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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Die Kapelle des Hasses

An einem düsteren Oktobernachmittag kämpfte eine einsame Gestalt gegen den heftigen Sturm an, der über die nördlich von Kromlaix sich erstreckende große Ebene fegte. Der Regen ergoß sich in Strömen und dichter Nebel erfüllte die Luft, so daß man keine zehn Schritte weit sehen konnte. Dem alten Manne peitschten Wind und Regen ins Gesicht und er konnte nur langsam weiterschreiten. Ja, oft ging ihm der Atem ganz aus, so daß er auf allen vieren kriechen mußte. Er war ganz dünn gekleidet und trug einen Rucksack auf dem Rücken. Der Sturm tobte immer heftiger und das Gehen wurde ihm mit jeder Minute sauerer; bald schien es, als ob er durch Wolken schwebe, so sehr hatte sich der Nebel verdichtet. Plötzlich blieb er erschrocken stehen, denn tosendes Meeresgebrüll schlug an sein Ohr; da erblickte er gerade vor sich die Umrisse eines Gebäudes. Bemüht, ein Obdach zu finden, beschleunigte er seine Schritte und stand bald unter dem Thor einer verfallenen Kapelle, über dem die Inschrift stand: » Notre Dame de la Haine«, zu deutsch »Unsere Frau vom Hasse.«

Ein seltsames Lächeln umspielte die Lippen des einsamen Wanderers, während er eintrat. Gleich beim Eingang lag ein Steinblock, der zum Ausruhen einlud. Von hier konnte man das Innere der Kapelle übersehen und war vollkommen vor dem Sturm geschützt. Diese anscheinend verfallene Kapelle war nicht ganz so verlassen, wie man glauben konnte. In Stunden der Pein und Leidenschaft kamen Männer und Frauen hierher, um ihre Feinde der Rache der »Lieben Frau vom Hasse« zu empfehlen. Jungfrauen, die von ihrem Liebsten verlassen wurden, betrogene Ehemänner und Ehefrauen flehten zu der Schutzpatronin des Kirchleins um Rache. Die christliche Erleuchtung leuchtet so hell und tief in die Seelen der Menschen, daß diese der Mutter Gottes die Namen aller ihrer eigenen Leidenschaften verleihen und an die göttliche Macht der »Lieben Frau vom Hasse« ebenso fest glauben, wie an die der »Lieben Frau von der Liebe.«

Das Innere der Kapelle machte einen düsteren, unheimlichen Eindruck; ein Teil des Daches fehlte und der Regen platschte erbarmungslos auf das Steinbildnis »Unserer lieben Frau«, welches auf einem niedrigen Sockel stand, an einer Stelle, wo sich früher ein Altar erhoben haben mochte. Es war nichts weniger als ein Kunstwerk, aber der Volksmund schrieb dem arg verstümmelten Torso doch noch göttliche Macht zu. Rund um den Sockel lagen milde Gaben: gewöhnliche Rosenkränze, Blumensträuße aus Wachs, allerlei bunte Lappen und auch Schmuckgegenstände. Der einst gepflasterte Fußboden der Kapelle wies nur noch wenige Quadersteine auf, Gras und Nesseln wucherten hier wild und streiften die Füße der Madonna.

Der alte Mann sah sich seufzend in dem düstern Raume um, nahm dann seinen Rucksack von der Schulter, öffnete ihn und packte ein Stück Schwarzbrot aus. Er hatte kaum zu essen begonnen, als er durch den Laut einer menschlichen Stimme aufgeschreckt wurde, die aus dem Innern der Kapelle zu dringen schien. Er versuchte das Dunkel zu durchdringen, vermochte jedoch keine menschliche Gestalt zu unterscheiden; als sich aber der Laut wiederholte, stand er auf, schritt auf den Altar zu und entdeckte vor dem Bildnis die flach hingestreckte Gestalt eines Mannes mit dem Gesicht nach unten. Er mußte entweder schlafen oder in Ohnmacht gefallen sein. Tiefes Stöhnen entrang sich seiner Brust, sein abgezehrter Körper war notdürftig mit Fetzen bekleidet, lange wirre Locken, aus denen das Wasser rieselte, hingen ihm über die Schultern herab. Er zitterte vor Kälte, denn er war vom Regen ganz durchnäßt. Der alte Mann neigte sich besorgt über ihn, aber er rührte sich nicht. Erst als er ihn sanft ansprach, sprang er auf und blickte wild und mit blutunterlaufenen Augen um sich. Es war ein herzzerreißender Anblick, diesen verwilderten und verängstigten jungen Riesen zu sehen, in dessen Augen der Wahnsinn lauerte.

»Rohan! Rohan Gwenfern, du hier?« flüsterte Meister Arfoll entsetzt, denn er war es.

Rohans Arme, die wie zur Abwehr ausgestreckt waren, fielen schlaff an die Seite hinab, während er seinen alten Gönner mit wild rollenden Augen anglotzte. Erst allmählich wich der raubtierartige Ausdruck aus seinen Mienen und machte einem träumerischen Platz.

»Sie sind's, Meister Arfoll?« kam es schluchzend aus seiner Kehle.

Der Wanderlehrer streckte ihm beide Hände entgegen und blickte dem Gehetzten zärtlich ins Gesicht. Eine Weile brachten beide kein Wort hervor, die Aufregung schnürte ihnen die Kehle zu. Endlich rief der Alte erschüttert: »Mein Sohn, du lebst! Gott sei Dank, du lebst! Drüben in Traonili ging die Kunde, du seist tot! Aber ich konnte es nicht glauben. Gott sei Dank, du lebst! Er muß meine Schritte hierher gelenkt haben! Ich suchte vor dem Sturm Schutz; das hier ist ein böser Ort und die ihn aufsuchen, haben böse Herzen! Was thatest du hier, mein Sohn? Beten? Zu unserer Frau vom Hasse?!«

»Ja,« entgegnete Rohan mit scheu zu Boden gesenkten Blicken.

»Ah, mein Sohn, deine Feinde waren grausam gegen dich. Möge Gott sich deiner erbarmen, mein armer Rohan!«

»Ich flehe nicht zu Gott, sondern nur zu ihr!« rief er mit hohler Stimme und zornflammenden Blicken. »Niemand kann mir helfen, wenn sie es nicht kann. Ich habe schon oft hier gebetet und wilde Flüche auf das Haupt des Kaisers herabbeschworen!« Plötzlich wandte er sich mit ausgebreiteten Armen dem Altar zu und rief: »Mutter Gottes, erhöre mich! Mutter des Hasses, erfülle mein Flehen binnen einem Jahre! In einem Jahre! Du hast es mir versprochen!«

Sein totenblasses Gesicht war von Leidenschaft verzerrt; er wollte sich in seiner Verzückung wieder auf den feuchten, kalten Boden vor dem Bildnis der Madonna niederwerfen, aber Meister Arfoll hinderte ihn sanft daran: »Komm, mein Sohn, wir wollen lieber ein wenig miteinander plaudern. Ich habe dir Neuigkeiten zu erzählen. In meinem Rucksack ist Brot, Käse und etwas Rotwein, wir wollen, wie in den guten alten Zeiten, zusammen essen und trinken und dabei erzähle ich dir alles, was ich draußen in der Welt gehört habe.«

Die sanfte Art des Lehrers wirkte beruhigend auf Rohan; er folgte ihm wie ein Lämmchen zu dem Steinsitz neben dem Eingang. Hier nahmen die beiden vom Schicksal schwer geprüften Männer Seite an Seite Platz. Die Kapelle war jetzt ganz finster geworden; der Regen hatte aufgehört, aber der Sturm wütete noch immer mit aller Heftigkeit. Meister Arfoll packte seine Vorräte aus und nötigte den der Nahrung bedürftigen Gast, wacker zuzusprechen; dann reichte er ihm die Feldflasche, die eine brave Landwirtin am Morgen mit kräftigem Rotwein gefüllt hatte. Rohan that einen guten Schluck, das Blut kehrte allmählich in seine Wangen zurück, der raubtierähnliche Ausdruck verschwand aus seinen Zügen und er beantwortete alle Fragen, die Arfoll bezüglich seiner letzten Erlebnisse stellte.

Nach jener furchtbaren Scene in der Hütte seiner Mutter hatte er mehrere Tage in der von den Menschen gemiedenen Moorebene verbracht, um schließlich in die Grotte des heiligen Gildas zurückzukehren.

»Jetzt mögen die Häscher kommen, sie werden mich nie finden! Ach, Meister Arfoll, nachdem ich den alten Pipriac umgebracht hatte, konnte ich es im ›Trou‹ nicht aushalten! Ich sah den armen Alten immer vor mir mit blutender Wunde, die starren Augen vorwurfsvoll auf mich gerichtet. Glauben Sie nur, es ist furchtbar, Blut zu vergießen! Pipriac war im Grunde ein guter Mensch und der beste Freund meines Vaters. Heilige Mutter Gottes, eines solchen Todes zu sterben! Ich muß immer daran denken; mein Gewissen läßt mich weder bei Tag noch bei Nacht ruhen. Vergebens sage ich mir, daß ich das nicht gewollt und nur aus Notwehr mich verteidigt habe!«

Seine Zähne klapperten wie im Fieber. Arfoll streichelte zärtlich die abgemagerten Hände und sprach ihm Trost zu. Allmählich beruhigte er sich denn auch und fuhr fort: »Eines Nachts, als der Sturm wieder furchtbar wütete und Pipriacs Gestalt nicht von mir weichen wollte, hielt ich es nicht länger aus, zündete meinen Kienspan an und begann, die Schritte zählend, den Raum zu durchmessen. So gelangte ich in die entfernteste Ecke der riesigen Höhle und entdeckte ein finsteres Loch, durch das ein Mensch bequem zu schlüpfen vermag. Ich kroch auf allen vieren hinein und fand nach einigen Schritten eine zweite, nicht minder große Grotte als die, in der ich schon so lange lebte. Aber das war noch nicht alles. Ich entdeckte auch noch, daß die Klippen wie eine Riesenhonigscheibe durchhöhlt seien, denn ich fand rechts und links Hohlwege, die direkt ins Erdinnere führten – –«

»Genau so wie in La Vilaine drüben,« unterbrach ihn Meister Arfoll. »Die Eingänge sind bekannt, aber kein Mensch hat es bisher gewagt, die Höhlen zu durchforschen, aus Furcht, daß es dort spuke. Es heißt, daß die alten Römer sie angelegt haben; aber wer kann das heute mit Bestimmtheit behaupten?«

Rohan schwieg, er schien wieder in eine Art Erstarrung verfallen zu sein. Endlich blickte er auf, zeigte auf das Kapellenfenster und sagte ruhig: »Der Regen scheint aufgehört zu haben, der Mond ist aufgegangen.«

Meister Arfoll nickte zustimmend und fragte mitleidig: »Was gedenkst du jetzt weiter zu thun, mein Sohn? Ach, daß ich dir helfen könnte, aber ich bin so schwach und arm! Hast du keinen anderen Freund?«

»Ja, einen – Jan Goron; ohne seine Hilfe wäre ich gestorben.«

»Gott segne ihn!«

»Seit dem Tode Pipriacs hat er bereits dreimal Nahrungsmittel unter dem Dolmen auf der Festwiese versteckt. Meine Mutter bereitet mir Fackeln aus Talg und Pech, damit ich in der Dunkelheit nicht den Verstand verliere und Jan versteckt sie unter dem Dolmen, wo ich mir die Dinge nächtlicherweile hole.«

»Gott hat dir, mein Sohn, viel Mut und Kraft verliehen; ein anderer Mensch wäre unter all den Leiden und Qualen längst zusammengebrochen. Sei auch weiter mutig, mein armer Rohan – hoffe auf die Zukunft; die Zeiten ändern sich! Weißt du, daß vor Leipzig eine große Schlacht stattgefunden hat und unser Kaiser geschlagen wurde?«

Das Wort »Kaiser« genügte, um Rohans wilden Zorn wieder zu entfachen. Er sprang auf und streckte die Arme sehnsüchtig zur »Mutter des Hasses« aus, während Arfoll in seinen Mitteilungen fortfuhr: »Man berichtet gar seltsame Dinge. Viele behaupten, Napoleon sei in Deutschland gefangen, andere wieder, er habe einen Selbstmordversuch gemacht. Das eine ist sicher, er hat eine Niederlage erlitten wie noch keine zuvor und seine Armee ist in voller Flucht begriffen. Die Welt hat sich endlich gegen ihn erhoben!«

Eine Stunde später standen die beiden Männer vor der Kapellenthüre: »Ich werde deinen Onkel Derval besuchen und deine Base Marcelle sehen. Soll ich ihr eine Botschaft von dir ausrichten?«

»Sag' ihr, mein Vater, sie möge meine arme Mutter, die sonst niemand auf der Welt hat, trösten,« entgegnete Rohan mit zitternder Stimme. Dann umarmten sich die beiden und Meister Arfoll schlug den Weg ins Dorf ein. Rohan stand noch eine Weile in dem Schatten der Ruine und blickte seinem einzigen Gönner gedankenvoll nach, bis er in der Finsternis verschwunden war; dann floh auch er von dem verrufenen Orte, wie ein guter Mensch vor Bösem flieht.


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