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VII.

In Gerdas Zimmer war ein Kanarienvogel, den die vorigen Mieter zurückgelassen hatten. Er saß zusammengekauert auf seiner Stange und träumte von der Zeit, als noch Futter im Napf und Wasser im Bassin gewesen war und jemand seinem Gesang zugehört hatte.

Als er wieder Menschenaugen auf sich fühlte und eine weiße Hand sah. die er nicht kannte, flüchtete er an die Drahtwand und hing dort, die Flügel mit seinen letzten Kräften schlagend.

»Wie kann man so'n armes Viech allein lassen!« sagte die Wirtin, »wenn ich nicht so an Kopfschmerzen litte, hätte ich es zu mir genommen.«

»Wenn wir nicht gekommen wären!« dachte Gerda und schloß den Vogel gleich in ihr Herz.

Trotz ihrer Müdigkeit ließ sie sich keine Ruhe, bevor der Vogel Wasser und Futter bekommen hatte. Er sah sie scheu mit geöffnetem Schnabel an, als ob er sagen wollte: es nützt nichts, es ist zu spät.

Sie setzte sich und betrachtete ihn und dachte bei sich: wie einsam und verlassen er ist.

»Sei nicht traurig.« sagte sie, »merkst du nicht, daß jemand dich mit guten Augen ansieht, wie er dort drinnen mich ansah? Es wird noch alles gut werden!«

Dabei seufzte sie. Im selben Augenblick hüpfte der Vogel auf die Stange, von der Stange zu dem Trinkgefäß und begann daran zu nippen.

Sie mußte lächeln; es war, als ob plötzlich von der grauen Mauer auf der anderen Seite Licht hereinfiele.

Sie blickte sich in dem kleinen Zimmer mit den einfachen, altmodischen Möbeln um, und fand es plötzlich behaglich.

Im Nebenzimmer hörte sie ihn auf und ab gehen. Sie klopfte bei ihm an und erzählte von ihrem Zimmergefährten.

Sie standen nebeneinander und sahen dem Kanarienvogel zu; er aß und trank und putzte sich, während er sie anblinzelte und versuchte, ob er seine Stimme nicht verloren habe. Und jeder dachte bei sich – ebenso wie der Kanarienvogel: ich bin doch nicht ganz verlassen.

Sie wurden hungrig, als sie ihn essen sahen; und Gerda ging hinaus und nahm die Küche in Besitz.

Endlich merkte er, daß er eine ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Die köstlichste Müdigkeit überwältigte ihn, – es war wie eine Ohnmacht: er taumelte aufs Bett und schlief gleich ein.

Als sie hereinkam, um ihn zu fragen, was er essen wollte, blieb sie stehen und betrachtete ihn.

Es war ein altes Gesicht, mit vielen Falten auf der Stirn und um die Augen; aber es hatte einen friedlichen Ausdruck, der Mund hinter dem Bart schien zu lächeln. Sie schlich sich hinaus, um auf eigene Faust einzukaufen.

»Ich weiß nicht einmal wie er heißt,« dachte sie. Es war ein Märchen.


Ich muß Sankt Peter helfen, dachte Johan Lind und machte sich auf den Weg.

Es war ein stiller, grauer Morgen. Er ging denselben Weg, den er in jener Nacht gegangen war, erst allein und dann mit ihr.

Als er die Schienen passierte, sah er die Lindenallee hinab – die Perspektive, die er so sehr liebte. Er kannte jeden einzigen von den jungen Bäumen, die dort in ihrer Nacktheit froren. Sie hatten ihre letzten Lumpen hergeben müssen. Ein Mann fegte all das zusammen, was einst ihr Staat gewesen war.

Dort hinter der grünen Pforte wohnte ich einst, dachte er. Er sah den Schreibtisch mit den weißen Blättern – das weiße Viereck der Tür und die Kartons an den Wänden und über dem Sofa, – sein Lebenswerk aus den grauen Blättern.

Dort saß ich mit leeren Händen und starrte in die Vergangenheit. Jetzt habe ich die Hände voll, vielleicht mehr, als ich tragen kann.

Werde ich von einer Hand geführt? Brauche ich mich nur umzuwenden, den Weg zurückzublicken und zu sagen: Darum also wurde ich so geführt!

Heute hat sie meinen Brief bekommen, denkt er. Denn er hat seiner Wirtin in der Villa geschrieben, daß er fortgereist sei, daß sie ihn vorläufig nicht zu erwarten brauche und daß alles bis zu seiner Rückkehr in seinem Zimmer unberührt stehen bleiben solle, – in dem Zimmer, das ihm an Stelle eines Heims diente, dachte er, bis er in der Dunkelheit erwachte und dorthin entsandt wurde, wo man seiner bedurfte.


Sankt Peter stand über seine Kartoffeln gebeugt, als Johan Lind kam. Neben ihm, zwischen dem welken Kraut, lag ein Sack, in den er die Knollen warf, die er aus der lockeren Erde sammelte.

Als er Schritte hörte, sah er auf, – er mußte sich in die Seiten stützen, als er sich aufrichtete.

Johan Lind erkannte die schweren Augen wieder, die Narbe auf der zeitig gefurchten Stirn und die Haarsträhne unter der Dienstmütze.

Johan Lind streckt ihm seine Hand entgegen, als ob er sagen wollte:

»Ich meinte es ja nur gut mit dir.«

Die schweren Augen ruhen fest und bleich auf ihm, während der Mann in der grauen, lockeren Erde wie festgewachsen steht.

»Hättest du dich um deine eigenen Sachen gekümmert, wäre es nicht geschehen.« sagen die Augen. »Du hast mich ins Unglück gebracht.«

Johan Lind geht noch einen Schritt auf ihn zu, und seine Augen antworten:

»Wir sind beide von derselben Hand berührt worden. Wenn ich Schuld habe, bin ich bereit, sie auf mich zu nehmen.«

Die Augen des andern fragen wieder.

»Was willst du hier?«

Und Johan Linds Augen antworten:

»Ich will dir helfen. Du weißt, daß meine eigenen Angelegenheiten mir nicht genug sind.«

Er streckt seine Hand aus. Der Mann blickt sie an, als wundere er sich; darauf wischt er die Erde an seinem Jackenärmel ab, er läßt sich Zeit, als sei es eine Sache, die große Aufmerksamkeit erfordere. Schließlich blickt er auf und reicht Johan Lind zögernd die Hand, die den Fehlgriff tat.

Als ob die Hand sich selbst angeklagt hätte, sagt Johan Lind, indem er sie an sich zieht:

»Bedenken Sie, es ist ja niemand zu Schaden gekommen.« Der Mann steht eine Weile zögernd. Sein Auge sieht mit einem langen Blick über die Schienen und ein Stück in das hinein, was er nicht in Worte fassen kann. Er gibt es auf, seinen Gedankengang zu Ende zu denken und geht gebeugten Hauptes auf das Haus zu.

Jetzt erst sieht Johan Lind, daß ein kleiner Knabe hinter Sankt Peter steht und zu ihm aufblickt. Er hat das bleiche Haar und die bleichen Augen seines Vaters; die kleine, magere Hand, die von Erde schmutzig ist, hat noch nicht fehlgegriffen, und keiner hat zu ihm von Verantwortung und Abrechnung gesprochen; trotzdem scheint auch er in etwas hineinzublicken, was er nicht zu bewältigen vermag.

Dieser Kinderblick trifft Johan Lind bis ins Innerste. Er legt seine Hand auf den entblößten Kopf und legt in seinem Herzen ein Gelübde ab.

»Ist das der Aelteste?« fragt er.

»Ja,« nickt der Weichensteller, die Hand bereits am Türgriff.

Der Mann, der sein Unglück verursachte, ist für ihn kein Fremder mehr, er bittet ihn nicht einzutreten, aber es versteht sich von selbst, daß er das Heim sehen muß, das durch ihn betroffen wurde.

Die Luft im Zimmer ist nicht gut, sie benimmt Johan Lind den Atem.

Durch die niedrigen Fenster fällt ein seltsam gebrochenes Licht. Das Zimmer ist voll von Kindern, die alle die Augen des Vaters haben. Sie starren den Fremden an, als ob sie fragen wollten: warum begnügtest du dich nicht mit deinen eigenen Angelegenheiten?

Ein kleines buckliges Mädchen mit spitzer Nase steht neben dem Bett und hält einen kleinen Burschen mit großem Kopf und nackten Beinen, der strampelt, um auf die Erde zu kommen. Sie ist das älteste von den Mädchen und heißt Emmeline.

Vom Fußboden, vom Lehnstuhl, von der Sofaecke, wohin er blickt, sind Augen auf ihn gerichtet. Sogar das verblichene Bild des alten Königs, der an der Wand über der Kommode hängt, neben seiner Gemahlin, unter einer Krone und der goldenen Hochzeitsgirlande, weist auf ihn mit einem strengen Blick: warum genügten dir deine eigenen Angelegenheiten nicht?

Das Bett knackt. Ein Kopf mit einem farblosen Zopf, der an dem mageren Hals herabhängt, richtet sich auf ihn.

Es ist die Frau des Weichenstellers. Der Tod hat seine Hand auf sie gelegt. Die Augen, die sich in den großen, dunklen Höhlen langsam drehen, sind klar und brennen von dem Kampf, der in ihrem Körper vor sich geht.

Das Leben sprudelt nicht mehr, sondern brodelt nur noch versagend über den Rand des Gefäßes.

Aber sieh, unter ihrer gelblichen Hand, unter dem Ring, der sie und ihn zusammenband, – er hängt lose an ihrem mageren Finger – unter der Hand, die einst hart und lebendig war, sprudelt eine neue Quelle hervor, – ein kleiner, kahler Kopf, rot und runzlig, ein Mündchen, das eine Rinne gefunden hat und jetzt auf die Mutterquelle zustrebt, die ihre Kraft verloren hat und ausebbt.

Ein kleines, sprudelndes Leben in dem schlaffen Arm des Todes.

Wieder die Majestät des Todes. –

Hat er sich in seinem Schatten eingenistet und zu einem bösen Wahrzeichen auf der Landstraße des Lebens gemacht?

Muß er den Menschen zurufen: Geht in einem großen Bogen um mich herum, denn ich bringe euch Unglück. Ich sehe die Kehrseite von allen Dingen, und der Tod ist mein Schatten!

Er betrachtet sie, wie sie dort in dem großen Ehebett liegt. Ihre Augen leuchten von einer Liebe, die nicht an sich denkt, die sie aufrecht hält, während sie für die vielen jungen Leben kämpft, die aus ihrem Herzen rannen, und für ihren Mann, mit den schweren Augen und der Narbe auf der Stirn. Sie darf nicht sterben, denn sie bedürfen ihrer jetzt mehr als je.

Aber sie hat keine Kraft mehr. Der Glanz in den großen Augen ist der des Todes, sie blicken bereits über die Grenze.

Die Frau durfte nur den Sieben Leben geben, als das Achte hervorsprudelte, hatte sie keine Lebenskraft mehr; und in derselben heiligen Stunde wurden sie vom Schicksal betroffen, das alle Lebenshoffnung zunichte machte.

Wenn die Hoffnung wiederkehrt, werden auch ihre Kräfte wiederkehren.

Johan Lind tritt an das Bett und legt seine Hand über die Hand, die das neue Leben so gern schützen möchte.

»Halten Sie aus, Mütterchen, und Sie und die Ihren sollen es so gut haben wie noch nie. Das verspreche ich Ihnen.«

Sein Blick fällt auf Sankt Peter, der ihm gefolgt ist und, mit dem Rücken gegen die Kommode, gerade unter dem Königsbild steht.

Die schweren Augen sagen: Mit Geld ist hier nichts zu machen. Ich muß mich vor denen verantworten, die ich in meiner Hand hielt und die tot wären, wenn nicht ein anderer die Notbremse gezogen hätte.

Johan Lind versteht die Rede der Augen, sein Blick fällt auf die Hand, die den Fehlgriff tat und die jetzt schwarz von Kartoffelerde ist.

Mein Gott, alle sind gerettet worden, nur für ihn gibt es keine Barmherzigkeit. Im selben Augenblick fällt Johan Lind die Passagierliste des Journalisten ein: er greift danach wie nach einer Notbremse.

»Ich werde von Mann zu Mann gehen und Zeugenaussagen verschaffen, daß keiner Ihnen mißtraut.«

Der Weichensteller senkt den Blick auf seine schuldbeladene Hand und flüstert vor sich hin. als ob er wieder vor dem Richterstuhl stände:

»Ich habe die Weiche wie sonst gestellt.«

Als Johan Linds Blick von neuem auf die Kranke fällt, erschrickt er. –

Auf der gelbbleichen Wange ist eine Morgenröte entzündet; sie lächelt wie eine Braut, während sie zuhört.

Sie war so müde vom Kampf. Aber jetzt wird alles wieder gut werden. Der Mann, der mit seinen eigenen Angelegenheiten nicht genug hatte, hat es gesagt.

Jetzt wagt sie dem großen Versucher zu lauschen. Jetzt wagt sie, dem lockenden Tode untreu zu sein.

Jetzt darf sie an sich selbst denken – darf mit ihren eigenen Angelegenheiten genug haben. Sie war so müde, – jetzt endlich darf sie sterben.

Alle sehen das Lächeln in Mutters Augen; die Stube wird ganz hell. Das große Mädchen mit der spitzen Nase und dem zappelnden Kinde lächelt wieder, so daß sie das Kind vergißt und es neben die Mutter legt. Sogar der Knirps im Lehnstuhl, der mit ernster Miene mit einem alten Lineal die Weiche stellt, selbst er wird von seiner Beschäftigung abgelenkt: er dreht sich zu dem Licht um – und dabei wird vielleicht auch seine Hand fehlgreifen und der Zug über die Lehne des Stuhles ins Verderben stürzen.

Sankt Peter richtet seine schweren Augen auf das Licht, er wagt es fast nicht zu glauben. Alle sehen es, aber niemand versteht den Sinn, – nur der Fremde, dem sein eigenes Leben nicht genügt. Er erschrickt und senkt den Kopf.

Es haftet Unglück an mir, denkt er und geht hinaus. Ich will das Gute und es verkehrt sich immer ins Gegenteil.

Als Johan Lind über die Schienen und ein Stück die Landstraße gegangen war, begegnete ihm Journalist Jensen; er kannte ihn vom Verhör her.

Jensen erkannte auch ihn und grüßte ihn still und höflich: Sieh, ich beuge mich vor dir, nun schuldest du mir etwas für meine Demut.

Johan Lind blieb stehen und gab ihm die Hand, während er bei sich dachte: Wie selbstverständlich, daß wir uns begegnen, denn er hat dasselbe Ziel wie ich, er will den Schwachen Gutes tun.

Im selben Augenblick fiel ihm ein, daß Jensen wie gerufen kam. So lag auch in diesem eine Absicht.

Jensen sah, wie das ernste Gesicht aufleuchtete und erfreute sich daran. Alle kamen ihm lächelnd entgegen. Sogar dieser wunderliche Mensch mit seiner Verantwortung und seiner Abrechnung, der unverschuldet mehr zu tragen bekommen hatte, als seine Schultern tragen zu können schienen, – sogar er richtete sich bei seinem Anblick wie befreit auf.

Und er ist Rentier, dachte Jensen, – vielleicht steckt er Geld in mein Geschäft. Denn es ist Jensens heimliches Ziel, eine eigene Zeitung zu gründen, sich langsam von der Provinz in die Hauptstadt zu drängen, Einfluß und Bedeutung zu gewinnen und Avnsöe den Platz streitig zu machen. Von der Hauptstadt in den Reichstag, – aber langsam, ganz langsam, damit keiner merkt, wie er steigt und ihn verdrängt.

»Sagen Sie mal, Herr Jensen, haben Sie nicht eine Nummer von der Zeitung bei sich, worin die Liste steht?«

»Allerdings,« sagt Jensen und zieht eine schmutzige Nummer aus der Tasche.

Als er Johan Lind die Zeitung reicht, sieht er, wie die ernsten Augen aufleuchten. Religiöse Gefühle steigen in ihm auf und er legt mit christlicher Nächstenliebe seine Hand auf den verstaubten Aermel des Rentiers.

»Behalten Sie die Zeitung, Herr Lind, ich habe mehr zu Hause. Und wenn ich Ihnen sonst mit etwas dienen kann, stehe ich zur Verfügung. Wir Menschen sind in die Welt gesetzt, um einander zu helfen, nicht wahr?«

Das waren die richtigen Worte. O, Jensen verstand sich auf eine Situation! Darauf war er stolz. Eine Eigenschaft, die in seinem Fach Geld wert war.

»Von dieser Liste habe ich viel Freude gehabt,« begann er redselig, »viele haben mich gleich nach dem Unglückstage angerufen –«

Jensen seufzt und verzieht die Lippen, wie immer, wenn er von dem Unglückstage spricht; er versäumt nie, ihn den Unglückstag zu nennen, obgleich es sein Glückstag geworden war.

»Noch gestern telephonierte ein junger Mann bei mir an und wollte die Adresse seiner Braut wissen, er hoffte, daß er sie durch mich finden könnte.«

Das war er! durchzuckte es Johan Lind. Und Jensen sah das seltsame Aufblitzen in den ernsten Augen.

»Wie hieß er?«

»Ich weiß es nicht, konnte ihm auch nicht helfen, weil die Dame keine Adresse angegeben hatte. War es vielleicht eine Verwandte von Ihnen, Herr Lind?

– Hätte ich doch nur die Adresse notiert!«

»Erinnern Sie sich des Namens der Dame?«

»Lassen Sie mal sehen –«

»Hieß sie Gerda mit Vornamen?«

»Gerda – ja das stimmt – Gerda hieß sie.«

Jensen beobachtete voller Erstaunen, wie die grauen Augen ihn plötzlich zu vergessen schienen. Sie blickten über den Damm, wo die Arbeit wieder im Gange war, wo die Kippkarren auf den Schienen kreischten, umgekippt wurden und ihren gelben Inhalt über den Abhang entleerten. Er sah, wie es in den Runzeln über den Augen zitterte, als ob sie sich gegen einen barschen Wind wehrten; aber es war kein Wind da.

Jensen blickte verstohlen zum Damm hinüber, ob da etwas Besonderes zu sehen sei. aber er konnte nichts bemerken. Als er von neuem das Gesicht des anderen betrachtete, hatte es auch eher einen Ausdruck, als ob er lauschte, – als ob er von einer zarten Musik ergriffen würde, die seine Runzeln erzittern machte.

Er ist nicht ganz richtig im Kopf, dachte Jensen. Da wandte Johan Lind sich zu ihm und sagte langsam und eindringlich, als ob es eine höchst ernsthafte Sache sei:

»Wenn der junge Mann noch einmal bei Ihnen antelephoniert. so sagen Sie ihm bitte, daß er sich an mich wenden soll, Danmarksgade Nr. 27, zweiter Stock.«

»Soll geschehen,« sagte Jensen und zog sein Notizbuch heraus.

Der Rentier diktierte die Adresse zweimal und fragte nachher feierlich:

»Versprechen Sie es mir?«

»Ja, ich verspreche es Ihnen, Herr Lind. Sie können sich fest auf mich verlassen. Und wenn ich Ihnen sonst mit etwas dienen kann –«

»Besten Dank!«

Johan Lind nahm seinen Hut ab und wandte sich zum Gehen. Da fiel ihm ein, daß er dem andern die Hand nicht gegeben hatte, und er wurde verlegen über seine Vergeßlichkeit.

»Entschuldigen Sie, ich bin eilig,« sagte er und drückte ihm die Hand. Dann eilte er mit kleinen, schnellen Schritten davon, so daß seine Rockschöße flogen.

Jensen blieb auf dem öden Wege allein zurück und überlegte.

Dumm, dachte er bei sich, daß ich die Adresse nicht notiert habe. Man soll Namen stets notieren, man weiß nie, wann man sie gebrauchen kann.

Mit dieser Selbstbelehrung gab er sich zufrieden und wanderte weiter.


Also darum, dachte Johan Lind und nickte vor sich hin. Dann blieb er stehen.

Die Absicht war klar: Die beiden, die zusammen gehörten, sollten nicht für immer getrennt bleiben. Wir werden ihn schon finden, hatte er zu Gerda gesagt.

Als aber die Spur sich leuchtend im Sande zeigte, war sie auch schon wieder verschwunden, – von einer Absicht hinweggefegt, die etwas anderes wollte.

Was nützte die Liste, wenn Gerdas Adresse nicht daraufstand.

Doch, einen Zweck hatte sie gehabt: sie hatte das Gewissen dessen geweckt, der sie verlassen, ihm gezeigt, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte.

Er schüttelte den Kopf. Wie kompliziert das alles war! Er hatte es sich wieder und wieder gesagt, konnte aber doch nicht unterlassen, darüber zu grübeln.

Das Getöse in jener Nacht schien einen Spalt in den Vorhang gerissen zu haben, und er konnte es sich nicht versagen, durch diesen Spalt zu blicken, um zu sehen, wie an den Fäden gezogen wurde.

Dunkel war es dort drinnen, und vielleicht gab es weder Fäden noch Ziel, noch jemanden, der an den Fäden zog. Vielleicht war es nur das Spiel des Windes mit Wüstensand.

Nein, nein, sagte er und schaute über den Weg, den er in jener Nacht gegangen war, als die Hand den Ameisenhaufen berührte, – es hat doch alles einen Zusammenhang.

Darauf ging er weiter.

Ich will ihr nichts davon sagen, dachte er, will sie nicht beunruhigen.

Sollte er Jensen noch einmal antelephonieren. oder ihn auffordern, zu annoncieren: Der junge Mann, der mich an diesem oder jenem Tage in dieser oder jener Angelegenheit antelephonierte, wird gebeten, sich noch einmal zu melden, da die erwünschte Auskunft jetzt gegeben werden kann.

Nein, nein. War es nicht schon einmal schief gegangen, als sein eigenes Leben ihm nicht genügte und er sich in die Angelegenheiten anderer mischte?

Vielleicht würde es nicht einmal zu ihrem Glück sein, wenn sie wieder mit ihm vereint würde.

Nichts kann man wissen – nichts.


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