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V

Das erste Morgengrauen scheuchte Batistes Tochter Roseta von ihrem Lager auf. Mit schlaftrunkenen Augen ging sie zum efeuumrankten Brunnen und wusch beim Licht der verblassenden Sterne Gesicht und Arme in einem Kübel kaltem Wasser, wobei der Hund, der nachts draussen wachte, sie zutraulich umwedelte.

Während sie dann hin- und hereilte, um sich für ihr Tagewerk in Valencia zu rüsten, gab ihr die Mutter vom Bett aus allerlei Aufträge und Ermahnungen.

»Nimm dir den Rest vom Abendessen mit, auch die drei Sardinen aus dem Küchenschrank; damit hast du genug. Aber zerbrich nicht wieder deinen Napf, wie in der vergangenen Woche. Und dann vergiss nicht, Zwirn und Nadeln zu kaufen. Ach so, ja, auch ein Paar Hanfschuhe für den Kleinsten. In der Tischschublade liegt Geld.«

Mit einem kleinen Seufzer des Behagens drehte sich die Mutter auf die andere Seite, um neben dem laut schnarchenden Batiste noch ein Stündchen im warmen Bett zu bleiben. Roseta, die mittlerweile ihr hübsches, blondes Haar gekämmt hatte, knüpfte ein Tuch um den Kopf, schaute nach, ob ihre jüngeren Brüder, die, wie Orgelpfeifen geordnet, auf dem Fussboden ihres Zimmers schliefen, auch gut zugedeckt waren, und verliess die Hütte mit einem fröhlichen »Adiós, bis heute Abend«.

Überall sah man auf Pfaden und Wegen Grüppchen von Arbeiterinnen – die ganze weibliche Jugend der Huerta – nach derselben Richtung eilen. Mit wippendem Röckchen, am Arm das Frühstückskörbchen, kreischten sie alle zu gleicher Zeit auf, wenn ihnen ein Bursche von seinem Acker aus eine derbe Neckerei zurief.

Nur Roseta machte stets ihren Weg allein, denn diese Mädchen waren ohne Ausnahme Töchter der Bauern, die ihrer Familie feindlich gegenüber standen. Einige arbeiteten mit ihr in derselben Fabrik, und Roseta hatte sich schon verschiedentlich mit den Nägeln gegen diese boshaften Geschöpfe verteidigen müssen, die ihr unversehens Schmutz in ihr Körbchen warfen, ihren Napf zerbrachen und nie an ihr vorübergingen, ohne sie unter Schimpfworten gegen den dampfenden Kessel zu stossen, in dem die Seidenraupenkokons schwammen.

So betrat sie jeden Morgen in banger Erwartung irgendeines neuen Streiches die Fabrik, ein ungeheures, nahe beim Markt gelegenes Gebäude, dessen abbröckelnde, im vergangenen Jahrhundert al fresco gemalte Fassade hie und da noch schlanke rosige Beine und bronzefarbene Profile – die Reste mythologischer Szenen – zeigte.

Von allen Kindern glich Roseta dem Vater am meisten. »Dieselbe Arbeitswut, wie bei mir,« pflegte Batiste schmunzelnd zu sagen. Der heisse Dampf aus dem Kessel stieg ihr zu Kopf, liess ihre Augen tränen, aber unentwegt fischte sie in dem kochenden Wasser nach den weichen Seidenkapseln von zartbrauner Farbe, in deren Innern der arbeitsame Wurm – diese Larve mit dem kostbaren Speichel – verbrühte, weil er das Verbrechen begangen hatte, einen wertvollen Kerker für seine Verwandlung in einen Schmetterling herzustellen.

Anfangs waren die Töchter der Huerta, herausgerissen aus der Stille ihrer endlosen Ebene, in der die Stimme so weit trägt, ganz betäubt von dem Getöse der Arbeit, das alle Räume des Riesenbaues erfüllte. Dampfmaschinen schnaubten; hunderte von Röhren stöhnten; Riemenscheiben und Wellen drehten sich geräuschvoll in rasender Eile. Doch kaum hatten sich die Spinnerinnen ein wenig daran gewöhnt, so sangen sie inmitten dieses Höllenlärms im Chor das Pater Noster, Ave Maria und Gloria Patri nach derselben frommen Melodie, die am Sonntagmorgen beim Rosenkranz in der Huerta erklang.

Das hielt sie jedoch nicht ab, sich zwischen zwei gottesfürchtigen Weisen aufs heftigste zu zanken und nach Schluss der Arbeit am Tor in die Haare zu fahren. Denn diese brünetten, unter der starren, bei den Bauernfamilien üblichen Tyrannei stehenden Mädchen, die dem Herkommen gemäss zu Hause nur mit niedergeschlagenen Augen zu den Männern sprechen durften, zeigten sich hier als zügellose Dämonen und wiederholten voller Behagen alle unterwegs von Fuhrleuten und Knechten aufgefangenen obszönen Grobheiten.

Roseta, die sich nie in irgendeinen Streit mischte, war nicht allein die Fleissigste, sondern auch die Geschickteste, so dass sie zum hellen Neid der anderen nach wenigen Wochen drei Reales täglich, das heisst fast den höchsten Taglohn verdiente.

Während ihre Kolleginnen in der Mittagspause vor das Tor eilten und die Vorübergehenden mit frechen Blicken zum Sprechen provozierten, um dann in gemachter Entrüstung einen Strom unflätiger Redensarten auf sie loszulassen, sass sie in einer Ecke ihres Arbeitssaals mit drei braven Mädchen vom anderen Ufer, die sich weder um die Geschichte des alten Barrets noch um die Gehässigkeiten der übrigen Arbeiterinnen scherten.

In der ersten Zeit sah Roseta mit Zittern und Zagen der Stunde des Heimwegs entgegen. Aus Angst vor ihren Gefährtinnen verliess sie die Fabrik als Letzte, besorgte die Einkäufe für ihre Mutter, stand ein Weilchen vor den erleuchteten Auslagen und machte sich endlich durch die düsteren Gassen der Vorstadt auf den Weg nach Alboraya. So weit ging alles gut. Aber dann fing die dunkle Huerta an mit ihren mysteriösen Geräuschen und schwarzen Gestalten, die, ein kurzes »Bòna nit!« murmelnd, an ihr vorbeieilten. Und hier begann die Furcht.

Nicht die Stille und Dunkelheit schreckten Roseta. Im Gegenteil, die Gewissheit, niemandem zu begegnen, hätte ihr, die weder an Hexen noch an Geister glaubte, Sicherheit eingeflösst. Aber sie dachte mit zunehmendem Entsetzen an manche in der Fabrik gehörte Geschichten über Pimentó und andere Raufbolde, die die Mädchen in der Dunkelheit hinter die Strohmieten zerren sollten. Ihre Phantasie malte ihr die schrecklichsten Bilder aus, und in ihrer Naivität sah sie sich schon von einem dieser Ungeheuer ermordet, mit offenem, durchwühlten Bauch wie jene unglücklichen Kinder, von denen die Schauermären der Huerta berichten, dass geheimnisvolle Unholde ihnen das Fett herausreissen, um Zaubermittel daraus herzustellen.

Zitternd eilte die Kleine in den finsteren Winternächten heimwärts. Doch die Momente höchster Angst warteten ihrer noch bei der berüchtigten Taverne, fast am Ende ihres Wegs. Das war die Höhle der Ungeheuer. Stimmengewirr, Gelächter, Guitarrengeklimper und leichtfertige Lieder drangen durch die offene Tür, aus der ein breites Lichtband auf den Weg fiel. Unschlüssig, angstbebend machte das Mädchen Halt, bereit, beim Nahen einer Gefahr in den Strassengraben zu kriechen oder querfeldein zu laufen.

Schliesslich raffte die Arme, wie jemand, der von einer grossen Höhe herabspringen will, all ihren Mut zusammen und huschte mit leisem Schritt am äussersten Rande des Weges vorüber – so geschwind, dass den trüben Augen im »Vollen Gläschen« keine Zeit blieb, den hellen Schatten wahrzunehmen. Atemlos hastete sie weiter, jeden Augenblick befürchtend, dass Schritte hinter ihr ertönen, grobe Fäuste nach ihren Röcken fassen würden, und beruhigte sich erst, wenn ihr Hund anschlug. Freudig wedelnd kam ihr der struppige Köter, der trotz seiner ausserordentlichen Hässlichkeit auf den schönen Namen Morgenstern hörte, bis zu der kleinen Brücke entgegen.

Niemals erfuhren die Eltern, was ihre Tochter unterwegs ausstand. Den Fragen der besorgten Mutter begegnete die Tapfere mit einem Lächeln und gab an, in Begleitung anderer Arbeiterinnen den Rückweg gemacht zu haben. Denn da sie den Hass der Nachbarn gegen ihren Vater kannte, wollte sie verhindern, dass er ihr entgegenkäme. Täglich wiederholte sich dieses Martyrium, und sehnsuchtsvoll dachte sie an den kommenden Frühling mit seinen längeren Tagen, an denen sie noch vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein konnte.

Eines Abends traf Roseta nahe bei Valencia einen Mann, der nach einem freundlichen »Bòna nit« Schritt mit ihr hielt. Während sie auf der hohen Wegböschung ging, marschierte er auf der holprigen, von tiefen Räderspuren gefurchten Strasse und stolperte über Schutt und zerbrochene Ziegelsteine, mit denen man die schlimmsten Stellen ausgebessert hatte.

Roseta empfand eine gewisse Erleichterung, als sie an der Stimme Nelet erkannte. Der Enkel des blinden Schäfers war ein guter, arbeitsamer Junge, doch so schüchtern, dass sich alle Mädchen über ihn lustig machten. Er konnte kein Wort vorbringen, ohne zu erröten. Auch liebte er es nicht, sich mit den übrigen Burschen im Wirtshaus herumzutreiben oder auf den Plätzen von Alboraya Ball zu spielen, sondern streifte in seinen freien Stunden durch die Felder, freute sich über den Sang der Vögel oder lag unter einem schattigen Baum und spielte die Flöte.

Auf die Frage des jungen Mädchens, woher er käme, antwortete er mit einem vagen »von da hinten«. Dann verfiel er in Stillschweigen, als hätte ihn dieser Satz eine ungeheure Anstrengung gekostet. Wortlos setzten sie den Weg fort bis in die Nähe der Barraca.

»Bòna nit y grasies!« dankte Roseta.

»Bòna nit!« Und Nelet verschwand im Dunkeln.

Es war eine Begegnung ohne Wichtigkeit gewesen, eine angenehme Begleitung, die ihre Furcht verscheucht hatte. Trotzdem musste Roseta, als sie zu Bett ging, an Nelet denken.

Und seltsam, auch am nächsten Abend traf sie ihn fast an derselben Stelle ausserhalb der Stadt.

»Bòna nit!« und wortkarg gab er ihr wieder das Geleit. Doch das junge Mädchen, mehr zum Reden aufgelegt, war damit nicht zufrieden.

»Welch sonderbarer Zufall, dass wir uns zwei Tage nacheinander hier treffen! Woher kommst du?«

»Ach, von da hinten!« lautete die Antwort wie am Abend vorher.

Roseta, obwohl eigentlich nicht weniger schüchtern, musste dennoch lächeln. Aber erst als sie ihm von den Ängsten sprach, die ihr der einsame Weg stets verursachte, brachte es der Bursche über sich, den Mund aufzutun:

»Da ich immer Geschäfte für den Meister in der Huerta zu erledigen habe, kann ich dich jeden Abend nach Hause bringen.«

Lakonisch wie tags zuvor verabschiedeten sie sich. Für Roseta jedoch folgte eine unruhige Nacht. Von phantastischen Träumen gequält, in denen Nelet die Hauptrolle spielte, warf sie sich in den Kassen umher.

Die Sonne schaute längst durch ihr Fensterchen, als sie am nächsten Morgen – es war Sonntag, der einzige Tag, an dem sie ausschlafen konnte – mit müden Gliedern erwachte. Aber leuchtete die Sonne nicht heller als sonst? … Sangen die Vögel nicht lieblicher? …

Fröhlich vor sich hinsummend, holte sie ihren Sonntagsstaat aus dem Schrank. Ihre Mutter hatte recht: mit sechzehn Jahren wurde es Zeit, auf ihr Äusseres zu achten. Vorsichtig, als wären es kostbare Spitzen, streifte sie das Röckchen aus weissem Perkai über und schnürte das Korsett – hoch und starr, wie es nur valencianische Bäuerinnen tragen – noch fester, denn in der Huerta gilt es als Unkeuschheit, wenn die Mädchen den Busen nicht verbergen.

Und zum ersten Male in ihrem Leben verbrachte Roseta mehr als eine Viertelstunde vor dem winzigen Quecksilberspiegel mit lackiertem Fichtenrahmen, einem Geschenk ihres Vaters, in dem Frisur und Gesicht immer nur stückweise zu sehen war. Prüfend betrachtete sie ihr feines Naschen, die Grübchen in den rosigen Wangen, die klaren, grünen Augen. Nichts Besonderes, meinte sie, immerhin gab es Dutzende von Mädchen der Huerta, die hässlicher waren.

Ungeduldig – die Kirchenglocken läuteten schon trieb Teresa die Tochter zur Eile an. Doch diese löste die Frisur wieder auf, um die Haare anders zu ordnen. Auch die Mantilla machte ihr zu schaffen, bis die Falten endlich nach Wunsch fielen.

Beim Verlassen der Kirche spähte Roseta verstohlen durch die offene Tür des Schlächters. Hinter dem Ladentisch half Nelet die Kunden zu bedienen. Mit einer Hammelkeule in der Hand starrte der Bursche wie verzückt zu ihr hin, und erst ein derber Knuff seines Herrn rief ihn in die Wirklichkeit zurück.

Traurig und langweilig verging der endlose Sonntagnachmittag für das junge Mädchen.

Aber welche Fortschritte hatte Nelet über Sonntag gemacht! Als er Roseta am Montagabend erwartete, begnügte er sich nicht mit dem gewohnten Gruss, rühr vielmehr, wenn auch zaghaft und in langen Zwischenpausen, fort:

»Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen.« Eine Äusserung, die Roseta mit einem zärtlichen »grasies« quittierte.

»Hast du dich gestern gut unterhalten? …«

Auf diese Frage erhielt er keine Antwort.

»Für mich war es ein langweiliger Sonntag. Mir fehlte etwas, … ich habe mich so daran gewöhnt, diesen Weg zu gehen … Nein, an dem Weg liegt es nicht; was mich freut, ist, dass ich dich begleiten darf!«

Hier hielt er verwirrt inne und biss sich nervös auf die Lippen, in Angst, zu dreist geworden zu sein. Und die mutwillige Roseta vermehrte noch seine Verwirrung:

»Warum freut es dich eigentlich, jeden Abend mit mir den langen Weg bis zu unserer Barraca zu machen? Wer wie du den ganzen Tag arbeitet, muss abends müde sein. Und was würden wohl die Leute sagen, wenn sie es wüssten? … Und mein Vater? O weh, o weh! … Warum also, sag!«

Doch Nelet kroch in sich zusammen wie ein Angeklagter, der überfuhrt ist, und schlich gedrückt neben ihr her. Erst als die Barraca auftauchte, hob er den Kopf.

»Warum? … Weil ich dich lieb habe!« murmelte er.

Und bestürzt über seine eigenen Worte, lief er spornstreichs davon.

Also liebte er sie! … Seit Tagen hatte Roseta dieses Wort erwartet. Nichtsdestoweniger erschien es ihr jetzt wie eine überraschende Enthüllung. Und die ganze Nacht hindurch flüsterten tausend Stimmen ihr ins Ohr: »Weil ich dich lieb habe!«

Weitere Liebesworte wurden nicht mehr zwischen den beiden ausgetauscht. Sie betrachteten sich als verlobt, und Nelet versäumte kein einziges Mal, das Mädchen abzuholen.

Der dickbäuchige Schlächter von Alboraya tobte über die Veränderung seines bisher so ordentlichen Gehilfen, der ständig neue Vorwände fand, um abends fortzugehen. Doch auf Nelet machten weder Ermahnungen noch Drohungen Eindruck.

Er hatte seiner Verlobten ein Nest mit jungen Vögelchen geschenkt, das sie in ihrem Schlafzimmer aufstellte. Zärtlich fütterte sie die mit weichem Flaum bedeckte Brut, deren weit aufgerissene Schnäbelchen immer nach Brotkrumen verlangten, und vergoss Tränen, als ihre kleinen Brüder aus lauter Liebe eins erdrückten.

Ein anderes Mal brachte er Feigen und Pistazien mit, die sie zusammen verzehrten, wobei sie sich glücklich in die Augen sahen. Doch die umsichtige Roseta verbot ihm diese Verschwendung.

»Du musst sparsamer sein. Wenigstens zwei Reales hast du in einer Woche ausgegeben. Denk' an die Zukunft!«

Aber Nelet war grosszügig.

»Was kann ich Besseres mit dem bisschen Geld anfangen, als dir eine kleine Freude bereiten? Wenn wir verheiratet sind, werde ich sparen. Aber das hat noch gute Weile. In der Huerta dauern die Verlobungen immer acht oder zehn Jahre.«

Das Wort Heirat liess Roseta an ihren Vater denken. Heiligste Jungfrau Maria! Wenn er alles erführe! Ihr Glück jedoch gab ihr die Kraft, sich mutig für diese Aussprache zu wappnen, in der die strenge väterliche Autorität mit einem Stock argumentieren würde.

Harmloses, unschuldiges Glück … Nie stieg in ihnen ein begehrlicher Wunsch auf. Nie kam ihnen der Gedanke, dass ihr tägliches Zusammensein auch einen anderen Zweck haben könnte, als sich zu sehen, zu sprechen, gemeinsam zu lachen.

Doch Roseta, die früher so oft den Frühling herbeigewünscht hatte, beobachtete jetzt mit Unruhe, wie die Tage länger wurden. Schon verschiedentlich waren die beiden von Nachbarn gesehen worden. Und in der Fabrik hörten die Sticheleien nicht auf. Jeden Tag fragten die boshaften Mädchen Roseta, die sie mit Anspielung auf Nelets Grossvater nur noch die »Schäferin« titulierten, wann die Hochzeit stattfinden sollte.

Da geschah es, dass der Vater ihre Heimkehr mit Nelet gewahr wurde. Batistes Sorge um die Ernte rettete sie zwar vor dem gefürchteten väterlichen Strafgericht, aber mit gerunzelter Stirn und drohend erhobenem Zeigefinger verbot der Bauer seiner Tochter ein für allemal diese Begleitung.

Acht Tage lang sahen sich die beiden nicht. Das junge Mädchen kehrte allein von Valencia zurück – Nelet musste sich begnügen, ihm von weitem mit den Augen zu folgen.

Doch auf die Dauer war diese Trennung unerträglich. Und als Roseta, die an einem Sonntagnachmittag missmutig vor der Tür sass, ihn auf einem der Pfade zu erkennen glaubte, ergriff sie den grünglasierten Wasserkrug und rief der Mutter zu, sie ginge zur Quelle der Königin.

Diese uralte Quelle, berühmt wegen ihres vorzüglichen Wassers, bildete den Stolz der ganzen Gegend. Während Pimentó sie als ein Werk der Mauren bezeichnete, verkündete der alte Tomba feierlich, dass sie aus der Zeit stammte, als die Apostel auf Erden wandelten, um überall Heiden zu taufen.

Nachmittags sah man auf dem Weg, den das unruhige Laub der Silberpappeln beschattete, Gruppen von Mädchen, deren schlanke Gestalten, den Krug auf dem Kopf, an griechische Kanephoren erinnerten.

Sie verliehen der valencianischen Landschaft den Zauber arabischer Poesie, die von den Frauen am Brunnen singt und in diesem einen Bild die Sehnsucht des Orients vereint: Schönheit und Wasser.

Die Quelle der Königin bestand aus einem viereckigen, von roten Steinmauern eingefassten Bassin. Sechs grünschimmernde, schlüpfrige Stufen führten hinunter zum Wasser. Die Wand gegenüber dieser Treppe zeigte ein Basrelief, von dessen Figuren die dick aufgetragene Tünche kaum etwas erkennen liess.

Es musste die von Engeln umringte Jungfrau sein ein grobes, naives Werk der mittelalterlichen Kunst, wahrscheinlich ein Votivbild aus der Zeit der Conquista. Aber während die eine Generation an dem Stein gemeisselt hatte, um die verwischten Figuren besser hervortreten zulassen, war von einer anderen das Ganze in einem Anfall von barbarischem Gefühl für Reinlichkeit geweisst worden, so dass man jetzt nur noch eine unförmige Frauengestalt unterscheiden konnte, die »Königin«, die der Quelle ihren Namen gab. Eine Königin der Mauren natürlich, wie es in den Sagen auf dem Lande unvermeidlich ist.

Hier herrschte an den Sonntagnachmittagen fröhlicher Lärm. Mehr als dreissig junge Mädchen drängten sich um das Bassin, alle sehr eilig, ihre Krüge gleich zu füllen, doch weniger eilig, wieder fortzugehen. Sie stiessen einander auf der schmalen Treppe, wo sie sich mit zusammengerafften Röcken niederbeugten, um den Krug in das klare Wasser einzutauchen, dessen Spiegel die aus dem Sandboden aufsprudelnden Blasen unaufhörlich erzittern Hessen. Auf dem Grunde wuchsen gallertartige Pflanzen mit grünem, sich hin- und herwiegendem Haar, und über der blanken Oberfläche tanzten dünnbeinige Wasserspinnen.

Den gefüllten Krug neben sich, sassen die Mädchen auf der Mauer und liessen die Beine über das Wasser baumeln, die sie jedesmal unter lautem Gekreisch an sich zogen, so oft ein Bursche zum Trinken herabstieg und dabei nach oben blinzelte.

Eine Versammlung ausgelassener Spatzen! Alle redeten zu gleicher Zeit, neckten sich, lästerten über die Abwesenden und hechelten mit Wonne den ganzen Klatsch der Huerta durch. Froh, der strengen Zucht zu Hause entronnen zu sein, warfen sie ihre scheinheilige Sittsamkeit ab, und diese Tugendengel, die man am Morgen mit solcher Innigkeit Litaneien zu Ehren der Jungfrau Maria singen hörte, sprachen hier von den intimsten Sachen mit der Sicherheit einer erfahrenen Hebamme.

Völlig verdutzt sah diese laute Gesellschaft Roseta näher kommen. Wäre ein Ungläubiger während des Hochamts in die Kirche von Alboraya eingetreten, so hätte dies keine grössere Sensation erregen können als ihr Erscheinen hier an diesem Ort.

Roseta grüsste einige in ihrer Fabrik arbeitende Mädchen, die, einen Zug der Geringschätzung um den Mund, den höflichen Gruss kaum erwiderten. Als sie sich vom Wasserschöpfen wieder aufrichtete, flog ihr Blick spähend über die Ebene.

»Wisst ihr, wen sie sucht, die Schäferin? Ihren Bräutigam, Tombas Enkel! Wirklich, ein süsses Pärchen!«

Roseta kannte die Sprecherin dieser hämischen Worte. Es war eine Nichte Pimentós, ein brünettes Ding mit frecher Stupsnase, das vor Hochmut platzte, weil der Vater nicht wie die anderen Bauern Land in Pacht hatte, sondern als Besitzer auf seinem Boden sass. An den Spott in der Fabrik gewöhnt, beachtete die Kleine das dieser Bemerkung folgende höhnische Gelächter nicht. Sie hob den Krug auf den Kopf und wandte sich schon zum Gehen, als dieselbe Stimme fortfuhr:

»Als ob der Nelet es ernst meinte! Dieser arme Teufel ist immerhin noch ein anständiger Mensch und wird sich hüten, die Tochter eines Diebes zu heiraten.«

Weiss wie Kalk blieb Roseta stehen.

»Wen meinst du mit dem Dieb?« fragte sie mit zitternder Stimme.

»Wen? Deinen Vater natürlich. Mein Onkel Pimentó weiss alles, und im »Vollen Gläschen« sphttps://www.gaga.net/pgdp/tools/proofers/gfx/bt2.pngricht man von nichts anderem. Glaubst du, man hätte nicht erfahren, dass er wegen schlimmer Sachen im Zuchthaus sass?«

Und die Viper verspritzte ihr Gift weiter – einen Wust von Verleumdungen, die alle auf Pimentó zurückgingen, der immer weniger Lust verspürte, mit Batiste Auge in Auge anzubinden, hingegen dem verhassten Eindringling das Leben in der Huerta auf diese Art unerträglich zu machen hoffte.

Die Beherztheit des Vaters regte sich in der zitternden Tochter. Der Krug sauste zu Boden, wo er in tausend Scherben zerbrach, und, auf das unverschämte Mädchen zugehend, rief Roseta, bebend vor Zorn:

»Sag das noch einmal, und ich werde dir den Mund stopfen!«

Doch zu einer Wiederholung war keine Zeit mehr. Rosetas Faust traf die Brünette mitten ins Gesicht. Im selben Moment hatten sich beide in den Haaren. Zöpfe gingen auf, Haarnadeln besäten den Boden … Vor Schmerz und Wut stöhnend, zerrten sie sich hin und her, bis es der flinken Roseta gelang, die Oberhand zu gewinnen. Aber als sie mit der Linken einen Schuh auszuziehen versuchte, um ihre Gegnerin zu verprügeln, spielte sich eine Szene von unerhörter Brutalität ab.

Die ganze Schar fiel plötzlich über Batistes unglückliche Tochter her. Und schneller als die Augen folgen konnten, verschwand Roseta unter den wütenden Armen. Ihr Gesicht bedeckte sich mit tiefen Kratzwunden; von allen Seiten trafen sie grausame Hiebe. Sie taumelte, glitt aus, stürzte, wobei ihr Kopf gegen die scharfe Mauerkante schlug.

Blut! … Blut! … Es war, als hätte man mit einem Stein nach einem Baum voller Vögel geworfen. In wilder Hast stoben die Mädchen nach allen Richtungen auseinander.

Nichts blieb an der Quelle zurück als die arme kleine Roseta mit zerrauftem Haar, zerrissenen Kleidern und blutüberströmtem Gesicht.

»Herr im Himmel! Ist so etwas unter Christen möglich?« schrie die entsetzte Mutter, als ihre Tochter das Haus betrat. »Diese Menschen sind ja schlimmer noch als Heiden. Jetzt fallen sie schon über meine Kinder her! Grosser Gott, warum das alles? Wir wollen doch nur in Frieden arbeiten …«

Batiste wurde blass. Er machte einige Schritte zum Weg, den Blick auf Pimentós Haus gerichtet, dessen Dach über den Kornfeldern auftauchte. Dann aber besann er sich eines Bessern. Und scheltend, doch in sanftem Ton, sagte er zu Roseta:

»Siehst du, was du zu erwarten hast, wenn du dich unter die anderen mischst? Wir müssen jede Berührung mit ihnen meiden. Bleibt hier in der Barraca, da seid ihr sicher. Sie werden sich hüten, den Fuss auf meinen Boden zu setzen.«


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