Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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13

Um die Mittagszeit kam der Knabe Andreas in das Wälderhaus und meldete dem Großvater, daß die Russen kämen.

Der alte Peter Aust, in den wilden Jahren mißtrauisch geworden, sagte zu Magdalena, es sei wohl ratsam, wenn sie sich vorläufig verberge, denn er traue auch diesen slawischen Freunden nicht.

Er zog den Mantel an, steckte zwei geladene Pistolen in die Taschen und ging der Kosakenstreife entgegen.

Der Kosak, der an der Seite des Offiziers ritt, schwang sich aus dem 148 Sattel, nahm die Fuchsstute beim Halfter und kam auf den alten Förster zu.

»Ihr seid es, Peter Aust? Wo ist Euer Sohn?«

Peter Aust, dem das Staunen die Worte verschlug, musterte den seltsamen Soldaten, schaute mißtrauisch näher und legte dann die flachen Hände auf die Brust.

»Eine Frau, wenn meine alten Augen nicht lügen?!«

»Eine Frau. Erkennt Ihr mich nicht?«

»Ich erkenne Euch nicht!«

Mittlerweile war auch der Leutnant abgesessen, er kam auf den Förster zu und fuhr mit der Hand an den Pelztschako.

»Leutnant von Litinow, Regiment Sementschenko. Ihr kennt den Kosaken hier?«

»Nein, wie sollte ich Eure Frau kennen!«

Die Frau nahm die Russenmütze ab, blond entfaltete sich das Haar, die weichen Züge des Antlitzes traten deutlich hervor.

»Kosak Juliane Berghaus«, sprach sie und lächelte.

Der alte Förster taumelte rückwärts, er war überwältigt von Staunen.

»Josef und Maria, die gnädige Frau!«

»Kommt ins Haus, Peter Aust, dort werdet Ihr alles erfahren, und sorgt, daß meine Russen hier sich wärmen können.«

»Steht denn die Welt auf dem Kopf«, sagte der alte Aust und wollte nicht fertig werden mit Kopfschütteln, »die gnädige Frau als Kosak! Kommt ins Haus, von hier ist nicht viel Gutes zu melden.«

»Ich darf mich nicht lange aufhalten«, sprach der Offizier, während sie ins Haus gingen. »Ihr werdet uns vielleicht einen Fingerzeig geben können. Der Graf Sickingen will um die Mittagsstunde mit einer wichtigen Meldung hier sein. Ich will ihn erwarten, dann muß ich mit meinen Leuten weiter.«

Die Pferde wurden in den Stall gebracht, Peter Aust rief nach Magdalena, sie kam mit dem Knaben aus der oberen Dachkammer.

Juliane war tief bewegt, als sie den Knaben sah, der sich ihr mit ängstlicher Scheu näherte.

»Dich habe ich lange nicht gesehen, Andreas«, sprach sie und nahm den verstörten Knaben in die Arme. Und zu Magdalena: »Ihr seid aber doch nicht Frau Aust?«

»Nein«, erwiderte Magdalena, »ich bin vom Rhein drüben, der Krieg hat mich in die Wälder verschlagen.«

149 »Wo ist denn dein Vater, Andreas, und die Mutter?«

Der Knabe Andreas schaute die Frau verwundert an und begriff nicht, wie es möglich sein konnte, daß sie ein russischer Soldat war.

»Mein Vater ist tot«, sprach er und die ausbrechenden Tränen erhöhten den Glanz in den blauen Wälderaugen, »und meine Mutter ist auch tot.«

»Tot?! O Gott, Andreas, was sagst du da?«

»Ja, sie liegen drüben, wo das Kreuz steht. Ich bin jetzt ganz allein auf der Welt.«

Frau Juliane, bleich im Gesicht und erschüttert, preßte den Knaben fest an sich, sie spürte die Stöße seines stillen Weinens, den Schlag seines Herzens fühlte sie in der eigenen Brust.

»Du sollst nicht allein bleiben, Andreas. Sei zufrieden, wir wollen alle zusammenstehen.«

»Warum seid Ihr ein russischer Soldat?«

»Frage nicht danach, Andreas. Glaube mir, es wird alles wieder gut werden.«

Sie saßen in der warmen Küche und tranken Tee, den die Russen aus ihren Satteltaschen geholt hatten. Es gab auch wieder Milch hier im Ödland der Haingeraidewälder, der alte Aust hatte vom Johanniskreuz eine Ziege gebracht. Sie hatten auch noch Futter gefunden, Bergheu und eingemietete Rüben, es gab geräuchertes Fleisch, Eier und ein wenig Mehl. Ja, es ließ sich schon wieder notdürftig leben in der Einsamkeit dieses heimgesuchten Winkels. Eine magere Hoffnung, trostvoll in ihrer Dürftigkeit, wagte sich aus den geschändeten Winkeln, das Leben war stark, schon trieb es aus Schutt und Gräbern hervor. Der Förster erzählte von den Begebenheiten der letzten Tage und meinte, das Land müsse nun bald frei sein von seinen Unterdrückern, der Stern Napoleons sei untergegangen, man habe allen Grund, wieder zu hoffen.

»Wenn man viel allein ist«, sprach er, »wird einem die Erkenntnis eine gute Freundin. Und die Erkenntnis hat eine milde Hand und ein starkes Herz. Sie hilft uns, leichter zu opfern und leichter zu verzeihen. Sie ist wie ein Mantel, der uns umhüllt. Sie tötet den Haß und gebärt die Liebe. Ich habe viel darüber nachgedacht, aber es wird schon so sein, daß es Völker gibt, die müssen einen weiten Weg gehen, bis sie zu sich selber finden.«

Sie waren wie auf einer friedlichen Insel, mitten im Herzen des pfälzischen Waldes, eine verwegene Runde, die Wäldermenschen und 150 Magdalena vom Strom, der Soldat Juliane von den Hängen der gesegneten Hardt und fünf Russen, Fremdlinge auf diesem Boden, Traumerscheinungen einer neuen Zeit, vor der sie hergeritten kamen im brausenden Wetter und im wehenden Wind.

»Ich habe mir gedacht«, fuhr Peter Aust fort, »aus jedem der vielen Tausend Toten müßte ein Baum wachsen, auf daß der Tote wiedererstehe und weiterlebe. Freund oder Feind, im Tod reichen sich alle Menschen die Hände. Der Tod löscht den Haß, er steht über den Völkergrenzen. Auf seiner Fahne glänzt das hohe Zeichen der Versöhnung. Aus jedem Toten müßte ein Baum erstehen, der aufblüht in jedem Frühling und wieder verlöscht in jedem Herbst.«

Der Kosak hatte mit wachsender Anteilnahme auf die Worte des Alten gehört, sein Gesicht war in starrer Versunkenheit, er hatte die Augen weit geöffnet, er schaute Juliane an und wußte nicht, wer ihn so verzaubert hatte.

»Ein Baum«, sprach er mit matter Verklärung, »ein Baum müßte wachsen aus jedem Toten!«

Er fuhr mit beiden Händen über die Augen, als wollte er sich befreien von der Kraft einer Vorstellung, die sein ganzes Denken mit einem Male heimlich schleichend gefangengenommen hatte.

Wo lebte er denn, in welchem Land, wer war die Frau, die ihm Gnade gebracht, die ihm Ende und Ziel gesetzt hatte?!

»Ein Baum aus jedem Toten!«

Juliane schaute zu ihm herüber, ihr Blick war umflort, sie wandte sich mit einer raschen Wendung des Kopfes dem Knaben Andreas zu, der neben ihr auf der Bank saß. Sie schlang den Arm um ihn und preßte ihn fest an sich. Und sprach dann, daß sie alles daran setzen wolle, um zu helfen am Aufbau dieses verwüsteten Waldwinkels.

Sie erhob sich und sprach zu Litinow gewandt: »Ich habe nur einen russischen Soldaten gespielt, Ihr aber spielt mit Eurem Leben. Ich habe Euch zu danken, daß ich mich nicht weiter gegen die gefährlichen Launen eines russischen Generals zur Wehr setzen mußte. Ich will Euch das nicht vergessen.«

»Mehr kann ich nicht mehr wünschen.«

Sie ging mit Magdalena aus der Küche, denn sie sah der Frau an, daß sie etwas auf dem Herzen hatte.

»Ihr seid bedrückt, ich will Euch beistehen, wenn ich kann. Wo ist Euer Mann?«

»Tot.«

151 »Soldat?«

»In Rußland geblieben.«

»Und Eure Brüder und Schwestern und Eltern?«

»Ich will Euch davon erzählen.«

Sie saßen oben beisammen auf dem Bett und fühlten nicht die Kälte der Kammer, denn das Herz sprach zum Herzen, beide trugen mit ihrem Schicksal das Schicksal ihrer Heimat, und beide wußten, daß es not tat, stark zu sein, weil die Schwachen zerbrachen am Ringkampf der Völker, und weil nur die Unerschütterlichen die Stürme überdauerten.

»Die Starken sind Gottes besondere Freunde«, sprach Juliane, »ich habe nie aufgehört, zu glauben, und der Glaube macht stark.«

»Auch die Schuldigen?«

»Auch die Schuldigen. Es gibt keine Schuld, die nicht wieder gut gemacht werden könnte. Es kommt nur auf die Reinheit unseres Herzens an.«

»Ihr sagt, auch die Schuldigen sind Gottes Freunde.«

»Mehr als alle andern, wenn sie ihre Schuld bekennen.«

Magdalena legte den Kopf gegen Julianes Schulter, das Haar fiel über die Stirn, sie war voll Demut.

»Ich bin schuldig. An mir selbst, am Volk und am Boden, auf dem ich lebe.«

»Was ist Eure Schuld?«

»Vielleicht trage ich das Leben eines Fremdlings in meinem eigenen Leben, es strömt durch mein Blut, es erfüllt mich ganz, es wächst in mir und ich kann mich nicht dagegen wehren.«

Juliane richtete Magdalenens Kopf auf und schaute sie an. Sie sah die tränenüberströmten Augen und fühlte das Zittern ihres Körpers.

»Ihr habt gewußt, daß er ein Fremdling ist?«

»Nein, er hat mich betrogen.«

»Habt Ihr – ihn – geliebt?!« – Magdalena schwieg.

Eine große Stille wuchs in den Raum hinein, bis er zuletzt ganz erfüllt war von Schweigsamkeit.

Über die Wälder stieg die Wintersonne herauf, das Licht war wie ein Strom, das Leben hatte viele Tore offen, es war, als müßte die Orgel der Welt nun bald anheben zu klingen, auf daß auch die letzten Schlupfwinkel des Schattens von ihr erfüllt würden.

In die Stille hinein sprach Magdalena: »Könntet Ihr einen Fremdling lieben?«

152 Juliane sann eine Weile über diese Frage nach, sie war erschüttert, weil jemand an ihre verborgensten Gefühle rührte.

»Ohne Gesetz ist die Liebe, nicht aber der Liebende. Unsere Reinheit ist unser höchstes Gut und unser höchstes Gesetz.«

»Ich bin nicht rein.«

»Dann müßt Ihr es wieder werden!«

»Zeigt mir den Weg.«

»Ich will Euch helfen.« –

Gegen Mittag kamen Barbara Ringeis und der letzte Sickingen.

Die Russen rüsteten zum Aufbruch, die vier Kosaken hatten schon die Pferde aus dem Stall gebracht.

Barbara war überrascht, Magdalena im Forsthaus der Haingeraide zu finden, der Lehrer Seffrin hatte erzählt, seine Tochter sei gewiß von den Franzosen erschossen worden, denn sie habe die Russenstreife vom General von Wittgenstein hinter die französischen Linien geführt, der Bruder habe die Schwester verraten, so ginge es zu im Land zwischen den Fronten.

»Du lebst, Magdalena? Wenn das der Vater wüßte!«

»Wie geht es meinem Kinde, Barbara? Und dem Vater? Ist mein Bruder mit dem Sacken über den Rhein gekommen?«

Barbara senkte den Blick, sie wandte sich ab und ging zur Herdstelle, wo sie in das knisternde Feuer starrte.

»Fragt mich nicht nach Euren Brüdern.«

»Sagt was Ihr wißt, ich fürchte mich nicht.«

»Nicht jetzt, ich bin zu müde.«

»Beim Henker und Rabenholz, redet!« Der letzte Sickingen sprang von der Bank hoch. »Nichts ist niederträchtiger als die Ungewißheit. Redet, sonst rede ich.«

»Ich bin stärker, als Ihr glaubt«, sprach Magdalena leise, »Ihr dürft Schlimmes sagen, ich will standhaft bleiben.«

Barbara trat einen Schritt auf sie zu: »Eure Brüder leben nicht mehr!«

»Die ganze Wahrheit dieser Frau!« rief Sickingen. »Der Bruder hat den Bruder erschossen!«

Magdalena öffnete den Mund, sie rang nach Luft, die Augen waren glasig geöffnet.

»Und – – dann – –?«

»Und dann sich selbst!« vollendete der Graf.

Noch immer stand die Frau aufrecht, der Schlag traf sie mit 153 furchtbarer Wucht, ein Beben rann über ihren Körper, sie wankte und sah, wie es schwarz wurde vor ihren Augen.

»O Gott«, hauchte sie, »o Gott!«

Sie taumelte durch den Küchenraum. Sie sah den alten Förster und den Knaben Andreas, sie sah Frau Juliane und den Kosakenoffizier. Sie saßen stumm um den Herd, der Graf stand aufrecht und rührte sich nicht.

»Ich dank Euch, Sickingen. Habt Ihr sonst noch etwas auf dem Herzen? Wenn Ihr mir noch sagt, daß mein Kind – – –«

»Euer Kind lebt«, fiel Barbara ein.

»Mein Kind lebt? Gott im Himmel, wieviel Gnade schenkst du mir!«

Sie ging weinend hinaus und durch ihr Schluchzen quälten sich die Worte: »Das – – hätte ja alles noch – viel schlimmer sein können. Eine – Kerze – – für dich, heilige Maria, und – – hundert Vaterunser – – auf meinen Knien – –«

Sie schloß hinter sich die Tür, und draußen wurde ihr Weinen laut, man hörte es durch die Wände hindurch, es war wie die verborgene Stimme des Wälderhauses. Es klang, als könnte es nicht mehr untergehen, als müßte es später, in einsamen Nächten, wieder aufwachen und seine Stimme erheben.

»Notland!« Der letzte Sickingen sprach das Wort und der alte Peter Aust sprach es nach.

Es klang wie ein Signal, dem alle zu folgen und dem alle sich zu beugen hatten.

Draußen wieherten die Russenpferde, der Leutnant von Litinow erhob sich, er war still und gefaßt, nichts verriet den Kampf, den er auszufechten hatte, er lächelte, als er den Mantel anzog und den Pelztschako aufsetzte. Er trat vor den Grafen Sickingen hin und reichte ihm die Hand.

»Ich danke Euch, Graf Sickingen, für Eure Tat. Ihr habt eine Disposition des Generals ausgeführt, die auszuführen mir selbst übertragen war. Ich weiß, daß ich mich auf Eure Meldung über die Bewegung des Feindes verlassen kann.«

»Bei meinem Leben, das könnt Ihr!«

»Ich bin gewiß, daß keiner den Auftrag besser ausgeführt hätte, als Ihr. Ich stehe in Eurer Schuld.«

»Wir reiten für ein gemeinsames Ziel, Leutnant von Litinow.«

»Ich glaube, recht gehandelt zu haben, wenn es auch gegen den 154 Befehl und gegen das soldatische Gesetz war. Eure Kenntnis des Geländes und Eure Zuverlässigkeit haben die Aufgabe rascher und besser gelöst. Meine offene Auflehnung gegen den hohen Vorgesetzten bleibt, ich werde dafür einstehen müssen.«

»Euer Konto, Leutnant von Litinow, scheint mir bedenklich«, sprach Sickingen, »ich begleite Euch bis in die Ebene hinaus.«

»Wenn ich schuldig bin vor dem Kriegsgesetz, nie und nimmer bin ich es vor dem Gewissen!«

»Ich reite mit«, sprach Juliane und trat vor.

Sie wollte hinausgehen, da trat ihr der Russenoffizier in den Weg.

»Madame, ich bitte Euch, bleibt hier.«

»Ich reite mit!«

»Womit verdiene ich diese Gunst?«

Sie schaute ihn an, fest und durchdringend, ihre Blicke trafen sich. In diesem Augenblick hatte Juliane eine düstere Gewißheit.

»Ich will Euch das Geleite geben, Leutnant von Litinow.«

»Ich kann es Euch nicht mehr danken.«

Sie ging hinaus, er folgte ihr nach, sie standen allein in der Dämmerung des Flurs.

»Ich bitte Euch, bleibt hier«, sprach Litinow.

Sie schaute ihn an und sah, daß eine Ferne in seinen Augen glänzte, zu der sie schon nicht mehr hinüberreichte.

»Ihr geht weit fort, russischer Freund.«

Der Soldat kniete nieder vor der Frau, umfing sie mit den Armen und barg seinen Kopf an ihr.

»Ich sehe Euch nicht wieder, Kosak Juliane. Denkt an mich!«

»Ich will an Euch denken.«

»Nehmt alle Schuld von mir.«

»Ich nehme alle Schuld von Euch.«

»Und vergeßt nicht, daß ich Euch geliebt habe.«

Als er sich erhob und sie anschaute, sah sie, daß seine Augen voll Tränen standen.

Er ging hinaus, wo die Kosaken bei den Pferden waren.

Der Graf Sickingen kam aus der Küche und ging in den Stall.

Juliane blieb im Zwielicht des Flurs und regte sich nicht. Sie stand still und doch trieb sie dahin wie in einem Strom. Sie hörte Stimmen und Hufgeklapper, die Geräusche waren fern, schon klangen sie aus einer andern Welt.

Es war nur noch ein Summen und Sausen, dann war alles vorüber.

155 In einer getriebenen Eile stürzte sie ins Freie. Die Russen waren fort.

»Jetzt sehe ich ihn nicht wieder«, sprach sie. –

Dann ging sie in die Küche, wo der Förster Aust, Barbara und Magdalena und der Knabe Andreas um das schwatzende Herdfeuer saßen.

Sie beratschlagten, was in der kommenden Zeit zu tun wäre, es wurden allerlei Pläne besprochen, man hatte gute Hoffnung, daß nun der Friede bald käme und man an den Aufbau des zertretenen und geschundenen Landes gehen könnte. Frau Juliane wollte, wenn erst die Russen fort wären, den Knaben Andreas zu sich nehmen, er sollte es gut haben, als ob er ihr eigenes Kind wäre. Und Magdalena sollte sobald als möglich wieder nach Hause zurückkehren zu ihrem Kind und zum Vater. Und die Zeit sei ein großer Arzt, man dürfte nur den Glauben nicht verlieren.

Barbara wollte mit Frau Juliane wieder nach Deidesheim gehen und dort bleiben, bis Bastian Berghaus aus Frankreich zurückkehrte.

Wie wunderlich, das Haus im Ödland der Wälder war mit einem Male erfüllt von Hoffnung, ein fernes Licht brach durch die Fenster, es war, als ob ein Unsichtbarer durch die armseligen Räume ginge und sie mit Zuversicht erfüllte.

Gegen drei Uhr nachmittags zog Juliane den Russenmantel an, setzte die Pelzmütze auf und sagte, daß sie bald zurückkäme.

Es trieb sie in die Stille, sie ging langsam, mit gesenktem Kopf, in die Brandstätte der Wälder hinein.

Zwischen den verkohlten Baumresten ging sie dahin, das Ödland war weit, bis zur Höhe des Berges und noch weiter reichte die schwarze Trümmerstätte.

Vereinzelt ragten noch Stämme auf, aber ihr totes Gerippe hatte den letzten Sinn verloren.

Sie kam in das Felsgetrümmer am Rande der großen Senke. Der Sandstein war geschwärzt; über der Schwärze, die Brandmale halb verdeckend, lag Schnee.

Juliane ging in das Gewirr der Felsen hinein. Sie lehnte den Kopf gegen die Kälte des Steins und wurde von einem wilden Schluchzen geschüttelt. –

Als sie aufschaute, sah sie zwischen den Felsen hindurch in die Senke hinunter. Dort hatte der Brand Halt gemacht, dort standen Eichen, 156 kahl jetzt, aber mit wundervollen Kronen. Zweihundertjährige Eichen mußten es sein, die Raubgier des Fremdlings hatte sie nicht getroffen, wie durch ein Wunder waren sie der Axt entgangen. Da standen sie jetzt, einsam und alt, Kameraden unter sich und Gefährten der Jahrhunderte. Viel Licht lag auf ihren Stämmen.

Juliane sah zwischen den Bäumen plötzlich einen Reiter auftauchen. Der Reiter kam langsam und spähend die Senke herauf.

Der Reiter war kein Soldat, er trug einen dunklen Mantel und eine Ohrenmütze, er war klein und von gedrungener Gestalt und ritt auf einem abgetriebenen Pferd. Juliane verbarg sich hinter den Felsen und beobachtete den Reiter.

Er kam jetzt auf der Höhe an, stieg vom Pferd und schaute sich lange vorsichtig und mißtrauisch um. Als er sich unbeobachtet glaubte, zog er ein kleines Bündel aus der Satteltasche, ging auf eine Steinrinne zu, über der Schnee und verkohltes Brombeergerank lagen, und versteckte das Bündel unter dem Geröll.

Er schaute sich wieder spähend um, saß auf und ritt davon.

Juliane verfolgte ihn mit den Blicken und sah, daß er auf das Forsthaus zuritt, dort vom Pferd sprang und ins Haus trat.

Rasch entschlossen ging Juliane zu der Schutthalde hinüber, zog das Bündel aus dem Versteck und trat wieder hinter die schützenden Felsen.

Sie öffnete hastig und fand Papiere und Zeichnungen. Die Papiere enthielten in französischer Sprache genaue Angaben über die Stärke der Besatzung in der Festung Landau, auch Mitteilungen über die Stimmung der Truppen und der Bevölkerung waren dabei, desgleichen Unterlagen über die Verproviantierung und den Munitionsvorrat. Offenbar sollten diese wichtigen Schriftstücke der französischen Heeresleitung auf Schleichwegen übermittelt werden, und sie über den allgemeinen Zustand in der Festung Landau unterrichten. Daß die Papiere von Wichtigkeit waren, ging aus dem Umstand hervor, daß der Reiter sie hier versteckt hatte, bevor er in das Forsthaus gegangen war, fürchtend, sie könnten ihm dort vielleicht entwendet werden, denn er konnte nicht wissen, ob er dort Freund oder Feind antreffen würde. Frau Juliane dachte angestrengt nach, was zu tun wäre. Sie wußte, daß die Papiere für die Verbündeten unter Umständen von großer Bedeutung sein konnten, denn die Festung Landau mußte im Vormarsch der Armee zerniert werden, Angaben über ihre Besatzung konnten strategisch außerordentlich wichtig sein.

157 Welche Pläne sie auch erwog, es galt, die Unterlagen auf schnellstem Weg dem Hauptquartier zuzuleiten.

Frau Juliane schob das Bündel in die Manteltasche und ging langsam auf das Forsthaus zu.

Als sie durch das Fenster hineinschaute, sah sie undeutlich, daß der Reiter in der Küche war.

Sein Pferd war vorm Haus angepflockt.

Mit Mantel und Mütze trat sie in die Küche.

Der Mann saß vorm Herdfeuer und trank Tee.

Er sei ein gewisser Huß, erklärte der alte Aust, damit Juliane im Bilde sei, ein kleiner Sägemüller Huß aus Erlenberg, er käme aus der Ebene, wolle hier nur ein wenig verschnaufen und sich wärmen, um dann durch das Elmsteiner Tal nach Erlenberg weiterzureiten.

Der Mann blinzelte die Kosakenfrau mißtrauisch an, ihm war nicht recht behaglich hier, er hatte nicht erwartet, den alten Aust anzutreffen.

»Da seid Ihr jetzt auch plötzlich gut deutsch geworden, Huß?«

»War ich immer, Aust, mir kann niemand nachsagen –«

»Ich meine, Ihr habt doch gern mit den französischen Holzlieferungen zu tun gehabt? An unsern verkohlten Beständen lag Euch wenig.«

»Nichts als Verleumdung. Überall Denunzianten, Aust.«

Er fuhr sich durch den feuchten Bart, er saß geduckt wie ein gefangener Vogel und überlegte, wie er auf schnellstem Wege wieder fortkäme.

»Da ist der Marmont nicht mehr in Kaiserslautern?« fragte er und lauerte auf die Antwort.

»Der Marmont ist über alle Berge. Habt Ihr vielleicht eine kleine Verabredung mit ihm?«

»Ich?! He he.« Er lachte kurz und kratzte sich in den Haaren. »Mag er zum Teufel gehen!«

Frau Juliane, die kein Wort gesprochen hatte, verließ die Küche.

Die beiden Frauen saßen mit Andreas auf der Bank.

»Da sind die Franzmänner am Ende schon in Homburg?« fragte der Sägemüller Huß, er öffnete halb den Mund, weil er auf die Antwort gespannt war.

»Möglich, daß sie schon an der Saar sind.«

»Immerzu. Ich will jetzt weiter. Vergelt's Euch Gott, daß ich mich hab' aufwärmen dürfen bei Euch.«

»Das ist gern geschehen, Huß. Aber Ihr seid nicht mein Freund. Ich 158 traue Euch nicht. Das muß offen gesagt werden, nur kein Versteckspiel.«

»Dann will ich Euch nicht länger zur Last fallen.«

Er ging, die tückischen Augen schauten von unten herauf, er hustete kurz und trocken.

Sie sahen ihn über die verschneite Lichtung reiten.

»Er ist ein Verräter«, sprach der alte Aust, »man muß ein wachsames Auge auf ihn haben. Er hat auch manchen Kahlhieb in unseren besten Beständen auf dem Gewissen. Ich will nachsehen, wohin er reitet.«

Er ging ins Freie.

Nach einer Zeit kam er zurück und riß hastig die Tür auf.

»Die Kosakenfrau ist fort«, sprach er bestürzt, »das Pferd steht nicht mehr im Stall!«

 


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