache an ihm nimmt.«

Sie hatte die Händchen gefaltet und sah ihn bittend an. Ihm zuckte es um den Mund, und er mußte einigemal im Zimmer auf und abgehen, ehe er ruhig wurde. »Kind, Kind! wer könnte dir etwas abschlagen? Also du hast ihn gepflegt, seit der Mutter Tod und bist allein mit ihm die weite Reise geritten?« Weiß Gott, eine Fürstin sollst du sein, und noch lieber wäre es mir, du wärest meine Tochter. Aber hast du dich denn gar nicht gefürchtet, mit dem Kaiser zu reden?«

»Nur im Anfang,« antwortete sie zutraulich. »Wie ich in deine Augen sah, bekam ich Mut; und nachher war ich auch zu böse, um Angst zu haben.«

Er lachte herzlich. »Jetzt bist du mir doch wieder gut, he? In meinen Augen sollst du dich aber nicht versehen haben. Und nun gehe und hole mir deinen Vater, wenn er nicht mehr schläft.«

Sie sprang zur Tür hinaus und kam gleich mit Heinrich zurück. Mit ritterlichem Anstand bog er vor dem Kaiser das Knie. »Verzeiht, kaiserliche Majestät,« sagte er, »wenn ich gegen Euch gefehlt; ich will es bessern nach allen meinen Kräften.«

Teilnehmend sah Kaiser Max auf das graue Haar und die welken Züge. »Steht auf, Burggraf Heinrich,« sagte er gütig; »so viel an mir liegt, sei Euch verziehen. Die Acht nehme ich von Eurem Haupte. Aber es gibt noch andere, deren Verzeihung Euch not tut; da will ich gern Euer Mittler sein.«

»Und jetzt darf ich wieder nach Drachenfels gehen?«

Der Kaiser sah ihn erstaunt an; er mußte sich erst wieder darauf besinnen, daß der Mann nicht bei Verstand war. »So rasch geht das doch nicht, Herr Burggraf,« sagte er dann. »Heute nacht bleiben wir in Linz; morgen in der Frühe aber reite ich selbst nach Drachenfels, dann möget Ihr mich begleiten. Nun lebt wohl, ich habe die braven Linzer lange genug warten lassen.«

In der nächsten Minute saß er auf seinem Rappen und jagte dem Stadttore zu. Einen Schritt vor dem erschreckten Bürgermeister parierte er das feurige Pferd und rief: »Ist Euch die Weile lang geworden, Ihr guten Leute? Übel dürft Ihr es mir nicht nehmen, denn es war ein gutes Werk zu tun. Jetzt aber gebt mir einen Schluck von Eurem Besten; ich bringe es Euch und Eurer Stadt.« Da hatten die Linzer all ihren Ärger vergessen; ohne Scheu drängten sie sich um ihn und riefen aus vollem Herzen: »Vivat hoch der Kaiser Maximilianus!«

Am Abend saß Heinrich mit seiner Tochter im Gärtchen der Herberge, heiter und aufgeräumt wie er seit langen Jahren nicht gewesen war. Niemand hätte ahnen können, daß hinter dieser schönen Stirne mit den freundlichen Augen der Irrsinn lauere.

»Siehst du, Agnes,« plauderte er, »wie Unrecht du hattest, mir von der Reise abzuraten? Kaum ein Wort brauchte ich dem Kaiser zu sagen, und alles war wieder in Ordnung. Sonderbar, daß ich mich gar nicht mehr besinnen kann, weshalb ich bei ihm in Ungnade fiel. Aber das ist jetzt gleichgültig – morgen ist kaiserliche Majestät mein Gast in der Burg meiner Väter. Was meinst du, Agnes, ob er in seiner guten Laune unseren Sohn zum Ritter schlagen wird?«

Es gab ihr einen Stich durchs Herz. Immer nur der Sohn, der seit dreizehn Jahren im Grabe lag – die Tochter, die alles für ihn opferte, kannte er nicht! Und doch war es ihr auch wieder ein süßes Gefühl, zu denken, du hast das Vermächtnis der Mutter so heilig bewahrt, das er nicht anders kann, als dich für die Mutter halten. Ruhig antwortete sie: »Das dürfen wir doch kaum erwarten, der Kaiser kennt ihn ja noch nicht.«

»Da hast du freilich recht. Ich selbst weiß ja nicht einmal, ob der Junge auch gut geraten und einer solchen Ehre würdig ist. Wie lange mag es schon sein, daß ich ihn nicht mehr gesehen habe? Ein volles Jahr zum mindesten ... Noch länger, meinst du? Ja, ich glaube es auch; aber das Nachdenken macht mich so müde. Ich will schlafen gehen, zum letztenmal in der Fremde. Morgen, morgen, dann ist alles Leid zu Ende.«

Sie wich nicht von seinem Lager, bis er ganz ruhig da lag, mit geschlossenen Augen, regelmäßig atmend. Dann erst huschte sie auf den Zehen in ihre Kammer, bald umfing sie der traumlose Schlummer der Jugend.

Er aber schlief nicht. »Sie ist fort,« murmelte er, im Bette sich aufrichtend, und lachte leise vor sich hin. »Ja, so habe ich es oft gemacht; denn sie muß doch ihre Nachtruhe haben. Weshalb sie nur abends immer so lange neben mir sitzen mag? Ich glaube sie hält mich für krank, und ich bin doch seit Jahren nicht so gesund gewesen. Aber ein treues Weib ist sie, immer sanft und geduldig, und auch schön ist sie geblieben; fast möchte ich meinen, sie sei in der letzten Zeit wieder jünger geworden. Aber was fange ich jetzt an, die Nacht hindurch? Wenn ich einschlafe, kommen wieder die bösen Träume: der alte Mann mit dem blutigen Kopf und das tote Kind, und dann das laute Geschrei, daß ich immer auffahre und meine, es sei jemand im Zimmer. Gut, daß Agnes nichts davon weiß. Jetzt fällt mir ein, was ich tun will! Auf dem Drachenfels wissen sie nicht, daß der Kaiser kommt; ich will rasch voraus reiten und zusehen, daß alles in Ordnung ist. Wir hängen die Fahnen heraus, laden das Geschütz und putzen die Waffen blank; wenn ich dann dem Kaiser entgegenreite, meinen Sohn zur Seite, wird er ihn wohl zum Ritter schlagen.«

Geräuschlos kleidete er sich an und trat in die Nebenkammer, in welcher seine Tochter ruhte. »Sie schläft,« flüsterte er, sich über sie beugend; »wahrhaftig, sie wird alle Tage jünger, und ich bin schon fast ein alter Mann. Aber leise, leise, daß sie nur ja nicht wach wird, sonst läßt sie mich nicht fort. Sie wird sich wundern morgen früh, wenn sie mich nicht findet. Der Kaiser wird sie schon mitbringen.«

Nichts regte sich als er über den mondbeschienenen Hof zum Stalle ging und sein Roß aufzäumte. Vorsichtig führte er es am Zügel eine kleine Strecke weit; dann saß er auf und trabte gemächlich um das Städtchen und den Rhein hinunter.

Zwei Stunden später wurde Agnes wach; denn sie war daran gewöhnt, mitten in der Nacht aufzustehen und nach dem Vater zu schauen. An der Zwischentüre stand sie und lauschte, ob sie sein Atmen höre – kein Laut. »Vater!« sagte sie leise, »Vater!« Keine Antwort. Eine Ahnung des Unheils dämmerte in ihr auf; sie eilte zu seinem Bett, es war leer, die Kleider verschwunden. Im Nu hatte sie sich angekleidet und war zum Stall gelaufen: nur ihr Zelter lag schlafend auf der Streu. Trotz ihrer tödlichen Angst überlegte sie keinen Augenblick. Als volle Gewißheit stand es vor ihrem Geiste, wohin er geritten sei, und nicht minder, was die Pflicht ihr gebiete. Die Leute zu wecken, fiel ihr nicht ein. Ein leichter Schlag auf den Rücken, und ihr Pferd sprang in die Höhe; mit eigenen Händen warf sie ihm den Sattel über – das hatte sie in Böhmen gelernt, und das Reiten noch besser. Kaum eine Viertelstunde war vergangen, seit sie die Augen geöffnet, und schon jagte sie mit verhängtem Zügel nach Norden. Die Hunde schlugen an, wenn sie durch ein Dorf sprengte. Hier und da lockte der Hufschlag einen Schläfer ans Fenster; dann sah er erschreckt die kleine Gestalt, deren helles Gewand über den Rücken des Zelters flatterte, und erzählte am andern Morgen, er habe die weiße Frau gesehen.

Sie war nie in dieser Gegend gewesen, seit die Mutter das hilflose Kind in die Fremde getragen; aber als sie die Ebene von Honnef erreichte und jenseit derselben, vom Mondlicht umflossen, einen schroffen Kegel ragen sah, da wußte sie, es sei der Drachenfels. Oft hatten die Eltern ihr von der Heimat erzählt, und ohne Bedenken lenkte sie in den düstern Hohlweg ein, der dicht vor Königswinter den Berg hinaufführte. Langsam kletterte das Tier den steinigen Pfad empor, viel zu langsam für ihre Ungeduld; endlich senkten sich die steilen Wände zur Seite, sanfter stieg der Weg durch den dichten Wald. Jetzt sieht sie, im ersten Grauen des Morgens, die Burg vor sich liegen. Sieh da, rechts vom Wege, hart am Abhang, steht eine hohe Gestalt: das muß der Vater sein! Ein weithin schallender Ruf, ein Peitschenhieb, und, sich aufbäumend, fliegt ihr Renner vorwärts. –

Nur eine Viertelstunde vorher hatte er diese Stelle erreicht, von ehrgeizigen Träumen erfüllt; weiter kam er nicht. Dort, ja dort mußte es gewesen sein! Da stand die Bank unter den Eichen, und zwei Schritte davon gähnte die Tiefe. Angesichts der Stätte seiner Tat brach die Erinnerung durch den Nebel, der seinen Geist umschleiert hatte. Mit zitternden Knien stieg er ab und band das Roß an einen Baum. Langsam näherte er sich dem Felsrand und schaute hinunter; dann suchte er sorgfältig in den Büschen umher. »Er ist noch nicht da,« murmelte er; »aber er wird kommen, – und dann wollen wir sehen wer Herr auf Drachenfels ist.«

Er setzte sich auf die Bank. Mehr und mehr verwirrten sich seine Gedanken; es hämmerte ihm in den Schläfen, in seinen Augen brannte ein unheimliches Feuer. Jetzt sprang er auf und rief: »Seid Ihr wirklich gekommen, Ohm Niklas? Den Weg hättet Ihr Euch sparen sollen; es wäre besser für Euch und für mich gewesen. Die Burg verlangt Ihr, alter Narr? Davon ist keine Rede; ich habe es geschworen. Ihr wollt Euch mit der Hälfte zufrieden geben? Sehr gütig von Euch; aber hier wird nicht gehandelt. Habt Ihr vergessen, daß Ihr schon einmal hier waret, vor langen Jahren, als mein Sohn kaum geboren war, und wie ich Euch damals heimschickte? Ihr müßt von Sinnen sein, daß Ihr es zum zweitenmal versucht, gerade heute, wo der Kaiser kommt und meinen Jungen zum Ritter schlägt. Was? Ihr wollt noch Worte machen? Zurück, Mann, oder, bei meinem Eide, es gibt ein Unglück.«

Er sah die Tochter nicht, die gerade um die Waldecke bog; er hörte nicht ihren wilden Ruf; in voller Wut führte er einen Stotz gegen das Wahnbild, mit dem er sprach, – stürzte vornüber und verschwand in der Tiefe.

Ein markerschütternder Schrei! Agnes war vom Pferde geglitten und bog sich über den Rand. Er war nicht ganz hinuntergestürzt, mitleidig hatte ein starker Strauch den Unglücklichen in seinen Zweigen aufgefangen Da hing er regungslos; ob lebend oder tot, konnte sie nicht sehen.

Sie sprang in die Höhe und lief hilferufend der Burg zu. Noch ehe sie das Tor erreichte, kamen einige Männer ihr entgegen; denn der Wächter hatte vom Turm aus das Gebaren des Wahnsinnigen und seinen Sturz bemerkt.

Es war gelungen. Sie hatten ihn heraufgeschafft, und er lag an derselben Stelle, wo einst sein Verwandter gelegen. Sein Kopf ruhte im Schoße der Tochter, blutüberströmt; aber noch war Leben in ihm. Agnes betete aus Herzensgrund, Gott möge ihn erhalten oder doch nicht zulassen, daß er in Bewußtlosigkeit von der Erde scheide.

»Wer bist du armes Kind?« fragte eine tiefe Stimme, und eine breite Hand legte sich sanft auf ihr Haar. Hinter ihr stand ein schöner Mann in ritterlicher Tracht. Sie schlug die Hände vor die Augen und stöhnte laut auf. Dann hob sie das tränenüberströmte Gesicht und sagte leise: »Herr Werner von Drachenfels – denn Ihr seid es gewiß – ich bin die Tochter des Burggrafen Heinrich, und er selbst liegt zu Euren Füßen.«

Er taumelte zurück, bleich, mit sprühenden Augen. Flehend hob sie die Hände empor und rief: »Ich weiß, was er getan hat; aber es geschah im Zorn, und furchtbar hat er gebüßt. Um Gottes Barmherzigkeit willen, wollt Ihr ihn denn hier elend zugrunde gehen lassen?«

Er hatte sich gefaßt und antwortete ernst: »Nein, Kind, das will ich nicht, schon um deinetwillen. Fern sei es von mir zu richten, wo Gott selbst gerichtet hat.«

Sie hatten ihn im Rittersaal gebettet und taten alles für ihn, was sie konnten. Sorgfältig hatte der Arzt die tiefe Wunde am Kopfe untersucht und verbunden. »Es wird nicht lange mehr dauern,« meinte er achselzuckend. Dann war der Unglückliche aus seiner Ohnmacht erwacht und lange mit dem Priester allein geblieben.

Nun lag er ruhig und ohne Schmerzen. Der Leib war dem Tode verfallen; doch die Seele war befreit und der Bann gebrochen, der den Geist gefangen hielt. Alles wußte er; seine Tat, die Aufopferung der Seinigen und den Edelmut des Mannes, dem er den Vater geraubt. Erfüllt von Reue, Dank und Liebe fand ihn der Tod.

*

Was weiter geschah, schwebt mir nur noch undeutlich vor. Wie ein Schleier legte es sich über meine Augen; er wurde dichter und dichter, bis alles in eintönigem Grau verschwamm. Leise wie von fern vernahm ich die Worte: »Herr Burggraf, was Ihr an dem Unglücklichen getan, wird der Kaiser Euch nimmer vergessen. Um eins aber bitte ich: tragt Sorge um dieses Kind, es ist der besten eines in deutschen Landen.« Dann die Antwort: Das will ich, so wahr mir Gott helfe.«

Noch hörte ich die Stimme Rutgers von Wolkenburg: »Leb wohl; meine Zeit ist gekommen. Manches, was du gesehen, wird dir fremdartig sein; und auch Ihr seid uns ein fremdes Geschlecht, wenn auch Kinder desselben Volkes. Aber wir verstehen uns doch; denn heute wie damals und noch früher zu meiner Zeit wechselt das Leben in Liebe und Haß, in Schuld und Sühne, in Opfer und Versöhnung.«

Ich fühlte, wie er wieder die Hände auf meine Schultern legte und sein Hauch mein Antlitz streifte; und es war mir, als würden meine Glieder schwer, und ich sinke langsam hinunter. Als ich um mich schaute, saß ich wieder einsam in dem zerfallenen Turm. Über mir wölbte das Firmament sich in funkelnder Sternenpracht, und der Mond schlug eine Brücke über den Rhein.

Als ich hinunterstieg, schlug es eins auf der Drachenburg. Müde und durchfroren kam ich zum Gasthof, schlich auf mein Zimmer und schlief ohne Träume bis tief in den Tag hinein. Sobald ich mich blicken ließ, gab es viel Erstaunen und Fragen, wo ich so lange geblieben sei. Ich schwieg, denn ich hatte keine Lust, von der Frau Professor eine zweite Vorlesung über Geister zu hören.

Erst als ich einige Tage darauf mit meinem Verleger nach Rhöndorf ging und er aufmerksam den Grabstein des Burggrafen Heinrich an der Kapelle besah, erzählte ich ihm die Erlebnisse jener Nacht. Er schüttelte den Kopf, meinte aber: »Das sollten Sie aufschreiben.«


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