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Fünftes Kapitel

1.

Ein Ausruf, dann Schweigen, als die hohe Figur einer schönen, jungen Dame, glühenden Antlitzes, mit blitzenden grauen Augen eintrat und nach einigen Schritten stehenblieb, gefolgt von einem Manne, den Percy sofort nach seinen Bildern wiedererkannte. Ein leises Wimmern kam von dem Bette her, doch unwillkürlich erhob der Priester die Hand, um es verstummen zu machen.

»Wie!« rief Mabel und starrte auf den Mann mit dem jugendlichen Gesichte und dem weißen Haare.

Oliver öffnete seine Lippen und schloß sie wieder; auch seine Züge verrieten eine starke Erregung. Dann faßte er sich.

»Wer ist das?« sagte er bedächtig.

»Oliver«, rief die Frau, indem sie sich schnell nach ihm umwandte, »es ist der Priester, den ich sah, als –«

»Ein Priester!« rief jener und trat einen Schritt näher. »Wie, ich glaubte –«

Percy atmete tief, um die Erregung, die ihm die Kehle zusammenschnürte, zu bemeistern.

»Ja, ich bin ein Priester«, sagte er.

Wieder kam ein schwaches Wimmern von dem Bett her, und Percy, halb sich umwendend, um die Kranke zu beruhigen, sah, wie Mabel mechanisch den dünnen Staubmantel öffnete, der ihr weißes Kleid bedeckte.

»Du hast ihn rufen lassen, Mutter?« rief der Mann in barschem Tone mit einer Bewegung, als wollte er auf jenen losstürzen, während seine Stimme vor Erregung zitterte. Doch Mabel erhob die Hand.

»Ruhig, mein Lieber«, sagte sie. »Nun, Sir –«

»Ja, ich bin ein Priester«, wiederholte Percy, der, kaum seiner Worte bewußt, einen verzweifelten Versuch machte, seine Willenskraft wiederzufinden.

»Und Sie wagen es, mein Haus zu betreten?« schrie der Mann. Er näherte sich um einen Schritt, wich aber wieder zurück. »Sie schwören es, Sie sind ein Priester? Sie sind den ganzen Abend hier gewesen?«

»Seit Mitternacht.«

»Und Sie sind nicht –« wieder hielt er inne.

Mabel trat entschlossen zwischen die beiden.

»Oliver«, sagte sie, immer noch mit dem Ausdruck zurückgehaltener Erregung, »wir dürfen hier keine Szene machen. Die Arme ist zu krank. Wollen Sie mit hinunterkommen, Sir?«

Percy wandte sich der Türe zu, und Oliver trat einen Schritt zur Seite. Dann blieb der Priester stehen, blickte nochmals zurück und erhob seine Hand.

»Gott segne Sie«, sagte er in einfachem Tone zu der jammernden Gestalt auf dem Krankenlager. Dann verließ er das Zimmer und wartete draußen.

Von drinnen konnte er leises Sprechen und deutlich die mitleidvolle Stimme der jungen Frau vernehmen. Dann trat Oliver zu ihm heraus, leichenblaß, über und über zitternd, und mit einer stummen Handbewegung schritt er an ihm vorbei die Treppe hinab.

Oliver öffnete eine Türe, drückte auf einen Knopf und trat, gefolgt von Percy, in das eben erleuchtete Gemach. Schweigend wies er auf einen Sessel. Percy setzte sich, und Oliver, halb zur Seite gewandt und die Hände in den Taschen seines Jacketts, blieb am Kamine stehen.

Percys geschärfte Sinne ließen ihn jede Kleinigkeit im Zimmer bemerken – den weichen, elastischen, grünen Teppich unter seinen Füßen, die herabhängenden, durchsichtigen Seidenvorhänge, das halbe Dutzend niederer, mit Blumen beladener Tischchen und die Bücherreihen an den Wänden. Dann fiel sein Blick auf die Gestalt des Mannes, so geschmeidig, so schlank und aufrecht, die dunkelgraue, seiner eigenen nicht unähnliche Kleidung, das schön geformte Kinn, den reinen, hellen Teint, die fein geschnittene Nase, die auf Idealismus deutende Linie über den Augen und das dunkle Haar. Es war der Kopf eines Dichters, diesen Eindruck hatte er, und Leben und Lebhaftigkeit sprachen aus der ganzen Persönlichkeit. Dann wandte er sich ein wenig zur Seite und erhob sich, als Mabel eintrat und die Türe hinter sich schloß.

Sie ging stracks auf ihren Mann zu und legte eine Hand auf seine Schulter.

»Setze dich, mein Lieber«, sagte sie. »Wir haben etwas zu besprechen. Bitte, setzen Sie sich, Sir.«

Alle drei nahmen Platz, Percy seitwärts, während Oliver und seine Frau sich ihm gegenüber auf einem Polstersofa mit gerader Lehne niedergelassen hatten.

Wieder ergriff Mabel das Wort.

»Diese Sache muß sofort erledigt werden«, sagte sie, »aber wir dürfen keine Tragödie daraus machen, verstehst du, Oliver. Du mußt dich nicht aufregen. Überlasse alles mir.« –-

Ein sonderbarer Frohsinn lag in ihren Worten, und Percy sah zu seinem größten Erstaunen, daß sie es ganz aufrichtig meinte; keine Spur von Zynismus war an ihr.

»Mein lieber Oliver«, begann sie wieder, »sieh nicht so mürrisch drein. Es ist alles wie es sein soll. Ich werde jetzt die Sache in Ordnung bringen.«

Percy fühlte den wutsprühenden Blick des anderen auf sich gerichtet; auch Mabel bemerkte ihn, während sie ihre lebhaften, fröhlichen Augen von einem zum andern gleiten ließ. Sie legte die Hand auf sein Knie.

»Höre, Oliver, du darfst diesen Herrn nicht so finster ansehen. Er hat nichts Schlimmes getan.«

»Nichts Schlimmes!« zischte er.

»Nein, nicht das mindeste Unrechte. Was liegt daran, was die arme, alte Frau da oben denkt? Und nun, Sir, wollen Sie uns vielleicht sagen, weshalb Sie hierher gekommen sind?«

Percy atmete erleichtert auf. Er hatte sich anderes erwartet.

»Ich kam, um Mrs. Brand wieder in die Kirche aufzunehmen«, sagte er.

»Und haben Sie das getan?«

»Ich habe es getan.«

»Darf ich Sie bitten, uns Ihren Namen zu nennen? Es spricht sich viel leichter.«

Percy zögerte, entschloß sich aber dann, ihr auf dieses Terrain zu folgen.

»Gewiß. Mein Name ist Franklin.«

»Father Franklin?« fragte die junge Dame mit einem kaum merklichen spöttischen Nachdruck auf dem ersten Wort.

»Ja. Father Percy Franklin vom erzbischöflichen Palais Westminster«, antwortete der Priester.

»Nun also, Father Percy Franklin, wollen Sie uns sagen, was Sie hierher führte? Ich meine, wer um Sie schickte?«

»Mrs. Brand schickte nach mir.«

»Ja, aber durch wen?«

»Darüber darf ich keine Auskunft geben.«

»Also gut … Darf man wissen, welchen Vorteil es bringt, in die Kirche aufgenommen zu werden?«

»Durch die Aufnahme in die Kirche wird die Seele mit Gott versöhnt.«

»Ah! – Oliver, verhalte dich ruhig! – Und wie machen Sie das, Father Franklin?«

Percy erhob sich rasch. »Das geht zu weit, Madame! Wozu alle diese Fragen?«

Mabel, noch die Hand auf dem Knie ihres Gatten, blickte ihn mit offenkundigem Erstaunen an.

»Wozu, Father Franklin? Nun, wir möchten uns darüber unterrichten. Sie verstoßen doch nicht etwa gegen ein kirchliches Gesetz, wenn Sie es uns sagen, oder doch?«

Percy zögerte noch. Er begriff nicht im mindesten, wo sie hinauswollte. Er wußte, daß er seinen Gegnern einen Vorteil einräumte, wenn er nur im geringsten seinen Kopf verlöre; so setzte er sich denn wieder.

»Gewiß nicht. Wenn Sie es zu wissen wünschen, so will ich Ihnen Auskunft geben. Ich hörte Mrs. Brands Beichte und gab ihr die Lossprechung.«

»So! und damit haben Sie es erreicht? Und was kommt nachher?«

»Sie sollte die heilige Kommunion empfangen und die Letzte Ölung, wenn sie sich in Todesgefahr befindet.«

Oliver zuckte plötzlich zusammen.

»Verflucht!« sagte er leise.

»Oliver!« rief Mabel mit bittender Stimme. »Bitte, überlasse die Sache mir. Es ist so viel besser. – Und dann, Father Franklin, vermute ich, wünschen Sie auch alle diese anderen Sachen meiner Mutter zu geben?«

»Sie sind nicht absolut notwendig«, erwiderte der Priester mit dem unbestimmten Gefühle, eine bereits verlorene Partie zu spielen.

»Oh! sie sind nicht notwendig? Aber Sie würden es gerne tun?«

»Wenn möglich, werde ich es tun. Aber, was notwendig war, habe ich bereits getan.«

Es bedurfte des Aufgebotes seiner ganzen Willenskraft, um seine Ruhe zu bewahren. Er kam sich vor wie ein Mann, der sich in Stahl gewaffnet, um sich dann einem Feinde gegenüber zu sehen, der nichts weiter war als ein Trugbild.

»Ja«, meinte sie sanft, »es ist kaum anzunehmen, daß mein Mann Ihnen gestatten wird, wiederzukommen. Aber es freut mich sehr, daß Sie das, was Sie für notwendig halten, getan haben. Zweifelsohne wird Ihnen dies eine Genugtuung sein, Father Franklin, und ebenso der armen, alten Frau dort oben. Uns aber – uns –« und sie preßte das Knie ihres Mannes, – »uns ist das vollkommen gleichgültig. Oh, – noch etwas.«

»Bitte«, sagte Percy, neugierig, was in aller Welt nun noch komme. »Wir wären Ihnen sehr verbunden, Father Franklin, wenn Sie uns Ihr Wort geben wollten, diesen – diesen Vorfall nicht bekanntzugeben. Es würde meinen Mann unglücklich machen und ihm nicht geringe Unannehmlichkeiten verursachen.«

»Mrs. Brand –« begann der Priester.

»Einen Augenblick … Sie sehen, wir haben Sie nicht schlimm behandelt, ohne jede Heftigkeit. Wir wollen Ihnen versprechen, keinerlei Szene mit meiner Mutter zu machen. Wollen Sie uns also Ihr Wort geben?«

Percy hatte inzwischen genügend Zeit gefunden, zu überlegen und antwortete ohne Zögern.

»Gewiß, ich will es versprechen.«

Mabel atmete befriedigt auf.

»Gut, also das ist geordnet. Wir sind Ihnen wirklich sehr verbunden … Und ich glaube sagen zu können, daß nach einiger Überlegung mein Mann vielleicht bereit sein wird, Ihnen zu gestatten, wiederzukommen und Kommunion und – und das andere Ding zu erledigen –«

Wieder wollte der Mann an ihrer Seite aufwallen.

»Gut, wir werden ja sehen. Auf alle Fälle wissen wir Ihre Adresse und können Sie verständigen … Übrigens, Father Franklin, wollen Sie noch heute nacht nach Westminster zurückkehren?«

Er nickte.

»Nun, ich hoffe, Sie werden durchkommen. Sie werden London sehr aufgeregt finden. Sie haben vielleicht gehört –«

»Felsenburgh?« sagte Percy.

»Ja, Julian Felsenburgh«, fuhr sie ruhig fort, indem wieder diese merkwürdige Erregung aus ihren Augen leuchtete. »Julian Felsenburgh«, wiederholte sie. »Er ist da, wie Sie wissen. Er wird vorläufig in England bleiben.«

Wiederum fühlte Percy jene unbestimmte Regung der Furcht, als dieser Name genannt wurde.

»Wie ich höre, soll jetzt Friede sein«, sagte er.

Mabel sowohl als auch ihr Gatte erhoben sich.

»Ja«, sagte sie mit fast mitleidvoller Stimme, »es soll Friede sein. Endlich Friede.« Sie trat ihm einen Schritt näher, Erregung glühte auf ihren Wangen, und ihre Hand hielt sie ein wenig erhoben. »Kehren Sie zurück nach London, Father Franklin, und geben Sie wohl acht. Ihn werden Sie wahrscheinlich sehen, und noch vieles andere wird Ihnen vor Augen kommen.« Ihre Stimme begann zu zittern. »Und vielleicht werden Sie dann verstehen, weshalb wir Sie so behandelt haben – weshalb wir uns nicht mehr vor Ihnen fürchten – und weshalb wir meine Mutter nach ihrem Gutdünken handeln lassen. Oh! Sie werden alles verstehen, Father Franklin, wenn nicht heut, so doch morgen; und wenn nicht morgen, so doch gewiß binnen kurzem.«

»Mabel!« rief ihr Gatte.

Sie wandte sich rasch um, schlang ihre Arme um ihn und drückte einen Kuß auf seine Lippen.

»Mein lieber Oliver, ich schäme mich durchaus nicht. Er möge nur gehen und sich selbst überzeugen. Gute Nacht, Father Franklin.«

Als er der Türe zuschritt und hörte, wie jemand hinter ihm im Zimmer die Glocke läutete, wandte er sich nochmals, verwirrt und befangen, um; und da standen sie, Mann und Weib, gleichsam verklärt in dem sanften, sonnenhellen Licht. Mabel lehnte mit ihrem Arm an der Schulter ihres Gatten, erhaben und schön stand sie da, wie mit Feuersglut übergossen; und selbst in des Mannes Zügen war kein Groll mehr zu lesen – nichts anderes als nur ein fast übernatürliches Selbstgefühl und Vertrauen. Beide lächelten.

Dann schritt Percy hinaus in die milde Sommernacht.

2.

Eines nur wußte Percy, als er in dem überfüllten Wagen sich auf dem Wege nach London befand, nämlich, daß er sich fürchtete. Er hörte kaum das laute und ununterbrochene Sprechen, das um ihn her geführt wurde. Er vernahm nur, daß sonderbare Dinge sich ereignet hatten, daß London sozusagen den Kopf verloren und Felsenburgh während dieser Nacht in Pauls House gesprochen habe.

Dreimal hielt der Wagen an, und wohin Percy auch blicken mochte, sah er nur Zeichen der Verwirrung; Gestalten, die im Dämmerlicht zwischen den Geleisen herumliefen, einige zertrümmerte Wagen, Haufen von wasserdichten Decken, und mechanisch lauschte er auf das Geschrei und die Signale, die von allen Seiten kamen.

Als er endlich am Ziele angelangt war, fand er den Bahnsteig mehr oder weniger so, wie er ihn vor zwei Stunden verlassen hatte. Immer noch gab es dasselbe ungestüme Gedränge, als der Wagen sich entleerte, immer noch lag der tote Körper vor der Bank, und während Percy so willenlos hinter der Menge herlief, kaum wissend, wohin und weshalb er rannte, flammte über allem unterhalb der Uhr immer noch jene inhaltsschwere Botschaft. Dann fand er sich im Fahrstuhl, und eine Minute später war er draußen auf der Straße hinter der Station.

Auch dort ein staunenerregender Anblick. Noch brannten hoch oben die Lampen, aber über ihnen lagen schon die fahlen Streifen des anbrechenden Tages. Die Straße, welche nunmehr in gerader Linie zum alten königlichen Palais hinführte und sich dort, dem Zentrum eines Gewebes gleich, mit jenen vereinigte, die von Westminster, dem Mall und Hyde Park herliefen, war mit einem lückenlosen Pflaster von Köpfen bedeckt. Zu beiden Seiten erhoben sich die Hotels und »Lusthäuser«, deren Fenster alle hell erleuchtet waren, feierlich und triumphierend wie um einen König zu empfangen, während, alles überragend, der mächtige Palast sich in feurigen Umrissen vom dunklen Hintergrunde abhob, ebenfalls, wie überhaupt alle Häuser, soweit das Auge reichte, von innen hell erleuchtet. Der Lärm wirkte geradezu verwirrend, und es war unmöglich, einen Ton von dem anderen zu unterscheiden. Menschenstimmen, Hörner, Trompeten, das Getrampel von Tausenden von Schritten auf dem Kautschukpflaster, das dumpfe Rollen der Räder von der Station herauf – all das vereinigte sich zu einem überwältigend feierlichen Dröhnen, übertönt hie und da von schrilleren Lauten. Sich zu bewegen, war unmöglich.

Mechanisch drängte er sich ein paar Schritte nach links, bis er an einem Pfeiler zu stehen kam; dann wartete er und bemühte sich, seine Eindrücke nicht zu analysieren, sondern festzuhalten.

Nach und nach gewahrte er, daß die Menge anders war als alles, was er in dieser Beziehung bis jetzt gesehen hatte. Seine psychischen Sinne empfingen den Eindruck, als herrschte in ihr eine mit keiner anderen zu vergleichenden Einheit. Es lag Magnetismus in der Luft. Man hatte das Empfinden, als ob ein schöpferischer Akt vor sich gehe, durch den Tausende individueller Zellen von Moment zu Moment vollkommener und zu einem einzigen, mächtigen, fühlenden Wesen mit einem Willen, einem Empfinden und einem Haupte gestaltet würden. Das Geschrei der Stimmen schien nur insofern von Bedeutung, als es dem Wirken der schöpferischen Macht zum Ausdruck diente. Hier lag sie, diese Menschheit, in ihrer Riesengröße, ihre lebendigen Gliedmaßen, soweit das Auge ihnen folgen konnte, nach allen Seiten hin ausstreckend, und harrte, harrte einer Vollendung – sich erstreckend, wie sein müdes Hirn ihm noch zu denken gestattete, auch durch die engsten Gassen der endlosen Stadt.

Er hatte das Gefühl, als habe er all dieses schon früher einmal gesehen, und wie ein Kind begann er nachzugrübeln, wo es wohl gewesen sein mochte, bis er endlich darauf kam, was es gewesen war. Er hatte einst geträumt von dem Tage des letzten Gerichts – von der Menschheit, die da versammelt war in Erwartung Jesu Christi – Jesu Christi! Oh! wie winzig ihm nun diese Figur erschien – wie weit entfernt – bestehend zwar, aber ohne besondere Bedeutung für ihn, wie hoffnungslos getrennt von dieser ungeheuren Wirklichkeit! Er wandte seinen Blick nach dem Glockenturm. Ja! dort oben war ein Stück des wahren Kreuzes oder nicht? – Ein kleiner Splitter des Holzes, an welchem ein armer Mann vor zwei Jahrtausenden gestorben war … Ja, ja, es war lange her …

Er begriff nicht ganz, was mit ihm geschah. »Mein Jesus, sei mir nicht Richter, sondern Erlöser«, stammelte er leise und klammerte sich fester an den Granitpfeiler, und der nächste Augenblick sah, wie wertlos dies Gebet war. Es verlor sich wie ein Hauch in dieser grenzenlosen, lebendigen Atmosphäre der Menschheit. Er hatte Messe gelesen oder nicht? Diesen Morgen – in weißen Gewändern. – Ja, da hatte er alles geglaubt – hoffnungslos, aber fest; und jetzt …

Der Morgen dämmerte nun am Himmel herauf, ein ruhiger, sanfter Glanz, der trotz seiner Erhabenheit unbedeutend erschien neben den glänzend erleuchteten Straßen. »Wir brauchen keine Sonne«, flüsterte er mitleidig lächelnd; »weder Sonne noch das Licht der Kerzen. Wir haben unser Licht auf Erden – das Licht, das einen jeden erleuchtet …«

Dann lauschte er den verschiedenen Lauten, und es schien ihm, als ob irgendwo, vom fernen Osten her, ein Schweigen heranziehe. Ungeduldig wandte er sich um, als hinter ihm ein Mann anfing, rasch und wirr durcheinander zu schwätzen. Konnte er nicht ruhig sein, anstatt das erwachende Schweigen zu stören? … Plötzlich schwieg der Mann, und von ferne zog es heran, immer stärker anwachsend, ein Rauschen, gleich dem sanften Brausen der Meeresflut im Sommer; es kam näher und näher von rechts her; es kam über ihn und klang in seinen Ohren. Jede individuelle Stimme war erstorben; alle hatten sich vereinigt zu einem einzigen Atemzuge des Riesen, der ins Leben gerufen worden war.

Ein schlankes, fischförmiges Ding, weiß wie Milch, geisterhaft wie ein Schatten und schön wie der junge Morgen, kam etwa eine halbe Meile weit entfernt in Sicht, drehte bei und flog gegen ihn zu, schwebend, als würde es von den Wogen des Schweigens getragen, das es hervorgerufen. Immer näher, naher kam es auf ausgebreiteten Schwingen, die lange Windung der Straßen herauf, sich kaum zwanzig Fuß über der Menge haltend. Tiefes Stöhnen und dann wieder das Schweigen von vorher.

Als Percy wieder fähig war, mit vollem Bewußtsein zu denken – denn nur mit Mühe und für kurze Augenblicke war er imstande, seines Willens Herr zu werden, wie etwa eine Uhr es nur zu stoßweisem Ticken bringt – war das sonderbare weiße Ding näher gekommen. Er sagte sich, daß er deren wohl Hunderte bereits gesehen hatte, aber gleichzeitig auch mußte er sich gestehen, daß dieses verschieden war von allen anderen. Noch näher war es gekommen, langsam, langsam dahinschwebend, wie eine Möve über der See; deutlich konnte er die weichen, abgerundeten Linien des Vorderteils, darunter das niedrige Geländer, den regungslosen Oberkörper des Steuermannes erkennen; jetzt konnte er sogar das leise Ächzen der Schraube hören – und dann erblickte er das, worauf er gewartet hatte.

Hoch oben auf dem Mitteldeck stand ein ebenfalls weiß behangener Sitz, auf seiner erhöhten Rücklehne waren Abzeichen sichtbar, und auf diesem Throne saß die Gestalt eines Mannes, regungslos und einsam. Keinerlei Zeichen machte er, als er herankam, scharf hob sich seine dunkle Kleidung vom weißen Hintergrunde ab; das Haupt war erhoben, und ruhig wandte er es dann und wann nach der einen oder anderen Seite. Immer näher glitt es heran unter tiefem Schweigen; das Haupt wandle sich, und einen Augenblick waren die Züge in dem sanften und klaren Lichte genau zu erkennen.

Ein bleiches Gesicht eines scheinbar jungen Mannes mit stark markierten Zügen, mit gewölbten, dunklen Augenbrauen, feinen Lippen und weißem Haar.

Wieder kehrte es sich zur Seite, der Steuermann wandte den Kopf ein wenig, und nach einigen Bewegungen bog das Gebilde in seiner majestätischen Schönheit um die Ecke und schwebte dem Palast zu.

Ein hysterisches Kläffen unterbrach das Schweigen, ein Schrei, und dann setzte das sturmesähnliche Dröhnen wieder ein.


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