Restif de la Bretonne
Monsieur Nicolas' Abenteuer im Lande der Liebe
Restif de la Bretonne

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7

Hiermit begann für mich eine neue Ordnung der Dinge. Bis dahin hatte ich in der Stadt nur in bürgerlichen Kreisen verkehrt, wo es ähnlich zuging wie bei uns zu Hause. In den Tanzsälen aber traf ich eine andere Welt; dort begegnete ich den Töchtern von Handwerkern, Arbeiterinnen, also denen, die sich einer großen Freiheit erfreuen.

Die Pernon vermittelte mir die Bekanntschaft einer Menge Mädchen, von denen viele sehr hübsch waren, und junger Männer derselben Gesellschaftsklasse. In mir ging nun eine große Veränderung vor. War ich bisher zurückhaltend und bescheiden gewesen, so wurde ich plötzlich kühn, ausschweifend, liederlich (nicht meinen alten ehrenwerten Bekannten gegenüber, sondern im Verkehr mit den neuen). Ich hatte nunmehr zwei Gesellschaftskreise: meinen gewöhnlichen Umgang mit Männern, Frauen und jungen Leuten bei Tage; abends nach dem Abendessen aber den mit Tänzern und Tänzerinnen in den Tanzlokalen. Hier ward mein gewohnter Begleiter Colombat, der Liebhaber der Annette Bourdeaux, der ein sehr anständiger Mensch war. Auch Gaudet ging zuweilen mit, aber sein ungeschicktes Benehmen reizte alle zum Lachen, und dies verdarb ihm den Geschmack am Tanzen, obgleich er gutmütig genug war, keinem den Spaß zu verargen. Im Gegenteil, er lachte selber mit, und man sah ihn gern in den Sälen. Die Mädchen suchten ihn auf, um ihn zu necken, sie scherzten, plauderten und lachten mit ihm, aber er verstand es nicht, Nutzen daraus zu ziehen; er fand nur Geschmack an Dienstmädchen ... Colombat, das Gegenteil von Gaudet, war ein hübscher kleiner Gauner mit Grazie und guten Manieren, wenngleich ihm etwas Provinzlerisches anhaftete. Seine weibische Schönheit würde in Paris allen den Kopf verdreht haben, aber in unserer Provinzstadt machte man sich nicht viel daraus ... Ich hielt die Mitte zwischen Gaudet und Colombat; nach meinem Auftreten schätzte man mich auf fünfundzwanzig Jahre; ich hatte lebhafte Farben, eine Habichtsnase, große Augen, die schön und lebendig wurden, wenn sie vom Vergnügen angeregt waren, und eine Gestalt wie ein Leibgardist. Meine Lippen waren von einem außerordentlichen Rot und zum köstlichsten aller Genüsse wie geschaffen. Sie waren es, denen ich meine schönsten und wollüstigsten Geliebten verdanke, und selten vermochte ein Weib, welches sich an meinem Anblick entzündet hatte, seinen Mund dem meinen zu verwehren.

Madelon sagte eines Tages zu einer ihrer Schwestern (Madelon hat es mir wiedererzählt): »Das ist ein Liebhaber mit gefährlichen Lippen; man muß sie meiden, sonst ist man verloren!« ... Ich traf gewöhnlich im Tanzsaal, in den mich Mme. Pernon führte: Mlles. Leger, zwei Schwestern, von denen die eine sehr hübsch war, Rosalie Maufront, Marianne und Marine Tartre, Salle, die beiden Schwestern Lucot, Laurens, Babet, die hübsche Marianne Gendot, Maine Lebegue, die drei Schwestern Juliens, die fünf Morillons, drei Schwestern und zwei Kusinen; die schöne Colombe mit ihren drei Freundinnen, den Schwestern Aglae, Aimée und Madelon Ferrand; Mlle. Douy, eine Brünette mit dem Teint einer Gallsüchtigen, die beiden erwachsenen Schwestern Lacour, die Schwestern Jouan, die liebenswürdige und schmiegsame Gremmeret, die beiden Schwestern Tangis und ihre Kusine Dorothée, Jeannette Demailly, Manette Herisson und andere, die Kammermädchen der großen Häuser, endlich Tonton Lenclos und die Schwestern Guigner.

Meine männlichen Tanzgenossen waren für gewöhnlich der Faßbinder Piffou, Baras, der Stiefsohn des Zimmermeisters Dalis, ein Vetter von Monsieur Parangon, Leger, der Bruder der Schwestern Jeanneton, Dhall, der Bruder von zwei sehr hübschen Schwestern, Lacour, die Brüder Gremmeret und die anderen Burschen, die sich um die Gunst der Tänzerinnen bemühten und sich allerhand Freiheiten bei ihnen herausnahmen. Die Schwestern Leger, Mlle. Douy und einige andere tanzten ausgezeichnet, ebenso die Schwestern Ferrand, Colombe, die Fräulein Dhall und Marianne Tangis.

Ich machte hier eine Beobachtung: die schöne Douy mit dem Teint einer Gallsüchtigen, die die Geliebte von Baras-Dalis war, erregte Begierden in mir, die bis zur Raserei gingen. Das war nicht Liebe mehr, sondern ein fast unwillkürlicher Priapismus. Sie sah sich gezwungen, vor mir zu fliehen ...

Unsere Tanzunterhaltungen pflegten ziemlich still vor sich zu gehen. Man störte das Tanzen nicht durch Gespräche, wie dies in Paris der Fall ist.

Sechs Monate lang hatte ich Tanzstunden bei meinem Lehrer gehabt. Ich lernte das Menuett, das Passepied, die Bretagne, die alte Allemande, die Matelote, die Sabotiere, den Liebessieger. Das Passepied ist eine geschmacklose Abart des Menuetts, kommt aber in fast allen Operntänzen noch vor. Die Bretagne ist eine Mischung aus Menuett, Rigodon, Battues, Chassées, Entrechats und Passepied, eine Vorstudie der Kontertänze in der Art der Allemande und all der andern Charaktertänze. Die alte Allemande ist plump im Vergleich zur neuen, die man damals noch nicht kannte. Die Matelote und die Sabotiere sind noch im Gebrauch. Der Liebessieger ist ein bunt zusammengewürfelter Tanz, pompös und von akademischer Steifheit, eine Art Pantomime, bei der ein Liebhaber von seiner Angebeteten einen Gunstbeweis erbittet, den er endlich erhält, worauf der Tanz ins Wollüstige und sogar Unanständige ausartet und zum richtigen Negertanz wird.

Meine angeborene Beweglichkeit hatte meinen holländischen Tanzlehrer bewogen, mir diese Tänze beizubringen. Er war froh, einen so gelehrigen Schüler in mir gefunden zu haben ... Ich war der Held des Saales, wo ich meistens tanzte. Wenn ich eintrat, ging eine Bewegung durch die Reihen der Tänzer, und das Mädchen, das von mir aufgefordert wurde, fühlte sich geschmeichelt. Wäre meine Lage eine andere gewesen, so würde ich mir mit meinem Benehmen und mit meiner Geschicklichkeit im Tanzen Herz und Hand einer von den beiden reichsten und hübschesten Fleischerinnen erobert haben.

Meine Freude am Tanz zerstreute mich und lenkte mich von meinen Studien ab, sie entfernte mich häufig vom Hause und ließ mich die Gelegenheit meiden, Colette zu sehen. Ich liebte sie noch immer leidenschaftlich, aber ich hatte Ablenkungen. Das zügellose Treiben, das ich in den Tanzsälen täglich vor Augen hatte, verminderte mein Zartgefühl. Ich sah die unverschämten Freiheiten der andern, ich hörte Hunderte von unzüchtigen Unterhaltungen, ich kam mit Mädchen zusammen, die eigentlich nichts anderes waren als öffentliche Dirnen, so die beiden Schwestern Guigner, Tonton Lenclos, die kleine Bouzon, Greluche Pointd'ame, Goton Chovot und andere. Alle diese Mädchen warfen sich mir viel zu sehr an den Hals, als daß sie mir hätten Eindruck machen können, aber schließlich: meine Sinne waren erregt. Die hübsche Manon Leger war der Inbegriff der Wollust; ich fand sie sehr begehrenswert, aber sie war allzu entgegenkommend, und ich zog mich von ihr zurück ... Wäre ich wirklich leichtfertig gewesen, hätte ich mich unbekümmert mit ihr abgegeben; so schenkte ich meine Zuneigung eine Zeitlang Colombe, nach ihr Ferrand der älteren, der hübschen Dhall und Mlle. Douy. Es waren nur oberflächliche Beziehungen, und diese Mädchen machten keinen tieferen Eindruck auf mich.

In dieser Zeit verwirklichte Gonnet den Vorschlag, den er mir gemacht hatte, und brachte mich mit Marianne Lagneau und Tonton Lenclos zusammen. Marianne war Stubenmädchen bei ihrer Patin und mußte ebenso vorsichtig sein wie ich selbst, weshalb wir unsern Ausflug zu einem abgelegenen Ort machten. Marianne, eine kleine Brünette mit natürlicher Klugheit, wußte nicht, wie liederlich Tonton war, denn sie kannte sie noch nicht näher. Von dem schlechten Ruf ihrer Freundin hatte sie noch nichts vernommen, denn sie wohnte in einem anderen Stadtteil ... Wir veranstalteten eine kleine Schwelgerei, und nachdem wir es uns hatten schmecken lassen, warteten wir den Abend ab, um heimzukehren. Tonton gab sich mehr Mühe als ich selber, mir die Gunst Mariannes zuzuwenden; sie schalt sie, schäkerte mit ihr und neckte sie. »Ich glaube, du spielst die liebe Unschuld?« sagte sie zu ihr. »Mein Herzchen, du wirst es nicht zu bereuen haben; er ist ein hübscher Kerl, der dich nicht blamieren wird ... nein, in keiner Weise ... Nun? ...« Dann sagte sie ihr etwas, das man nicht niederschreiben kann. Marianne war ein wenig erhitzt vom Wein, denn Tonton hatte ihr in den Rotwein statt Wasser weißen Wein gegossen. Es war der 12. März, einer der ersten schönen Frühlingstage und der Geburtstag Madelons. (Diese Erinnerung kam mir erst nachher, und ich vergoß Tränen der Reue und der Scham, daß ich den Geburtstag meiner ersten Gattin nicht gefeiert, sondern im Gegenteil ihn in verbrecherischer Weise entweiht hatte.) Nicht ohne große Schwierigkeiten machte ich Marianne an diesem Abend zu der meinen; angefeuert durch die Freiheiten, die Tonton und Gonnet miteinander trieben, wurde sie bis zum äußersten sinnlich erregt und gab sich mir hin. Einen Augenblick war ich nahe daran gewesen, von ihr abzulassen, denn ihre Tränen rührten mich, aber Tonton gab keine Ruhe, hetzte uns aufeinander und zwang uns geradezu zur Ausschweifung. Sie war eine Teufelin, die es nicht ertragen konnte, wenn jemand seine Unschuld bewahrte ... Gonnet lachte stumpfsinnig zu alledem. Die kleine Brünette versöhnte sich, gänzlich zahm gemacht, wieder mit Tonton, die sie küßte. Die blonde Lenclos war schon so verderbt, daß sie allerhand lüsternen Unfug trieb. Durch verschiedene gewagte Stellungen erregte sie von neuem unsere Begierden. Sie flüsterte mir den Vorschlag ins Ohr, bei ihr die Stelle Gonnets einzunehmen. Ich empfand aber einen solchen Abscheu vor solch wüster Ausschweifung, daß ich ihr vorstellte, sie werde dadurch jede Aussicht verlieren, von Gonnet, einem guten, wenn auch nicht sehr empfindlichen Burschen, geheiratet zu werden. Dieser Einwand leuchtete ihr ein, und sie kehrte zu ihrem Partner zurück, während ich bei Marianne blieb ... Endlich traten wir in völliger Dunkelheit den Heimweg an.

An einem Sonntag, den 26. März, fing ich an, die vierte Szene der Komödie »Phormio« von Terenz zu übersetzen, als sich die Tür öffnete. Es war Madame Parangon!... Mein Herz klopfte heftig. »Was, Sie sind hier? Bei diesem schönen Wetter?«

»Wie Sie sehen, Madame; ich übersetze meinen Terenz.«

»Zeigen Sie her! Ihre Arbeit von heute?«

»Dies hier!«

»Allerdings, die Schrift ist noch frisch!«

Colette war mit bestem Geschmack gekleidet... Sie war anbetungswürdig! ... Das Wetter war herrlich! Niemand würde kommen ...

»Wo ist Tiennette?«

»Sie ist fortgegangen; sie hat mich gebeten, hier unten zu bleiben.«

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, sie spazieren gehen zu lassen, indes...«

»Sie hat mir dadurch keine Mühe gemacht, ich versichere Sie, Madame. Ich hatte die Absicht, zu arbeiten.«

Sie setzte sich an die Seite des Tisches, an der ich saß. Plötzlich stand sie wieder auf: »Mein Gott, mein Garn hängt noch oben, der Staub wird es verderben. Es hängt schon drei Tage da; Tiennette ist recht unbesorgt...«

Sie stieg ins obere Stockwerk hinauf. Ich verschlang sie mit meinen Blicken ... Einen Augenblick später rief sie mich. »Monsieur Nicolas! Wollen Sie mir das Garn reichen?« Ich eilte hinauf. Colette stand schon auf einem Stuhl; ich nahm die Garnpacke und reichte ihr einen nach dem andern ... Sie legte sie in das oberste Fach eines Schrankes. Meine brennenden Blicke betrachteten ihre schlanken Beine, ihre Schuhe aus weißem Atlas mit schmalen hohen Absätzen, die die Zierlichkeit ihrer niedlichen Füße, wie ich sie so köstlich geformt noch nirgends gesehen hatte, noch erhöhten. Jedesmal, wenn sie ein Garnpaket an seinen Platz legte, wandte sie mir den Rücken zu und streckte ein Bein nach hinten aus; ihr Fuß berührte mich; dies wirkte wie glimmender Zunder auf Schießpulver. Alle meine Sinne befanden sich in Aufruhr ... In diesen Augenblicken war ich versucht, sie vom Stuhl herabzureißen, aufs Bett zu werfen und ihr zu sagen: »Sie besitzen ... oder ...« Meine verwegene Hand berührte ihren Rocksaum... Endlich reichte ich ihr das letzte Paket Garn, mit dem sie sich länger zu schaffen machte als mit den andern. Ich benutzte diese Gelegenheit und wagte, ihren Fuß zu berühren, ich wagte den Rock zu küssen, der ihre Reize barg ... Ich war entschlossen, über dieses so lange und heiß begehrte Weib zu siegen oder zu verderben ...

Kaum hatte ich diesen Entschluß gefaßt, als Colette sich herumdrehte, um vom Stuhl zu steigen... Sie stützte sich auf meine Schulter. Ich wandte mich zu ihr. Während die eine meiner Hände angriffslustig war, umschlang die andere ihre Taille. Anfangs erschrak sie kaum... Aber als meine Hand verwegen ihren Rock aufhob und ich sie gegen das Bett hindrängte, wurde sie beunruhigt. »Lassen Sie mich los!« sagte sie.

»Nein!« antwortete ich. Ich fühlte meine Kräfte durch die Berührung meiner Göttin wachsen und sich verhundertfachen ... Ich drückte Colette nieder ... »Oh, mein Gott! . .. Monsieur Nicolas! Monsieur Nicolas! ... Was wollen Sie? Was tun Sie?« sagte sie hastig.

»Sie ... besitzen ... oder ... sterben ... Sie und ich; wir wollen zusammen sterben ...«

»Großer Gott! ... Ach! Sie vergewaltigen mich... Hoffen Sie nicht... Ach! Unglücklicher!... Ich sterbe ...«

Ich weiß nicht mehr, was sie sagte ... aber sie nannte ihren Vater und meine Eltern ... Ich hörte nicht darauf... Ich war ... ein Held ... wahnsinnig in wildester Leidenschaft ... Ich erstickte sie fast in meiner Umarmung, statt sie zu liebkosen... Ich hatte sie so aufs Bett geworfen, daß sie sich in dieser Stellung meines Angriffes nicht erwehren konnte. So sehr sie sich auch bemühte, vermochte sie sich doch in dieser Lage nicht zu rühren ...

Die Liebeswut, die mich ergriffen hatte, unterdrückte jede weiche Zärtlichkeit der Sinne und betätigte sich in gewalttätiger Kraft. Nichts beschleunigte den Ausbruch, der zuweilen die Verwegenheit mißglücken läßt... Sie erschöpfte sich in vergeblichem Widerstande, der mich nicht hindern konnte, sondern nur meine Begierden steigerte und meine Angriffe verdoppelte ... Dann verlegte sie sich aufs Bitten ... Dies war ein neuer Reiz für mich... Die blutigen Reste ihrer Scham, dreimal schon mein Opfer, entflammten mich immer wieder, statt mich zu sättigen ... Da glaubte sie, ich trachte ihr nach dem Leben und wolle, sobald meine Sinnlichkeit befriedigt sei, uns beide umbringen ... Die Frauen fürchten so sehr den Tod, weil sie so äußerst feinfühlig sind ... Nun versuchte sie, mich zu rühren. Ich weiß nicht, was sie sagte, aber ich weiß, daß sie lächelte und mich küßte... Vielleicht irre ich mich auch... Ich hing an ihren Lippen, und mit meinen Küssen verhauchte ich meine Seele...

Colette seufzte und alle ihre Nerven bebten. Wir lagen da wie tot. Ein neuer Seufzer belebte sie wieder ein wenig.

»Ach, mein Freund«, sagte sie, »was haben Sie getan?! Wie wird uns das Gewissen peinigen!«

Ihr Kuß hatte mich gerührt; hätte sie mich gleich zu Anfang geküßt, so würde ich vielleicht nicht über sie triumphiert haben... Ich ließ mich vor Colette auf die Knie gleiten ...

Meine rasende Leidenschaft war nicht geschwächt, aber sie war sanfter geworden. Ich betrachtete mein Opfer, aber nicht mit dem Siegerstolze eines Barbaren, sondern mit einem Gefühl der Anbetung ... Sie lag wie sterbend, ihr Gesicht war entfärbt, ihre Hände fühlten sich eiskalt an ... Ein Schmerzensschrei entrang sich meinen Lippen, und ich stand ihr bei.

»Schonen Sie mich!« sagte sie, als sie ein wenig zu sich kam. »Töten Sie mich nicht!«

Meine Raserei wich, dies Wort vereiste meine Sinne. »Wie, halten Sie mich für einen Mörder?« Ich lag noch auf den Knien, küßte ihre Hände und netzte sie mit meinen Tränen ...

Sie lächelte, aber wie in einer Art Wahnsinn. »Sie wollen mich nicht töten?«

»Ich? Ich gäbe mein Leben hin, wenn ich damit das Ihre nur um einen Tag verlängern könnte!« Sie fing an zu weinen: »Ach, das sagen Sie, Sie, der Sie meine Ehre angegriffen haben?!«

»Nein! Nein!« antwortete ich mechanisch, »ich war von Sinnen. Der Zustand, in den Sie mich versetzt hatten, war schrecklich!«

Sie blickte mich an, als wollte sie in meinem Gesicht lesen, ob ich wahr gesprochen hätte. Meine ehrerbietige Haltung schien sie zu überzeugen...

»Gehen wir hinunter!« sagte sie mit einem erzwungenen Lächeln, denn sie fürchtete mich noch immer. Wie war ich hart gestraft! Sie wollte sich aufrichten, aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Ich nahm sie in meine Arme, um sie zu tragen.

»Ach!« rief sie erschrocken, »was machen Sie mit mir?«

»Sie nach unten tragen!«

Sie wollte gehen, aber sie fühlte sich zu schwach. Ich trug sie mit einer Leichtigkeit, die sie überraschte. »Was, so stark?«

Ich legte sie in einen Lehnstuhl; sie versank in Nachdenken, und nur ein tiefer Seufzer entrang sich ihr von Zeit zu Zeit. Plötzlich blickte sie mich an und sagte:

»Wer hätte gedacht, daß der Sohn so ehrenhafter Leute einer solchen Handlungsweise fähig sei! ... Oder überhaupt nur daran denke ...

»Madame, hören Sie mich an!«

»Ach, sprechen Sie! Ich habe nicht die Kraft, es Ihnen zu wehren.« Ihre Tränen flossen. Ich befand mich an ihrer Seite.

»Verzeihen Sie mir!« sagte ich. »Verzeihen Sie mir meine Freveltat ... Ich habe beschlossen zu sterben, wenn ich Ihre Verzeihung nicht erlange ... Ich liebe Sie ... ich bete Sie an ... Ach, was habe ich nicht alles versucht, um Sie aus meinen Gedanken zu reißen?! Ich habe mein Herz preisgegeben ... Ich habe versucht, mich in den Vergnügungen des Tanzens zu betäuben ... Aber nichts hat geholfen ... Das übermächtige Gefühl, das Sie mir eingeflößt haben, war stärker als alles andere ... Ich habe Sie stumm angebetet ... aber selbst dieses Schweigen schürte den Brand in meinem Herzen, der mich durchglühte und verzehrte! ... Sie sprechen zu meinem Herzen, zu meinen Augen, zu allen meinen Sinnen mit unbegreiflicher Gewalt ... Ich war nicht mehr Herr meiner selbst ... Sagen Sie ein Wort! Sagen Sie, daß Sie mir verzeihen können, oder daß Sie mich verabscheuen, oder ...

»Ach, ich klage mich selbst ebenso an wie Sie!« sagte Colette. »Legen Sie nicht Hand an sich, denn ich bin ebenso schuldig wie Sie ... und ein zweites Verbrechen kann das erste nicht auslöschen. Sie haben sich gegen Gott versündigt, und ich bin Ihre Mitschuldige gewesen ... Mehren Sie meine Schuld nicht, indem Sie die Ihrige verdoppeln.«

Sie blickte mich starr an.

»Unglücklicher! Du hast dein Glück zerstört! ... Weißt du, was ich für dich tun wollte ... bald ... in einigen Tagen? ... Jetzt darf ich nicht mehr daran denken ...«

In diesem Augenblick sah ich sie erschauern. Sie schwieg lange. Endlich legte sie ihre Hand auf die meinige: »Ach, weißt du, was nun geschehen wird? ...«

Mich schauderte, ohne daß ich wußte, warum. Ich warf mich wieder vor ihr auf die Knie und ließ meinen Tränen freien Lauf.

»Himmlischer Engel! Ich habe dich geschändet! Ich bin ein Scheusal! Ich hätte dich stumm anbeten sollen! Niemals werde ich mir mein Verbrechen verzeihen! ...«

»Ich vergebe Ihnen! Begraben wir dies Entsetzliche zwischen uns! Ich sage es Ihnen aus tiefstem Herzen!«

»O göttliches Weib! Du vermehrst meine Gewissensqualen!«

»Der Himmel straft mich durch Sie«, antwortete sie, »er gibt mir eine schreckliche Lehre!«

»Ach, Madame, vielleicht bewirkt er etwas Gutes damit. Ich fühle mich verwandelt... Ach, wie bin ich gestraft!«

»Nun wirst du nie mein Bruder sein! ... Ich bin mehr gestraft als du!« Sie sprach dies so schmerzlich bewegt, daß ich von der Aufrichtigkeit ihrer Worte überzeugt ward, schon weil sie es so unwillkürlich zum Ausdruck brachte. Diese Erkenntnis traf mich wie ein harter Schlag, denn seit dem Tode Madelons hatte mich die Hoffnung auf Mlle. Fanchette mit einem gewissen Stolz erfüllt. In diesem Augenblick fühlte ich mich vollständig gebrochen und erniedrigt wie noch nie. Ich verachtete mich zum ersten Male selbst.

»Ach, ich habe mich verloren!« rief ich aus, »ich fühle es!«

»Zu spät!«

»Leider, ja, Madame, zu spät!«

»Sie, den ich so zärtlich geliebt habe! ... Undankbarer ...«

»Ach, dies Wort ist zu hart. Sagen Sie das nicht, Madame, ich bitte Sie inständig! Sagen Sie das nicht mehr! ... Es zerreißt mir das Herz!«

»Er hat also doch noch eine Seele! ... Ich glaubte es nicht mehr ...«

»Ja, ich habe eine Seele, die fühlt, daß ich Sie unsäglich beleidigt habe, daß ich ein Scheusal bin und daß ich meine Augen nicht mehr zu Ihnen erheben darf!...«

Ich erhob mich. Sie ergriff meine Hand, und in einem Tone, der mich durchbebte, fragte sie mich: »Wohin gehen Sie?«

»Wo ich zu sein verdiene, fern von Ihnen!«

»Ich habe Ihnen doch verziehen.«

»Großer Gott!« rief ich ... Und ich warf mich ihr zu Füßen; meine Tränen, mein Schluchzen erstickten die Worte in meiner Kehle. Ich konnte nur stammeln: »Ich habe ... das ... erhabenste Götterbild ... entweiht! ... Ich verdiene nicht mehr, zu leben ...«

»Bleiben Sie bei mir ... Ihre Nähe ist mir notwendig geworden ... Indem wir uns immer sehen, bleibt unsere Reue wach. Grausamer Jüngling, mein Leben hängt von dem deinen ab! Wagst du es, darüber zu entscheiden? ...«

Ich nahm ihre Hand und preßte meine glühenden Lippen darauf, während sie sprach. Als sie aufhörte, blickte ich sie an und wagte mit einer Ruhe, die nicht echt war, zu sagen: »Ich will Ihr Vertrauen rechtfertigen. Ich will wieder der achtbare, unschuldige junge Mann werden, als den Sie mich gekannt haben. Ich versichere es Ihnen. Ich beschwöre es Ihnen vor Gott... Sie sollen mein Leitstern sein; vielleicht kann ich es Ihnen beweisen, daß ich trotz meiner lebhaften und wilden Leidenschaft noch der Mensch bin, der es am meisten verdient, von Ihnen geachtet zu werden, der Ihren Wert am stärksten empfindet, der Ihnen die reinste Ergebenheit darbringt, die glühendste Hingabe zollt ... Ihrer Schwester bin ich nicht würdig; ich bitte Sie nicht mehr darum, ich entsage ihrer ... Sie sind es, Sie allein, die ich anbete! Sie sind mir alles! ... Ach, ich täuschte mich, wenn ich glaubte zu lieben und zu begehren! ... In allen Frauen sah ich immer nur Ihr Bild! O Hoffnungslosigkeit! Die, die ich anbete, die Hälfte meines Selbst, die einzige Frau, die der Himmel für mich geschaffen hat, ruht in den Armen eines andern! ...«

Bei diesen Worten erhob sie sich; ihr Gesicht belebte sich: »Das wird niemals sein!«

»Und Sie werden leben?« rief ich.

»Ja, ich werde leben!«

Dann sprachen wir nichts mehr, weder sie, noch ich. Unsere Tränen flössen wie zwei Quellen, unser Schluchzen erstickte uns.

Als ich am andern Morgen erwachte, war mein erster Gedanke Colette. Ich sprang aus dem Bett, denn es war Zeit zum Aufstehen. Ich hatte geschlafen, und ich wunderte mich darüber! ... Schnell kleidete ich mich an und ging nach unten. Tiennette schlief noch; ich weckte sie. Ich konnte meine Unruhe nicht meistern und trat in den Saal. Monsieur, der gegen meine Erwartung schon wach war, fragte mich: »Was ist denn los?«

»Ich wollte Tiennette wecken«, sagte ich»ich bin etwas in Unruhe wegen Madame.« (Mme. Parangon hatte am Abend vorher etwas gefiebert und war nicht zur Abendmahlzeit heruntergekommen, sondern hatte sich zu Bett gelegt.)

»Na ja, da haben Sie recht. Schauen Sie doch selbst schon einmal nach ...«, meinte Monsieur Parangon.

Ich stürmte die Treppe hinauf, mein Herz schlug heftig. Oben ging ich auf den Fußspitzen und trat mit angehaltenem Atem in Colettes Zimmer. »Tiennette, bist du's?«

»Nein, ich bin's, Madame!«

»Ah!« Ein leichtes Erschrecken klang in diesem Worte.

»Wir machen uns Sorge wegen Ihrer Gesundheit«, sagte ich. »Monsieur Parangon hat mich beauftragt, nach Ihnen zu sehen, als ich Tiennette wecken wollte ...«

Ich näherte mich ihrem Bette und öffnete ein wenig die Bettvorhänge. Madame Parangon war, wie alle Frauen mit schönen Augen, im Nachtgewand schöner als elegant angezogen und frisiert. Ich fuhr zusammen! Sie reichte mir eine Hand, die ich an die Lippen drückte.

»Es geht mir besser«, sagte sie, »gehen Sie und schicken Sie mir Tiennette.« Ich wollte gehen. »Hören Sie«, fuhr sie in zärtlich-süßem Tone fort, »denken Sie daran, mir immer ein tugendhafter Freund zu bleiben, für den ich nie zu erröten brauche! Versprechen Sie mir das?«

Ich sank vor ihr auf die Knie und hob beteuernd meine Hände zum Himmel. »Meine Freundlichkeit gegen Sie«, sagte sie, »würde ein anderer vielleicht falsch auslegen; Sie verstehen mich richtig, dessen bin ich sicher!«

»Ja, ja!«

»Nun aber gehen Sie, mein Freund! ... Nennen Sie mich ,Meine Freundin', und nun gehen Sie!«

»Meine göttliche Freundin!«

»Sagen Sie einfach:,Adieu, meine Freundin!'«

»Nur einfach ,meine Freundin'?«

»Ja, ganz einfach...«

»Darf ich nicht wenigstens das Wörtchen ,liebe' hinzufügen?«

»Nein, nur einfach: ,meine Freundin'!«

Ich stürzte aus dem Zimmer. Unten fand ich das Zimmermädchen fertig angekleidet und sprach ein paar Worte mit ihm. Dann ging ich an meine Arbeit. Ich war in Gedanken versunken und sehr schweigsam, wie in tiefstem Leid; wenn man mich ansprach, zwang ich mich zu einer Antwort, einem Lächeln, um dann wieder in meinen alten Zustand zurückzufallen. Bourgoin, ein Mann von ausgezeichnetem Charakter, sagte, als er vom Frühstück kam: »Sie sehen angegriffen aus! ... Madame geht es wieder gut ... Ich verstehe Ihre Sorge um sie: Sie haben in ihr eine so gute und würdige Freundin!«

»Ich glaube es«, antwortete ich lebhaft, »und ich werde niemals undankbar sein.«

»Sie haben keine Ahnung davon, wie gern man Sie hat! Monsieur d'Arras zum Beispiel singt immer Ihr Lob! ... Übrigens bekommen wir einen neuen Lehrling; der ist kein Taugenichts wie Bardet, sondern ein Freund für Sie, ein Kamerad meines Vetters Lalande, des Chirurgen, der meine Kusine zur Frau hat. Der junge Mann heißt Loiseau und ist ein gescheiter Kerl, denn er war Erzieher der Söhne eines Edelmannes und der Söhne eines Präsidenten. Sie werden gut zusammenpassen...« Diese Neuigkeit freute mich, da ich aber ihren besonderen Wert nicht kannte, erwartete ich das Ereignis ohne jede Ungeduld.

Zum Mittagessen ging ich hinunter und traf Madame Parangon im Saal. Sie trug eine runde Haube mit einem blauen und zart rosafarbenen Bande; sie war blaß, aber ich fand sie verführerischer als je ... Ich grüßte sie ehrerbietig. Da ich mich im Augenblick mit ihr allein sah und niemand mich hören konnte, sagte ich zu ihr:

»Meine Freundin sieht so rührend aus, daß ich fühle, wie mein Herz sich öffnet, um dieses teure Bild in sich aufzunehmen!«

Sie antwortete nichts; aber sie bedeutete mir, ihr ihren Stuhl zurechtzurücken. Es war dies schon seit langem mein tägliches Amt.

Colette aß wenig bei Tisch. Ich versuchte Eßlust und Heiterkeit vorzutäuschen, aber ich konnte kaum etwas hinunterbringen, weil mir das Herz zu schwer war. Als wir von der Tafel aufgestanden waren und ich einen Augenblick mit Colette allein blieb, sagte sie zu mir: »Wir werden diesen Abend miteinander plaudern ... diesen Abend und alle andern ... wenn ich nicht gezwungen bin, auszugehen.« Ich fürchtete, man könnte mich beobachten und antwortete nur durch eine Verbeugung. Bei der Arbeit dann war ich ebenso nachdenklich und in mich versunken wie am Morgen. Bourgoin lächelte und sagte: »Es muß irgend etwas los sein ... Sie haben einen heimlichen Kummer, und Madame Parangon hat ihren Teil daran ... Aber ich will Sie nicht ausfragen.«

»Ich bin in Sorge wegen der Gesundheit meiner Mutter«, sagte ich; sie war in der Tat krank; »wenn ich sie verlöre, so wäre das ein großes Unglück für mich!...« Der Faktor schwieg.

Um acht Uhr ging ich zum Abendessen. Als man sich zu Tisch setzen wollte, kam der älteste Bruder der Madame Parangon. Ich wußte gleich, daß nun nichts aus unserer Abendplauderei werden würde. Die Tränen traten mir in die Augen, und nur mühsam konnte ich das Weinen unterdrücken. Colette blickte mich an. Ich senkte die Augen, und eine Träne rollte mir über die Wange ... Ich verließ die Tafel unauffällig und eilte hinaus ins Freie ...

Man könnte annehmen, daß mein Verhältnis zu Madame Parangon nach unserer Aussprache vertrauter geworden wäre. Aber dies war nicht der Fall; je teurer ich ihr wurde, um so mehr mied sie mich. Als sie mein Leben durch mich selbst nicht mehr gefährdet wußte, zog sie sich mehr von mir zurück. Ihre Tugend war lauter wie Gott selbst. Eines Tages sagte diese bewunderungswürdige Frau zu mir: »Grübeln Sie nicht zuviel! Sie lieben den Tanz; gehen Sie diesem Vergnügen doch wieder nach! Tun Sie es ... ich bitte Sie ... ich will es!«

Dieses »Ich will es!« in ihrem Munde galt mir als eine Gunst... Ich gehorchte und suchte meine Tanzgenossen wieder auf, die Mädchen und Burschen, die ich seit mehr als einen Monat nicht gesehen hatte. Unmerklich verlor ich mich wieder in diesen Vergnügungen. Ich glaubte, daß diese Zerstreuungen, der Umgang mit neuen Freunden, mit denen Gaudet mich zusammenbrachte, und die Freuden der Tafel und des Weines mich verändern müßten. Ich besuchte nämlich Gaudet d'Arras wieder; die Aufhebung seiner Gelübde war eine ausgemachte Sache, und er lebte schon ganz weltlich, wenn er auch noch das geistliche Kleid trug. Er verbrachte die Tage bei Manon Bourgoin, die ihm ganz zu Willen war ...

Ihr Bestreben ging dahin, mein Verhältnis zu Madame Parangon ebenso zu gestalten wie das ihrige; auf diese Bemühungen verwandten sie ihren ganzen Scharfsinn, Gaudet offen und ohne Umschweife, Manon mit List und Heimlichkeit. Gaudet d'Arras ging dabei so weit, der tugendhaftesten aller Frauen zu sagen (ich weiß es von ihm selbst), sie sei bei ihrem Gewissen verpflichtet, sich dem zukünftigen Gatten ihrer jüngeren Schwester preiszugeben, um ihm dadurch die Reinheit seiner Sitten und seine Gesundheit zu bewahren. Er schilderte ihr in schrecklichen Farben die Wirkungen der Onanie und der Masturbation und stellte ihr vor, welche Gefahren einem so jungen Manne aus Liebschaften mit Mädchen wie Toinette und anderen weiblichen Bediensteten drohten.

Ich sagte bereits, daß ich glaubte, ein anderer zu werden; ich fing an, wie Gaudet, Geschmack an den Freuden der Tafel zu finden. Ich schloß mich an die andern Druckereilehrlinge an, besonders an die weniger wüsten. Mit Gonnet besuchte ich dessen Geliebte, denn außer Tonton hatte er derer noch zwei oder drei andere. Auf diese Weise lernte ich die liebenswerte Colombe kennen, die mich ebenso durch ihre Eigenschaften wie durch ihre Schönheit an sich zog; sie wäre eine vorteilhafte Partie für mich gewesen, aber ich dachte nicht daran, zu heiraten, weder sie noch eine andere aus diesem Kreise. Ich rechnete auf Mlle. Fanchette, auf die ich im Ernst nicht verzichtet hatte. Unterdessen tröstete ich mich mit Colombe, die ein großes schönes Mädchen war, für das ich eine Art von Verehrung fühlte. Ich hatte anfangs verschiedene Rivalen. Aber dies machte mich um so beharrlicher. Ohne bestimmte Absichten wollte ich sie erobern.

Später flatterte ich von der lieblichen Leger zur braunen Marianne Tartre, von dieser zur schönen Maufront, zur herausfordernden Douy, zur lebhaften Laurent und zur pikanten Aglae Ferrand und andern mehr. Es war meinen Genossen vom Tanzboden nicht entgangen, daß mich die junge Colombe, das Ziel des Ehrgeizes aller, stärker fesselte als jede andere.

Als sie dahinterkamen, daß die schöne Colombe mir den Vorzug gab, waren meine Rivalen bestürzt. Ich bemerkte es, und es schmeichelte meiner Eitelkeit, daß ich ihnen überlegen war. Ich schwankte in dieser Situation zwischen dem Gefühl der Eitelkeit und dem Entschluß, mich dem freundschaftlichen Vertrauen eines Mädchens, das mich allen andern vorzog, erkenntlich und würdig zu erweisen.

Eines Tages suchte mich Leger auf. Er sprach in höflicher und fast rührender Weise zu mir, wodurch er den besten Eindruck auf mich machte.

»Mein Freund«, sagte er zu mir, »du siehst Mlle. Colombe so häufig und ich glaube, du mißfällst ihr nicht. Es würde anmaßend und töricht von mir sein, wenn ich nun sagte, du mögest nicht mehr so oft mit ihr zusammenkommen; das verlange ich auch nicht von dir, aber du bist ein anständiger Mensch, willst du sie heiraten? ... Sie ist ein liebenswertes, achtbares Mädchen, dem du sicher kein Unrecht zufügen willst. Ich bitte dich, sage mir die Wahrheit, mein lieber Nicolas! Ich erwarte das von deiner edlen Gesinnung, die ich immer an dir wahrgenommen habe.«

Ich mußte seine Worte und ihre Beweggründe billigen. Der ruhige, anständige Ton, den Leger mir gegenüber anschlug, erweckte meine natürlichen Gefühle der Großmut. »Nein«, erwiderte ich, »ich denke nicht an das Heiraten. Ach, ich habe an soviel andere Dinge zu denken!« Meine Augen wurden feucht, aber ich beherrschte mich.

»In diesem Fall«, fuhr Leger fort, »darf ich also wohl annehmen, daß du mir keine Schwierigkeiten machst, wenn ich mich um Mlle. Colombe bewerbe?«

»Ich? Auf keinen Fall! ... Mit welchem Rechte auch sollte ich es?«

»Aber vielleicht schmerzt es dich, wenn ich mit ihr zusammen bin, mit ihr spreche, denn ich sehe, daß du gerührt bist.«

»Ich? ... Ach, mein Freund, ich bin gerührt, ich gebe es zu ... aber nicht wegen dem, was du da sagtest; das hat andere Gründe!« Ich dachte an Madelon.

Im Laufe unserer Unterhaltung waren wir vor der Türe von Legers Haus angelangt; seine Schwester, die hübsche Manon, die am Fenster stand, hatte uns kommen sehen und trat zu uns. Sie empfing mich immer mit tausenderlei Neckereien. Sie war ein reizendes Mädchen, das mich in den Tanzsälen stets mit schmeichelhaftester Auszeichnung bedachte. Ich blieb mit ihr an jenem Sonntagnachmittag einige Stunden allein, während Leger meinen Platz bei Colombe einzunehmen versuchte. Sie fragte ihn, ob er mich gesehen habe und wo ich sei. »Er ist bei uns zu Hause, bei meinen Schwestern ...«

Diese Antwort kränkte Colombe in doppelter Beziehung, aber sie verbarg es. Ich kam nicht in die Tanzsäle, denn ich fand mehr Vergnügen bei Manon Leger in vertraulichem Beieinander. Dieses junge Mädchen war in Wirklichkeit gerissen: um ihren Bruder von einem bevorzugten Nebenbuhler zu befreien, scheute sie kein Mittel und ließ sich von mir geschickt jede Gunst abringen ... Ich habe übrigens in meiner Heimat viele Familien kennengelernt, in denen sich die Schwestern für ihre Brüder opfern, sogar im Einverständnis mit ihren Vätern ... Manon Leger, die mich zurückhalten und ein Wiedersehen mit Colombe verhindern wollte, wandte viel Geschicklichkeit auf, damit ich mit ihr zufrieden sei... Meine Sinne fingen Feuer, ihr Aufflackern verdrängte meine Gefühle für Mme. Parangon. Ich erlaubte mir Freiheiten gegenüber Manon; sie wehrte sich zwar dagegen, zeigte aber keinen sonderlichen Unwillen, wie ein Mädchen, das an Angriffe gewöhnt ist, und fand nur ein paar höfliche Vorwürfe, als ich zu den größten Unverschämtheiten überging. Ich behandelte sie, wie ein Wüstling eine geriebene Dirne behandelt.

Abends machte ich Colombe einen kurzen Besuch. Sie lehnte an der Haustüre und sagte lächelnd: »Man sieht Sie ja gar nicht mehr! Warum entziehen Sie Ihren Anblick und Ihre Unterhaltung jemandem, der Vergnügen daran findet, und der geglaubt hat, daß sein Anblick und seine Unterhaltung auch Ihnen angenehm sei?« »So ist es auch, liebe Colombe!« antwortete ich, und fuhr wahrhaft gerührt fort, »aber ich muß Ihnen gestehen, was mir auf dem Herzen liegt; ich will Ihnen nichts verhehlen. Ich spreche zu Ihnen wie zu einer Schwester, denn ich liebe Sie wie eine Schwester und noch mehr als Sie ahnen.« Meine Erklärung war sehr lang und für sie äußerst schmerzlich, denn ich verbarg ihr nichts von meinen Plänen und Entschlüssen und deutete ihr an, daß ich bereits gebunden, aber meine Zukünftige noch zu jung sei, um zu heiraten. Dies hatte eine gute Wirkung: Colombe, die sich ohne wirkliche Nebenbuhlerin sah, versicherte mir nun gleichfalls ihre schwesterliche Freundschaft und daß sie mich niemals vergessen werde. Als ich sie verließ, bat sie mich, ich möge sie nicht mehr besuchen und nicht mehr mit ihr sprechen. Diese Bitte rührte mich derart, daß ich noch einmal zurückkehrte, um ihr zu sagen: »Ich bin dein, schöne Colombe. Ich will dich heiraten, aber sofort...«

»Das genügt mir«, antwortete sie nach einem Augenblick der Überlegung, »aber ich nehme Ihr Anerbieten nicht an... Wir werden uns wiedersehen, denn ich sehe, daß Sie mir eine wahrhafte Anhänglichkeit entgegenbringen und daß Sie nicht undankbar sind, wenn auch Vernunftgründe eine Verbindung zwischen uns hindern. Dies tröstet mich; es ist die Wahrheit, wenn ich Ihnen sage, daß ich in der Ehe kein Glück finden würde, außer mit Ihnen...«

Ich wollte sie, die ins Haus lief, zurückhalten, aber in diesem Augenblick fiel mir Mme. Parangon ein; ich eilte in mein Kämmerchen, um meine Schande und meine Untreue zu bereuen.

Legers Annäherungsversuche wurden von Colombe nicht gut aufgenommen. Er wurde abgewiesen, aber er grollte mir deswegen nicht, denn sie versicherte ihm, daß sie mir nie etwas bedeuten könne.


Man weiß, wie Romane die Ereignisse herbeiführen: ihre Verfasser folgen den Gesetzen der Kunst und niemals der Natur. Es war an einem Sonntagabend, als ich so freimütig mit Colombe gesprochen hatte. In der folgenden Woche sah ich sie fünf- oder sechsmal. Am 29. Juni, dem Feste des heiligen Peter, kam sie mit Aglae Ferrand zum Tanze. Ich wählte Colombe, und sie versprach sich mir für meine beiden Menuette. Nach dem Tanze ging ich mit Colombe ins Freie hinaus; wir wanderten durch das Pariser Tor am Ufer der Maladiere entlang und gelangten in die Erdbeergründe, wo ich im verflossenen Jahre mit meinen Freundinnen Lalois und Dugravier gewesen und wo ich nachher mit Emilie Laloge so glücklich gewesen war. Es war die gleiche Jahreszeit, und wir pflückten uns süße Früchte. Dieser Ort bezauberte mich durch die Erinnerung an die Vergangenheit ebenso wie durch den Reiz der Gegenwart. Colombe bückte sich und zeigte mir dabei ihre vollkommenen Beine... Meine Wünsche regten sich. Ich unterdrückte sie. Wir setzten uns. Ich umschlang die Taille meiner schönen Begleiterin und raubte ihr einen Kuß. Ich nahm wahr, daß dieses junge Mädchen Tiennette glich: ihre schönen Augen verschleierten sich. Ich wurde verwegener. Wir saßen auf dem Grunde einer Senkung, die rings von Hecken umgeben war. Noch immer beherrschte ich mich. Colombe warf mir einen schmachtenden Blick zu. Durch diesen Blick ermutigt, suchte ich den Sieg. Sie verteidigte sich kaum und ich triumphierte...

Ich glaubte, daß Colombe untröstlich sein werde! ... Aber sie war es keineswegs! Ich bildete mir ein, sie habe eine so gute Meinung von mir, um anzunehmen, daß ich alle Folgen meiner Handlungsweise auf mich nehmen würde. Aber ich täuschte mich. Dieses ... großherzige Mädchen gestand mir:

»Halten Sie mich nicht für durchtrieben, für gerissen; durch Zufall kenne ich die Absichten der Mme. Parangon, dieser ehrenwerten Frau, ich weiß von den Gefühlen, die sie für Sie hegt und die Sie ihr entgegenbringen ... Ich will Sie durch nichts binden und verpflichten ... Ach, ich möchte nur, was andere für ein Unglück halten!... Ich möchte ... ein Kind bekommen! ...« Ich war überrascht von diesen Worten. Ich bot ihr nochmals die Ehe an. Aber Colombe genügte es, mir ihre Gunst gewährt zu haben ...

An dieser Stelle will ich noch eines anderen Ereignisses gedenken!... Aber es ist eines der verzeihlichsten meines Lebens. Ich empfand weder Gewissensbisse noch Scham darüber. Hätte sich eine Gelegenheit geboten, so würde ich Mme. Parangon alles gebeichtet haben, was vorgefallen war...

Lenclos, der Colombe verehrte, schlug einen gemeinsamen Ausflug vor, an dem Colombe, Tonton und ich teilnehmen sollten. Colombe, die Verkäuferin im Laden des Tuchmachers war und nicht aus der Stadt stammte, kannte Tonton nur flüchtig. Sie nahm die Einladung ihrer jungen Nachbarin, an dem Ausfluge teilzunehmen, an, denn Tonton hatte ihr nicht gesagt, daß zwei junge Männer dabei sein würden. Nun hatte Leger verbreitet, daß ich mit Colombe gebrochen habe; Lenclos, der nicht daran zweifelte, hoffte, ich würde für ihn sprechen. Seine Schwester hatte noch andere Absichten, denn sie liebte ihren Bruder in derselben verderbten Weise wie Manon den ihren; sie hoffte, daß ich auf den Köder ihrer Gunst anbeißen würde. Dies war nicht ihr erstes Abenteuer, und sie hatte weit weniger Besorgnisse und Schüchternheit als Manon Leger; sie war schon durch und durch verdorben. Sie rechnete damit, Colombe aus meinen Gedanken verdrängen zu können, und dieser Plan gelang ihr auch zum Teil, dank meiner Schwäche und meiner leidenschaftlichen Empfänglichkeit gegenüber den Frauen...

An einer geeigneten Steile auf der Promenade trafen wir uns, Lenclos und ich. Letzterer ging dann seiner Schwester entgegen und begrüßte die mitkommende Colombe. Tonton sagte zu ihrem Bruder:

»Ach, du mußt mit uns kommen... Vorwärts! Wir gehen nach Sainte-Geneviève und essen da... Aber mit wem bist du zusammen?«

»Es ist ein guter Freund von mir.«

»Trefflich! Geh und hol' ihn, wir nehmen ihn mit... Meine liebe Colombe, hier sieht uns niemand. Er ist ein guter Junge, dieser Monsieur Nicolas. Also auf nach Sainte-Geneviève!... Kommt, tut mir den Gefallen! Ich möchte gar zu gern mal dahin!«

Colombe zögerte, aber schließlich ließ sie sich, gutmütig wie sie war, überreden; waren wir doch Freunde, und dachte sie vielleicht auch an unsere letzte Unterredung. Lenclos kam, um mich zu holen. Ich grüßte Colombe achtungsvoll und sie entgegnete kühl. Tonton hing sich an meinen Arm, worüber Colombe nicht einmal eifersüchtig wurde, denn dies Arrangement erlaubte es ihr, weniger vertraulich mit mir zu sein. Tonton zog mich den andern voraus und sagte:

»Vorwärts, zum Abendessen in Sainte-Genevieve, vorwärts, vorwärts!...«

Tonton war eine kleine reizende Blondine. Obzwar ich sie schon kannte, fand ich Vergnügen an ihren Gefälligkeiten und – soll ich es sagen? – die Hoffnung auf einen leicht einzuheimsenden Genuß schmeichelte meinem lasterhaften Herzen . ..

Wir gingen voraus, denn Tonton brachte mich mächtig in Trab. So gelangten wir den andern nach ein paar Biegungen des Weges, der von hohen Hecken umsäumt war, aus den Augen. Plötzlich umarmte und küßte mich Tonton in äußerst herausfordernder Weise. Dadurch erregte sie in meinen Sinnen eine ungestüme Trunkenheit, so daß ich Colombe und die ganze Welt vergaß ...

Als wir an unserm Ziele angekommen waren, bestellte Tonton Rahmkäse und Weißwein. Noch ehe Colombe mit Lenclos ankam, war der Tisch schon gedeckt und das Mahl bereitet. Tonton hatte sogar noch Zeit gefunden, mir eine Probe von dem zu geben, was sie begehrte.

Beim Essen war dieses sonderbare Mädchen von toller Ausgelassenheit, sie trank viel, ich dagegen nur wenig. Colombe benahm sich mäßig und sittsam. Sie nahm mich einen Augenblick beiseite, um mir ins Ohr zu flüstern:

»Mademoiselle Lenclos ist keine Gesellschaft für mich... Ich weiß wahrhaftig nicht, was mich mit ihr zusammengebracht hat... Ihr Bruder mißfällt mir noch mehr.«

»Warum?«

»Gleichviel! Ich kehre in etwa acht Tagen sowieso nach Joigny, in meine Heimat, zurück.« »Was sagen Sie da, Colombe?!«

»Warum betrübt Sie das?«

»Ach, wenn Sie wüßten, wie unglücklich mich das macht!«

»Seit unserer letzten Unterredung weiß ich, daß das nicht wahr ist. Sie sind nicht unglücklich, und ich wünsche Ihnen Glück ... Was aber Tonton und ihren Bruder anbetrifft, so hat dieser mir unterwegs Gefühle offenbart, die ich ihm nicht zu erwidern vermag ... Ich verachte die beiden . .. Wie kommt es nur, daß Sie, die Sie beide doch zweifellos kennen, mit ihnen verkehren? Warum haben Sie mich nicht vor ihnen gewarnt? Ich bin doch Ihre Schwester! ...«

Ich drückte ihr die Hand. »Ja, das sind Sie. Niemand hat uns zusammen gesehen, und wir wollen es vermeiden, gesehen zu werden, meine Schwester ... Sie haben nichts zu fürchten ...«

»Ich bin Ihnen deshalb nicht böse, ebensowenig Tonton und ihrem Bruder ... Ich reise bald ab; den Tag meiner Abreise werde ich Ihnen noch mitteilen. Erwarten Sie mich dann an der Kapelle des heiligen Simon, damit wir uns dort verabschieden.«

»Ja, ja«, antwortete ich, »ich werde es nicht verfehlen!«

Lenclos und seine Schwester dachten wohl, wir sprächen von ihnen und ließen uns darum eine Weile ungestört miteinander plaudern. Aber schließlich kam Tonton und rief:

»Was habt ihr denn? Ihr seid so ernst wie Nachtlichter! Das ist langweilig! Wir sind doch hierhergekommen, um vergnügt zu sein! Vorwärts, nimm dir meinen Bruder, Colombe! ... Der hier ist für mich!«

Wir konnten nicht anders, als ihr folgen; denn es wäre unhöflich gewesen, Bruder und Schwester miteinander allein zu lassen. Tonton war ganz ausgelassen und ich war froh, daß ihr Übermut mich etwas zerstreute. Sie lief scherzend in die Tiefe des Gartens, bis hinter die letzten Bäume und Hecken, und ich folgte ihr ...

Wenn ich nicht widerstand, so war die Schuld kaum auf meiner Seite; es war Tonton, die mich dazu herausforderte, und ich hätte der Versuchung auch dann erliegen müssen, wenn meine Tugend stärker gewesen wäre... Ich scheue mich, es zu sagen; aber ich glaube, es war so zwischen Bruder und Schwester verabredet worden, um mich mit Colombe zu entzweien.

Lenclos, der mit der schönen Colombe allein geblieben war, stellte sich beunruhigt wegen uns und bestimmte sie, uns gemeinsam zu suchen. Sie weigerte sich. Da meinte er denn, es solle jeder von ihnen für sich auf die Suche nach uns gehen. Colombe, die mir zürnte, weil ich sie mit Lenclos allein gelassen hatte, war damit einverstanden. Lenclos fand uns in einem abgelegenen Graben; ich glaube, seine Schwester hatte ihm durch ein von mir überhörtes Signal geschickt die Richtung gegeben, so daß er uns entdecken mußte, und er versuchte, Colombe zu dieser Stelle hinzulocken, um sie zur Zeugin meiner Verirrung zu machen ...

Das kluge und sittsame Mädchen tat, als sähe es nichts und entfernte sich wieder, obschon Lenclos sich bemühte, Colombe zurückzuhalten, indem er sagte:

»Sehen Sie, sehen Sie, Mademoiselle! ... Ach, das hätte ich von Nicolas nicht gedacht! ... Aber er ist Junggeselle ... meine Schwester ist ein lediges Mädchen ... Wir werden sehen!«

»Sehen Sie nur«, sagte Colombe, »ich meinesteils habe zu viel gesehen!« Sie entfernte sich, empört über seine Gemeinheit und verletzt durch meine unbesonnene Schwäche.

Lenclos folgte ihr und sie nötigte ihn, mit lauter Stimme nach uns zu rufen... Ohne zu wissen, daß meine Schande offenbar war, kehrte ich zurück, aber ich fühlte mich doch unsicher vor Colombe, die aus ihrem Abscheu vor dem Geschwisterpaar keinen Hehl mehr machte und besonders durch die unverschämte Art der liederlichen Tonton gereizt war; sie nahm meinen Arm und sagte: »Wir wollen gehen!«

»Schon?« rief Tonton.

»Ich fühle mich hier nicht wohl, Mademoiselle«, antwortete Colombe, »Monsieur Lenclos, ich nehme Monsieur Nicolas, denn ich habe mit ihm zu reden!«

Lenclos zweifelte nicht, daß sie mir wegen meines Benehmens Vorwürfe machen und mit mir brechen werde; er war deshalb nicht ärgerlich über unser Zusammensein, verließ uns und ging zu seiner Schwester.

Colombe blickte verstohlen zu ihnen hinüber, dann sagte sie zu mir:

»Der erbärmliche Kerl! Er lacht mit ihr!«

Bei diesem Worte wurde mir fast alles klar.

»Was ist denn dabei, daß er mit ihr lacht?«

»Sie wissen es ... Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen deshalb böse sei! Aber jene beiden verachte ich... Ich kann mir denken, daß ein junger Mann, durch eine hübsche Verworfene wie diese da verführt, um so leichter unterliegt, je tugendhafter die andern Frauen und Mädchen seiner Bekanntschaft sind... Ach, seit meiner Ankunft in Auxerre habe ich so viele Dinge erfahren! Die Art und Weise der jungen Leute hier und ... aller Männer ist so schamlos, daß ich wieder in die Arme meiner Mutter fliehe... Denken Sie sich nur: dieser Lenclos hat, nachdem er seine Schwester entdeckte, mich dorthin gelockt, damit ich alles sehen sollte... Ach, wie ich diese beiden, Bruder und Schwester, und ihre dumme Niederträchtigkeit verabscheue! ... Aber reden wir nicht mehr davon! ... Monsieur Nicolas, ich spreche als Freundin zu Ihnen, als Schwester: vertrauen Sie diesem Mädchen nicht, sie ist nichts für Sie ... nicht einmal, um sich mit ihr zu vergnügen ... Vor der Stadtmauer müssen wir uns trennen; ich biege in eine Gasse ein, und Sie müssen mich dann verlassen ... Auf Wiedersehen am Samstag! Ich nehme nicht die Post, sondern benutze einen Wagen. Um sechs Uhr werde ich bei der Kapelle des heiligen Simon sein ... Ach, Sie haben mir zu viel Kummer bereitet, als daß ich Sie allzusehr entbehren würde!«

Ich war durch ihre Worte beschämt und verhehlte ihr dies nicht, denn wie meinen verwegenen Unternehmungen im Grunde keine bösen Absichten innewohnten, war ich doch nicht unverschämt, boshaft oder ganz verdorben.

»Sie haben in allem, was Sie sagen, vollkommen recht!« antwortete ich. »Sie sehen mich beschämt! Ich bin verwirrt und voller Reue!« »Er drückt sich doch immer besser aus als alle andern, selbst wenn er im Unrecht ist!« sagte Colombe wie zu sich selbst. »Monsieur Nicolas! Ich bitte Sie, meiden Sie jene beiden, deren Umgang Sie entehren würde! ... Bewahren Sie sich Ihren guten Ruf, einer Schwester zuliebe...«

Meine Antwort war ein stummer Kuß auf ihre Hand, und diese Geste, die in dieser Gegend ungewöhnlich war, rührte sie; ich bemerkte Tränen in ihren Augen; aber sie beherrschte sich und bot mir ihre Wange.

»Nein!« sagte ich, »heute werde ich ein ehrbares Mädchen nicht einmal auf die Wange küssen!«

»Nun gut! Es sei denn!... Sie lindern alle Schmerzen, die ich um Sie gelitten ... Aber Sie dürfen sich nicht mehr mit diesen Elenden abgeben!« Ich versprach es ihr.

Inzwischen waren wir an der Stadtmauer angekommen. Lenclos und seine Schwester gingen fünfzig Schritte vor uns. Colombe bog in eine kleine winkelige Gasse ein, und ich betrat die Stadt von der andern Seite durch das Pariser Tor ...

In der Folge mied ich die Lenclos und traf weder mit dem Bruder noch mit der Schwester zusammen, denn es gab gute Gründe, die mich der Dankbarkeit für die Gunst, die ich bei ihr genossen hatte, entbanden.

Am Sonnabend, den 13. Juli, fünfzehn Tage nach unserem gemeinsamen Ausfluge, stand ich in der Frühe vor vier Uhr auf und arbeitete bis fünf Uhr, damit meine Arbeit unter der versäumten Zeit nicht leide. Von meinem Setzkasten aus konnte ich zur Kapelle des heiligen Simon hinübersehen. Um halb sechs Uhr schritt ich durch das Stadttor, entdeckte aber keinen Wagen auf meinem Wege. Sollte sie schon vor der Zeit abgefahren sein? ... Ich eilte weiter. Da erblickte ich jenseits der Kapelle auf der Seite von Epoigny einen Wagen, der den Hügel des Waldes von Chenayes hinabfuhr. Ich lief ihm nach, Colombe ließ halten, und einen Augenblick später hatten wir uns gefunden.

»Ich glaubte, ich würde Sie nicht mehr sehen«, sagte sie. »Ich rechnete auf sechs Uhr«, erwiderte ich, »aber wenn ich nicht so aufmerksam gewesen wäre, hätten wir uns nicht getroffen.«

»Das war es, was ich wollte, ich fürchtete diesen Augenblick!« sagte sie und warf sich in meine Arme.

»Wie, Colombe, ist das möglich?«

»Nun bin ich froh, daß es mir nicht gelungen ist. Wie bin ich glücklich, daß ich Sie doch noch einmal wiedersehe ...«

Bei diesen Worten brachen die Tränen aus ihren Augen und auch die meinen konnten nicht trocken bleiben.

»Das eben fürchtete ich«, sagte sie und trocknete sich die Tränen, »aber nachdem Sie es einmal gesehen haben, will ich sie ebensowenig vor Ihnen verbergen wie meine Gefühle ... Mein lieber Nicolas ... ich verlasse diese Stadt nur ... um nicht mehr ... einen jungen Mann zu sehen, den ich ... ich fühle es ... allzusehr liebe ... und ... der doch nicht mein Mann werden kann ... Aber ... ich wiederhole es Ihnen ... ich bedaure es dennoch nicht, daß ich Sie kennengelernt habe. Ich werde Sie lieben bis ans Grab!... Bewahren Sie mir ein treues Andenken, das ist alles, um was ich Sie bitte. Ich schäme mich weder meiner Gefühle für Sie, noch dessen, was ich aus Liebe getan habe, wenn ich Sie auch jetzt fliehe ... Im Gegenteil, meine einzige Freude, mein einziger Trost wird es sein, meiner Mutter alles zu sagen und ihr von Ihnen zu erzählen ... Auch darum gehe ich von hier fort: ich hatte hier keinen, mit dem ich davon reden konnte...«

Ich erstickte; ich befand mich an einem der grausamsten Wendepunkte meines Lebens. Mein Schmerz war so heftig und aufrichtig, daß er den meiner Geliebten milderte ...

»Trennen wir uns!« sagte sie endlich, »der Wagen wartet auf mich und der Kutscher wird ungeduldig ... Leben Sie wohl!«

»Ach, trennen wir uns nicht ... Bleiben wir zusammen!« rief ich.

»Das ist unmöglich ... Ich weiß alles. Ich würde eine zweite Madelon sein. Immer würde Fanchette dir fehlen, ihre Schwester, die dir sie ersetzen soll... Nun aber lebe wohl!« schloß sie nach einer stürmischen Umarmung, in der sich unsere Seelen vereinigten; dann gab sie dem Kutscher ein Zeichen und nötigte mich, auszusteigen...

»Lebe wohl, meine liebe Colombe!« rief ich.

»Lebe wohl, mein Bruder!« antwortete sie, und zum Kutscher gewandt rief sie: »Vorwärts, schnell! Fahren Sie zu!...«

Ich rief noch einmal hinter ihr her: »Lebe wohl, meine Schwester!« Es war ein Abschied auf ewig ... Niemals habe ich sie wiedergesehen, niemals wieder etwas von ihr gehört... Es war dies einer der schrecklichsten und niederschmetterndsten Schicksalsschläge, die mein Leben verdunkelten, als sein Frühling sich dem Ende näherte...

Am 15. Juli kam der neue Lehrling Louis Timothée Loiseau an, begleitet von seinem Freunde Lalande, dem Arzte, der der Gatte der älteren Schwester von Manon Bourgoin war. Er war ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt, also sechs Jahre älter als ich... Ich werde, solange ich lebe, diesen glücklichen Tag preisen, an dem ich einen wirklichen Freund fand, ein Gegengewicht zu Gaudet d'Arras, zu Gaudet aus Varzy und zu allen andern, die mich zu Ausschweifungen verleiteten, sei es durch irreführende Lehren, sei es durch die Lockung grober Wollust... O Loiseau, teurer Freund, du hast viereinhalb Jahre zusammen mit mir verlebt! ... Es war genug, um dich kennenzulernen, genug, um dich immer zu beweinen! . . . Doch es war nicht genug für mich! ... Vor welchen Ausschweifungen hast du mich bewahrt! ... Wie hast du mich in meinem Kummer getröstet, wenn du ihn nicht verhindern konntest! ... Aber warum beklage ich mich? Hat er mir nicht geholfen, die beiden grausamsten Verluste zu ertragen, die ich jemals erlitten?!...

Es war Mittag. Ich war mißgestimmt, und ich ging zum Essen hinunter, weil ich mich danach sehnte, Frau Parangon zu sehen; sie lächelte mich an, ein Lächeln, das mehr zärtlich als heiter war. Hinten, im großen Zimmer, bemerkte ich einen großen Mann, dunkelhäutig wie ein Jäger, und neben ihm einen schönen, blonden Jüngling mit leicht gebräuntem Gesicht, offenen Mienen, gütig, heiter und überaus gewinnend. Er gefiel mir sofort.

»Das ist Ihr neuer Kamerad, Monsieur Nicolas!« sagte Madame Parangon.

»Ich beglückwünsche mich, mein Herr!« sagte ich.

»Und ich«, entgegnete Loiseau, »mich noch mehr, mein Herr. Sie wissen das bereits, was ich zu lernen wünsche; also ist es an mir, Ihnen den Hof zu machen.« Er sagte dies in äußerst verbindlichem Ton (ach, wenn er die heutige Zeit erlebt hätte, wo man ,Bürger' sagt statt ,mein Herr', und wo man nichts hört als das ,Du'), er sprach, wie gesagt, in so höflichem Tone zu mir, daß ich ihn vom ersten Augenblick an liebgewann. Aber man glaube nicht, daß unsere Freundschaft sich so schnell bildete.

»Monsieur Nicolas wird alles tun, was er vermag«, sagte Madame Parangon, sich an Monsieur Lalande wendend. »Jedermann hat seine kleinen Fehler, aber Monsieur Nicolas hat so hervorragende Vorzüge, daß sie seine Mängel aufwiegen.«

Bei diesen Worten reichte mir Loiseau die Hand. »Wenn Sie vollkommen wären, so würde ich mich vor Ihnen fürchten. Gewähren Sie mir Ihre Freundschaft, wenn ich sie verdiene!«

»Es sei, und ohne Bedingung!« antwortete ich.

»Madame«, sagte er zu Colette, »was Sie da eben sagten, ist das Angenehmste, was eine Dame wie Sie von einem jungen Manne sagen kann, denn es verrät ein Gefühl der reinen und klugen Freundschaft.«

Ich entfernte mich ein wenig, indem ich den Stuhl der Madame Parangon auf seinen Platz rückte und ein paar Bücher in Ordnung brachte.

Lalande sagte leise zu Loiseau: »Er macht einen sehr netten, gewinnenden Eindruck und scheint recht ernst zu sein.«

»Ich habe es bereits gemerkt«, erwidete Loiseau, »und er hat ein offenherziges Lachen; ich stehe für ihn ein.«

Ich verlor keine Silbe von diesem Gespräch. Madame Parangon sagte lächelnd zu ihnen:

»Ich habe es bereits bemerkt«, erwiderte Loiseau, »und er hat ein offenherziges Lachen; ich stehe für ihn ein.«

Ich verlor keine Silbe von diesem Gespräch. Madame Parangon sagte lächelnd zu ihnen: »Trauen Sie ihm nicht, er hört Sie!«

Ich trat etwas näher. »Haben Sie nicht gehört, was man hier flüsterte?« fragte mich Colette.

»Doch, Madame!«

Lalande errötete. »Nun, er gesteht es wenigstens ein, ohne Ausflüchte zu machen«, sagte er.

»Ich habe ihn noch nie auf einer Lüge ertappt«, erklärte Colette, während ich in den Laden gehen mußte, um einen Käufer zu bedienen.

Endlich kam Monsieur Parangon aus seinem Zimmer, dann erschien der Faktor, und Loiseau wurde ihnen vorgestellt. Auch Mme. und Mlle. Bourgoin kamen noch dazu, und man ging zu Tisch. Loiseau glänzte mit seinen Kenntnissen auf allen Gebieten, und ich staunte über sein Wissen in der Philosophie und Physik. Er bemerkte meine Vorliebe für diese beiden Nährmittel des menschlichen Geistes, denn die Physik ist diejenige Wissenschaft gewesen, die ich immer inbrünstig und ohne Unterlaß geliebt habe. Er drückte sich gut und anschaulich, mit Anmut und Sicherheit aus. Er hatte die Hauptstadt des Landes gesehen, war in Dijon Hauslehrer der Kinder eines höheren Verwaltungsbeamten gewesen und hatte das gleiche Amt im Hause eines Barons von Puisaye bekleidet. Er hatte sich weltmännische Umgangsformen angeeignet, jene Formen, die mir fehlten, und er besaß das Auftreten eines Großstädters; aber eben dies war es, was mir anfangs, obwohl ich es an ihm bewunderte, ihm gegenüber eine gewisse Zurückhaltung auferlegte: gleich und gleich gesellt sich gern.

Nach dem Mittagessen folgte mir Loiseau in die Druckerei... Ich erklärte ihm alles. Bourgoin, der Faktor, rühmte mein Wissen und meinen Charakter. Ich war um soviel weniger unwissend wie Bourgoin, als Loiseau gescheiter war als ich. Loiseau war ein Mann; er wurde gleich am ersten Tage vor einen Setzkasten gestellt. Bourgoin äußerte sich Bardet gegenüber, daß Loiseau für sein Alter ein ungewöhnlicher Mensch sei.

Seit Colombes Abreise hatte ich keinen Freund mehr, und ich lebte still, schweigsam und in meine Arbeit vertieft für mich dahin. Loiseau hielt mich daher für einen mürrischen Charakter, blieb mir fern, und behandelte mich noch höflicher als die andern Drucker. Mich ärgerte dies, aber ich war zu stolz, um etwas davon merken zu lassen.

Loiseau beobachtete mich viel besser als ich ahnte. Er übersah die Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihm mein Charakter bereitete; wider meinen Willen liebte er mich, aber ehe ich ihn liebte, wollte er mich wert machen, sein Freund zu sein. Diese Bemühungen meines teuren Freundes Loiseau dauerten einundeinhalbes Jahr und hatten endlich Erfolg, aber dieser Erfolg blieb geheim, denn oft entgingen ihm selbst sogar die Anzeichen davon. Ich war noch nicht vollkommen mit ihm verbunden, als ich am 1. September des nächsten Jahres Auxerre verließ.

Madame Parangon erschien mir weniger schwermütig, seit ich einen tugendsamen Kameraden hatte. Diese vortreffliche Frau zweifelte nicht daran, daß er meine Sitten gut beeinflussen werde. Sie sprach mit mir fast nur noch abends, wenn er zugegen war ...

Ich hatte Mlle. Fanchette gesehen, als meine Eltern mich nach Vermenton gebracht und dort dem Buchdrucker Parangon vorgestellt hatten; ich fand sie reizend. Dies war etwa vor dreieinviertel Jahren gewesen. Sie zählte damals ungefähr zwölf Jahre, mußte jetzt also annähernd fünfzehn Jahre alt sein. Madame Parangon hatte ihren Vater gebeten, er möge Fanchette erlauben, sie zu besuchen, als sie nach Paris reiste, wo sie sechs Monate bleiben sollte ... So sah ich sie denn wieder.

Die Schönheit des jungen Mädchens blendete mich, als ich ihr bei Tisch gegenübersaß. Sie war blond, goldblond, während ihre Schwester aschblondes, feines Haar hatte. Sie hatte lebhafte, zarte Farben, edle Gesichtszüge, die sich durch ein wenig Keckheit von denen Colettes unterschieden, eine bewunderungswürdige schlanke Taille, wie sie eben einer Fünfzehnjährigen eigen ist. Hände und Arme sowie alles übrige waren vollkommen. Ihre Stimme hatte einen hellen Silberton, der voll Wohlklang war; sie sprach ein wenig langsam, mit verführerischer Anmut, und lachte oft mit kindlicher Grazie. Sie war lebhaft, beweglich, fröhlich, sie hatte Geschmack und Eleganz, alles Eigenschaften, die so gewaltig auf die Herzen der Männer wirken. So war Mlle. Fanchette, ehe sie in die Hauptstadt ging, wo sie sich noch weiter entwickeln sollte.

Als ich das große Zimmer betrat, spielte Fanchette mit Monsieur Parangon, der ganz ausgelassen war; beide lachten. Das liebliche Mädchen betrug sich derart, daß die Freiheiten ihres Schwagers die Grenzen des strengsten Wohlanstands nicht überschreiten konnten. Ich grüßte schüchtern, denn ich zitterte, sie zu verlieren!...

Bei Tisch war mein Platz neben ihr; ich war entzückt darüber. Sie sprach viel mit mir, in einem sanften, fast familiären Tone, der mich ehrte und mir schmeichelte, und der meine Hoffnungen erstarken ließ. Ich bemühte mich, liebenswürdig zu sein, aber ich weiß nicht, ob es mir gelang. Ein Schleier trübt meine Augen. Sie verriet viel Geist, ich bewunderte ihr Benehmen ...

Nach Tisch fand Mme. Parangon einen Vorwand, ihre Schwester und mich mit in ihr Zimmer zu nehmen, da sie mir Dinge von Wichtigkeit vor dem jungen Mädchen sagen wollte. Sie schickte mich nämlich hinauf, ein Kleidungsstück zu suchen, das ich aber nicht finden konnte, und als ich zu lange blieb, kam sie mit der jungen Fanchette selbst herauf, indem sie Ungeduld heuchelte ... Als wir drei ohne Zeugen waren, begann sie (ach, hätte sie ein Jahr oder mindestens ein halbes Jahr vorher so gesprochen!): »Meine Kinder, ich habe euch für einen Augenblick bei mir zusammengeführt, um euch etwas zu sagen, was notwendig für euch beide ist, für dich, meine Schwester, weil dieser hier dein künftiger Gatte ist, und damit du den Galanterien anderer Männer kein Gehör leihst, die vor allem in Paris sehr gefährlich sind! ... Für Sie, Monsieur Nicolas, auf daß Sie meiner Schwester würdig bleiben, indem Sie Ihre Ehre wahren und Ihre Sitten untadelhaft erhalten. Mit einem Worte, ihr beide müßt darauf bedacht sein, euch immer so zu betragen, daß alle Welt euch achtet. Was eure zukünftige Lage anbetrifft, so ist das nicht das Schwierigste; ich werde euch helfen, denn ich besitze Mittel und Wege dazu. In sieben bis acht Monaten werde ich meine Schwester von Paris wieder zurückholen und dann werden wir weitere Schritte unternehmen. Das übrige ist eure Sache; ihr wißt, was ihr zu tun habt!«

Sie legte Fanchettens Hand in die meine; ich küßte sie und drückte sie an mein Herz. Fanchette, die von ihrer Schwester vorbereitet schien, sagte zu mir:

»Mein Vater hält sehr viel von Ihnen! Ich hörte ihn verschiedentlich mit großem Lobe von Ihnen sprechen!«

»Ich hoffe, dieses Lob eines Tages zu verdienen!« antwortete ich ...

Ich sagte kein Wort mehr zu Fanchette, sondern küßte ihr nur noch öfters die Hand. Sie lächelte und blickte ihre ältere Schwester an, wohl etwas erstaunt über mein Schweigen.

Endlich fand ich die Kraft, zu sprechen: »Wenn ich eines Tages das Glück haben werde, Sie, Mademoiselle, zur Lebensgefährtin zu erhalten, so hoffe ich, Ihnen zu beweisen, daß Sie, die ich so lange hoffnungslos ersehnte, das Höchste und Köstlichste für mich auf Erden sind ... Ich schwöre Ihnen ewige Treue ... Ich schwöre es vor Gott und vor Ihrer tugendreichen Schwester! ...«

»Willst nicht auch du etwas versprechen und geloben?« fragte Frau Parangon.

»Ja, liebe gute Schwester, von ganzem Herzen! Aber wie soll ich es ausdrücken!«

»Gib ihm ein Unterpfand! ... Was du willst.«

Fanchette suchte; sie brachte verschiedene Dinge zum Vorschein, aber nichts davon schien ihr zu genügen. Endlich reichte sie mir ihre Taschenuhr. Ich zögerte, sie anzunehmen, aber ein Zeichen von Mme. Parangon befahl es mir. Ich küßte Fanchette die Hand und sagte:

»Aber was soll ich Ihnen geben?«

»Sie sind nicht darauf vorbereitet«, sagte Mme. Parangon, »aber ich habe daran gedacht.« Und sie gab mir eine viel schönere, zierliche Uhr, indem sie bemerkte: »Dies sei Ihr Geschenk!«

»Diese darf ich ihr schenken!« entfuhr es mir.

Ich befestigte die Uhr an der Kette Fanchettens und an der meinigen die, die ich von ihr erhalten hatte.

»Die Pfänder sollen euch aneinander erinnern ... Wer von euch beiden zuerst den andern vergißt, verliert meine Freundschaft, unwiderruflich. Gehen Sie nun, Monsieur Nicolas, ich möchte nicht, daß man unser Zusammensein bemerkt.«

Ich eilte an meine Arbeit zurück. In diesem Augenblick war ich glücklich, glücklich, als wäre ich in Unschuld wiedergeboren! Ach, wie ich Mme. Parangon anbetete! ... Ja, sie war es, die ich anbetete! Selbst in den Reizen der hübschen Fanchette fand ich nur ihre Schwester wieder ... Denn Colette hatte eine große Seele und Fanchette war noch zu jung ...


Nach Fanchettens Abreise ward ich betrübt; Madame Parangon sogar riet mir, mich zu zerstreuen. Sie empfahl mir, mich Loiseau anzuschließen. »Ich werde einige Zeit fern von Ihnen sein müssen ...« Ich verstand nicht recht, was sie damit sagen wollte. Sie mied mich von diesem Augenblick bis zu ihrer Abreise.

Mir selbst wieder ganz überlassen, gab ich mich eifrig dem Vergnügen des Tanzes hin. Am 31. Juli tanzte ich zum erstenmal öffentlich den »Liebessieger« und wurde sehr bewundert. Ein paar kleine Abenteuer blieben nicht aus.

Der Tag, an dem Mme. Parangon abreisen sollte, kam näher; sie war entschlossen, früher zu reisen, als sie mir ursprünglich gesagt hatte, gebieterische Umstände schienen sie zu zwingen, ihr Unternehmen zu beschleunigen. So nahte der 15. August, der Jahrestag von Madelons Tod. Ich hatte mir vorgenommen, ihn würdig zu feiern. Als ich nach dem Abendessen vom Tische aufstand und gehen wollte, bat Mme. Parangon mich vor allen Anwesenden um meinen Arm, da sie zur Mlle. Bourgoin gehen wolle.

Ich war der einzige, der von ihrer so bald bevorstehenden Abreise noch nichts wußte; wahrscheinlich hatte man mir nichts davon gesagt, weil man fürchtete, es würde zu schmerzlich für mich sein. Tiennette hatte wohl hie und da eine Bemerkung fallen lassen, aber sie hatte es nicht gewagt, ihrer Herrin, die mir selbst alles erklären wollte, vorzugreifen. Kaum waren wir allein, so sagte Mme. Parangon in fast furchtsamen Ton: »Sie werden ein wenig überrascht sein! Schon morgen reise ich ...«

»Wie, Madame?»

»Schon morgen reise ich zu Fanchette ...«

»Morgen?«

»Ich habe mich früher dazu entschlossen, als ich Ihnen sagte. Die Gründe, die ich unlängst angab, sind inzwischen noch zwingender geworden. Ich empfehle Tiennette Ihrer Hut ... Einer der Gründe, die meine Freundschaft für Sie gefestigt haben, war Ihr Benehmen gegen Aimée und Tiennette, und darum stelle ich Tiennette unter Ihren Schutz ... Ich werde mich unterwegs drei Tage zu Sens aufhalten; denn ich habe dort in Ihrem und in meiner Schwester Interesse etwas zu tun. Mein Vater ist von allem unterrichtet und leiht mir seinen Beistand ... Ich wiederhole es Ihnen, daß ich diese Reise nur Ihretwegen unternehme, denn die Interessen meiner Schwester sind untrennbar von den Ihrigen .. . Benehmen Sie sich während meiner Abwesenheit verständig. Schreiben Sie mir nicht; ich komme Ihnen darin zuvor, falls Sie mich darum bitten wollten; es ist vollkommen unnötig. Aber an Fanchette können Sie ein- oder zweimal schreiben. Wenn sich irgend etwas ereignen sollte, was ich unbedingt wissen muß, so teilen Sie es darin mit, daß ich es auf diese Weise erfahre.«

Wir waren vor dem Hause von Manon Bourgoin angekommen, die auf mein Klopfen selbst öffnete und Mme. Parangon umarmte. Wir traten ein, und kurz darauf kam Gaudet d'Arras, der kein Mönchsgewand mehr trug.

»Jetzt bin ich endgültig frei,« erklärte er; »heute noch reise ich nach Troyes, um mit meinem Vater zusammenzutreffen. Niemand weiß etwas von meiner Befreiung.« Und indem er auf Manon zeigte, fuhr er fort: »Sie ist seit heute morgen meine Frau! Alles ist in größter Heimlichkeit vor sich gegangen; das Glück ist ein zartes Pflänzchen, das am besten im Schatten gedeiht; man muß es behutsam anfassen.«

Nach einigen Worten nahm man Abschied voneinander, und wir gingen wieder.

Schon früh gegen halb drei Uhr am nächsten Morgen war ich auf, denn um fünf sollte die Post abfahren. Ich weckte Tiennette, die zu ihrer Herrin ging. Auch mich rief man hinzu, daß ich der schönen Reisenden bei den letzten Vorbereitungen behilflich sei. O mein Gott, wie anbetenswürdig sah Colette in ihrem neuen Reisekleide aus!

Sie hatte ihren Gatten gebeten, sich nicht so früh aus dem Schlafe stören zu lassen, und so verschlief er die Stunde der Abreise. In meiner Freude lobte ich Morpheus und hätte ihm eine Hymne gesungen, wenn die Liebe mir Zeit dafür gelassen ...

Tourangeot, Bardet, Bourgoin, Loiseau und Tiennette begleiteten uns aus dem Hause. Jeder trug ein Gepäckstück, und so eilten wir zur Post.

Dort nahmen wir Abschied von der Meisterin und warteten, bis die schöne Reisende abfuhr. Da wir keinen Augenblick allein waren, konnte sie mir nur noch ein paar aufmunternde Worte und ein Lebewohl sagen; dann setzte der Postwagen sich in Bewegung ... Gern wäre ich ein Stück weit mitgefahren, wie dies Sitte ist, aber wir hätten wenig dabei gewonnen, denn dann wäre auch noch einer von den andern mitgekommen, mit ihr allein zu fahren aber wäre aufgefallen ... Also trennten wir uns ...

Niemand als ich erschien abends bei Tisch, und so aß ich allein mit Tiennette. »Sie haben sich seit Mittag nicht sehen lassen!« sagte das Mädchen. Ich erzählte ihr, was ich den Tag über getan hatte, und es war das einzige Geständnis dieser Art, das ich einem andern Menschen anvertraute. Ich hatte an Colette und an alle Frauen gedacht, die ich in meinem Leben geliebt: an Jeannette Rousseau, an Manon Prudhot, an Edmée Servigné, an die schmerzvoll beweinte Madelon, deren Bild in meiner Phantasie mit dem Colettes verschwamm ... Alle diese Frauen, deren Liebe meiner Eitelkeit schmeichelte, verblaßten aber endlich vor Mme. Parangon, die mich wieder ganz in ihren Bann zog, und voll wehmütiger Zärtlichkeit gedachte ich des Abschieds ...

Das junge Mädchen ward gerührt, als sie von der innigen Andacht erfuhr, mit der ich meiner einstigen Freundinnen gedachte, und nicht minder bewegte sie meine Anhänglichkeit an unsere Herrin. Sie sagte naiv: »Monsieur Nicolas? ... Ich möchte wissen, ob Sie sich auch meiner einmal erinnern werden, in langer, langer Zeit?«

Ich blickte sie an ... Es schien mir, als ob ich mich auf zwanzig, dreißig, vierzig Jahre in die Zukunft hinaus versetze; und ich erinnere mich wirklich heute noch genau an all das, was damals geschah, obgleich sich um die Erinnerung an Tiennette jener Zauberschleier gelegt hat, der alle vergangenen Dinge umwebt ...

Ganz gerührt sagte ich: »Ich werde Sie niemals vergessen ... Und wenn ich Ihrer dereinst gedenke, so werde ich immer sagen: Sie war ein hübsches, liebes, gutes Mädchen, diese Tiennette Dominez aus Toury! ...«

Tiefgerührt sagte das gute Mädchen, während sich eine Träne aus ihrem Auge stahl: »Ach, Sie werden sich meiner erinnern?! Wie ich Sie beide liebe, Madame und Sie! ... Niemals habe ich einen jungen Mann wie Sie gesehen, niemals eine Herrin wie diese!«

»Tiennette,« sagte ich, »wenn ich einmal selbst Meister bin, dann werde ich ein Buch drucken, das berühmt werden und seinen Verfasser unsterblich machen soll, und auf den Titel oder auf die Schlußseite setze ich:

Colette war die anbetungswürdigste aller Frauen; sie hatte als Kammermädchen und als Freundin Tiennette Dominez aus Toury, das hübscheste, liebste und beste aller Mädchen, und ich, Nicolas Anne Edme Augustin Restif aus la Bretonne bei Sacy, hatte das Glück, beide zu kennen ...«

»Ach, Monsieur Nicolas, das wollen Sie wirklich hineindrucken?«

»Allerdings, das drucke ich hinein, ob ich Meister bin oder nicht, sobald es nur in meiner Macht steht.«

»Ach, wie glücklich würde ich sein, wenn ich es lesen könnte!«

»Sie sollen es lesen, ganz gewiß ...«

»Aber wann wird das sein? In zwanzig Jahren vielleicht? Ach, ich glaube, dann müßte ich vor Freude weinen! ...«

»Wenn ich weiß, wo Sie sind, sollen Sie es lesen!«

Nach dem Abendessen saß Tiennette an meiner Seite und ich unterrichtete sie im Lesen. In kurzer Zeit hatte sie so gute Fortschritte gemacht, daß ich sie deshalb lobte. Da bekannte sie mir, daß auch Mme. Parangon sie unterrichtet habe und sie also zwei Lehrer auf einmal gehabt hatte. Dies Wort entzückte mich! Ich gab ihr einen Kuß auf die Wange, ich ergriff eine ihrer Hände und hielt sie in der meinen; daß Tiennette die Schülerin der Mme. Parangon war, machte sie mir noch hundertmal teurer ...

Sie wollte aufstehen, aber ich hielt sie zurück und sagte zu ihr:

»Ist Ihnen meine Nähe nicht angenehm?«

»Im Gegenteil, ich fühle mich sehr wohl in Ihrer Nähe, aber ... es ist nicht gut, wenn man sich daran gewöhnt ...«

Ein leichtes, zärtliches Lächeln begleitete diese reizende Antwort ... Ich ließ sie aufstehen, aber um sie in meiner Nähe zu halten, schlug ich ihr vor, ein paar Schreibübungen zu machen, denn ihre Gegenwart war mir unentbehrlich.

Die Schelmin, die, ohne daß ich es wußte, von Mme. Parangon auch im Schreiben unterrichtet worden war, lächelte listig, während sie ging, um Papier zu holen. Dann setzte sie sich an den Tisch, breitete ihr Heft aus und bat mich, ihr eine Aufgabe zu stellen. Ich ergriff lachend die Feder und schrieb, um sie in Verlegenheit zu bringen:

Aufgabe für Tiennette Dominez.

Heute, am 15. August, ging hier die Sonne um fünf Uhr morgens unter. Das verstehe, wer kann; denn mehr kann ich nicht sagen.

Wie groß war mein Erstaunen, als ich sah, daß sie meine Worte ganz leidlich abzuschreiben vermochte ... Als sie das Wort ›sagen‹ geschrieben hatte, sagte sie kindlich: »Schauen Sie bitte nicht mehr her, sonst zittert mir die Hand.«

Ich zog mich ein wenig zurück und blickte ihr nach einer Weile verstohlen über die Schulter; zuerst las ich die Abschrift meiner Aufgabe, dann darunter voller Erstaunen das Folgende:

»Ich verstehe das rättsel wol, den es bedeutet, das Madam Parangon heute von hir abgereißt ist morgens fünf Ur mit der Poßt ...«

Plötzlich wandte sie sich um und erblickte mich. »Sie haben geschaut!« rief sie. »Auf die Orthographie verstehe ich mich noch nicht recht, das weiß ich wohl ...«

»Schreiben Sie weiter«, sagte ich; »ich werde einen Augenblick vor die Türe gehen; aber zeigen Sie keinem Ihr Schreibheft, falls jemand kommen sollte.« Sie nickte zustimmend, und ich ging hinunter.

Als ich wieder eintrat, schrieb sie noch immer; erst als sie mich hörte, hielt sie inne und trat beiseite. Ich fand zwei beschriebene Seiten folgenden Inhalts:

»Monsieur Nicola Anne Emme Ogustin Restif von Labretonne bei Sacy, mein lerer, der mich lesen und schreiben gelert hatt, hat mir versprochen, mich nimalls zu vergesen und hatt mir gesagt, das er meinem Namen zusamen mitt dem von Madame Parangon in ein Buch drukken wil in follgender weise: Colette die anbetungswürdigste frau hate alls kammerzoffe und Freundinn Tiennette Dominez aus Toury, das libste, hübbscheßte und besste Mädchen. Ich Nicola Anne Emme Ougustin von Labretonne bei Sacy hate das Glück, beide zu kennen. – Das wird mihr vil Vergnügen machen, den ich möchte zusamen mit Madam, die ich von Herrzen libe, in seiner Erinnerung bleiben, unnd ich habe es gern, wen mann in der Zukunfft an mich denkt. Darumm libe ich meinen Lerer noch mer, weil er meinen Nahmen in ein Buch drukken wil.«

Tiennette beobachtete mich, während ich halblaut das Geschriebene vorlas; sie war überrascht, daß ich es trotz ihrer mangelhaften Orthographie ohne Stockung lesen konnte.

»Das haben Sie gut gemacht, meine Kleine!« sagte ich. »Haben Sie wirklich am Berühmtwerden soviel Geschmack gefunden?«

»Was heißt das?«

»Daß man von Ihnen spricht, von Ihren Tugenden ...«

»Ja, das möchte ich ... Dafür gäbe ich zehn Jahre meines Lebens! Aber man soll nur Gutes von mir sagen ... nichts Schlechtes – – sonst möchte ich viel lieber sterben.«

Sie war so hübsch! Und ich war jung! Selbst die zärtlichsten Empfindungen, die in uns erweckt werden, sind in diesem Alter Erregungsmittel der Sinne. Ich zog Tiennette auf meine Knie. Sie blieb da. Ich umarmte sie, sie bot mir die Wange. Ich fühlte jenes heimliche Schauern, welches den Liebesgenuß verlangen läßt ... und ich drückte das junge Mädchen in meinen Arm ... Ich wußte, wie leicht sie zu erregen war ... Die Wirkung entsprach meiner Erwartung: die liebliche Dominez versank in einen Taumel der Trunkenheit. Ich wollte eben ... da zwang mich ein Lärm vor der Haustüre, einzuhalten; ich sah nach. Es war Tourangeot, der, vom Wein berauscht, Einlaß begehrte. Ich öffnete ihm, und wir brachten ihn in seine Kammer, Tiennette und ich. Durch diese Unterbrechung kamen wir beide zur Besinnung und als wir wieder allein im Zimmer waren, schien Tiennette ernst.

»Was haben Sie, meine Tiennette?« fragte ich.

»Ich habe ... nichts ... aber ... sagen Sie mir in allem Ernst, mein lieber Lehrer, wie kommt es, daß ich, sobald Sie mich berühren, in einen Zustand verfalle, den ich bisher noch nicht gekannt habe? Es ist ein sehr angenehmes Gefühl, aber es bedrückt mein Herz und danach bin ich traurig ...«

Ich wußte nicht recht, was ich ihr darauf antworten sollte; kannte ich doch selbst damals die Natur einer Wirkung, die mir nicht fremd war. Nun kenne ich den Grund: die junge Tiennette liebte mich mehr, als sie selbst ahnte, und sie ward sinnlich erregt, sobald ich sie berührte und an mich preßte. Damals erklärte ich es ihr damit, daß ich ihr sagte, was sie verspüre, sei ein Beweis ihrer Freundschaft, die sie mir entgegenbringe. Das tröstete sie ...

Die jungen Mädchen unserer Gegend haben ein heilsames Vorurteil: ein Mädchen fühlt sich wie entehrt, wenn ihm ein Bursche mit der Hand unter die Röcke greift. So war es auch bei Tiennette der Fall, über die ich schon hundertmal triumphiert haben würde, hätte sie nicht jene Freiheiten verweigert, die dem Genuß der Liebe vorausgehen. Aber sie war nicht dafür zu haben. Selbst ihr verzückter Zustand machte sie nicht gefügiger und ließ das Schamgefühl in der unschuldigen, naiven und reinen Tiennette nicht erlöschen. Bei einer solchen Gelegenheit sagte sie zu mir:

»Ach, mein lieber Lehrer, ich bin doch keine Bauerndirne! Wollen Sie mir weh tun, wenn Sie mich so anfassen?«

Monsieur Parangon, der eintrat, unterbrach meine verliebten Verwirrungen, und in meine Kammer zurückgekehrt, schämte ich mich meiner selbst und meiner Schwachheit ...

Meine erste Zerstreuung ward Rosa Lambelin. Bis dahin hatte ich einen auserlesenen Geschmack bewiesen: Alle, die ich bisher geliebt hatte in Dorf und Stadt, waren die Schönsten, die es gab, zum mindesten unter denen, die mir erreichbar waren. Und nun, Rosa Lambelin war häßlich, hatte einen gewöhnlichen Gesichtsausdruck und den Ansatz – wage ich es zu sagen? – den Ansatz zu einem Kropf. (Es kostet mich Überwindung, dieses häßliche Wort zu schreiben.) Und doch, Rosa Lambelin, obwohl häßlich und wirklich sehr groß, war zierlich gebaut und hatte einen Teint, zart und weiß wie Linnen. Dieses Mädchen bemächtigte sich weder des Herzens noch der Sinne, aber der Bewunderung des Liebhabers der schönen Fanchette und der anbetungswürdigen Colette. Was war doch an ihr, daß sie dies konnte? O mein Leser! Es war der Geist. Der Geist einer Hofintrigantin, der Geist einer Madame de Sévigné! Ich erzählte von ihren gewöhnlichen Gesichtszügen: und doch war es ohne Zweifel ihr Lächeln, das sie mir so liebenswert machte. Dennoch war es unnatürlich, daß sie ein Gefühl in mir auslöste, das einer Leidenschaft gleichkam. Sie fühlte es, und ihr Benehmen wurde ein Meisterwerk von Gewandtheit. Sie trat aus dem Kloster aus, in dem sie bisher Zögling war. Wir sahen uns das erstemal auf der Liebesinsel. Ich grüßte Rosa mit Nachdruck. Ab und zu blieb ich auch stehen, wenn ich gerade neben ihr war. Ihr Geist entzückte mich mehr und mehr mit den kleinen Einwürfen, die sie von Zeit zu Zeit machte. Kaum gewahrte ich sie an ihrer Türe, als ich auch schon zu ihr eilte. Wenn sie mich empfing, trug ihr sonst so herbes Gesicht einen feinen zärtlichen Schimmer. Ich fühlte mich wohl bei ihr und verließ sie stets mit dem Gefühl der Zufriedenheit, zufrieden mit ihr und mir. Da sie so häßlich war, wiegte ich mich in einer vollkommenen Sorglosigkeit. Einmal jedoch kam mir der Gedanke, ich könnte mich in sie verlieben, aber ich beruhigte mich, indem ich mir sagte: »Es wird mir sicher nicht schwerfallen, mich zu trösten.« Ich glaube, man soll mit der Liebe nicht spielen. –

Plötzlich, am 11. November, sah ich Jeannette Rousseau bei uns vorbeigehen, und zwar in Begleitung von Mutter und Bruder. Wenn ich auch lange nicht mehr so schüchtern war wie damals, wagte ich nicht, sie anzusprechen! Mein Aufenthalt in Courgis stand vor meinen Augen, ich wurde über und über rot, ich empfand das gleiche starke Herzklopfen, dasselbe Gefühl törichter Scham und hatte nicht die Kraft, hinauszutreten. Jeannette sah mich nicht, und ich wagte nicht, ihr gerade in die Augen zu sehen – ich sah sie zum letztenmal. Als sie vorbei war, fiel mir plötzlich ein, daß ich dabei übersehen hatte, drei Bekannte zu grüßen, die mich ebenso lebhaft interessierten; ich lief sofort hinaus und wollte mich zu ihnen gesellen ... aber ich hatte zu lange gebraucht, um mich zu fassen – sie waren verschwunden. Da stand ich nun unbeweglich – gedankenlos. So stand ich zehn Minuten, genau so einfältig wie derzeit in Courgis: ich war um vier Jahre zurückgekommen. Da ging die kleine Lucie Picard – ich habe bislang noch nichts von ihr erzählt – an mir vorbei. Sie war Waise, sehr hübsch und kam öfters zum Weißnähen zu Frau Parangon. Sie blieb stehen, trat auf mich zu und fragte, ob Frau Parangon wohl bald nach Hause zurückkäme? ... Diese Frage riß mich aus meinen Träumen; ich gab ihr zur Antwort, daß Frau Parangon erst Ende des Jahres wiederkommen werde. »Aber« – fügte ich noch hinzu – »Tiennette würde sich sicher freuen, Sie zu sehen, bitte kommen Sie doch einen Moment herein!« Ich wollte sie möglichst schnell loswerden und sehen, daß ich Jeannette am Ende doch noch erreichen könnte. Ich ging die Rue de la Fricauderie hinunter und traf gegenüber der Fleischbank Gaudet, der gerade vom Porte du Pont kam. »Eben ging hier die schönste Bäuerin, die man sich vorstellen kann, vorbei«, sagte er. »Ah, ist sie schön!« – »Was hatte sie denn an?« – »Ein feines blaues Mieder und einen rot und weiß gestreiften Rock; sie trug die übliche Kopfbedeckung und ein hübsch gefaltetes Umschlagtuch. Die war hübsch!« – »Das ist Jeannette Rousseau!« rief ich erregt. »Wo ist sie?« – »Ich weiß es nicht, aber die, von der ich spreche, muß jetzt in der Gegend von St. Gervais sein. Wenn es Jeannette Rousseau ist, dann ist sie ein hübsches Mädchen! ... Wo ist sie her?« Die Eifersucht – jawohl, ich war eifersüchtig – ließ mich das Wort Courgis nicht sagen, und Gaudet drang auch nicht weiter in mich.

Als ich wieder nach Hause kam, traf ich Lucie Picard bei Tiennette. Ich sagte, ich ginge nun arbeiten, und da niemand da sei, sollten sie dann läuten, wenn jemand in den Laden käme. »Bleiben Sie nur ruhig hier«, sagte Tiennette, »wir werden leise reden, um Sie beim Arbeiten nicht zu stören.« Ich mochte gegen die beiden hübschen Mädchen nicht unhöflich sein, und so blieb ich. Nach einer kleinen Weile sagte ich: »Ihr verwirrt mich, ihr Kleinen, ihr lacht und schwätzt und, in der Hauptsache, ihr seid hübsch; das alles zerstreut mich.« Lachend stellten sie einen Wandschirm vor mir auf, den sie, damit er nicht hindere, gegen die Ofenecke lehnten. Ich hatte kaum eine Viertelstunde gearbeitet, als jemand kam. »Hui«, sagte Lucie, »wenn es nur nicht Herr Parangon ist; ich mag nicht, daß er mich hier antrifft.« Sie trat hinter den Wandschirm und setzte sich auf einen kleinen Schemel, mir zu Füßen. Es war Tourangeot. »Ah, ich treffe Sie allein, Tiennette«, sagte er, »fein, wir werden uns jetzt messen.« – »Lassen Sie mich, Herr Tourangeot, ich sage Ihnen, Sie werden damit kein Glück haben; oh, wenn Frau Parangon es wüßte!« – »Ich achte diese Frau und wenn sie da wäre, würde ich mich vor ihr scheuen. Aber sie ist weit weg, und sehen Sie, hübsche Tiennette, ich fürchte niemand, der nicht da ist. Aber ich liebe die hübschen Anwesenden, wie zum Beispiel Sie, kleiner Schelm!»Dieses sagend umschlang er Tiennette und trug sie auf das Bett der Frau Parangon. Leidenschaftlich küßte er sie. »Es tut dem Pferd nicht wehe, wenn es von einem Fohlen getreten wird«, sagte er und verdoppelte seine Dreistigkeit. Lucie, die unter dem Gehörten förmlich litt, machte den Wandschirm ein wenig auf und stach Tourangeot mit einer Nadel in jenen Fleischteil, der für die Fehler der Schüler büßen muß. Tourangeot stieß einen von einem Fluch begleiteten Schrei aus. Da sah er Lucie. »Ah, Sie hier, kleine Katze! Das werden Sie mir büßen!« Er ließ Tiennette fahren und erwischte Lucie gerade noch beim Rockzipfel, und als er sah, wie schwächlich sie war, hob er sie wie eine Feder hoch. Die Kleine schrie um Hilfe, denn der Grobian verstand keinen Spaß, und Tiennette eilte herbei; aber als er sie abwehrte, erlaubte er sich derartig unflätige Berührungen, daß sie meine Hilfe in Anspruch nehmen mußte. Ich hatte schon geahnt, was kommen würde, als der rohe Mensch kam, und die Feuerzange in die Glut gelegt. Jetzt gab ich sie Tiennette, und diese ging damit auf Tourangeot los. Er packte sie mit der Hand an und verbrannte sich derart, daß er Lucie loslassen mußte. Lucie floh mit einem Satz davon, Tiennette rettete sich in die Küche und zog den Schlüssel ab.

Es muß erwähnt werden, daß Tourangeot getrunken hatte. Als er allein war, schob er den Wandschirm zur Seite und war natürlich verblüfft, mich zu sehen; aber ich schrieb und tat, als hätte ich nichts gehört oder gesehen. »Teufel noch mal, wie kommst du hierher?« – »He, was machst du hier für Radau mit den Mädchen, daß ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht?« Anstatt mir zu antworten, nahm er mein Tintenfaß und goß es über seine Brandwunden. Dabei fluchte er heftig und schwur, daß sowohl Lucie als auch Tiennette dafür büßen müßten. Ich sagte ihm darauf, daß ich alles gehört habe und sehr überrascht wäre, wie weit er es mit den Mädchen triebe, zumal sie doch im Hause wohnten und schon aus diesem Grunde zu achten seien. »Wenn ich sie küsse, so heißt das doch nicht, daß ich sie nicht achte.« Diese Antwort machte mich fast verlegen. Bestimmt müßte man mit diesem Schamlosen deutlicher reden und ohne Umschweife. »Und wenn sie nun ein Kind bekommt?« –»Dann heirate ich sie.« – »Aber sie liebt dich nicht.« – »Das ist es ja, wenn sie mich lieben würde, brauchte ich sie gar nicht erst durch ein Kind zu zwingen, mich zu nehmen.« – »Na und deine Marie?« – »Marie, du hast recht! Aber das war nicht ich, und ich bin doch eher verpflichtet, einem Kind meinen Namen zu geben, wo ich sicher weiß, daß es von mir ist, als dem anderen ... Aber du erinnerst mich an Marie; ich hatte sie über dem Trinken ganz vergessen. Wer nichts sieht, sagt auch nichts.« (Redensart des Tourangeot.) »Ich gehe jetzt zu ihr, wenn du hier weiter aufpassen willst.« – »Natürlich will ich, aber laß mich jetzt wieder arbeiten.« Mit diesen Worten verließ er mich, und alsbald erschien Lucie, die zu Marianne, der Zofe der Damen Cuisin geflüchtet war. Sie rief Tiennette, diese erschien auch sofort. Sie fragten mich nun, wie sie sich wohl bei Frau Parangon beklagen könnten. Ich antwortete ihnen: »Wer hier Zucht und Sitte aufrecht erhält, ist nicht da; nehmt euch nur nicht heraus, euch auch noch zu beklagen! Das kann ich euch sagen, ob es nun die eine oder die andere tut, ihr verkauft euch an den Fuchs und der wird euch fressen!« Kaum hatte ich so gesprochen, als die Tür aufging und jemand hereinkam. Die beiden Mädchen waren starr vor Schrecken, dann lief die eine hinter den Wandschirm und warf sich mir zu Füßen, während die andere in die Küche flüchtete. Es war Herr Parangon.

Tiennette mußte wiederkommen. »Bleibt der Herr hier?« – »Nein, nein«, sagte er mit frommer Miene ... »Sie werden immer hübscher, Tiennette.« »Sie wollen mir schmeicheln, Herr!« – »Ja, das ist wahr, das will ich«, und er zog sie auf seine Knie. Ich fürchtete eine Wiederholung des jüngst Erlebten, und da ich glaubte, Herr Parangon würde meine Anwesenheit nicht entschuldigen, hustete ich. Er sprang auf: »Wer ist da?« – »Es ist Herr Nicolas, er vertrat mich, solange ich in der Küche war.« Herr Parangon öffnete den Wandschirm, um mich zu sehen. Lucie kroch hinter meinen Stuhl und verbarg sich so. Ich hob nicht einmal die Augen, ließ den Federhalter im Mund und suchte krampfhaft ein Wort im Wörterbuch. Endlich grüßte ich und sagte: »Ach, ich sah Sie gar nicht, brauchen Sie etwas?« – »Nein, nein, aber Sie scheinen ja sehr beschäftigt.« – »Ich höre nie etwas, wenn ich bei der Arbeit bin; Sie wissen, meine Zeit ist kurz bemessen, ich will sie nützen.« – »Sehr recht, sehr gut, also ich gehe – Tiennette! ich esse in der Stadt!« – »Gut, Herr.« Er ging; weil er aber sehr stark war, stieß er im Hinausgehen den Wandschirm ganz um. Lucie stieß einen Schrei aus. »Zum Teufel, wer ist denn hier? Ah, Lucie, was machen denn Sie hier?« Ich sagte an ihrer Stelle, daß sie sich, als sie ihn kommen hörte, schnell versteckt habe, im Glauben, es sei Tourangeot, der zurückkehre. »Und sie flüchtet sich zu Ihnen?« – »Ja, Herr.« – »Lucie, glaub' mir, Tourangeot ist ein Lästermaul, der hier sagt nichts, aber er denkt sich das Seine.« Dann ging er weg, und wir waren alle drei froh, daß er nicht ungehalten über uns war.

Wir behielten Lucie zum Essen da; das war eine Freiheit, die uns Frau Parangon erlaubte, selbst in ihrer Abwesenheit. Tourangeot kam um acht Uhr wieder, zur gleichen Zeit wie Loiseau und Bardet; so waren die Mädchen in Sicherheit. Nach dem Essen spielten wir und Loiseau bewies, wie ein gescheiter Mensch das einfachste Spiel zur guten Unterhaltung machen kann. Als es Zeit war, Lucie nach Hause zu bringen, nahm sie meinen Arm und bat mich, sie ja keinem anderen anzuvertrauen. Ich sagte vor Loiseau zu Tiennette: »Behalten Sie doch Lucie hier, sie kann dann morgen nach Hause gehen.« Dieser Rat gefiel den beiden. Wir zogen uns zurück und die Mädchen warteten noch auf Herrn Parangon; denn dieser kam nie spät nach Hause. Er kam sehr vergnügt, aber als er sah, daß Lucie bei Tiennette war, schien er ärgerlich. Die beiden Mädchen gingen. Doch kurz darauf läutete er, um Tiennette zurückzurufen; allein sie war schon außerstande, sich zu zeigen, darum ging Lucie an ihrer Stelle. Herr Parangon verlangte etwas. Sie gab ihm das Gewünschte, aber im Dunkeln und ohne zu sprechen. Er wollte sie jedoch nur zurückhalten. »Liebe Tiennette«, sagte er, »ich liebe dich von ganzem Herzen. Beunruhige dich nicht über die Folgen, ich komme für alles auf und sehe mich vor.« – »Ach, Herr«, schrie Lucie, »haben Sie Mitleid mit mir.« – »Sie sind es, Lucie?« »Ja, Herr.« – »Aber, mein Kind, wie bin ich töricht; dich verführen, eine Waise, das wäre ... Bleibe brav, mein Kind und vergiß das schlechte Beispiel, das ich dir eben gab. Geht zu Bett, und ob ich läute oder nicht, niemand soll kommen, auch Tiennette nicht. Die Geister des Weines sind es, die mich plagen.« Ich war sehr froh, Herrn Parangon gerechtfertigt zu sehen. So verging der Martinstag.

Als ich am Weihnachtsabend erfuhr, daß Frau Parangon noch nicht zurückkäme, ging ich nach Sacy, wo ich bis zum 27. Dezember blieb. Als ich dann wiederkam, gab ich die in bezug auf Tiennette gefaßten Grundsätze auf. Ich kam vom Elternhaus, freilich, aber als ich die sieben Meilen zu Fuß gehen mußte, gingen mir allerhand Hirngespinste über die Liebe durch den Kopf. Ich kam an, berauscht von diesen wollüstigen Ideen, die alles, was groß, kräftig und schön gebaut war, einem sofort in die Augen stechen ließen. Tiennette empfing mich wie einen Bruder, ich sie wie eine Schwester. Ich wärmte mich an ihrer Seite und nahm Wein mit Zucker, um, wie sie sagte, meine erstarrten Glieder zu wärmen. Ein noch nie gekanntes Feuer lief durch meine Adern. Ich umarmte sie. Wir hatten uns seit vier Tagen nicht gesehen; so machte sie mir keine Schwierigkeiten. Aber ich ward immer feuriger und ihr um so gefährlicher, weil ich sie nicht an mich drückte wie in anderen Fällen. Sie war ohne Mißtrauen – meine Wünsche waren heiß ... sie stand auf ... Ich lauerte ihr auf und machte sie stolpern: sie verlor das Gleichgewicht und wäre gefallen, wenn ich sie nicht gestützt hätte. Ich zog daraus natürlich meinen Vorteil! Tiennette – man weiß es – erlebte diese Art Attacke nicht zum erstenmal. Ich war überzeugt von meinem Erfolg und preßte meine Lippen auf ihren köstlichen Mund. Sie seufzte tief und voller Hingabe ... Sie war sehr leidenschaftlich, aber sie wehrte sich noch etwas. Allmächtiger Gott, mit welchen Wonnen hast du den Akt der Fortpflanzung verbunden! Tiennette war berauscht von dem Taumel der Wollust. Endlich erreichten wir den Höhepunkt. In ihren Zügen spiegelte sich erst die Seligkeit des Erlebten, dann aber kamen die Gewissensbisse und verdüsterten es. Sie war so tief erregt, daß selbst, als sie wieder klar bei Sinnen war, freudiger Glanz aus ihren Augen strahlte. Die Begierde ergriff mich von neuem. Sie, verwirrt, ergab sich, ohne sich zu verteidigen, mit der Leidenschaft einer Zweiundzwanzigjährigen, tiefe Seufzer ausstoßend. Sie preßte mich an sich, sie war von Sinnen! Endlich sagte sie ein paar zärtliche Worte. – Es läutete. – Sie lief schnell, denn sie hatte Angst, entdeckt zu werden.

Als sie weg war, dachte ich nach. Zuerst an Frau Parangon, dann an Fanchette und endlich an das große Unrecht, das ich an Tiennette als meiner Freundin, meiner Schülerin, die mir anvertraut war, begangen hatte. Da kam sie wieder! Ich schaute sie an und nahm ihre Hand. Sie weinte ... Und dann schlug sie ihre Augen auf und sagte: »Wir haben eine große Sünde begangen, ach, wenn das nicht wäre, frohen Herzens hätte ich Ihnen das gegeben, das eine; es wird mir ein Trost sein, es dem einzigen Manne, dem meine Liebe gehört, gegeben zu haben!« Dann ging sie weg, um das Abendessen aufzutragen.

Als man vom Tisch aufgestanden war, glaubte ich sie zu trösten, wenn ich ihr alle Achtung bewies, die ich vor ihr hegte. Alle gingen, sogar Bardet, und wir blieben allein. Ich zog sie auf meine Knie, küßte sie und sagte: »Ich hab' dich von Herzen lieb, kannst du mir verzeihen?« – »Alles ist verziehen, ich kann nur auf mich selbst böse sein.« Ich küßte sie wieder und versuchte, abermals an mein Ziel zu kommen ... Aber sie sagte: »Denke daran, was aus dir wird, wenn die anderen es entdecken.« – »Denkst du dabei an dich?« – »Nein.« – »Ach du, ich habe dich besessen, es war eine der schönsten Stunden meines Lebens.« – »Ich habe mich hingegeben«, antwortete sie; »ich fühlte, es müsse sein, ich habe mich hingegeben, denn ich war nicht mehr Herr über mich selbst. Immer wünscht man zu wissen, wie es ist ... ich weiß es nun, aber ich glaubte nicht, es vor meiner Heirat zu erfahren ... Unglücklich wäre ich, wäre es ein andrer als du gewesen! Alles in mir drängte danach, eins mit dir zu werden; ich werde dir nie etwas verweigern, aber was sagen wir zu Frau Parangon? – Antworte nicht«, sagte sie, als sie merkte, daß ich sprechen wollte, »ich weiß, du hast ein weiches Herz, das dir mehr Vorwürfe macht, als ich es tun könnte; das wird dir den Weg weisen. Ich bin dir nicht böse, aber ich bitte dich, nicht gewissenlos wollen wir sein, wir wollen unsern Körper achten! Du bist müde, geh schlafen! Laß mich allein warten!« – »Nein, denn ich bin seit heute abend eifersüchtig, ich kann dich nicht allein lassen ... Tourangeot könnte kommen, und du bist erregt ... du würdest unterliegen.« Sie schaute mich an und sagte: »Wenn du kannst, so nütze die Schwachheit meines Herzens und sieh, ob ich dir unterliege. Undankbarer, ward ich nicht angegriffen von Herrn Parangon, Bourgoin, Tourangeot und den Arbeitern? Es hat mich nicht einer auch nur geküßt! Ich stieß sie weg, wie Kinder. Sieh doch, ich bin groß und stark! – Geh«, sagte sie, schlug die Augen nieder und fuhr fort, »ich habe nur einen Wunsch, Gott allein weiß, welchen!« Ich verließ sie mit den Worten: »Du überzeugst mich, auf Wiedersehen, Liebste, gib mir noch schnell einen Kuß!« Ich bekam ihn, aber zart, als ob sie meine Schwester wäre.

Kaum war ich weg, als ich auch schon Schritte hörte. Neugierig lauschte ich; es war Bourgoin. »Ha, Tiennette allein? Was haben Sie? Kummer?« – »Ja, Herr.« – »Kann ich dich trösten?« – »Niemand kann es.« Er wollte sie küssen, ich sah dann, daß sie mir die Wahrheit gesagt hatte; sie warf ihn auf einen Stuhl und sagte: »Lassen Sie mich in Ruhe!« Er murmelte noch etwas wie: »Immer die gleiche, immer wild! Aber Sie sind anständig, und Sie haben recht!« Er ging weg. Tourangeot kam zurück. Er schob Tiennettes Haube weg und gab ihr eine Ohrfeige. »Du wirst es mir bezahlen«, sagte er und warf sich auf sie. Aber das starke Mädchen stieß ihn weg und warf ihn zur Türe hinaus. Er wollte gerade wieder eintreten, als Herr Parangon kam. Da floh er, aber für Tiennette kam nun der dritte Angriff. Er blickte hinter den Wandschirm. »Ich wollte sehen«, sagte er, »ob Herr Nicolas und Lucie noch da versteckt sind. Ah, Tiennette! Weißt du auch, daß ich dich heiraten werde? Hab keine Angst, du bist hübsch, und ich bin mir deines Wertes bewußt. Ich verspreche dir gute Versorgung, Verschwiegenheit und Heirat. Ich werde deinen kleinen Haushalt bezahlen.« Er wollte sie in den Arm nehmen, aber sie sagte: »Wenn Ihnen etwas geschieht, sind Sie selbst daran schuld!« Er ließ sie nicht los. Da warf sie ihn um, hielt ihn aber im Fallen auf, denn bei seiner Körperfülle hätte es ihm das Leben kosten können. »Willst du also wirklich nicht?« sagte er. »Nie, Herr, reden wir nicht mehr davon.« – »Ich achte dich noch mehr, wenn du unbedingt so tugendhaft sein willst, gut, aber wenn ich erfahre, daß ein anderer ... das würde ich dir nie verzeihen!« – »Wenn ich schon so schlecht sein werde, eine Schwäche zu haben und eine, ich weiß nicht was, zu werden, so duldeten Sie mich nicht im Hause, das ist mir klar! –«

Als sie mit der Arbeit fertig war, ging er zu Bett und sie löschte die Lichter. Ich wartete auf sie. »Was, du hier?« – »Ja, ich habe alles gesehen! Du, du bist ein Schatz, den ich nicht verdiene ... ich bin entflammt, ich will bei dir schlafen ... ich will ... dir meine Liebe beweisen!« – »Nie«, sagte sie, »selbst bei dir will ich nur ›eine‹‹ schwache Stunde gehabt haben; ich bin unterlegen, ich unterliege vielleicht noch einmal, aber nie will ich die Achtung vor mir selbst verlieren müssen! Achte dich selbst! Du wirst aus deiner Tiennette doch kein liederliches Frauenzimmer machen wollen!« – »Gute Nacht«, sagte ich, »etwas in mir sagt, daß du recht hast.«

Ich sah Tiennette kaum anders, als errötend. Ich war aufmerksam gegen sie und bewies ihr meine Achtung, und dadurch gewann ich mir auch die ihrige in vollem Maße wieder, die meine Verwegenheit zweifellos vermindert hatte.


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