Bruno Hans Bürgel
Der »Stern von Afrika«
Bruno Hans Bürgel

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8.

Knatternd schoß der glänzende stählerne Vogel empor in die graue Luft, aus der ein feiner Regen noch immer unablässig niederrieselte. Die Tragflächen warfen das Wasser, das sie durchschnitten, in flachen Kurven weit hinter sich, sie zitterten leise, und in den Spanndrähten summte es wie eine Harfe. Die Menschen auf der Station der elektrischen Fernbahn am alten Fort starrten hinauf in das Grau, ließen sich einen Augenblick den Regen ins Gesicht schlagen, um dem neuen eigenartigen Verkehrsmittel nachzusehen. Nun entschwand es als ein Punkt in der vom niederrieselnden Wasser verschleierten Ferne.

Elizabeth trat vom Balkon zurück in ihr Zimmer, schob das Fernrohr zusammen. Sie würde einige Tage ganz auf sich allein angewiesen sein. Morgen vormittag entschied sich im Regierungspalast zu Sansibar die Frage, die ganz plötzlich in ihr stilles Leben getreten. Der Vater, Johannes Baumgart, Standerton, die Chadija, sie alle rasten jetzt mit fünfhundert Kilometern Stundengeschwindigkeit dem Aequator zu. Vor einer Stunde hatte die interessante Frau hier neben ihr gestanden und Lebewohl gesagt. Noch hallten die Abschiedsworte in ihren Ohren:

»Sie beherbergen einen eigenartigen, einen seltenen Menschen in Ihrem Hause, Fräulein Hawthorn. Man 189 könnte Sie darum beneiden! Bis gegen Morgen habe ich mich mit brennenden Augen in sein Werk vertieft. Wenn Sie seinen Gedanken Interesse entgegenbringen, wird er einen Philosophen aus Ihnen machen. Ich freue mich, Ihnen diesen Mann, der so viel zu geben hat, auf einige Tage entführen zu können, und hoffe, Sie werden mir den kleinen Zoll von Ihrem Reichtum gönnen!«

Die kurze Antwort war ein Gemisch von Verlegenheit, Ablehnung, Angst, verborgene Gefühle zu verraten, eine gewisse versteckte Feindseligkeit, die so gar nicht zu diesem stillen, zarten Mädchen mit den reinen klaren Augen paßte und eine so erfahrene Menschenkennerin, wie es die schöne Staatsrätin war, sofort mit der Ahnung erfüllte, daß hier feine Fäden sich spannen, die, unsichtbar, schon ein Hauch bewegte.

Mit weltgewandter Sicherheit gab sie der Tochter des Hauses die Hand, dankte für die Gastlichkeit und ging in ihrer stolzen, energischen Haltung hinaus, wo die Männer ihrer harrten zu dem rasenden Fluge durch Nebel und Regen, hoch über Berge und Ströme hinweg. Ein seltsames Lächeln lag in ihren Augenwinkeln. So lächelt der geübte Fechter, der den hastigen, verstörten Gegner, seines Sieges sicher, erwartet. –

Und dann ging es hinaus in das verschwimmende Grau, mit knatternden Explosionen. Drunten rauschten die verschwommenen farbigen Flicken der Landschaft vorüber, vom Nebelweber zusammengewebt, tauchten neue Fernen auf hinter ragenden Felsenmauern. Eine gewisse Unruhe ließ sich nicht unterdrücken für die zum ersten Male in dieses dahinsausende Geschoß eingeschlossenen Menschen. Das Dröhnen der Explosionen verwirrte das 190 Ohr, obgleich es durch Schalldämpfer geschützt war, und das Vibrieren und gelegentliche scharfe Rucken der Maschine gab dem Körper ein Gefühl der Unsicherheit. Das aber legte sich nach und nach, und Baumgart wie seine Begleiterin fanden, daß die Gewohnheit auch hier Mutter des Wohlbefindens war.

Langsam hellte sich, je mehr man nordwärts kam, dem Aequator zu, der Himmel auf. Hier beherrschte die alte Sonne ihr Reich, zerstörte mit ihren Strahlenpfeilen das Wolkenmeer, bewirkte durch elektrische Ladung der Staubmassen in großer Höhe ein Abfließen nach Norden und Süden.

So fuhr man bei leidlichem Wetter zu später Stunde, als eben die Leuchtfeuer des Flugplatzes entzündet wurden, in Bagamojo ein.

* * *

Und wieder stieg strahlend ein neuer Tag herauf, flammte die goldene Kuppel des Parlamentes in der Morgensonne, brachen sich in den sprühenden Tropfen des Springbrunnens die Lichtpfeile zu bunten Regenbogenbändern. Wieder sah das erzene Standbild des großen van der Valk die Minister und Staatsräte dieses Landes an sich vorbeischreiten, der breiten Säulenhalle zu. Abermals hatte der Zentralrat über ein wichtiges eigenartiges Projekt zu entscheiden.

Die Verhandlung fand in dem kleinen Saal statt, denn das Heer der Abgeordneten fehlte diesmal oder hatte doch nur Kommissionen entsendet. Der Präsident war abwesend, ließ sich durch seinen Sekretär vertreten; die 191 Ministertische waren voll besetzt, und von den Generalräten und Staatsräten hatte sich nicht einer entschuldigen lassen.

Links im Vordergrunde standen die grünen Sessel der geladenen Sachverständigen. Man sah Sir Rawlinson von der Kap-Sternwarte und nicht weit davon seinen Kollegen Abdul Ben-Haffa aus Kairo. Der Geologe Vanderstraßen saß zwischen beiden. In der hinteren Reihe hatten Hawthorn und Standerton-Quil Platz genommen. Zwei andere Ingenieure der Staatswerkstätten waren anwesend, und vor ihnen sah man die mächtige Glatze des berühmten Lektors für Aero-Dynamik an der Universität zu Timbuktu, Jussuw-Drammen. Man hatte es auch für nötig gehalten, einige hervorragende Aerzte und Physiker, sowie Jerubi Chochem, den Direktor des Staatsamtes für Kulturforschung, zu laden.

Ganz vorn, in der Mitte des Raumes, auf der kleinen Rednertribüne, saß einsam Johannes Baumgart. Er strich etwas nervös das Haar zurück und putzte seine goldene Brille. Sein feines Gesicht war etwas blaß. Jetzt trat Herr Praga, der Gesandte Europas, auf ihn zu, drückte ihm die Hand.

Auf den Sitzen der Staatsräte sah man Madame Effrem-Latour in eifriger Unterhaltung mit Madame Birrha und Ismail Tschack. Archibald Plug und Generalrat Umaruru besprachen die neuen, ihnen zugegangenen Einwanderungstabellen.

Punkt zehn Uhr eröffnete Samuel Machai die Sitzung mit einer kurzen Ansprache und trat das Präsidium an den Minister für Wissenschaft und Technik, Herrn Albarnell, ab. Der gab noch einmal einen Ueberblick über das, 192 was hier zur Beratung stand, ermahnte nach altem Brauch und vorgeschriebener Form die Sachverständigen, sich bei ihren Gutachten nur von den Interessen des Staates leiten zu lassen, und stellte dann Herrn Johannes Baumgart dem Hause vor, ihm gleichzeitig das Wort erteilend zu seinem großen Vortrage.

Der deutsche Gelehrte erhob sich, strich seine Papiere glatt und begann:

»Meine Herren Minister und Staatsräte! Hochansehnliche Versammlung! Die Katastrophe, die über diesen Planeten hereingebrochen ist, zwingt dazu, auf Mittel und Wege zu sinnen, wie man ihren Folgen am besten entgehen kann. Es haben sich bisher keine Maßnahmen finden lassen, die einen Schutz gegen bestehendes und kommendes Unheil in dieser Sache gewährleisten. Wir dürfen überdies nicht vergessen, daß sich all diese Uebel noch steigern werden, daß wir uns erst den Mittelpartien der dort dichteren Wolke nähern und noch mehr als zwei Jahrtausende ihrer Wirkung ausgesetzt sind!

Wenn ich nun mit dem Plan hervortrete, von einem anderen, einem benachbarten und unbewohnten Weltkörper Rat in dieser Angelegenheit zu holen, so bin ich mir bewußt, daß das zunächst Verblüffung hervorrufen muß, und bin eine Erklärung schuldig, wie ich nach langen Jahren eifrigen Studiums dazu gekommen bin, zu glauben, daß man dort wirklich Rat holen könnte.

Die neuere astronomische und kosmogonische Forschung hat die Beweise dafür erbringen können, daß das, was man schon seit mehr als tausend Jahren ahnte, zutrifft, nämlich, daß alle Weltkörper einen gleichmäßigen Entwicklungsgang durchmachen, etwa so, wie wir ihn bei 193 Pflanzen und Tieren finden. Jeder Weltkörper entsteht durch Zusammenballung ungeheurer Massen von Gasen und Staubwolken, ähnlich denen, die uns jetzt umgeben. Diese Massen verdichten sich, und durch diese Verdichtung entsteht eine immer zunehmende Erhitzung, bis der Gas- und Staubball zu einer leuchtenden Sonne wird. Alle Sterne da droben sind solche glühenden Gasbälle, auch unsere eigene Sonne, und ebenso waren Erde und Mond vor unausdenkbaren Zeiten solche leuchtenden Sonnen, wenn auch viel kleiner als die große Sonne, die uns bescheint.

Aber diese feurigen Bälle schweben in der ungeheuren Kälte des Weltenraumes, strahlen ihre Glut hinaus und müssen langsam kälter werden, ja endlich verlöschen, wie eine Kohle, die vom Herdfeuer des Schmiedes weißglühend herabfällt und in tiefer Rotglut erlischt. Denselben Gang gehen auch die großen Weltbälle. Die weißen Sonnen werden im Laufe von Jahrmillionen gelblich, dann rötlich, und endlich legt sich eine dicke Erstarrungskruste um sie, sie erlöschen, erkalten! So entstand auch vor grauen Zeiten der steinerne Mantel der Erdoberfläche, und so wird auch unsere Sonne einst von einer steinernen dunklen Haut bedeckt sein! – Die Kälte des Weltenraumes ist der Tod der Sonnen!

Also auch Erde und Mond machten diese Entwicklung durch. Als nun auf Erden die Glut erloschen war, der Panzer von erstarrtem Gestein sich endlich schloß, sank die Temperatur langsam so weit, daß die ungeheure Dampfhülle, die damals noch den Planeten umgab, das Wasser ausscheiden konnte. In jahrtausendelangen Regengüssen 194 stürzten die Wassermassen, die später die Meere bildeten, auf die noch heiße Kruste nieder, wurden wieder verdampft, wallten wieder empor und fielen wieder zurück. In diesem Zustande befinden sich heute noch die beiden Geschwister unserer Erde, die Planeten Jupiter und Saturn.

Endlich aber konnten sich die ersten noch heißen Meere auf Erden halten. Eine einzige Wasserfläche umzog dampfend die Kugel, die wir bewohnen, das Urmeer! Langsam klärte sich die Luft, und zum ersten Male drang auch das Licht der Sonne hernieder, das vorher den Dampfmantel nicht durchdringen konnte. Zum ersten Male ward Tag und Nacht!

Die Abkühlung der Erde aber schritt fort. Wie ein austrocknender Apfel schrumpft, wie seine Haut sich falten muß, weil sie für den kleiner werdenden Kern zu groß geworden, so faltete sich die Erdrinde, und so entstanden Berge und Täler. Es ragten die ersten Inseln aus dem Urmeer empor, bald ganze Kontinente. Das heiße Wasser wusch das Gestein aus, lagerte den Schlamm ab, und wenn das Wasser da und dort zurücktrat, so wurde der frühere Meeresgrund nun als sandiges, toniges Flachland sichtbar. Langsam entstand so die heutige Form der Erdoberfläche.

Schon in den Urmeeren aber war ein ganz primitives Leben. Wie es entstand, das wissen wir auch heute noch nicht, wahrscheinlich aber kamen die ersten Lebenskeime mit Staubmassen von anderen Weltkörpern zu uns. Langsam entwickelte sich das Leben zu immer höheren Formen, an deren Spitze am Ende der Mensch trat.

Auch der Mond hat diese ganze hier geschilderte Entwicklung durchgemacht. Wir sehen auf seiner Oberfläche 195 heute trocken liegende Meere und mächtige Gebirge. Aber alles ist tot. Während die vorhin erwähnten Planeten Jupiter und Saturn uns die Vergangenheit der Erde zeigen, haben wir im Monde die Zukunft der Erde vor uns. Er, der viel kleinere Ball, mußte eher erkalten, schneller sterben. Zu einer Zeit, als die Erde noch gar nicht bewohnbar war, hatte die Mondwelt schon ihre höchste Blütezeit hinter sich; als sie endlich Leben trug, war dieses Gestirn schon im Absterben. Denken Sie an jene Tiere, die nur wenige Wochen leben, und an andere, zum Beispiel die Galapagos-Schildkröten, die dreihundert Jahre alt zu werden vermögen! So haben auch die verschiedenen Weltkörper verschiedene Lebensdauer. – –

Der Mond ist ein Stück der Erde, ist ihr Sohn. Einst löste sich die Masse, die ihn bildete, vom Aequator unseres Planeten ab. Jene Welt besteht also aus denselben Stoffen wie unsere, und die gleichen Naturkräfte regierten und regieren dort. Auch auf jener Welt in unserer nächsten Nähe faßten also einmal die Keime des Lebens Fuß, auch dort entwickelten sie sich nach ewigen Gesetzen, die losgelöst sind von den Besonderheiten eines einzelnen Weltkörpers. So wird auch auf dem Monde ein uns ähnliches Geschlecht während seiner Blütezeit gelebt haben. Heute aber sind Wasser und Luft vom Monde verschwunden, er ist ausgestorben, ist ein totes Wrack.

Wie kam das? Nun, meine Damen und Herren, das Wasser sickerte in das Gestein, in immer tiefere Spalten, verband sich dort chemisch und ging so verloren. Die Luftteilchen wanderten langsam in den Weltenraum hinaus. So aber mußte endlich die Bewohnbarkeit dieser Welt ganz verlöschen. Aber schon viel früher mußte sie 196 aus anderen Gründen verkümmern. Der Mond braucht heute einen vollen Monat, um sich einmal um seine Achse zu drehen. Jeder Punkt hat 14 Tage Tag und 14 Tage Nacht. Früher war der Tag des Mondes kurz, kürzer als heute der Tag der Erde. Ich will Sie mit den Einzelheiten nicht langweilen, nur soviel weiß man schon seit langen Zeiten, daß die mächtige Anziehung der Erde den Tag des Mondes verlangsamte. Nun denken Sie sich eine Weltkugel, auf der die Nacht 14 Tage währt! Als die Lufthülle des Mondes immer dünner und wolkenloser wurde, mußten diese Nächte so kalt werden, daß während der zwei Wochen Nacht alles erstarrte. Schon damals müssen die Mondbewohner Mittel erfunden haben, sich dagegen zu schützen, und ich hoffe, Spuren dieser Mittel noch zu finden.

Aber wir wissen auch, daß schon vor unausdenkbaren Zeiten solche Katastrophen, wie wir sie jetzt erleben, solche Eiszeiten da waren und Erde und Mond der Sonnenwärme beraubten. Damals war die Erde noch unbewohnt, aber der Mond muß damals seine Blüte gehabt haben, und vielleicht hat ein hochentwickeltes Geschlecht dort Schutzmittel und Anlagen erfunden, aus denen man ersehen könnte, was wir selbst jetzt tun müssen. Diese Erfahrungen einer anderen Welt, eines längst ausgestorbenen Geschlechtes, das zu jener Zeit wahrscheinlich eine hohe Kultur hatte, möchte ich zu finden versuchen, zu unserm Nutzen.

Das ist mein Plan!« – – –

Baumgart setzte sich, schlug die Beine übereinander und faltete seine Papiere zusammen. Dann fuhr er mit dem seidenen Tuch über seine hohe Stirn. 197

Die Versammlung hatte ihm mit großer Spannung zugehört. Nun summten die Gespräche und Eindrücke von Nachbar zu Nachbar. Der Vortrag war entschieden klar und einleuchtend. Das alles konnte wohl so sein. Man war gespannt, was die Fachleute sagen würden.

Da stand der alte Rawlinson auf und meldete sich zum Wort. Sein weißer Patriarchenbart zitterte leicht, als er begann:

»Hochansehnliche Versammlung! Das Gesamtbild der Entwicklung eines Weltkörpers, das der deutsche Kollege hier gab, war zutreffend. Aber ich behaupte, daß der Mond niemals bewohnt gewesen ist, weil jene Verkürzung des Mondtages, die der Vortragende richtig geschildert hat, schon zu einer Zeit einsetzte, als der Mond noch eine glühendflüssige Kugel war. Höheres Leben konnte sich also deshalb niemals dort entwickeln, wenn auch ganz niedere Pflanzen und Tiere dort vorgekommen sein mögen. Beweis dafür ist auch der Umstand, daß selbst unsere Riesenfernrohre keine Spur von menschlicher Tätigkeit, von alten Bauwerken und so weiter dort zeigen, obwohl wir einen Gegenstand wie die Pyramiden von Gizeh, oder selbst unser Parlamentsgebäude, heute schon auf dem Monde erkennen könnten als winziges Pünktchen. Also, ich bestreite, daß der Mond je bewohnt war! Damit stürzt auch alles übrige des Planes zusammen!«

Abdul Ben-Haffa, der Direktor der Sternwarte zu Kairo, ein Mann mit tiefbraunem Gesicht, geschorenem Kopf und einer scharfen, starken Nase, erhob sich mit der Ruhe des Orientalen, strich seinen tiefschwarzen Knebelbart und sagte gelassen: »Ich bedaure, meinem 198 ehrenwerten Kollegen vom Kap widersprechen zu müssen. Ich kann mich mit den Gedankengängen des ausländischen Forschers durchaus einverstanden erklären, abgesehen von kleinen, nebensächlichen Einzelheiten. Auch ich bin der Ansicht, daß der Mond einmal bewohnt war, ja ich glaube sogar, in neuerer Zeit im Verein mit meinem Mitarbeiter Voorthuizen deutliche Spuren früherer Anlagen eines hochentwickelten Geschlechtes dort auf der Nachbarwelt entdeckt zu haben. Unser neuer Riesenspiegel wird das in wenigen Wochen entscheiden. Wir haben keinerlei Beweise dafür, ob die Tageslänge des Mondes schon so früh durch die Erde ungünstig gestaltet wurde, wie Herr Rawlinson das annimmt, wir haben keinerlei Beweise für, aber auch keine gegen die ehemalige Bewohntheit des Mondes. Jedenfalls aber wäre es eine vollkommen mittelalterliche Anschauung, glauben zu wollen, die Erde allein wäre Träger intelligenter Wesen! Sie ist ein Wassertropfen im All; einer von vielen Millionen!

Herr Rawlinson sagt, unsere Fernrohre können schon Gegenstände von der Größe des Parlamentsgebäudes sehen. Das ist richtig, aber wer sagt uns denn, ob die Mondmenschen so groß waren wie wir, solche Riesenbauten je ausführten? Und wenn sie es taten. Unzählige Jahrtausende sind sie ausgestorben, längst wären jene Bauwerke nur noch niedere, zerfallene Schuttmassen. Nur gewisse Umrisse, gewisse geometrische Trümmerlinien können heut noch zeigen, ob einst auf dem Monde Städte, große Anlagen, Straßenzüge, Bahnen, Viadukte bestanden haben, und ähnliche Dinge glaube ich bemerkt zu haben, aber es ist, wie gesagt, einstweilen noch recht unsichere Wissenschaft. –199

Ich selbst glaube also sehr wohl, daß man Aehnliches finden könnte, wie Herr Baumgart vermutet, nur ist es mir nicht klar, wie er zum Monde gelangen will, denn der Raum ist luftleer, trägt kein Flugschiff. Hierüber müssen wir erst klar sein!«

Ben-Haffa nahm wieder Platz, und Johannes Baumgart erhob sich.

»Der Einwand des ehrenwerten Sir Rawlinson ist bereits durch seinen Kollegen entkräftet. Ich möchte aber noch folgendes hinzufügen: Sehr wahrscheinlich haben die letzten paar hundert Generationen der Mondbewohner infolge der Kälte und der immer niederer werdenden Luftschicht, sowie der immer tiefer sickernden Wassermassen nicht auf der Mondoberfläche, sondern in Höhlenstädten unter der Oberfläche gelebt. Daher sehen wir von ihren Bauwerken nichts, und die früheren sind zerfallen!

Nun aber will ich dazu übergehen, Ihnen zu zeigen, wie wir trotz der Luftleere des Raumes die scheinbar unmögliche Reise ins Werk setzen können!«

Der Mann am Rednerpult zog die Versammlung aufs neue in seinen Bann. Ruhig, von seinem sicheren Wissen getragen, formulierte er seine Sätze, machte er klar, daß diese Svendenhamsche Nebel- und Staubwolke die Menschheit zum ersten Male in den Stand setze, diesen Planeten zu verlassen. Schon mehrfach in früheren Erdepochen sei wohl das Sonnensystem durch solche kosmische Wolken geflogen, wie die deutlichen Spuren früherer Eiszeiten bewiesen, aber das geschah zu Zeiten, als dieser Planet nur von seltsamen Meeresgeschöpfen oder von den mächtigen Sauriern bevölkert wurde, die die Forschung aus den Katakomben der Vergangenheit ans Tageslicht 200 gezogen. Während der letzten Eiszeit stand der Mensch noch auf tiefer Stufe, zog er, fast selbst noch ein Tier, mit primitivstem Jagdwerkzeug hinaus, um das Wild zu erlegen. Heute aber treffe das Ereignis zusammen mit einer zu hoher Blüte entwickelten Technik, und jener glückliche Zufall, der da und dort im Weltgeschehen eine bedeutungsvolle Rolle spiele, wolle es, daß gerade zu dieser Zeit in der Fluggranate ein Luftfahrzeug erfunden worden sei, das die Möglichkeit zulasse, sich in dem dünnen Medium jener den Raum erfüllenden Wolke emporzuschrauben zur nahen Welt des Mondes. – »Und selbst wenn meine Gedanken hinsichtlich dessen, was ich dort zu finden hoffe, nicht zutreffen, sollte die Menschheit die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, zum ersten Male den Fuß auf eine Weltkugel jenseits des Dunstkreises der Erde zu setzen!«

Abdul Ben-Haffa war überrascht. Sein lebhaftes Gesicht zeigte begeisterte Zustimmung. »Ich mache dem Redner mein Kompliment,« sagte er, »er zeigt in der Tat einen Ausweg, der seinem scharfen Denken Ehre macht! Ich muß gestehen, daß ich auf diesen Gedanken nicht gekommen bin, und ein Versuch muß zeigen, ob die Nebel- und Staubmassen dieser verhängnisvollen Wolke hinreichen werden, das Flugschiff zu tragen. Das aber ist eine Sache der Techniker, und hier schweigt der Sternforscher!«

Auch der alte Rawlinson war verblüfft über die Lösung der Frage. Er betrachtete den Deutschen scharf durch seine mächtige runde Hornbrille und murmelte leise vor sich hin. Irgendeine Erwiderung hatte er im Augenblick nicht zur Hand. 201

Sir Albarnell, der Minister, erhob sich.

»Wir haben die sehr geistvollen Ausführungen des Herrn Baumgart gehört und hierzu die Urteile der astronomischen Sachverständigen. Unsere beiden hervorragendsten Sternforscher weichen so stark in ihren Ansichten voneinander ab, daß sie sich gegenseitig fast aufheben. Lassen Sie uns nun dazu übergehen, die technischen Beurteiler anzuhören, und ihnen mögen sich die Ausführungen der anderen Herren anschließen!«

Da meldete sich denn der allen wohlbekannte Direktor der Usambaranit-Werke zum Wort. In seiner biederen Art, die Vertrauen einflößte, führte er aus, daß er und Standerton-Quil, der Mitkonstrukteur der Granate und kühne Führer des neuen Fahrzeuges, sich von der Durchführbarkeit des Fluges überzeugt hätten. Freilich müßte ein besonderes Fahrzeug erbaut werden, und ein großer Versuchsflug über die Erdatmosphäre hinaus müsse vorhergehen. Die Aufwendungen würden etwa drei Millionen Franken erfordern, und er halte es für seine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß sein Werk im Interesse des großen Unternehmens auf alle materiellen Vorteile verzichten werde. Willige die Regierung ein, so könne die Fluggranate in drei Monaten fertiggestellt sein, könne einen Monat später die denkwürdige Reise beginnen.

Dann gab Standerton-Quil allerlei technische Einzelheiten und Berechnungen und erwähnte, daß er selber das Flugzeug führen werde, ein Beweis dafür, daß er die Durchführbarkeit der Reise erkannt habe, denn er sei keineswegs willens, Selbstmord zu begehen. – Man sah, wie die anwesenden technischen Sachverständigen eifrig Notizen machten, Zahlen nachprüften, Berechnungen 202 niederschrieben, und nachdem Standerton seine trockenen Darlegungen, die er kühl und geschäftsmäßig abgab, beendet hatte, bat Jussuw-Drammen, der berühmte Lektor für Aero-Dynamik an der Universität zu Timbuktu, ums Wort. Er erhob seine gewichtige Persönlichkeit schwerfällig, fuhr mit dem Tuch über die mächtige Glatze und versuchte etwas von oben herab auseinanderzusetzen, daß die Materie der Wolke viel zu dünn sei, um das Flugzeug zu tragen. Man müßte die Flügel der Tragdecken unwahrscheinlich groß machen oder die Geschwindigkeit des fliegenden Körpers so erhöhen, daß sie dreimal größer würde als sie jetzt sei, und das wäre eine Unmöglichkeit. Er prophezeie dem Unternehmen eine Katastrophe.

Da schnellte Standerton-Quil von seinem Sitze. Eine tiefe Falte stand über seiner Nasenwurzel, und seine Stimme war schneidend scharf, als er sagte:

»Die Theoretiker vom Schlage des Herrn Jussuw-Drammen haben von jeher Verwirrung in den Fortschritt der praktischen Technik gebracht. Sie sind die Väter aller Hindernisse! Darf ich den gelehrten Herrn von der Universität Timbuktu daran erinnern, daß er sich vor Jahr und Tag in schärfster Weise gegen die Möglichkeit ausgesprochen hat, mit dem Explosionsflugzeug der Granate voranzukommen! Heut fährt sie über seinem Kopfe dahin, und der hier anwesende Generalrat Tschack kann ihm bezeugen, daß dieses von ihm für unmöglich gehaltene Verkehrsmittel die weite Fahrt vom Aequator bis zum Eisgebiet Norwegens und zurück ohne jedes Versagen ausführte. Herr Jussuw-Drammen mag ein Riese in der Theorie sein, von der Praxis hat er keine Ahnung und 203 ist trotz seiner großen Gelehrsamkeit nicht in der Lage, einen Kinderwagen über die Straße zu fahren!«

Die grüne Lampe am Ministertisch leuchtete auf, zur Mäßigung mahnend. – Die Ansichten der übrigen Techniker waren geteilt. Alles müsse die Versuchsfahrt beweisen, und man dürfe jedenfalls rein theoretischer Ueberlegungen wegen das Experiment, das von höchster Bedeutung sei, nicht aufgeben. Dann hielt der berühmte Direktor des Staatsamtes für Kulturforschung eine ganz vortreffliche Rede, in der er ausführte, daß der deutsche Gelehrte durch sein wertvolles Werk über den Ablauf der Kulturen bewiesen habe, daß er ein sehr ernster, gedankentiefer Forscher sei. Auch wolle er nicht verschweigen, daß auch seine Wissenschaft großes Interesse daran habe, festzustellen, ob und wie sich auf einem anderen Gestirn eine Kultur entwickelt habe, ob nicht vielleicht auch der Geist überall im Universum Gleiches aufbaue, wie es nach den neueren astronomischen Forschungen die Naturkräfte beim Aufbau der Sterne zuwege bringen. Es wäre doch möglich, daß diese so phantastisch erscheinende Expedition vollkommen Neues, nie Erhörtes in den Gesichtskreis der Menschheit bringe.

Den Schluß der Aussprache bildete ein kurzer Vortrag des ersten Mediziners des Landes, des greisen Bovenhaart. Wenige Menschen wollten eine gefährliche, abenteuerliche Fahrt unternehmen, um unendlich Vielen vielleicht großen Nutzen zu bringen in diesen sich immer verschärfenden Zeiten, wo Hunger und Kälte ganze Gebiete der Erde bedrohen. Es ist sehr wohl möglich, ja nach Ansicht berufener Männer, die wir hier hörten, sogar wahrscheinlich, daß die kühnen Pioniere dabei ihr Leben verlieren. Ob 204 die Männer, die willens sind, sich siebzig Tage in ein stählernes Geschoß einzukerkern, angewiesen auf künstliche Luftzufuhr, ausgesetzt der Kälte des Raumes, den unbekannten Gefahren der Mondwelt mit hohen Hitzegraden und tiefsten Temperaturen, in der Nahrungsaufnahme auf gewisse Einseitigkeiten angewiesen, – ob diese Männer also das überstehen könnten, sei sehr schwer zu sagen. Man müsse vorsichtig sein in solchen Urteilen. Vielfach hätten Menschen unter unglaublichen Verhältnissen mehr geleistet als je ein Mediziner für möglich gehalten! Ganze Völker kamen jahrelang mit der halben Nahrungsmenge aus, die wir Aerzte für nötig halten, Polarforscher ertrugen in der Not selbst bei völliger Durchnässung, die die Kleider in Eisklumpen verwandelte, lange Zeit mehr als fünfzig Grad Kälte, und unsere Arbeiter in den tiefen Stollen, die zu den unterirdischen Wärmequellen führen, schaffen da bei so enormer Hitze, daß man meinen sollte, sie ertrügen es keine Stunde. – Unglaublich anpassungsfähig sei der Mensch, und so könne die medizinische Wissenschaft keine Aussagen machen, die angetan wären, das geplante Unternehmen als unmöglich hinzustellen.

Die Aussprache war beendet! Ein lebhaftes Summen von Gesprächen tönte durch den Raum. Da und dort bildeten sich Gruppen; man besprach das Für und Wider. Eine sehr interessante, einzigartige Frage stand zur Diskussion. Zum ersten Male, solange Menschen auf Erden hausten, hatte sich eine Regierung mit der Frage zu befassen, ob es geraten sei, eine Expedition nach einem andern Weltkörper auszurüsten. Gewiß eine eigenartige Situation. Wenn man so herumhörte in den Gruppen der Plaudernden, merkte man sofort, daß der größte Teil 205 der Anwesenden dem Gedanken zustimmte. Bei aller Würdigung der Verantwortung reizte die Kühnheit der Idee, reizte das Unbekannte, das Niegewesene. Da erhob sich noch einmal der Mann da vorn am Rednerpult mit seinem ruhigen Gesicht, seinem sympathischen Wesen, und es trat augenblicklich Stille ein.

»Ich habe nur ein ganz kurzes Wort an die hochansehnliche Versammlung zu richten! Die Regierung dieses Landes hat den Preis von einer Milliarde Franken ausgesetzt für irgendein Mittel, eine Idee, die den Schwierigkeiten der Eiszeit zu begegnen vermöchte. Ich erkläre hiermit, daß ich auf diese Summe verzichte, wie immer auch mein Versuch ausgehen wird. Ich wünsche nicht, daß sich an das große Werk, das höheren Zielen gewidmet ist, ein materielles Interesse knüpft. Ich bitte nur darum, daß die Regierung die Kosten der Expedition trägt, da mein bescheidenes Vermögen das nicht zu leisten vermag. Dieses Vermögen aber stelle ich für die Angehörigen derer sicher, die mit mir die gefahrvolle Reise wagen und deren Rückkehr kein Mensch garantieren kann. Alles mag gelingen, und doch kann ein kleiner Unfall die Expedition vernichten, wie ein Fünkchen ein ganzes Bergwerk zu zerschmettern vermag. – Dies sei mein letztes Wort, und alles weitere ist nun Ihrer Entscheidung überlassen!«

Diese Erklärung des Deutschen konnte den guten Eindruck nur erhöhen. Obgleich die Afrikander des Jahres 3000 sich infolge sorgsamer Erziehung durch große Rechtlichkeit auszeichneten, war es doch bei ihnen nicht üblich, vollberechtigte materielle Vorteile irgendeinem ethischen Gefühl zu opfern. Um so mehr aber wuchs ihre Achtung vor der Persönlichkeit, die ihnen hier gegenübertrat. 206

Und nun erhob sich Madame Effrem-Latour zu einem Schlußwort. Der eigenartige, stille und bescheidene Mann mit dem weltweiten Wissen hatte ihr höchstes Interesse erweckt, ja mehr als das! Seine, der ihren so fremde Natur zog sie mächtig an, und seine weltabgewandte, fast schüchterne Art reizte sie, denn sie wich in stärkster Weise ab von der Art der Männer dieses Landes. Was sie sagte, kam nicht nur aus ihrem Verstande. Auch das Herz der schönen Chadija schien mitzupochen:

»Als im Jahre 1485 jener Christoph Kolumbus, der später Amerika entdeckte, der portugiesischen Regierung seine Pläne vortrug, wurde eine gelehrte Gesellschaft zusammenberufen, die über die Ausführbarkeit der Reise und die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins jener unentdeckten Länder beraten sollte. Diese Junta erklärte die Pläne für Träumereien, die Regierung lehnte ab, und Kolumbus zog an einen anderen Hof, wo er mehr Verständnis für seine Sache fand. Die Zukunft lehrte, daß er recht behalten, und die Kurzsichtigkeit jener portugiesischen Junta brachte das Land um Verdienste wissenschaftlicher Natur und um materielle Schätze! Finden Sie nicht, Minister und Räte dieses Landes, daß unsre Situation eine starke Aehnlichkeit hat mit der des Jahres 1485? Lernen wir aus der Geschichte! Die Kosten sind gering, besonders da der Rechtlichkeitssinn des Mannes dort jede Belohnung ablehnt und auch der Erbauer des Flugschiffes sich aller materiellen Vorteile begeben will. Vielleicht vermag uns von der stillen Welt, deren Symbol in unserm Reichsbanner flattert, wirklich Erleuchtung zukommen, aber selbst wenn es nicht der Fall ist, wir sollten eine alte Sehnsucht der Menschheit 207 erfüllen, das Ferne, Unbekannte zu schauen, zu erforschen. Und wenn nun wirklich diese Expedition nicht ans Ziel kommt, ja, wenn sie selbst verunglückt und die tapferen Männer ihren Mut mit ihrem Leben begleichen, nun, so teilte sie dieses Geschick mit Hunderten von Expeditionen vergangener Zeiten! Der Weg menschlichen Fortschrittes ist eine Straße, auf der die Gebeine der Edelsten bleichen. Niemand würde es mehr bedauern als ich, daß so treffliche Denker und Männer der Tat im Unbekannten untergehen, aber das kann mich nicht abhalten, Sie aufzufordern, dem großen Werke zuzustimmen! Afrika wird das Land sein, das einen alten Traum erfüllt, vielleicht ein neues Zeitalter einleitet!«

Die junge Staatsrätin machte eine energische Handbewegung und nahm ihren Sitz ein. Baumgart sah zu ihr herüber. Sie hatte vortrefflich gesprochen, eine tiefe Freude erfüllte ihn. Ihre Augen begegneten sich. In den ihren war ein starkes Flammen, in seinen ein dankbarer Blick, dann aber sah er etwas verwirrt vor sich nieder in seine Papiere. –

Samuel Machai und Albarnell schritten zur Abstimmung, und es ergab sich, daß eine ganz überwältigende Mehrheit für die Ausführung des Planes war. Nur Rawlinson, Jussuw-Drammen, einer der Ingenieure und wenige alte Räte stimmten dagegen. Samuel Machai verkündete, daß die Regierung also die geforderten Mittel bewilligen werde. Den Eintritt des Forschers mit seinem eigenen Vermögen müsse sie ablehnen. Ende das Unternehmen mit einer Katastrophe, so werde es die Ehrenpflicht des Landes sein, das Erforderliche zu tun. Eine dokumentarische Festlegung aller Einzelheiten werde 208 folgen, auch müsse sich die Regierung ein gewisses Kontrollrecht vorbehalten. Es wäre sehr erwünscht, daß ein Mitglied des Regierungskörpers an der Expedition teilnehme, und er erbitte darüber die Ansicht des technischen Leiters des Unternehmens.

Standerton-Quil griff die Frage sofort auf.

»Es ist unmöglich, irgendeine Person mitzunehmen, die nicht an der Führung des Flugschiffes beteiligt ist, andrerseits aber brauchen wir unbedingt noch einen Mann, der mich selbst abzulösen vermag auf dieser siebzigtägigen Reise. Eine energische Persönlichkeit mit technischem Können, hart und ausdauernd. Sollte sich eine solche Persönlichkeit im Kreise der Räte dieses Landes finden, so wäre sie uns willkommen und könnte zugleich als Vertrauensmann der Regierung wirken, wobei sie freilich keinerlei Eingriffe in die Führung der Expedition selbst zu unternehmen hätte. Hier trage ich, den Weisungen unsres gelehrten Freundes entsprechend, allein die Verantwortung und teile sie nicht mit einem andern, sei er der höchste Beamte dieses Reiches!«

Da sah man plötzlich die rundliche Gestalt Sir Archibald Plugs nach vorn steuern. Der alte Seebär war drauf und dran, den Anker aufzuwinden, flottzumachen zu großer Fahrt. Die Kugel mit dem roten Kopf und dem weißen Borstendach stapfte energisch dem Ministertisch zu, die kleinen blauen Augen zwinkerten vergnügt, und die wohlgetönte Weinkennernase leuchtete noch stärker als sonst.

Sir Plug stellte sich auf die erste Stufe des Podiums, denn seine natürliche Augenhöhe hätte ein Gesichtsfeld 209 über die Versammlung hinweg nicht zu bieten vermocht. Er reckte energisch seinen kurzen, dicken, muskolösen Arm.

»Sie wissen, Minister und Räte, daß ich mich kürzlich gegen diese Reise ins Blaue ausgesprochen habe, obgleich Reisen eigentlich mein Lebensinhalt war. Nun aber das Projekt einmal angenommen ist, reizt es mich, dabei zu sein und noch eine letzte Fahrt zu wagen, die ja sicher an irgendein stilles Ufer trägt, ob an das des Mondes oder an das einer noch unbekannteren, noch stilleren Welt, das wird sich herausstellen. Sie wissen, daß ich von Ihnen allen wohl am ehesten die Anforderungen erfüllen kann, die der ehrenwerte Standerton-Quil stellt und mit Recht stellen muß. Wer selber ein Leben lang in allen Meeren Schiffe führte und manchen Strauß mit den Naturgewalten kämpfte, strandete und scheiterte und sich mit Packeis und Wirbelstürmen balgte, den schrecken die Gefahren dieser Reise nicht. Ich bin bereits mit der ›Granate‹ gefahren, als sich noch niemand in die Stahlkutsche hineinwagte, und Standerton kennt mich. Wenn also die Regierung mich ihres Vertrauens würdigt, bitte ich um die Erlaubnis, mir den alten Burschen da oben, der mir bisher nur auf die Glatze geschienen hat, aus der Nähe ansehen zu dürfen!«

Das fand vom Ministertische wie von seiten Standertons heitere Zustimmung.

»Zum ersten Male bedaure ich, kein Mann zu sein, Sir Plug, sonst würde ich mit Ihnen um diesen Platz ringen!«

»Sehen Sie, Madame, es ist doch etwas wert, wenn man ein Mann ist, aber Sie erkennen diese alte Wahrheit zu spät! Ich werde den letzten Mohikaner des Mondes von Ihnen grüßen!« 210

»Nehmen Sie mich lieber mit!«

»Um Gottes willen! Sie würden in Kürze die Führung dieses stählernen Staatsschiffes an sich reißen und uns alle in den Orkus karren! Außerdem soll diese Fahrt für mich eine Erholungsreise sein!«

»Sie werden es bereuen und mich vermissen!«

»Madame, der Pfau wäre der schönste Vogel, wenn er stumm wäre!«

»Dieses Kompliment auf die äußere Hülle kann ich Ihnen leider nicht zurückgeben.«

»Sie kennen meine inneren Vorzüge nicht! Hierin gleiche ich dem Weinfaß!«

»Wer wagte da zu widersprechen!«

Samuel Machai wischte sich eine dicke Träne aus dem Auge und legte lachend seine Hand auf die Schulter Sir Plugs. »Genug, Sir Archibald! Den Tag möchte ich erleben, an dem Sie beide den Plänklerkrieg aufgeben werden!«

Dann schloß er die denkwürdige Sitzung vom 18. Juni des Jahres 3000.

Noch lange standen die Anwesenden in Gruppen, Hawthorn, Standerton, Madame Effrem, Sir Plug, Albarnell, Ben-Haffa und andere umdrängten Johannes Baumgart, drückten seine Hand, gratulierten, langsam entleerte sich der Saal. Man schritt die breiten Steintreppen hinab, vorbei an der rauschenden Fontäne. Hawthorn und Standerton hatten Sir Plug in die Mitte genommen. Die drei glichen zwei Obelisken zu beiden Seiten einer Kugel. Lebhaft unterhielten sie sich über zu treffende Vorbereitungen. Johannes Baumgart folgte mit Madame Effrem-Latour und dem Direktor der 211 Sternwarte zu Kairo in kurzer Entfernung. Vor dem großen Park, aus dem ein wundervoller Duft herüberwehte, machten die drei halt.

»Ich muß Sie hier verlassen, Herr Baumgart,« sagte Abdul Ben-Haffa und streckte dem jungen Gelehrten die Hand hin. »Noch einmal meinen Glückwunsch. Möge alles zum Guten sich vollenden. Ich hoffe, daß unser Riesenspiegel hinreichen wird, Sie, sofern Sie mit der ›Granate‹ im beleuchteten Raum dahinfliegen, bis zur Erreichung Ihres Zieles verfolgen zu können, ja, es ist nicht unmöglich, daß unter besonders günstigen Verhältnissen sogar Ihr Abflug vom Monde beobachtet werden kann, denn theoretisch wird das Instrument in dieser Entfernung noch Gegenstände von etwa zwanzig Metern Durchmesser erkennen lassen. Versäumen Sie nicht, mich vor Ihrer Abreise zu besuchen. Sie werden auch dort Erstaunliches sehen. Ein geradezu genialer Gedanke dieses Kollegen Voorthuizen läßt hier ein Instrument erstehen, von dem sich die Astronomen früherer Zeiten nichts träumen ließen, und der vor einigen Jahren noch von unseren ersten Optikern verlacht wurde. Und nun leben Sie wohl!«

»Noch einmal meinen Dank, Herr Ben-Haffa, für Ihr Verständnis und für Ihr mir günstiges Urteil. Ich werde kommen und Ihr Werk bewundern, noch einmal die Welt, der ich zustrebe, mit dem mächtigsten Teleskop aus der Ferne betrachten!«

»Sie sind herzlich willkommen!«

Man trennte sich.

Johannes Baumgart schritt an der Seite seiner Begleiterin durch die wundervollen Baumalleen und 212 Blumenbosketts des weiten Parkes, den Freunden nach, mit denen man ein gemeinsames Diner im Hafenhotel verabredet hatte. Es war eine tiefe Stille ringsum. Die Sonne schien etwas verschleiert, aber es war drückend schwül, und von einem kurzen, leichten Regen tropften noch die tiefhängenden Zweige. Ein betäubender Duft lag schwer unter dem Blätterdach; er umschmeichelte und schläferte ein. Dem Deutschen legte er sich schwer um Hirn und Glieder, denn er war des Klimas nicht gewohnt. – Seine schöne Begleiterin schwieg, aber er fühlte ihre rassige und verwirrende Weiblichkeit inmitten dieses Meeres von Düften mit einem Male zwingend stark, und das leise Rauschen ihres Gewandes zwang sich in sein Ohr und wurde zu einem seltsamen Rhythmus. Er nahm den leichten, weichen Hut ab und strich über seine Stirn.

Eine kleine Schnecke trug sich und ihr kleines Haus über den Weg. Fast hätte sie sein Fuß zertreten. Er bückte sich, hob das Tierchen auf und setzte es vorsorglich ins Gras zu seiner Linken.

Chadija hatte den kleinen Vorgang mit Interesse bemerkt. Er ließ sie einen tiefen Blick tun in das Wesen dieses Mannes. Allerlei Gedanken durchzogen ihr Gehirn. Sie hatte bemerkt, daß er ein paarmal einen Ansatz machte, stehen zu bleiben, ihr zu danken für ihre Fürsprache in der Sitzung, und doch jedesmal mit einer verlegenen Scheu lebhafter weiterschritt, um möglichst bald die vorausgehenden Freunde einzuholen. – So offen lag dieses Mannes Fühlen zutage für die feine Menschenkennerin, daß sie in seinem Herzen wie in einem Buche las und die Reinheit und fast kindliche 213 Verwirrtheit um so stärker empfand, als sie ihr, der viel gefeierten Schönheit, kaum bisher begegnet. –

Endlich brach sie selbst das Schweigen:

»Es wird nun für Sie eine arbeitsreiche Zeit beginnen, und Sie werden wenig Muße haben, Herr Baumgart!«

Er schrak aus seinem Sinnen auf. »Ja, ja – und ich freue mich dessen. Ein langer Druck ist von mir genommen. Das Ziel liegt vor mir!«

Nach einer kleinen Weile fühlte sie plötzlich, wie er in einem raschen Entschluß ihre Hand ergriff. Fast stoßhaft klangen seine Sätze, als er ihr herzlich dankte für ihre guten Worte im Parlament.

Chadija Effrem blieb stehen. Sie drückte leicht die schmale Hand des gelehrten Kindes an ihrer Seite. Dann versank sie plötzlich in Nachdenken und sah zu Boden.

»Und doch sind mir jetzt Zweifel gekommen, ob ich zu Ihrem Glücke sprach! Es könnte der Tag kommen, an dem ich es bereue!«

Er sah fragend in ihr Gesicht und verstand nicht den Sinn der Worte.

»Sie sehen mich fragend an. Ich erscheine Ihnen unklar und zwiespältig?! – – – Vielleicht erkläre ich es Ihnen ein andermal. Werde ich Sie wiedersehen vor Ihrer Reise? Ein Wiedersehen und ein Abschied . . ., vor einer Fahrt ins Unbekannte . . . Sie wollen nach Kairo kommen. In kaum einer halben Stunde trägt Sie die elektrische Bahn von dort zu meinem Heim. Weit außen vor der Stadt, im Hain von Zadphe, liegt mein und meiner alten Mutter Haus, tief eingesponnen und still. Hier verweile ich das ganze Jahr und züchte in dem alten Garten meine Blumen. Sie werden eine 214 andre Chadija kennenlernen, keine Staatsrätin! – – Werden Sie kommen?«

Johannes Baumgart blickte zu Boden. Dann sagte er leise: »Ich werde kommen!«

Da ergriff Chadija Effrem-Latour die Hand des Deutschen und drückte sie leicht.

»Und ich werde Sie erwarten!«

»Hallo!!« rief plötzlich eine kräftige Stimme vorn am Ende des grünen Laubganges. Es war Standerton-Quil. »Wir glaubten, die Herrschaften hätten sich verlaufen!«

Da schritten die beiden kräftig aus. An der Biegung des Weges glitzerte das Meer und stieg massig das Hotel am Hafen mit seinen langen spiegelnden Fensterreihen auf. Man war am Ziel.

Sir Archibald Plug, der heute aufgekratzt war wie nie, erinnerte sich nicht, die schöne Chadija je so still und ernst gesehen zu haben, wie an diesem Tage. All seine kleinen Pfeile prallten diesmal nicht klingend vom Schilde humorvoller Ironie ab, sondern fielen matt zur Erde. Brummend versenkte sich der alte Seemann um so tiefer im Wein.

»Der Deubel weiß, wie lange man ihn noch schmecken wird!« 215

 


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