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Zwölftes Kapitel.
Ulsnis

Im nächsten Sommer war Anni nach Eutin eingeladen worden von Leuten, die mich schon kannten, so daß ich nicht mitdurfte. Dagegen erklärte sich mein Onkel Peters bereit, mich für vier Wochen in sein Pfarrhaus aufzunehmen, das in Ulsnis, einem kleinen dörflichen Kirchspiel an der Schlei lag.

Dieser Onkel begriff nicht, daß ich ein großer Held war, wenn ich allein spielen mußte, Achilles, der die Trojaner niedermähte. Ich bekämpfte seine Sonnenblumen im Gartengrund vor den Gemüsebeeten. Mit einem gewaltigen Holzschwert und einem Schild, der mit selbstgewonnenem Katzenfall überzogen war, vernichtete ich in ganz kurzer Zeit vierzig Trojaner, nicht ohne daß ich sie zuvor mit Pfeilen beschossen und mit meinem Speer beworfen hätte, der zwei fällte. Meinem Onkel fehlte der Sinn für die Antike.

Da er Pfarrer war, nannte er die Leute des Altertums durchweg Heiden und verwarf alles als Unmoral, was sie getan hatten. Sollte man seinen Worten Glauben schenken, so begann die menschliche Sittlichkeit mit Abraham und dauerte in dessen Familie an bis zum Erscheinen Christi. Dann hörte sie in diesem Volk über Nacht völlig auf und nahm ihren Sitz in den Pfarrhäusern, soweit sie nicht katholisch waren, und vorwiegend in Deutschland. Von den Franzosen erfuhr ich, daß sie Schaumwein in zweifelhafter Gesellschaft zu sich nähmen, und von den Engländern, daß sie ähnlich schädliche Getränke an unschuldige Neger- und Chinesenstämme verzapften, um sie ihrer Baumwolle und Seide zu berauben.

»Wiederhole, was ich gesagt habe«, rief der Onkel, Widerspruch witternd.

Da ich nur halb hingehört hatte, kam eine Antwort zustande, die etwa ausgesagt haben mag, daß die Franzosen ihrer zweifelhaften Gesellschaft die Baumwolle und Seide raubten; jedenfalls schlug der Onkel aufgebracht und gutmütig nach mir, wagte aber nur diesen einen Ausfall, dem ich mich entziehen konnte.

Ich merkte trotzdem, daß er mich gut leiden konnte und ein heimliches Vergnügen an mir hatte, er schickte mich auch wegen der Sonnenblumen nicht fort, sondern ließ sich am Abend von mir aus der Ilias vorlesen, die ich in der Schwabschen Umdichtung gegen einen Schulatlas eingetauscht hatte und damals immer bei mir führte. An der Art, wie er nach einer Weile die lange Pfeife hielt und schwenkte, merkte ich, daß er in Begeisterung geriet und daß die herrlichen Bilder und Gestalten dieser Dichtung Gewalt über ihn bekamen. Seit jener Stunde gewann ich ihn lieb und trug ihm seine Sittlichkeit nicht mehr nach.

Er ergänzte mir den Ablauf der Geschichte der damaligen Zeit nach seinen Kenntnissen, aber den Schmerz des Achilles vor der toten Penthesilea ließ er sich von mir erklären, schwieg mit unsicherem Lächeln, während ich sprach, und die Überlegenheit seines Gesichtsausdrucks ging langsam in Staunen über.

»Genug«, rief er, »wie willst du das wissen, du Sonnenblumenritter, du Schlangenbändiger, du Froschjäger. Ja, die Heiden, diese Heiden ... die hatten noch Erlaubnis.« Wozu, blieb offen, er sah in den abendlichen Garten hinaus, und wir lauschten zusammen auf die hellen kurzen Schreie der jungen Eulen, die wie sanfte, weiche, farblose Federballen auf den spärlich belaubten Zweigen des Birnbaums hockten.

Der Onkel wurde schwermütig:

»Meine Frau«, begann er, »deine Tante ...« Hier verstummte er.

Ich beschloß, die Eulen zu fangen.

*

Es war deutlich, daß dieser Onkel mich genau in dem Maße leiden mochte, als ich ihm bei unserem persönlichen Zusammensein Unterhaltung bot und Gelegenheit, etwas auszusagen, das ihm wichtig vorkam; entzog ich mich ihm jedoch längere Zeit, oder ging ich meine eigenen Wege, so wurde er unruhig und mißtrauisch und sammelte Einwände. Ich mußte ihn gewissermaßen täglich neu erobern, was mich verdroß, ich hatte mehr für beständige Sympathie übrig, die ohne Ansehen der Person und der Untugenden als Liebe waltete und Freiheit gewährte.

Sonntags legte er großen Wert darauf, daß alle Hausgenossen den Gottesdienst besuchten, wenn er die Predigt hielt. Zum Pfarrhaus gehörte ein eigenes Gestühl in der Dorfkirche, die alt und wohnlich wirkte. Leider gehörte mein Onkel zu den Pastoren, denen nicht gegeben war, rechtzeitig das Ende ihrer Predigt zu finden, man merkte deutlich, wie er nach einer Stunde auf der Kanzel ärgerlich wurde, weil sich kein Ende einstellen wollte, auch erbitterte es ihn, daß die Bauern einschliefen. Waren alle in Schlummer gesunken, so hob er seine Stimme bis an die Grenze des Schrecklichen; meistens wählte er hierfür eine Drohrede aus den alten Propheten, so daß die Schläfer erwachten und das Schnarchen hier und da verstummte. Da nun aber die Erweckten wegen der Störung Verdruß und Unwillen zeigten, sah mein Onkel sich genötigt, sie zu versöhnen, weil ein gut Teil dieser Bauern seine Pächter waren, und so ging er auf einen freundlichen und einschmeichelnden Ton der Rede über, der eher die Gnade als den Zorn des Himmels in den Vordergrund rückte, so daß alle wieder einschliefen.

Da die Tante ihr Strickzeug mitbrachte, hielt sie es aus, bis endlich die Gemeinde durch Hunger in Unruhe versetzt wurde. Dann kam das Amen, häufig mitten im Satz, und wir sangen ein Dankeslied. Zuweilen kam während der Predigt ein Hund durch den Mittelgang, hörte meinen Onkel predigen und bellte zur Kanzel empor, dann wählte der Onkel etwas aus der Apokalypse, um das Hündchen zu verscheuchen, der Leviathan tauchte auf, der, soviel ich mich erinnere, im Finsteren schlich, und die große Hure Babylon. Das Hündchen trat eilig den Rückzug an, und ich hörte es noch eine Weile draußen in der Sonne zwischen den alten Grabsteinen scharren und im Efeu rascheln, so daß ich mich fortsehnte.

Von der Tante habe ich nur sehr verschwommene Eindrücke, ich erinnere mich, daß sie viel im Lehnstuhl saß, bei Regen in ihrem Zimmerchen und bei Sonnenschein unter der Gartenlinde und strickte und las, was sie gleichzeitig konnte. Wenn ich zu ihr sprach, so lauschte sie abwegig und resigniert, doch ließ sie mich gewähren. Sie hatte keine Kinder und verstand sich nicht auf das Treiben der Jugend. Sie las meist englische Romane, ich erinnere mich noch genau, daß einer von ihnen »With harp and crown« hieß. Er ging den König David an, von seinem Regierungsantritt bis zum bedauerlichen Vorfall mit Frau Betseba, und endete mit seiner Buße, auf die es ankam. Sie versuchte mir daraus vorzulesen und übersetzte mir einiges aus der Zeit der Reue, ließ sich aber dann den Rücken von mir krauen.

Der Onkel saß meist in seinem verrauchten Studierzimmer, mehr mit Zahlen als mit Buchstaben beschäftigt, er war ein guter Geschäftsmann, und ich erfuhr später von meinem Vater, daß er sich ein stattliches Vermögen gesammelt hatte. Er bezog nur ein geringes Gehalt, jedoch gehörte zur Pfarre ausgedehntes Koppelgelände, das er zum Teil den Bauern verpachtete, zum anderen Teil mit Ochsen bevölkerte, die er nach England verkaufte, nachdem aus Kälbern feiste Schlachttiere geworden waren.

Er war sehr geizig. Eigentlich wurde für den Lebensbedarf nur Brot angeschafft, soweit es ihm die Bauern nicht umsonst gaben, oder als Entgelt für Taufen, Hochzeiten oder Krankenbesuche lieferten. Den Rest des täglichen Bedarfs an Nahrungsmitteln gaben der Hühnerstall, die Ziegen und der Gemüse- und Obstgarten her. Zuweilen verkaufte er im Herbst bis zu hundert Zentner Obst in die Kreisstadt. Er gönnte sich selbst kaum einen Apfel.

Es lag immer etwas Geld sichtbar auf seinem Schreibtisch, Silbermünzen oder Papierscheine, hübsch angeordnet, neben einer grauen Holzdose, die mit dunklem Tabak angefüllt war, grob wie Torf. Dieser Tabak war der einzige Luxus, den er sich gestattete. Er war verschlossen und gutmütig, solange man nichts von ihm forderte, das seine Geldbestände verringerte. Ich hörte später, daß mein Vater für meinen Ferienaufenthalt bei ihm bezahlt hatte, aber es gefiel mir gut in Ulsnis, weil man mich gewähren ließ, von Sonnenaufgang bis zur sinkenden Nacht. Kam ich nicht zu den Mahlzeiten, weil ich irgendwo mit den Fischern oder Bauern gegessen hatte, die reich und freigebig gegen ein Kind waren, so wurde ich mit besonderer Freundlichkeit empfangen, und der Onkel sagte, daß ich selbständig sei.

Bald verzichtete ich mit Großmut auf das Frühstücksei, um mich reichlich aus den Nestern in der Scheune schadlos zu halten, und nahm das Lob der ahnungslosen Tante, die ewig in Geldnöten war, mit Huld und aufrichtig glücklich entgegen. Sie lächelte schwermütig und erleichtert und streichelte mir das Haar. So lernte ich manches verliehene Prädikat der Tugend mit der Vorteilssucht der Lobenden zu verbinden und wurde ruhiger auf meinen Abwegen.

Dies ist die Zeit meiner Kindheit gewesen, in der mir die erste Ahnung von den Wohltaten des einsamen Lebens aufging, vom Glanz der Stille und vom Glück der Wanderschaft in den Gärten der eigenen, noch schlummernden Seele. Das gewohnte Treiben des Elternhauses, die Schulkameraden und Anni sanken weit hinter mich und völlig von mir ab, so völlig, wie nur ein Kind vergessen kann. Die Bedrängnisse der Lehrerschaft waren verschollen, und selbst die besorgte Liebe meiner Angehörigen versank wie eine Last.

Was mir das alternde Pfarrerspaar an Zuneigung oder Teilnahme angedeihen ließ, war ganz wesenlos und berührte mich nicht, denn ich fühlte, daß ich ihnen vollständig gleichgültig war und daß sie nur eine gewisse Rücksicht und Höflichkeit walten ließen, die meinen Eltern, vornehmlich meiner Mutter galten, keineswegs aber mir. Ich benahm mich anständig gegen sie, weil ihre Gleichgültigkeit mich mit einem unbewußten Dank füllte, vielleicht war ich auch nur deshalb vorsichtig und achtete ihre Wünsche, weil ich fürchtete, sonst den herrlichen Zustand meiner vollkommenen Freiheit zu zerstören.

So lernte ich den Liebeswert der eigenen Kräfte zum erstenmal an den toten und lebendigen Dingen erproben, die mich umgaben, und indem ich die Umwelt in die Bereiche meiner Phantasie zog, um sie zu meiner Unterhaltung Gestalt und Wesen werden zu lassen, machte ich den ersten Schritt zum selbständigen Dasein, so unbewußt und ahnungslos dahintreibend, daß Sonne, Wald und Wiese in meinem Blut mit dem Sommerglück der Landschaft eins wurden.

Ich weiß noch gut und für immer vom Morgenwind an der Schlei, von seinem Geruch im Frühtau, von Baumwipfeln, in denen ich Laubhütten baute, von den Blumenwiesen mit ihren Schmetterlingen und von der Waldtiefe, und daß ich allein war. Im Raum- und Zeitlosen blühte das Geheimnis, ich besaß alles und wußte nichts, das Daseinsglück war so unerkannt und doch in aller Helligkeit wirksam, wie es die Atemzüge eines Schlafenden in reiner Luft sind, der von Freude und Licht träumt. Ich war allein und lernte die Einsamkeit als hohes Glück empfinden, als Stille und Freiheit.

So bevölkerte ich die Welt nach meinem Sinn und errichtete ein Königreich, das ich in Wald- und Wiesenrevieren genau abgrenzte, der Bach und seine Schlucht schlossen meine Provinzen nach Norden zu gegen das feindliche Königreich ab, mit dem ich dauernd im Krieg lag. Meine Burg im Grünen war unter einer uralten, weitverzweigten Linde herrlich erbaut und aufs beste befestigt, ihre heimlichen Räume waren von Zweigen so dicht geborgen, daß kaum das Licht in die tiefsten Gründe drang, wo die Ilias und Andersens Märchen neben meinen Waffen lagen. Ich besaß zwei Schwerter, mit Schnitzereien verziert und bemalt, einen Lasso aus einer Wäscheleine, Pfeil und Bogen, Speere und einen Schild.

Die Untertanen meines Reichs von den Vögeln bis zu den Farnkräutern erfreuten sich meiner Huld und bebten unter meiner Ungnade. Eines Morgens wurden die Brennesseln hinter dem Holzschuppen zum Tode verurteilt, weil eine Empörung unter ihnen ausgebrochen war, und das Morden war schrecklich. Zwei kleinere am Zaun wurden begnadigt, denn ich liebte die Großmut ebenso wie die Grausamkeit, und heute peitschte mich der Wille zu herrschen gewaltig auf, morgen erlag ich der Sehnsucht, zu dienen. Der Wechsel solcher Einstellung vollzog sich jäh, leicht und ohne Schmerz oder Reue, weil ich allmächtig war, und immer das Nächste, das mir begegnete, lockte und verführte mich gnädig in sein neues Lebensbereich.

Oft zog ich schwer bewaffnet in den Wiesenkrieg, der den Schmetterlingen, Schnecken und Feldmäusen galt, um dann für viele Stunden nichts zu tun und nichts zu sehen als die Grashalme, die sich in Sonnenschein und Wind bewegten. In der Einfalt meines Gemüts und meines Glücks beschloß ich, im Leben niemals etwas anderes zu tun. Ähnlich ist es gekommen.

Zuweilen verirrten sich Schmetterlinge aus dem Nachbarreich auf meine Gebiete, das war verboten. Ich verfolgte sie im hohen Zorn der Gerechtigkeit, gab es aber bald auf und ließ sie gewähren, da ich meine Machtlosigkeit den Schönsten und Schwächsten gegenüber erkannte. Ähnlich ist es geblieben.

Ich liebte die kleine Seejungfrau, dies holdeste und süßeste aller Märchen; nie wieder, bis an den heutigen Tag, habe ich ein Mädchen so heiß und hingegeben, mit so viel Glanz und Glut und Trauer geliebt. Eine erste Ahnung zog mit ihrem Liebreiz und Schicksal in mein Gemüt, das Wehen von Licht und Nacht über die Herzen des Erdbereichs, ein ungewisses erstes Erlauschen vom Engellied der Opferbereitschaft und dem Kriegsruf der Begierde. Ich wußte nichts und besaß alles was ich wollte, meine Forderungen waren einfach und hochgesinnt, und ich gab keine von ihnen preis, sondern leitete die unerfüllbaren mit großem Glauben in die dahinziehenden Lichtwolken des Traums. Mit jeder hohen Forderung, die wir aufgeben, verläßt uns ein Engel, damals standen sie, eine schimmernde Wehr, um meine grüne Burg. –

*

Leider wurde mein Ferienaufenthalt in Ulsnis dadurch vorzeitig beendet, daß ich Grete mit dem Lasso fing. Sie war bei allen Hausgenossen beliebt und gab die meiste Milch. Ich hatte mich im Lassowerfen an Baumstümpfen, Kohlköpfen und Zaunpfählen geübt, und bei schlechtem Wetter im Hausflur an Stuhllehnen, sehnte mich jetzt aber nach einem lebenden Objekt.

Die Ziegen weideten für gewöhnlich auf einer kleinen Wiese hinter den ausgedehnten und wild verwachsenen Ausläufern des Pfarrgartens. Die Weide senkte sich in eine Waldschlucht, durch die ein Bach floß, leise und geheimnisvoll, im tiefen Buchenschatten. Aus diesen Jagdgründen brach ich mit dem Lasso auf und war etwas erstaunt, daß die beiden Ziegen nicht die Flucht ergriffen, als ich am Waldrand aus der Baumtiefe auftauchte. Ich versuchte sie in Schrecken zu versetzen, denn ich hatte mir den Lassofang so vorgestellt, daß eine Verfolgung und wilde Jagd vorausgehen müßte, es ist die höhere Art, den Lasso einem fliehenden und nicht einem stehenden Tier überzuwerfen, und ich traute mir diese Kunst nicht allein zu, sondern ich wünschte, sie in großem Stil zu erweisen. Jedoch die Ziegen grasten ruhig weiter, und meine einschüchternden Zurufe fanden keine Beachtung. Als ich einen Stein warf, sah Grete sich nur langsam nach mir um, so daß ihr gutmütiger Teufelskopf mit Bart und Hörnern mir genau von vorne zugekehrt war. Diese Anteillosigkeit verdroß mich, ich ging zum Angriff über, wählte aber an Stelle der erhofften Treibjagd einen verhältnismäßig großen Abstand, um weidgerecht und gewissermaßen mit dem Anstand eines offenen Visiers vorzugehen.

Der kreisende Ring der Leine schwebte herrlich, machte den guten Bogen des echten Cowboywurfs ziemlich flach durch die Luft und legte sich, beinahe weich und ungemein kunstgerecht, um Gretes Hals. Ich zog an, so fest ich konnte, glühend vor Stolz und entschlossen, diesem Tier volle Klarheit darüber zu verschaffen, was hier vor sich ging und was ein Lasso in der Hand eines guten und kühnen Jägers bedeutete.

Die Ziege machte einen sprungartigen Satz, ziemlich hoch und deutlich noch im unklaren über die Richtung, die sie einschlagen mußte. Ich beschloß, sie an mich heranzuziehen, damit ich ihren Hals aus der Schlinge befreien konnte, um den Wurf zu wiederholen, aber sie mißverstand meine wohlwollende Absicht und zerrte, jetzt deutlich in Erregung versetzt, in die entgegengesetzte Richtung. So entstand eine Art Tauziehen zwischen uns, wie wir es auf dem Schulhof bisweilen übten, und mein Ehrgeiz wurde auf ein neues Feld verschlagen.

Das fehlte mir, daß eine Ziege mich über die Wiese zerrte! Ein Steinbock etwa, ein Lama oder vielleicht eine männliche Gazelle hätten mich mit erfolgreichem Widerstand keineswegs verletzt, aber eine Milchziege ... Das Tier erwies sich als standhaft und ausdauernd, war aber weit weniger ruhig am Werk als ich, der ich mit fest eingestemmten Füßen furchtlos die besten Kräfte einsetzte. Sie machte wilde Sprünge und ruckte, unregelmäßig von Entschluß, so heftig ins Gelände, daß ich fast zu Boden gefallen wäre und in Zorn geriet.

War es möglich, daß eine Ziege stärker war als ich? Jetzt zerrte sie mit außerordentlicher Leidenschaft, gradezu wild, sie kreiselte, ja, man hätte von einer Art Wirbeln reden können, denn sie erhob sich dabei hoch in die Luft, schlug aus, daß es pfiff, und verwickelte sich unentwirrbar in das Seil. Niemals hätte ich einer Ziege so viel Beweglichkeit zugetraut.

Ich war jetzt tatsächlich zu Fall geraten und erhob mich angstvoll und gedemütigt; die Spannung war völlig gelöst, Grete lag still mit gesträubtem Fell im Gras und rührte sich nicht mehr. Ich löste mit zitternden Händen das Seil von ihrem Hals, das sich so fest zugezogen hatte, daß ich die größte Mühe aufwenden mußte, und begann sofort mit Wiederbelebungsversuchen, wie man sie mit Ertrunkenen anstellt. Ich rollte Grete auf den Rücken und machte gleichmäßige Schwimmbewegungen mit ihren Vorderbeinen; es hatte mich jetzt doch eine gewaltige Angst ergriffen, denn für einen wirklichen und noch dazu so schnellen Tod erschien mir dies Tier zu groß; ich fürchtete mich jämmerlich und begriff nicht, wie alles so stolz und gut Gemeinte, alles so arglos Gedachte, solch qualvolles Ende nehmen konnte.

Nichts half, Grete war tot. Herzschlag offenbar, denn die Zunge hing heraus.

Als ich abreisen mußte, war ein klarer Morgen, und ich ging früh zum Dampfschiff nieder, zwischen den Knicks dahin, in denen die Goldammer zirpte. Der Huflattich am Weg war grau vom Sommerstaub der Straße, der Küster brachte meinen Koffer an Bord, das kostete nichts. Der kleine Raddampfer klopfte sich die Schlei hinab, die wenig Strömung hatte, ich saß ganz vorn bei den Tauen und sah, wie das Wasser am Bug aufspritzte. Als Schilfinseln kamen, fragte ich einen Matrosen nach Möweneiern, aber er antwortete nicht, was galt ich auch noch. Bei der kleinen Station, wo ich den Zug abwarten mußte, hing eine bunte Fahne hoch und gering zwischen Kastanienbäumen, und ich nahm auch von den Staren Abschied.


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