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Die entscheidende historische Bedeutung der Apokalypse ist indessen selbstverständlich die, daß die Schrift uns den Geisteszustand entschleiert, in dem die Mischung jüdischer Voraussetzungen mit Keimen des späteren Christentums zum erstenmal Form annahm. Diese Form ist halb Mystik und Ekstase, halb Spitzfindigkeit ohne jeden Ballast an Vernunft oder Welterfahrung. Sie gibt weder dem Gefühl noch dem Verstand irgendwelche gesunde Nahrung, sondern hetzt, ja peitscht die Einbildungskraft dermaßen auf, daß sie mit schäumendem Gebiß dahinjagt.

Das Buch bildet das Fundament des Neuen Testaments, insofern es energisch eine etwas umgeformte und ausführlichere Durchführung des alttestamentarischen Messiasideals anstrebt.

Will man sehen, welche Gestalt dieses Messiasideal ein Jahrhundert später annahm, so muß man nach der Vertiefung in die Offenbarung des Johannes, die der Ausgangspunkt ist, das Evangelium des Johannes studieren, das tatsächlich das Neue Testament abschließt und den zurückgelegten Weg zeigt.

Das Evangelium des Johannes ist seinem Wesen nach ganz ebenso unhistorisch wie die Offenbarung des Johannes, ist ebenso unabhängig von den synoptischen Evangelien. Das vierte Evangelium behandelt Einzelheiten der Synoptiker souverän als bloßes Material, das sich in einem mehrstöckigen theologischen Gebäude anwenden läßt, sobald das Material erst von Symbolik durchdrungen und in einem Geiste ausgelegt ist, der es aller irdischen Stofflichkeit beraubt.

Das vierte Evangelium ist in seinem Geist wie in seiner ganzen Konstruktion ebenso grundverschieden von den früheren Evangelien wie von der Apostelgeschichte, die trotz des Übernatürlichen und Wunderbaren, das berichtet wird, ausnahmslos eine rein erzählende Haltung erstreben.

Das Johannesevangelium ist ganz und gar theologisch-geheimnisvolle Theologie, ja selbst die dargestellte Hauptperson ist eine lebende Allegorie. Es kommt hier nicht ein einziger Zug vor, der nicht symbolisch verstanden werden muß. Ja, es gibt Stellen, die förmliche Lagen von Symbolen sind.

Wenn z. B. Johannes der Täufer Jesus kommen sieht und sagt: »Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünden trägt«, so ist hier erstens der Leidensgeschichte vorgegriffen. Dann ist Jesus mit dem Osterlamm verglichen. Ja, in diesem Wort sind mehrere Lagen Symbole. Das Osterlamm ist im Munde des Johannes das Verbindungsglied zwischen dem Lamm in seiner buchstäblichen Bedeutung und der Vorstellung, daß Jesus stirbt, um die Sünde fortzunehmen und die Nahrung des ewigen Lebens zu werden.

Aber es liegt noch weit mehr Symbolik nur in dieser einen Idee, daß Jesus das Osterlamm ist. Während die drei früheren Evangelisten Jesus am Pesach-Festtage selbst sterben lassen, behauptet das vierte Evangelium, daß sein Todestag nicht der 15., sondern der 14. Nisan war (18, 28). Dies beruht auf dem leidenschaftlichen Streit, der Mitte des zweiten Jahrhunderts wegen der Heilighaltung des Osterfestes in Kleinasien ausgebrochen war. Die judenchristliche Partei hielt sich an die Tradition und feierte mit den Juden zusammen Ostern durch eine Mahlzeit am 14. Nisan. Sie berief sich deswegen auf das Evangelium des Matthäus und das Zeugnis des Apostels Johannes.

Die Anhänger des Paulus waren dagegen gleichgültiger bezüglich der Einhaltung der bestimmten Festtage (Kolosser 2, 16). Warum sollte man ein jüdisches Osterfest feiern, da Christus doch an und für sich das wahre Osterlamm war und als solches geschlachtet wurde! (1. Korinther 5, 7)! Deshalb wird auch hier im Evangelium des Johannes (19, 36) auf einem Umwege behauptet, daß Jesus das Osterlamm sei. Man pflegte ja bei Hinrichtungen dem Gekreuzigten die Beine zu brechen mit der Absicht, die Qual zu verkürzen. Nach dem Evangelium geschah dies nicht bei Jesus, da er schon vorher gestorben war. Die Juden wollten nicht, daß diese Verwundung geschehen wäre, da sie nach dem Gesetz Mose verboten war. Steht doch im 2. Buche Moses 12, 46: »Du sollst nicht aus dem Hause bringen von dem Fleische (des Osterlamms) nach außen, und das Gebein sollt ihr nicht zerbrechen an ihm«, und wiederum im 4. Buche Moses 9, 12: »sie sollen keinen Knochen daran zerbrechen«.

Jesus ist also das wahre Osterlamm, da ihm die Beine nicht gebrochen wurden. Man muß sich mehrere Jahrtausende zurückversetzen, um den Gedankengang, die Übertragung uralter Speiseregeln auf die Art der Mißhandlung einer göttlichen Persönlichkeit, zu begreifen.

Für uns ist es am interessantesten zu sehen, wie der vierte Evangelist, um sich aus diesen sektiererischen Streitigkeiten über die Bedeutung des Ostermahls herauszuwinden, ganz überspringt, was bei den früheren Evangelisten der letzten Mahlzeit die Weihe gab – nämlich die Einführung der Sakramente des Abendmahls – und das Mahl nur den letzten Beweis für die Liebe Jesu zu seinen Jüngern sein läßt. Und das, während gleichzeitig seine ganze Darstellung der Leidensgeschichte von dem jüdischen Osterritual beherrscht ist.


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