Matthias Blank
Fluch dir, o Liebe
Matthias Blank

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6. Kapitel

Alle saßen um den einen Tisch gedrängt, zusammengeduckt, alle mit einem lauernden Ausdruck der Spannung in den Zügen und die Augen wie gierig auf die Karten und auf die alte, welke Hand gerichtet, die nur aus Knochen und braungelber, runzliger Haut bestand. Atemlose Stille! Nur die blecherne Stimme der alten Meschonke war zu hören, eine Stimme, die gebrochen wie aus einem zersprungenen Topf klang.

Die Begonka in ihrer fleischigen Fülle hatte sich so tief auf den Tisch gebeugt, daß ihre zu langen Brüste aus dem Korsett herausquollen, die vollen Lippen wie gierig halb offen, mit den glasigen Augen, die ihre Leidenschaft für das Trinken verrieten, auf den knochigen Finger starrend, der immer auf die Karten wies. Die lange, hagere Lolo beugte sich über den schwarzen Zottelkopf der kleinen Anny, und die derbe, sonnverbrannte Mara lehnte sich an ihre Freundin Lilith, von der sie sich fast nie trennte, und deren Zärtlichkeiten zueinander der Gegenstand des allgemeinen Spottes im Salon Steinheil waren.

Selbst die »Mutter« hatte sich eingefunden, diese kleine Frau mit den wässerigen Augen, aber den harten, energischen Zügen; die Anwesenheit der alten Meschonke war etwas, das selbst Madame Steinheil still und geduldsam machte, die sonst im Salon von allen gehaßt und gefürchtet wurde. Sie verstand es wie keine, ihren »Damen« immer solche Ankäufe und Anschaffungen aufzudrängen, die zu Schulden verleiteten, um sie dadurch um so dauernder zu fesseln. Gierig nach Geld überwachte sie alle und ließ sich sogar von ihrem »Strumpfgeld«, das sonst überall jede ganz für sich behalten durfte, Prozente auszahlen; listig und tückisch beobachtete sie, damit sie nicht betrogen wurde.

Aber um diese Stunde waren auch für den Salon Steinheil keine Besucher zu erhoffen, so daß sie selbst an den Tisch zur Meschonke herangerückt war.

Der Salon selbst war der fast überall gleich ausgestattete Raum; viele große Spiegel in Goldrahmen, Plüschsessel, ein Diwan, Kissen, Papierblumen, einige sogenannte »freie« Bilder, dann Teppiche, eine große rote Ampel.

Aber genauere Beobachtungen ließen erkennen, welch ehrwürdiges Alter die Plüschsessel hatten, die da und dort dürftig genäht waren, und wie die Madame Steinheil an allem sparen wollte.

Die alte Meschonke hatte ein zerfallenes Antlitz mit ungezählten Runzeln, mit rot entzündeten, tränenden Augen, mit ganz dünnen, welken Lippen und zahnlosem Mund. Das Kinn ragte spitz aus dem Gesicht heraus.

»Da steht eine große Überraschung ins Haus, mit Gold, mit großem Schlag, bei dem allerdings ein Gerichtsherr dicht daneben steht, was aber nach der Hauptkarte hier zu einem guten Ende kommt. Eine Eifersucht scheint hineinzuspielen –«

Alle hörten zu wie auf große Offenbarungen.

Das war doch allgemein bekannt, daß die Meschonke mehr wußte als eine andere, und daß sich das, was sie aus den Karten herauszulesen wußte, fast immer erfüllte. In Köln war keine zweite, die ihre Kunst so verstand wie die zahnlose, abschreckend häßliche Alte.

Keine wagte sie zu unterbrechen; alle hatten sich an ihren Tisch gedrängt.

Nur eine einzige saß allein in einer Ecke und schaute mit teilnahmslosen Augen zu, gleichgültig für das, was dort am Tisch geschah; sie lehnte sich in die Ecke des Diwans und hatte den Kopf weit in den Nacken zurückgebeugt.

Aga!

Die großen, sinnenden, braunen Augen waren noch die gleichen, auch das reiche, schwere Haar; aber die Züge in dem schmalen, weißen Gesicht waren müder, zerfallener, älter geworden; der überlegene Spott, die bewußte Verachtung hatte sich in Bitterkeit verwandelt.

Nur darin war sie immer noch die Alte, daß sie sich stets allein hielt, daß sie nie die anderen suchte und sogar abrückte, wenn eine in ihre Gedanken mit Fragen einzudringen versuchte.

Aga beachtete gar nicht, was an dem Tische geschah.

Ihre Gedanken waren weit fort.

Es waren doch erst wieder drei Wochen verstrichen, seit sie zuletzt bei Rose gewesen war; diesmal war sie bedrückt und geängstigt zurückgekommen. Rose war nun groß, war ein schönes Kind geworden mit goldenem Haar, aber mit merkwürdig sinnenden Augen; sie war in einem Institut, in dem sie Klavierspielen, feine Handarbeiten und sogar fremde Sprachen lernte. Zu einer feinen, jungen Dame war sie geworden. In Büchern las sie am liebsten; und alle Wünsche, die sich in den letzten zwei Jahren gemeldet hatten, waren begehrliche Verlangen nach immer neuen Büchern. Mit der alten Liebe, die nur Opfer bringen will, die all ihr Glück allein im Glück des Kindes sieht, war Aga wieder hingereist, aber ganz still und bedrückt zurückgekehrt. Ihr war es gewesen, als hätte Rose sie mit anderen Augen angesehen, als wären die Zärtlichkeiten ihrer Umarmungen nicht mehr die gleichen gewesen, als hätte sich ein Schatten dazwischen gedrängt. Frau Wolfert hatte sie ja noch beruhigt, hatte ihre Ängste Lächerlichkeiten genannt, hatte ihr mit vielen Worten zugeredet, denn wie sollte Rose etwas ahnen oder gar fragen wollen? Nein, trotz der zwölf Jahre, die Rose nun zählte, war sie im Herzen nichts als Kind, als die Kleine, die doch die Liebe der Mutter spüren mußte. Da fragte sie nicht! Aber doch war etwas in den schwarzen Augen gewesen, das wie ein Suchen war. Und beim Abschied dann, als sie auf dem Bahnhofe waren, als sie Rose nochmals so fest an sich gedrückt hatte, da waren ihr wieder die schwarzen Augen wie ein Fragen, das sich nicht hervorwagt, nachgefolgt.

Und nur daran dachte sie, nur davon träumte sie, und sie atmete dabei tief auf.

Da erklärte eben die alte Meschonke:

»Nun wären wir ja fertig! Jetzt haben alle gehört, was meine Karten wissen. Oder fehlt eine? Wie ist es denn, Aga? Meine Karten wissen manches, was alle Seufzer nicht besser machen. Mir war's doch gerade, als wäre ein Seufzen bis zu mir her geklungen. Nicht mal einen Versuch machen?«

Dann die heisere Stimme der Begonka:

»Mußt mal rankommen, Aga, die Meschonke weiß mehr als das Einmaleins.«

Die schwarze Anny stimmte eifrig zu:

»Ja! Und das mit dem Philipp ist auch zugetroffen, und die Verhandlung ist noch gut ausgegangen.«

Selbst die Madame Steinheil gab ihre Anerkennung:

»Sie hat mir auch die Geschichte mit der Polizei vorhergesagt, und daß ich den Skandal mit der roten Lotte bekommen würde.«

»Ich dränge keine, gewiß nicht! Ich weiß ja nichts, aber die eigene Hand hebt sich mit den Karten das Schicksal.«

»So versuch's doch! Sie kann dir vielleicht sagen, um was du dich jetzt zwecklos quälst.«

Aga hatte nie daran geglaubt; lächelnd hatte sie oft schon zugehört; aber zu bunten Kartenblättern konnte sie keinen Glauben finden.

War es eine Laune? Oder wollte sie damit leichter die schweren Gedanken abschütteln? Was sie noch nie getan hatte, das tat sie jetzt.

Aga trat an den Tisch:

»Meinetwegen! Vielleicht ist's nur ein Spiel, oder doch ein Aberglauben. Leg die Karten!«

Die alte Meschonke begann mit den knochigen, gelbbraunen Fingern die alten, fettig und schmutzig aussehenden Karten zu mischen, wobei sie die Finger mehrere Male an der Zunge befeuchtete; dann schob sie das Bündel Aga zu.

»Dreimal abheben, zur Herzrichtung, und die Gedanken bei dem, das dir Schmerzen macht. Dein eigenes Blut teilt dann die Karten.«

Und als Aga das Verlangen erfüllt hatte, wendete die Meschonke die drei Häuflein; räuspernd erklärte sie darauf:

»Ein Kind steht zu den Gedanken, die Sorge zum Herzen und ein Fremder im Weg.«

Dann legte sie die Karten zu vier Reihen mit je acht Blättern. Immer wieder beleckte sie den Finger. Die brüchige Stimme begann dann mit den Erklärungen, wobei der ausgespreizte Finger auf die jeweils erläuterten Karten wies:

»Das bist du, Aga, und da über den weiten Weg liegt ein Kind. Hast doch eins? Aber weit fort ist es, und ein Kreuz liegt dazwischen, als müßte das Kind noch weiter. Liegt was besonderes dazwischen, ein Mann, einer mit dem deine Herzsieben zusammensteht. Hast ihn wohl einmal geliebt? Oder ist es gar der Vater? Scheint so, denn du kehrst ihm den Rücken, jetzt erst, während doch deine Herzkarte weit zurück in seinem Haus liegt. Und der Mann, dem die reiche Schellenzehn zufällt, wirft auf das Kind den Laubbuben, das ist ein Unglücksbube, der nichts Gutes bringt. So ganz klar verstehe ich das nicht, aber von dem Mann, der ja der Vater selbst scheint, spinnt ein Unheil zum Kind; aber nicht durch den Mann selbst, sondern durch eine andere Gestalt, die doch von dem Mann kommt. Und über Tränen kreuzt sich der Kirchhof. Dir selbst aber stehen gute Geschäfte bei, die du annehmen mußt; etwas ganz Häßliches schiebt sich dazwischen, aber du darfst dich nicht daran kehren.«

Aga hörte und lauschte dann mit gespannten Sinnen.

Von ihrem Kind redete die Alte. Nur das grub sich ihren Gedanken ein; ein Unheil sollte von dem Vater aus über ihr Kind drohen? Von einem, der von dem Vater kommt.

Aber nein! An so etwas konnte sie nicht glauben; daran nicht. Zu seltsam klang das auch.

Sie zog ihre Schultern hoch:

»Wer sollte meinem Kinde etwas tun?«

»Niemand – es weisen nur Unglückskarten hin, die von dem ausgehen, der deine Liebe einmal genommen hatte, aber von dem aus wieder über einen anderen; die Schellenzehn, das Geld verknüpft die zwei. Ich weiß nicht mehr, als die Karten hier zeigen. Ich kann auch nicht mehr sagen.«

Aga strich sich mit der Hand über die Stirn. Sie wollte noch etwas fragen: über Tränen kreuzt sich der Kirchhof, hatte die alte Meschonke gesagt. Was bedeutete das?

Aber sie fragte doch nicht, als fürchtete sie sich vor der Antwort. Es war ja doch alles nicht wahr! Der Vater könnte auch durch keinen anderen, den er schickte, Unglück über ihr Kind bringen. Nein!

Sie glaubte nichts.

»Halloh! Was für Erbauungsandachten werden hier abgehalten? Die Meschonke, die alte Unke, unter ihren Hennen! Sagt mir doch lieber, ob sich in fideler Gesellschaft bei euch ein paar Flaschen die Hälse brechen lassen?«

Die schrille Stimme, die sich mit solchem Spott vom Eingang her vernehmen ließ, trieb alle, die eng zusammengerückt waren, rasch auseinander. Die Köpfe flogen der Türe zu.

»Der närrische Doktor.«

»Der fidele Strantz.«

Sie alle kannten ihn, und auch die alte Meschonke nickte wackelnd mit dem Kopfe auf dem dünnen, langen Hals.

Doktor Strantz stand an der Türe und hielt mit der hochgehobenen Hand die beiseite geschobene Portiere; sein Gesicht war noch das gleiche, nur die Mundwinkel hatten sich noch schärfer eingeschnitten.

»Wein her, ich bin durstig!«

»Gleich, Doktorchen.«

Und Madame Steinheil lief trippelnd davon, denn für einen solchen Besucher mußte sie die besseren Flaschen aus dem Keller holen, zu dem sie die Schlüssel niemandem anvertraute.

Scharf klang des Doktors Stimme:

»Die schöne Lilith und die rassige Lolo. Überall entdeckt man alte Bekannte, selbst im Salon der tüchtigen Frau Steinheil. Ich muß wieder was in mir ersäufen. Ei, sieh doch nur, Aga, selbst Aga ist zu den Glucken der ehrsamen Frau Steinheil gegangen. Rückwärts – rückwärts! Hast du die Weisheit vergessen, die ich dir bei der Madame Weinholz anvertraut hatte? Der Schmutz steigt immer höher, wehr dich nicht, dann geht es ganz sachte, dies Ertrinken. Deine Augen hast du noch, diese Feuerräder mit der heimlichen Seele.«

Aga reckte sich; und während alle anderen sich diesem bekannten und verschwenderischen Gast zudrängten, der sein Geld hinwarf, ohne dabei Gegenforderungen zu stellen, ging sie dem Ausgang zu.

»Immer noch stolz, Aga? Oder bin ich nur der Unbequeme, der dich stets an das erinnert, was du nicht hören willst? Auch gut! Ich sag es ja auch keinem, daß ich vor mir ausspucke. Aber ich mache mit. Lustig – immer lustig, ihr Kinder, bis wir unsere Grabrede halten. Doch da sehe ich schon die staubigen Flaschen mit den Spinnweben. Ist wohl auch so ein Trick, an alten Wein glauben zu lassen, nur weil die Flaschen alt sind, und weil die Spinnen zum Geschäft gehören. Wer trinkt mit?«

»Ich – ich.«

Alle riefen, alle waren bereit.

Die wimpernlosen Augen des Doktor Strantz zwinkerten:

»Alle – nur eine nicht. Aga! Hm! So ganz – ganz wie die alle und wie ich selbst gehörst du dem Sumpf noch nicht an. Warten – warten – dann trinken auch wir noch und erzählen uns Geschichten von der Liebe – hahaha – saufen, das ist gut für Gift, das rebellisch im Blut aufmuckt.«

* * *

Das Zimmer Agas war über einer Treppe und hatte zwei Fenster auf die schmale, enge Straße, in der fast kein Verkehr war, denn es gab in ihr nur solche Häuser. Am Tage ging auch selten einer durch, wenn es nicht gerade der Zufall fügte. Da konnte man nur die Besitzerinnen dieser meist alten, schmalen Häuser sehen, die ihre Kücheneinkäufe machten. Oder eine Friseuse huschte durch irgend ein Tor.

Es gab an den Fenstern nicht viel zu sehen.

Man wurde um diese Zeit auch selten in den Salon gerufen, da sich die meisten Besucher doch erst zu den beginnenden Abendstunden einstellen.

Da hatte man Zeit, wenn man allein sein wollte, um vielleicht zu schlafen, so bleischwer, daß man nichts mehr wußte, oder wenn man für sich etwas zu tun hatte, wenn man Lust spürte, Gedanken wie Schmetterlingen nachzujagen.

Aga saß an dem Tischchen, auf dem alte, vergilbte Briefe waren, Erinnerungen und Andenken, lose Blätter, Zeitungsausschnitte; sie blätterte in den Bruchstücken ihres Lebens.

Ein Häublein, das erste der kleinen Rose; damals hatte sie sich noch die Finger wund genäht; ein verstohlener, heimlicher Brief der Mutter, mit Tränenspuren, der so armselig klang, so hoffnungslos; da lag ein Rezept des Arztes, das Rose wieder gesund gemacht hatte, zu dem sie das Geld zum erstenmal von der Straße geholt hatte. Wie ein schwerer Traum war das hinter ihr. Alte Kinderstrümpfchen, die sie selbst zuerst getragen, die die Mutter dann für Rose geschickt hatte. Wieder einer von den heimlichen Briefen mit den Tränenspuren. Eine vertrocknete Nelke. Dann ein Zeitungsausschnitt: der Vertreter der Mosenwerke, Heinz von Öhringen wurde wegen großer Unterschlagungen und Wechselfälschungen in Höhe von einer Viertelmillion usw.

Sie schob den Ausschnitt fort. Dann der Entlassungsschein aus dem Arbeitshaus. Ein paar Geldkuverts mit den Aufdrucken von Fabriken. Dann wieder ein Brief, von einem Rechtsanwalt geschrieben, der den Tod der Mutter berichtete. Durch einen Rechtsanwalt hatte ihr dies der Vater mitteilen lassen, erst drei Tage, nachdem die Gute schon im Grabe ausruhte. Nicht einmal der Tod hatte den Schein eines Aussöhnens gebracht, nicht einmal das Verlangen, diese Todesnachricht selbst zu schreiben. Der erste Brief von Rose an die Mutter, diese steilen, unbeholfenen Schriftzüge. Wieder ein Zeitungsblatt: der Strafgefangene Heinz von Öhringen versuchte mit anderen aus der Anstalt in Kaisheim auszubrechen, wurde dabei aber von dem Wachtposten überrascht und durch einen Schuß getötet. Sein Ende! Und gleich darauf eine andere Notiz: der bekannte Architekt Möllendorf, dessen außerordentliche Bauten schon vielfach die verdiente Anerkennung fanden und ihm Orden und Ehren einbrachten, soll infolge seiner hervorragenden Verdienste vom Könige in den persönlichen Adelsstand erhoben werden; Herbert Möllendorf ist der Schwiegersohn des Großindustriellen Mosen, dessen Wohltätigkeitsstiftungen viel genannt werden.

Das Gesicht Agas zuckte nicht einmal auf.

Wozu?

Sie hatte es verlernt, mit dem Schicksal zu hadern; sie wußte, daß wir alle nur Spielzeuge der tollen Laune des Schicksals sind.

Die Todesanzeige ihres Vaters.

Die letzte Erinnerung; daneben die amtliche Mitteilung, daß er seine einzige Tochter in einem Testament enterbt und alles der Anstalt zur Fürsorge elternloser Kinder hinterlassen habe. So hatte er sie über den Tod hinaus noch verurteilt und verdammt.

Alle die einzelnen Erinnerungen legte sie wieder in eine Holzschatulle und schlug langsam den Deckel zu. Da mochten sie begraben sein.

Da schrillte eine Glocke.

Dies galt ihr! Ein Besucher um diese Stunde? Gleichgültig war ihr das, sie wunderte sich über nichts mehr. Sie blickte nur ganz flüchtig, einer Gewohnheit gehorchend nach dem Spiegel.

Dann ging sie, mit bloßen Füßen in kleinen Saffianpantöffelchen zur Türe, öffnete sie und schaute auf die Treppe, wer da zu ihr heraufkam.

Ein Fremder? Oder einer der alten, bekannten Besucher?

Da keuchte er empor, klein, verwachsen, wie das Zerrbild eines Menschen, einen spitzen Höcker im Rücken und einen vorn auf der Brust. Den Klumpfuß mußte er immer nachziehen.

Ein quittengelbes, faltiges Gesicht. Ein breites Grinsen in den boshaften Zügen; die widerlich höhnende Stimme:

»Ei – ei – schau, schau – die schöne Agnes! Immer noch verlockend.«

Der Bucklige! Sie hatte ihn erkannt, ihn, der zum Gespenst ihres Lebens geworden war, der sich immer wieder wie ein Schatten an sie geschlichen hatte, wenn irgendein Zusammenbruch drohend über ihr schwebte.

Jahre war er fort – schon vergessen!

Nun wie ein Alp!

Oder träumte sie, weil sie eben in den Erinnerungen geblättert hatte?

Wie erstarrt stand sie an der Türe.

Da kicherte er dicht vor ihr; dies Lachen!

Und seine Hand, an der die langen, knochigen Finger Spinnenfüßen glichen, griff nun gierig nach ihrem weißen Arm.

»Sieh mal, Täubchen, nun habe ich lange genug Geduld gehabt. Jetzt darf ich dich auch mal küssen; unsereiner muß eben immer länger warten und mit dem vorlieb nehmen, das andere übrig lassen. Heissah – Geld hab ich ja – und Geld läßt mal auch den Buckel vergessen.«

Da brach die Starrheit und ein Grauen schüttelte sie.

Nein – das nicht! Das nicht – denn das wäre das Widerlichste, das Abscheulichste –

Ekel kroch in ihr auf, daß sie daran ersticken zu müssen glaubte.

»Weg – rühr mich nicht an – du nicht.«

»Aber warum so spröde? Andere küssest du ja auch und öffnest ihnen die Arme und läßt sie an deiner weißen Brust liegen. Ich zahle nicht schlecht, denn ich will gerade dich. So ein Buckliger hat auch seine Sehnsucht und seine Glut, die an einem heißen Frauenleib gestillt sein will. Gold – Gold geb ich dir –«

»Fort – ich will nicht – ich will nicht – du bist der Satan selbst, bist ein Teufel! Was willst du von mir? Was willst du mir wieder nehmen?«

Wie ein angsterfülltes Stammeln klangen die Worte.

»Was erschrickst du? Ich freue mich! Deshalb bist du ja hier, damit du jedem gehörst, der dich kauft, ich zahle gut! So komm – laß mich mit meinen Fingern deinen Leib streicheln, laß mich die Wärme einmal spüren – du hast noch Flammen in dir –«

»Fort – fort – du Teufel – du willst mir nur das Letzte nehmen – ich gebe dir nichts – nichts –«

Er versuchte sie mit seinen langen Armen festzuhalten und in ihr Zimmer zu drängen; aber sie rang mit ihm, sie stieß mit der Faust nach ihm, sie schrie, als sie seine tastende Hand auf der Brust spürte.

Heiß streifte sie sein Atem:

»Was sträubst du dich? Zahle ich nicht wie jeder?«

»Nein – du willst mehr – du stiehlst mir mein Letztes –«

Wie im Wahnsinn gellte ihr Schreien.

Da konnte sie ihn auch von sich stoßen, daß er nach der Treppe zurücktaumelte. Sie aber sprang in ihr Zimmer, schlug die Türe zu und stieß den Riegel vor.

Keuchend an die Türe angelehnt lauschte sie dann.

Was wollte er? Dies Gespenst! Was sollte wieder über sie hereinbrechen, da er wieder gekommen war?

Ihr Herz hämmerte.

Dann schwere, plumpe Schritte die Treppe hinab.

Fort – fort!

Aber lauerte nicht wieder das Unheil in irgendeiner Ecke?

Sie lauschte immer noch.

Jetzt aber hörte sie nur die keifende Stimme der Madame Steinheil die Treppe herauf:

»So ein schlampiges Weibsbild, die Kunden einfach vor die Türe zu werfen. Ich habe ein anständiges Haus.«

* * *

Aga war wieder in ihrem Zimmer; sie warf einen scheuen Blick zur Türe hin, als wollte sie sich rasch überzeugen, ob sie jetzt auch nicht gestört werde. Dann holte sie unter dem Bett einen großen Karton hervor, der sehr sorgfältig in Papier gehüllt war; diesen stellte sie auf den Tisch und löste die Hülle; dann griffen ihre Hände hinein und holten die schwere, weiße Seide hervor, die zu einem Tanzkleid für Rose verarbeitet werden sollte.

Sie wurde doch jetzt schon dreizehn Jahre alt, ging immer noch in das Institut, plapperte französisch, konnte auf dem Klavier bereits Mozartsche Sonaten spielen, trug einen langen, blonden Hängezopf und besuchte mit anderen Institutsschülerinnen bereits einen Tanzkursus.

Dafür war diese knisternde, weiße Seide bestimmt. Freuen sollte sie sich. Dann holte sie eine kleine Handtasche, ebenfalls aus bunter Seide und mit Perlen hervor. Einen Schmuck. Dann Kämme aus Schildpatt. Ein paar weiße Tanzschuhe!

Das war Agas Freude, wenn sie diese Wunderdinge immer wieder ansehen konnte.

Was würde Rose sagen, wenn sie das sehen würde, wenn das alles dann ihr gehören sollte?

Was konnte sie ihr denn noch schenken?

Vierzehn Tage hatte sie ja noch Zeit, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen; da ließ sich immer noch etwas finden, was Freude machte.

Vierzehn Tage noch!

Dann war sie wieder für eine Woche aus diesem Schlamm befreit, dann durfte sie wieder nur an sich allein denken.

Vierzehn Tage!

Aber wie lange war es noch bis zur endgültigen Befreiung? Sie wurde älter! Sie fühlte es! Und das sollte nicht kommen, was dieser Doktor Strantz mit seinen grausamen Worten drohte. Nicht ganz untergehen! Nicht ganz!

Sie nahm ein schmales Büchlein hervor, in dem alle Einzahlungen eingetragen waren, die sie für Rose in der Sparkasse gemacht hatte; sie las die Summe, sie rechnete, sie schätzte: sechs Jahre noch – sieben – dann konnte sie in ein kleines, stilles Nest ziehen, wo niemand sie kannte, wo sie dann bescheiden als eine müde Frau leben würde, wo sich Rose der Mutter nicht mehr zu schämen brauchte. Das war die Erlösung, dann durfte sie aufatmen.

Doch das lag noch ferne, das war ein Luftschloß. Aber das war Erfüllung, daß sie nur vierzehn Tage noch von dem Kinde trennten, dann konnte sie wieder einmal den Weihnachtsbaum für ihr Kind anzünden.

Vierzehn Tage noch!

Ein leiser Jubel klang aus der Stimme, wenn sie es vor sich hinsagte.

Schritte kamen; und wie eifersüchtig, daß keine fremden Augen, vor allem keine in diesen häßlichen Wänden, ihre Schätze schauten und diese zarten Wunderdinge vielleicht mit ihren gierigen Blicken beschmutzten, schloß sie rasch den Karton und schob ihn fort.

Die Aufwartung kam, eine mürrische, ältere Person, etwas nachlässig in der Kleidung, die an der Türe stehen blieb und von dort aus einen Brief auf den nächsten Stuhl warf.

Sie brummte dabei etwas und ging wieder.

Aga holte den Brief; sie erkannte sofort die Schriftzüge von Frau Wolfert!

War mit Rose etwas geschehen? Oder wußte diese nur einen Wunsch, den Rose noch hegte? Aga hatte ja darnach gefragt. Das würde es schließlich sein!

Es war auch ganz töricht, daß sie plötzlich ein so starkes Herzklopfen spürte. Woher das kam? Wurde ihr Herz schon schwächer?

Sie setzte sich und riß das Kuvert auf, nahm den Brief heraus und faltete ihn auseinander.

Dann begann sie hastig zu lesen, etwas gleichgültig über die Anrede und die ersten Zeilen hinweg. Frau Wolfert bestätigte, daß die in Aussicht gestellten Geschenke sicher jubelnden Beifall finden würden, daß sie selbst aber gar keinen Rat für eine weitere Überraschung geben könne; Rose sei immer hübscher geworden, aber auch merkwürdig nachdenklich und verträumt. Und von da an begann Aga wie gehetzt jedes Wort förmlich einzusaugen.

Was stand da? Was bedeutete das alles? Das Blatt begann in ihrer Hand zu zittern:

»Wiederholt habe ich sie überrascht, daß sie ganz in grübelnde Gedanken versunken in einer Ecke saß und dann erschrocken zusammenfuhr, wenn ich sie anredete. So viel ich auch fragte, sie antwortete mir nicht. Nur einmal wollte sie wissen, warum ihr die Mama nie von ihrem Vater erzählt habe. Ich war ordentlich erschrocken und wußte erst keine Antwort. Doch dann erzählte ich, der müsse lange schon gestorben sein. Aber die Augen von Rose waren dabei so sonderbar, daß ich nicht weiß, ob sie mir glaubte. Und wieder vor ein paar Tagen sprach sie davon, warum denn die Mama immer verreist sei, wenn sie doch nicht bei dem Vater sei, und was denn die Mama da immer tun müßte. Ich erzählte ihr wieder etwas; das läßt sich machen, aber ich fürchte, daß die Augen von Rose schon zu wißbegierig geworden sind, daß in ihnen etwas liegt, das tiefer sucht und grübelt. Ich möchte Ihnen nicht wehe tun, es ist nicht deshalb, Ihnen einen Schmerz zuzufügen, aber um des Kindes willen würde es besser sein, wenn Sie sich dazu aufraffen könnten, diesmal auf das Kommen zu verzichten.«

Aga hob den Kopf; angstvoll geweitet waren die großen, braunen Augen, die Lippen aufeinandergepreßt.

Was stand da? Nicht kommen?

Sie mußte weiterlesen, – alles, auch das Letzte.

»Solche Augen sehen zu tief und zuviel; sie könnten etwas sehen und erkennen, was sie nicht wissen dürfen. Rose ist ein wunderliches Kind. Ich kann ihr ja von einer Krankheit erzählen, ich kann irgend etwas ersinnen. Das geht, das läßt sich immer machen. Daran muß sie glauben. Und das ist gewiß auch besser, als wenn sie die Wahrheit sehen würde, mit den wissenden Augen, die das Kind zu haben scheint. Ein Vorwand läßt sich immer finden. Wenn Sie einmal bei Rose bleiben können, wenn Sie nicht mehr dahin zurück müssen, da läßt sich alles noch ordnen. Aber vorerst bitte ich Sie, um des Kindes willen auf das Kommen zu verzichten, denn die Augen von Rose fragen zu viel. Und nur ein Verdacht, nur ein ganz geringer, dann könnte in der keuschen Mädchenseele etwas für alle Zeit zerstört werden. Ich weiß ja, wie Sie die Kleine lieben, ich weiß, daß Sie schon viel opferten, und deshalb werden Sie mich auch verstehen. Es ist ja hart, was ich Ihnen zumute, aber Kinder fragen eben doch – und verstehen dabei das Leid nicht, weil sie das Leben nicht kennen.«

Da ließ Aga die Hand sinken; sie konnte nicht mehr weiterlesen.

Der Brief fiel.

Und aufschluchzend bedeckte sie ihr Gesicht mit beiden Händen.

Sie sollte ihr Kind nicht sehen, sie sollte es nicht mehr aufsuchen.

Die grausamste Forderung!

Und doch hatte Frau Wolfert recht! Hatte sie es nicht schon das letztemal gefühlt, wie ängstlich suchend sie des Kindes Augen angeschaut hatten?

Besser war es!

Damit aber brachte sie nun das schwerste Opfer. Frau Wolfert würde von einer Krankheit erzählen, würde irgend etwas ersinnen, so wenigstens würden die suchenden Augen die Wahrheit nicht erkennen.

Ein Opfer – der Mutter schwerstes.

Fern bleiben – das eigene Kind fliehen! Sie mußte es erzwingen, sie mußte es fertig bringen!

Und gebrochen, völlig hilflos stöhnte sie:

»So rächt es sich – so rächt es sich! Es ist nicht wahr, daß Kinder nicht fragen; nein – sie fragen doch – sie fragen doch! Und ich – ich muß mich wie ein häßliches Tier verkriechen, damit die Augen in mir die Schande nicht lesen. Kinder fragen doch!«



 << zurück weiter >>