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Im Krankenhause.

Hans Eichner war ein strammer Bursche, dem das Blut leicht und schnell durch die Adern floß und der sich vor nichts in der Welt fürchtete. Weit und breit kannte man ihn als flotten Tänzer, ohne den ein Ball gar nicht denkbar war, und als lustigen Gesellschafter, der nach der Tagesarbeit gern ein Stündchen im Freundeskreise zubrachte. Große Gedanken hatten keinen Platz in seinem hübschen Kopf, – wozu sollte er sich auch mit Denken plagen? Sein Herr war mit ihm zufrieden, er selbst jung und gesund, – worüber also sollte er sich Gedanken machen? Etwa über seine Seele? Er wußte nichts von ihr, er kannte nur seinen Körper, seinen starken, schön gestalteten Körper, auf den er so stolz war. Er beurteilte auch seine Nebenmenschen nur nach ihrem Körper und behandelte sie gut oder schlecht, je nachdem ob ihre äußere Hülle ihm sympathisch war oder nicht.

Eines Tages, als Hans Eichner frohgemut an einem Neubau vorüberging, stürzte ein Balken aus beträchtlicher Höhe scharf vor ihm nieder und zerschmetterte ihm den Fuß. Besinnungslos ward er ins Krankenhaus gebracht. Als er wieder zu sich kam, lag er in einem freundlichen Zimmer, in dem noch einige andere Kranke untergebracht waren; er wollte aus dem Bett springen – und konnte sich nicht rühren. Da begriff er, was ihm geschehen war und wo er sich befand, und eine namenlose Angst kam über ihn: wie, wenn er sich nie wieder frei bewegen könnte? Er hatte hie und da davon gehört, daß zuweilen ein Glied abgenommen werden mußte, um den ganzen Körper zu retten, – sollte auch ihm ein solches Unglück vom Schicksal beschieden worden sein? Wer lenkte, wer regierte denn das Schicksal, daß es zu dem einen in dieser Gestalt und zum andern in jener kam? In der Schule hatte er gelernt, daß Gott der Schicksalslenker sei, aber daran hatte er seit vielen Jahren nicht mehr gedacht. Und nun, während unbeschreibliche Schmerzen seinen kranken Fuß durchzuckten, mußte er immer von neuem daran denken, mußte sinnen und grübeln und sich mit Fragen quälen ... Seine Angst wuchs. Er, der sich sein Leben lang so stark und sicher gefühlt hatte, kam sich plötzlich so hilflos und verlassen vor, daß ihn die Sehnsucht nach göttlichem Beistand packte. Unwillkürlich faltete er die Hände. Er wollte Gott um Genesung bitten, er wollte seinen gesunden Fuß wieder haben, – Gott konnte doch ihn, den lustigen Hans Eichner, nicht zum Krüppel machen wollen!

Wie aber, wenn Gott sich gar nicht um ihn kümmerte? Wenn ihm Hans Eichners zerschmetterter Fuß ganz gleichgültig war? Vielleicht half er nur denen, die ihm auch in guten Tagen treu dienten und sich nicht nur in der Stunde der Not seiner erinnerten?

Aber der Arzt, der mußte ihm helfen! Dazu hatte er ja studiert. Und die moderne Wissenschaft kannte ja so viele und so sicher wirkende Mittel gegen die verschiedensten Krankheiten. Hans redete sich ein, daß er gar keine Angst mehr habe, aber das Alleinsein war ihm fürchterlich. Er hob den Kopf ein wenig und sah zu den anderen Kranken hinüber. Die lagen still da und schienen zu schlafen. Da streckte er die Hand aus nach der Glocke neben seinem Bette und läutete.

Die Krankenschwester trat ein, warf einen schnellen Blick über alle Betten und näherte sich dann leise Eichners Lager.

»Brauchen Sie etwas?« fragte sie teilnehmend.

»Trinken möchte ich,« stieß Hans mit bebenden Lippen hervor, doch als die Schwester ihm das Glas hinhielt, konnte er keinen Schluck hinunterbringen. »Ist mein Fuß schwer verwundet? gar gebrochen?« fragte er, indem er sich vergeblich bemühte, seine Angst zu verbergen.

»O machen Sie sich doch keine Sorgen!« beruhigte ihn die Schwester, »morgen werden Sie operiert werden und dann ist alles wieder gut.«

Operiert! also doch. Scheu blickte er zur Schwester hinauf, als wollte er in ihrem Gemüte lesen, was ihm bevorstehe. Sie lächelte ihm freundlich zu, aber in ihren Augen lag tiefes Mitleid. Da wußte er genug. Sie wollten ihm also den Fuß abnehmen – vielleicht nur die Zehen, vielleicht den ganzen Fuß – oder gar das ganze Bein. Er traute sich nicht weiter zu fragen, – wozu auch, ein Krüppel wurde er doch in jedem Fall! Es gab zwar künstliche Gliedmaßen, das wußte er, aber die waren kalt und leblos und er konnte sich nicht vorstellen, daß er mit einem künstlichen Bein wandern und tanzen werde. Ein Krüppel! – – –

»Schwester, wo ist denn der Doktor?« stöhnte er gequält auf.

Die Schwester legte sanft ihre Hand auf seine glühende Stirn. »Der Herr Doktor ist jetzt oben, er kommt heute wohl nicht mehr herunter; er kann Ihnen jetzt auch gar nicht helfen, haben Sie Geduld bis morgen, vertrauen Sie nur auf den lieben Gott und versuchen Sie zu schlafen!«

Hans schloß die Augen und die Schwester ging leise hinaus.

»Vertrauen Sie auf den lieben Gott,« hatte sie gesagt. Dann durfte er ja wohl beten, obgleich er das in gesunden Tagen nie getan hatte. Und Gott würde ihm wohl helfen und nicht zulassen, daß der Doktor ihn zum Krüppel machte. Ach, wie der Fuß schmerzte! Es war, als würde er mit glühendem Eisen gebrannt, als reiße jemand mit einer Zange ganze Fleischklumpen von ihm ab, und er lag doch so sicher einbandagiert und bequem gebettet da! Hans Eichner schrie laut auf vor Schmerz, dann schämte er sich seiner Schwäche und lag still, bis das Brennen und Reißen wieder zunahm und ihm neue Klagelaute entlockte. Und die Laute formten sich zu Worten: »Gott, mein Gott, hilf!«

Er faltete die Hände und sagte ein Gebet her, das ihm aus der Schulzeit im Gedächtnis geblieben war. Dann wieder schien es ihm, als erwarte Gott von ihm etwas anderes, ein innigeres, eigenes, ganz neues Gebet, und er mühte sich ab, neue Worte zu finden, die gerade für seinen Fall passen sollten; aber die Schmerzen benahmen ihm alles Denken und er konnte wieder nur stöhnen: »Hilf mir, mein Gott, hilf!«

Um Mitternacht schlief der Kranke für kurze Zeit ein. Dann fuhr er erschreckt auf: ihm hatte Entsetzliches geträumt. Sein Fuß war in der Hölle gewesen, nur der eine, zerschmetterte Fuß, und er, Hans Eichner, hatte sich darauf besinnen sollen, wofür dieser Fuß mit dem ewigen Feuer bestraft worden war, und hatte doch keinen Gedanken fassen können. Die Zunge lag ihm so dick und schwer im Munde, die Lippen bebten und plötzlich stürzten ihm die heißen Tränen aus den Augen ...

Am anderen Morgen wurde Hans Eichners zerschmetterter Fuß bis zum Knöchel amputiert. Als der Kranke aus der Narkose erwachte, war er ganz fassungslos und weinte wie ein Kind; so hatte Gott ihm also doch nicht helfen wollen! Jetzt nutzte ja auch alles Beten nicht mehr: ein neuer Fuß konnte ihm nicht mehr wachsen, das hatte es noch nie auf der Welt gegeben. Aber Arzt und Krankenschwester hatten von einem Gummifuß gesprochen, mit dem man sicher und ohne zu hinken auftreten könne. So einen wollte er sich jedenfalls machen lassen. Vielleicht würde man es dann nicht gleich merken, daß er ein Krüppel sei. Dieser Gedanke beruhigte ihn ein wenig.

In der Nacht begann der Kranke heftig zu, fiebern. Die Schmerzen nahmen zu und der Arzt erklärte, daß der Fuß bis zum Knie amputiert werden müsse. Hans Eichner hörte das und lachte bitter auf.

»Was kümmert's mich? Jetzt ist schon alles eins!« sagte er trotzig. In seinem Herzen aber schrie es: »Nein, nein! nicht alles eins! O Gott, warum strafst du mich so, warum?«

Während der letzten Stunden der Nacht lag er bewegungslos auf seinem Schmerzenslager. Sein müder Kopf suchte wieder nach neuen Gebetsworten, ohne sie zu finden, seine Seele bangte und zitterte ... Dann fühlte er wie im Traum, daß er gehoben und getragen wurde. Es roch nach Chloroform; er hörte die Stimmen der Ärzte und der Krankenschwestern, ohne zu verstehen, was sie sagten. Ihm war, als schnitten sie ihm ein Glied nach dem andern ab, aber er fühlte keinen Schmerz. Jetzt – jetzt schnitten sie ihm wohl gar die Brust auf, um ihm das Herz herauszunehmen! Todesangst packte ihn, doch im selben Augenblick fand er das Gebet, nach dem er so lange vergebens gesucht hatte: »Herr, Dein Wille geschehe!«

Da wich die Angst von ihm. Leicht und wohl wurde ihm zumute, als falle alles Erdenleid von ihm ab, als wüchsen ihm zwei schneeweiße Flügel an den Schultern ...

Seine Seele, die so lange Jahre geschlafen hatte, war erwacht; sie erhob sich auf Engelsfittichen vom blutigen Operationstische und schwebte leise, leise himmelwärts.

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