Helene Böhlau
Im Garten der Frau Maria Strom
Helene Böhlau

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Achtzehntes Kapitel

Maria zerreißt ein nichtiges Brieflein. Ottomar ergreift einen Beruf. Gudrun bleibt ruhelos. Am Opfertisch im Garten. Sebald findet, daß die Mühlen nicht mehr leer mahlen. Das Rosenwunder.

Jahre gingen dahin. Das große Sterben rings um das deutsche Land nahm kein Ende.

Die Lebensquellen strömten unaufhaltsam – unerschöpflich in das Meer Tod hinein, in das nie zu füllende aller Meere. Und alle, deren Leben im bedrängten, darbenden Lande nicht gefährdet war, deren Herzen aber in Liebe und großer Sorge und Trauer litten, gingen Jahr und Tag wie in Betäubung.

Doch trotz allem Leid blieb alles bei seinem ordentlichen Gang mit ihnen wie sonst, zu ihrem eigenen Staunen.

*

Auf den Dörfern gingen die Daheimgebliebenen abends in die Kirche, Rosenkranzbeten für die draußen in der großen Not.

Da hörte man an dunklen Abenden im Herbst und Winter die Gebete aus den alten Kirchen klagend dringen.

Und um die Kirchen lagen die Grabhügel, die die Vorfahren des Häufleins Lebendiger bargen, das, umgeben von seinen Toten, im dämmerigen Kirchlein kniete.

Maria ging manches Mal an solchen Abenden auf den Friedhof und setzte sich auf eine alte Bank.

324 Und wenn das Raunen der Gebete in die Dunkelheit hinausdrang, da war's, als spräche der Urmensch in seinem Drange mit seinem Schöpfer.

Da war ein Weltenweh – und eine Weltennot wie nirgends sonst. Da war ein Stammeln mit Gott – ein Senkblei in die Tiefe des Menschenschmerzes.

Da war's, als fühle Maria den ewigen Abgrund ihres Herzens. Da wußte sie von ihrem Kinde – und der Schreckschlaf fiel von ihr ab wie eine starre Binde. – Da war sie ganz wogendes, tiefes Leben – und trug die Not ihres Kindes in sich – seine Reinheit – seine Leidensfülle und seine junge Liebe.

Da war in ihr das Geheimnis des Menschenseins gelöst:

Tiefer sind eure Herzen als alle Abgründe des Himmels und der Erde, – denn nichts im Himmel und auf Erden kommt dem Menschenherzen gleich – und nichts im Himmel und auf Erden kommt dem Herzen und dem Schicksal einer Mutter gleich. Maria wußte nun, was eine Mutter ist.

Und sie sah zwischen allen Gottesgerichten dieser Zeit mit der Kraft ihres mitfühlenden Herzens ein wunderliches Maidli, das die Liebe liebte, das nicht dem einen, nicht dem anderen gehörte, das nichtssagende Brieflein dem einen wie dem anderen hinaus in die schwere Kriegsnot geschrieben hatte und längst wohl wieder die Liebe liebte.

Maria trug solch ein Brieflein auf ihrem Herzen, das ihr Kind ihr einst ratlos und hilflos geschickt hatte.

Und beim Raunen, das aus der Kirche drang, nahm Maria das Brieflein und zerriß es in kleine Teile, und diese Nichtigkeit faßte der Nachtwind.

*

Und als wieder nach Zeiten in Deutschlands Adern das aufgeregte und gequälte, bedrückte Blut der 325 Geschlagenen aus Feindesland zurückströmte in das bedrückte der Heimat, da brach eine Krankheit des Mißmuts aus, eine verheerende, ansteckende Krankheit, die durch die Straßen wütete, die in den Köpfen sauste, die die Herzen verwirrte.

Verwirrte läuteten Sturm und sprachen von einem Erdenparadiese, das sie errichten wollten. Ganz Verwirrte hörten gerne zu.

Verwirrte fuhren Kanonen auf – und glaubten damit die Gegensätze der Welt beseitigen zu können. – Verwirrung wütete.

In Maria Stroms Garten aber war der Mai wieder eingekehrt und eine stille große Freude.

Ottomar war zurückgekommen. Ja, ihm war das Leben geschenkt. Ungezählte hatten es hingeben müssen. Heinrich, der Schlichte, der seiner Mutter die Brücke über den Abgrund gebaut hatte, damit alle darüber hingehen konnten, war gefallen. Wolfgang Stürmer war gefallen und viele, viele aus jenen Tagen des dreitägigen Festes, die selig mit um die Flammenfrau gesprungen waren.

Heute saßen, nach langen, schweren Jahren, Maria Strom, Sebald und Ottomar vor den hohen Buchen am Opfertisch, Maiherrlichkeit um sie her. Der Wind trug über den See die Düfte von Berg und Tal, von blühender Wiese und blühenden Bäumen, von Kräutern und Blumen, die alle zu neuem Leben erwacht waren.

Der Garten stand in seiner Baumblüte. Weiß und rosa lag es um die Äste, daß die dunklen Bäume wie zu hellen Lichterscheinungen aufgelöst waren, zu Wolken und duftenden Nebeln. Im Gras begann die Irisblume zu blühen, blau, wie geheimnisvolle Flammen; und Primeln, Tulpen und Hyazinthen feierten ihr Auferstehungsfest. Das Brünnlein rauschte.

326 Sebald hatte recht, solch ein Garten ist verklärte Natur, die Erfüllung einer tiefen Sehnsucht über diese Erde hinaus.

Und der Opfertisch stand wie in einem Tempel der Schönheit, der einem liebenden Gott geweiht war.

Geopfert hatten sie alle.

Und wie sie so beisammen saßen nach allem Leid in stiller Gemeinschaft – und die Last der Vergangenheit getragen hatten und aufatmeten, da war's einem jeden wohl und still zumute, daß sie sich ihres Schweigens und des frohen Schauens freuten.

Von fern dröhnte Kanonendonner aus der Stadt. Da kämpften und drohten die Verwirrten.

Sebald, der zur Feier des Tages seines Freundes Mantel trug, in den eingehüllt er oft nachts unter den Sternen ruhte, reichte Ottomar die Hand über den Tisch, und Ottomar drückte sie ihm.

»Daß dich nur nicht wieder die Sehnsucht nach dem Schlachtendonner überfällt,« sagte er lächelnd. Sein blonder Bart war grauer geworden in den Jahren des Krieges; aber seine Augen leuchteten froh und voll schönen Lebens.

»Nein,« sagte Ottomar. »Du, wenn irgendeiner, hast mich verstanden. Freilich ist die Freiheit der Furchtlosigkeit schön! Aber du weißt auch, daß man sie nicht verlieren kann, wenn man sie erlebt hat.«

»Ich weiß es,« nickte Sebald, »du hast erlebt, was im Leben im höchsten Sinne zu erleben ist, und was denkst du jetzt zu tun?«

»Ich hatte von Kunst geträumt,« sagte Ottomar leise, »aber was ich um mich her sehe – mein besiegtes Volk – und wie ich's selbst in mir fühle, so bin ich fest entschlossen, ein guter Arzt zu werden. Ich weiß wohl, ich tue damit, was mir nicht leicht wird, unser Volk wird 327 auch sehr bald seine Last wieder auf die Schulter nehmen – und welche Last!

Und, Sebald, du hast uns oft gesagt, wo in Fesseln geschlagen wird, da kommen die Seelen ins Blühen.

Einige Bücher habe ich nun schon und in einem Monat fahre ich nach München zur Universität.«

Da warf Maria Strom ein: »Sebald, ich sollte mir keine Gedanken machen, Ottomar weiß, was er tut; aber wird es für ihn das Rechte sein?«

Da meinte Sebald und schaute freundlich auf den wiedergeschenkten Ottomar: »Ich glaube, er wird auch bald in der Naturwissenschaft die großen, großen Wunder der Wirklichkeit entdecken. Der wird sich nicht verlassen fühlen. Nein, nein, im Gegenteil. In der scheinbar neuen Welt ist der alte Reichtum, da ist die alte Wunderherrlichkeit wieder zu finden. Nur in schlichter, vielverkannter Form. Viele allerdings habe ich vertrocknen und verdursten sehen auf dem Wege der Wissenschaft, viele, die ich kenne. Ja, da muß man eben den Schlüssel dazu haben, und Ottomar hat den Schlüssel.«

Seppl David, der Flieger, war an diesem Morgen über München geflogen. Er stand noch im Dienste der Regierung in Bamberg und hatte mit nach dem Rechten zu sehen.

Da kam das Schlänglein und Ruthle miteinander des Weges gegangen. Die beiden lieben Geschöpfe, von denen Maria in der langen Zeit viel Liebes erfahren. Maria schaute gedankenvoll auf beide. Sebald wußte auch gar wohl, wer da kam – kannte Ruthles treues Herz, das dem unruhigen seiner Frau so sanft geholfen hatte in schwerster Krankheit bis zum Tode. Und so wurden sie begrüßt mit warmer Zärtlichkeit.

Und Ottomar schaute auf die liebe Gefährtin seiner Kindheit und schaute und ihm war, als tauchten Bilder aus langverrauschten Zeiten auf.

328 Er fühlte sich so neu, so alt bewegt.

Und Ruthle trug ein wundervoll goldbräunliches Kleid, das leuchtete in der Abendsonne. Ottomar stand auf und ging ihr entgegen: »Grüß Gott, Ruthle. Was hast du dir für ein wunderschönes braunes Löwenfell gemacht? – Weißt du es noch, das Löwenviechlein?« Ruthle lächelte und gab ihm die Hand, sie wußte es noch. »Und wo ist Gudrun?« erkundigte sich Ottomar bei den Neuangekommenen.

»Die ist fort nach München,« erklärte das Schlänglein; »die hat jetzt unheimliche Beziehungen dort mit den Umstürzlern.«

Sebald schüttelte den Kopf: »Ja, viele Seelen konnte nicht einmal der Krieg wecken. Das sind solche, welche sich der Materie verkauft haben.«

»Seltsam, wie lange manche zur Reise brauchen. Draußen war's nicht so. Eine Seele ahnte einen frühen Tod,« sagte Ottomar.

»Ja, Maria,« ergänzte Sebald, »durch den Krieg wird kein Leben vorzeitig abgeschnitten. Eine Seele reift in Augenblicken.« Er reichte Maria die Hand über den Tisch. »Heinrichs Tod ist so hell und klar wie sein Leben.«

Vom See hub der Wind an zu wehen. Die Dämmerung war tiefer geworden. Sebald erhob sich feierlich, und die um den Tisch sahen ihn deutlich in seinem Mantel stehen, hinter ihm spiegelte der große See das letzte Licht.

»Lätare! Freuet euch!« sagte Sebald lebendig mit voller Stimme. »Leid ist das schnellste Tier, das zur Erkenntnis führt. Seid sicher, wir steigen jetzt an! Trotz aller Not! Die Mühlen mahlen nimmer leer.

Krieg ist im Frieden, Frieden ist im Krieg.

Was ist Krieg? Was ist Friede?

Wichtig ist allein das Göttliche.

329 Krieg ist freilich anders als Frieden. Allein eine Seele kann da nicht den geringsten Unterschied finden: Beide sind für die Seele nur Gefahren, von der Materie überwunden zu werden.

Und Krieg und Friede sind ihr beide nur Grund und Boden, in dem sie wachsen will.«

Es war Nacht geworden, sie standen auf. Maria Strom sagte: »Sebald, wir danken dir alle, daß du uns die Schlichtheit alles Geschehens gezeigt hast.«

*

Es ist die schöne Zeit gekommen zwischen Frühling und Sommer. Die Rosenblüte beginnt, das Laub der Bäume färbt sich schon kräftiger. Am frühen Morgen trägt die kleine Lerche ihr beflügeltes Herzlein in hohe Himmeleinsamkeit. Dort singt sie ihr Sommerlied. Dort grüßt sie den ersten Strahl des Morgenlichts. Nun scheint dort schon die Sonne in Frau Marias Garten. Darin steht ein Rosenbusch knospenbedeckt. Die erste Rosenblume ist erblüht. Die dunkelroten Blätter halten Tauperlen. Kleine Morgensonnen leuchten im Grunde der roten Rose. Ein Mädchen und ein junger Mann, die schauen dies Morgenglück, zwei wohlbekannte Gestalten. Ottomar und das liebe Ruthle.

Da wendet sich Ruthle an Ottomar:

»Sag einmal, bringt dir eine Rose auch immer so schöne Erinnerungen, oder ist's dir nicht so? Der Rosenstock hier blüht, so lang wir uns kennen, es ist doch schön, daß aus diesem Erdboden da Rosen werden können.«

»Ja freilich, im Feld – ja freilich – im Feld! – es war auf dem Rückzug, ich ritt ein schwarzes Roß und der Wind strich mir über die Stirn und ließ mich viel Leid vergessen. Ach ja – und es war ein herrlicher Tag. – Es war ganz früh am Morgen und der blaue Himmel, weiße Wölkchen jagten darüber – und siehst du, da 330 war links von mir eine Mauer aus groben Steinen. Von der Mauer herab hing ein Rosenzweig in Sonne und Wind, und siehst du, da hob ich mich in den Bügeln und brach mir vom Pferd aus ein Röslein. Ruthle, hätte mich damals einer gefragt über all die Not und Angst des Krieges, dies Röslein an der Mauer, im Reiten gebrochen, wog mir alles, alles auf.«

»Schau, Ottomar, und ich hab' diese Rosen hier, als du im Krieg warst behütet, hab' oft dabei an dich gedacht. Jetzt brich die Rose aber ab und gib sie mir.«

Ottomar wird es festlich zumute.

Er bricht die Rose und gibt sie ihr in die Hand, – nimmt Hand und Rose in die seine und läßt Rose und Hand nimmer los.

 


 


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