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VIII.

Martin hatte, als er sich von Louise trennte, ohne die Collectrice gewahr zu werden, oder wenigstens, ohne ihr Thun zu beachten, die nämliche Richtung eingeschlagen, in welcher vorhin der Doctor dem Walde zuschritt. Er wußte wahrscheinlich, wo er diesen treffen würde, auch dauerte es nicht lange, ehe die beiden Brüder einander sahen und erkannten. Der Doctor ging Martin rasch entgegen.

»Welche Nachrichten bringst Du mir, Martin,« fragte er eifrig, »ist sie in die Falle gegangen?«

»Ja, Brüderlein,« erwiederte dieser, indem er die Hand gegen das Haus der Madame Dorville ausstreckte,

»Dein Liebchen sitzt dadrinne,
Und Alles wird ihr eng und trüb,

ich wage nicht hinzuzufügen:

Du kommst ihr gar nicht aus dem Sinne,
Sie hat Dich übermächtig lieb;

doch das hast Du selbst mit Deinem Gretchen auszumachen, guter Doctor Faust; meine Rolle als Mephistopheles und Gelegenheitsmacher ist, dem Himmel sei Dank, ausgespielt.«

Er näherte sich dem Doctor, erfaßte seinen Arm und schob ihn, wie unlieb jenem auch offenbar eine solche Kundgebung brüderlicher Zärtlichkeit war, unter den seinigen.

»Was hast? Was kneipt Dich denn so sehr?
So kein Gesicht sah ich in meinem Leben,«

fuhr er höhnisch neckend fort, indem er den widerstrebenden Doctor mit sich tiefer in den Wald hineinzog. »Komm, schneide nicht so närrische Grimassen und laß uns ein Wörtchen in Vertraulichkeit mit einander plaudern. So gewaltig wird's Dich doch wohl nicht drängen, Deiner Schönen zu Füßen zu sinken, daß Du mir nicht erst einen Augenblick widmen könntest. Bedenke, Du bist ja auch an mich

Geknüpft mit jedem zarten Seelenbande,
Mit jeder heil'gen Fessel der Natur,
Die Menschen an einander knüpfen kann.«

»Martin,« sagte der Doctor, in dessen Zügen sich deutlich ausdrückte, wie der Unmuth sich in ihm zu regen begann, »laß jetzt Deine Späße; ich bin wahrlich nicht in der Laune, sie anzuhören.«

»In der Laune bist Du nie, Augustus,« fuhr Martin fort, »ich hab' es oft genug schmerzlich empfunden, wie Dir leider das rechte, klare Verständniß für meinen Humor fehlt. Aber, das bei Seite, Brüderchen, es ist eigentlich doch eine recht tolle Geschichte, auf die wir uns da eingelassen haben,

Wär's nur vorüber, Macdonald – mir ist
Seltsam dabei zu Muthe, weiß der Teufel.«

»Noch einmal, Martin, nur jetzt laß mich in Ruhe,« sagte der Doctor mit verhaltenem Ingrimm. »Hab' ich jetzt Zeit zu solchen Albernheiten?«

»Nein, gewiß nicht; denn Dir winkt ein schöner, süßer Zeitvertreib. Auch will ich Dich um keine Minute länger aufhalten, als Du selbst mich dazu zwingen wirst. Zur Sache also, da die Zeit Dir so kostbar ist. Siehe, Freundchen, ich habe nun gethan, wozu ich mich verpflichtet habe, und wofür ich dereinst an einem Orte, den ich nicht nennen will – falls die Pfaffen nämlich nicht lügen – weidlich werde gebraten werden. Jetzt fordre ich aber auch meinen Lohn. Gieb mir die 5000 Mark – auf alles Weitere, um was wir noch auseinander sind, will ich großmüthig verzichten – gieb mir die 5000 Mark, sag' ich, und dann magst Du auf den Flügeln heißer Sehnsucht in die Arme Deiner Phyllis flattern. Aber, merke Dir's, wenn ich Dich vom Fleck lasse, ehe Du das gethan hast, so sollst Du mich, um mit Falstaff zu reden, bei den Beinen aufhängen wie ein Kaninchen oder einen Hasen beim Wildhändler.«

»Komm heute Abend um zehn Uhr in meine Wohnung, Martin, da werde ich Dir die Summe auszahlen.«

»Nein, mein allerliebster Prinz, das möchte zu spät sein.«

»Zu spät?«

»Ja, denn ich weiß, Herzbrüderchen, daß Du heute Nachmittag Deine Koffer gepackt und aufs Dampfschiff hast bringen lassen. Sieh, da sagt mir denn mein Bischen Menschenwitz klar und deutlich: wenn ich heute Abend um 10 Uhr in Deine Wohnung ginge,

Da würd' ich nichts finden,
Thät ich auch hundert Laternen anzünden.

Darum mache keine Umstände, zieh' aus Deiner Rocktasche Dein wohlgespicktes Portefeuille, das, wie Du gewiß nicht läugnen wirst, Deinen Paß und andere wichtige Papiere nebst Deiner ganzen Baarschaft in Banknoten enthält, und zahle mir den sauer verdienten Sündenlohn.«

Des Doctors Züge überzog eine fahle Blässe, als er aus des Bruders Worten entnehmen mußte, daß dieser seine schlauen und, wie er glaubte, so wohl verheimlichten Pläne durchschaut hatte, und ein eigenthümliches Leuchten seiner stechenden Augen verrieth, daß ein unheilvoller Gedanke in ihm aufstieg.

»Martin,« sagte er mit so großer Ruhe, als er erheucheln konnte, und offenbar nur in der Absicht, Zeit zur Ueberlegung zu gewinnen, »Martin, Du irrst Dich, ich habe das Geld nicht bei mir.«

»Nein, Brüderchen,« entgegnete Martin spöttisch, »Du irrst Dich; aber es ist Dir zu verzeihen. Die Liebe hat Dich bethört und Deine sonst so klaren Gedanken gänzlich verwirrt. O die Liebe ist eine große Zauberin:

In das Gemeine und Traurigwahre
Webt sie die Bilder des goldenen Traums.

Ein solcher Traum hat Dich, so zu sagen, der Erde und ihrem kleinlichen Thun und Treiben entrückt, Dein Geist schwebt, geblendet von der Himmelsseligkeit, die Deiner wartet, in paradiesischen Sphären, hoch über alles Gemeine und Traurigwahre, so daß Du Dich selbst nicht mehr kennst, ja, gar nicht mehr weißt, was Du in den letzten Stunden beschlossen und gethan hast. Aber ich muß Dich schon bitten, auf einen Augenblick zu den irdischen Angelegenheiten zurückzukehren, will auch gern Deinem treulosen Gedächtnisse zu Hülfe kommen. Glaube mir, Brüderchen, mir, der ich nüchtern und von Liebesträumen nicht umgaukelt bin, Du hast wirklich und wahrhaftig Deine Koffer gepackt und auf's Dampfschiff bringen lassen. Das Dampfschiff verläßt aber heute Abend Punkt 9 Uhr den Hafen, und da wär' es doch in der That ein eitles und vergebliches Bemühen, wollt' ich um 10 Uhr in Deine Wohnung gehen, das Geld abzuholen. Und nun, kleiner August, keine Winkelzüge mehr, wenn ich bitten darf; der Scherz hört auf, und der bittere Ernst beginnt; darum erwecke Furcht und Zittern in Dir und huldige meiner Gnade!«

Martin hatte, während er sprach, zu verschiedenen Malen versucht, seine rechte Hand in die Brusttasche des Doctors zu bringen, jedoch vergeblich; denn dieser wehrte sich hiegegen mit aller Kraft und Behendigkeit und suchte sich von dem Arme des Bruders loszumachen, was ihm indeß seinerseits bei der größeren Stärke desselben eben so wenig gelang.

»Laß mich, Martin,« murmelte er zwischen den fest zusammengepreßten Zähnen hervor, »laß mich, oder es geschieht ein Unglück!«

»Das schlimmste Unglück,« lachte Martin höhnisch, »das mir geschehen kann, ist, daß ich Dich entwischen lasse, denn, offen gesprochen, mein Lieber, Du hast nicht mehr Treue, als gekochte Pflaumen, nicht mehr Redlichkeit, als ein gehetzter Fuchs, mit dem Du Dich überhaupt in diesem Augenblick ohne Eitelkeit vergleichen kannst; und das größte Unglück, was Dir widerfahren kann, ist, daß ich Dir mit Gewalt nehme, was Du mir nicht gutwillig geben willst. Sei also klug und füge Dich.«

»Nun gut, das will ich,« sagte der Doctor mit scheinbarer Nachgiebigkeit, »ich gestehe, daß ich das Geld bei mir habe; Du sollst die 5000 Mark haben, nur laß mich los.«

Martin schien hierzu durchaus nicht Willens zu sein; aber mit einem plötzlichen Ruck befreite der Doctor seinen Arm aus dem des Bruders, und mit einem Satze hatte er sich um mehrere Schritte von diesem entfernt.

»Komm mir nicht wieder nahe,« setzte er drohend hinzu; dann fuhr er in einem ruhigen, beschwichtigenden Tone fort: »Unter dieser einen Bedingung will ich Dir geben, was Dir zukommt.«

Martins Augen folgten jeder seiner Bewegungen; der lauernde, argwöhnische Zug in seinem hämischen Gesichte sagte deutlich, daß er bereit sei, bei dem geringsten verdächtigen Anzeichen auf ihn einzuspringen. Der Doctor steckte die Hand in die Brusttasche, und fast in dem nämlichen Augenblick vernahm Martin's scharfes Ohr einen Laut, wie das Schnappen des Hahns eines Terzerols. Ein Sprung, ein Faustschlag, mit aller Kraft gegen des Doctors Kopf geführt, folgten mit Blitzesschnelle. Dieser zog das Terzerol; aber sein Gegner schlug es ihm aus der Hand. Betäubt von dem furchtbaren Schlage wankte er und fiel. Martin stürzte über ihn her, und es entstand ein heftiges, wüthendes Ringen.

»Das also war des Pudels Kern, verruchter Bösewicht!« raunte Martin dem mit der Energie der Verzweiflung sich wehrenden Bruder zu, indem er mit der rechten Hand dessen Halstuch erfaßte und es so fest zusammenschnürte, daß jenem fast der Athem verging.

Sein Gesicht färbte sich dunkelroth, seine Augen traten fast aus ihren Höhlen, Schaum bedeckte seine Lippen. Eine convulsivische Anstrengung befreite ihn für einen Moment von dem tödtlichen Griffe, und ein schriller Hülferuf rang sich aus seiner Kehle. Doch ein zweites, noch stärkeres Zusammenschnüren des Halstuchs raubte ihm das Bewußtsein, seine Hände, die sich krampfhaft in des Bruders Hals eingekrallt hatten, öffneten sich und fielen kraftlos nieder. Martin zog das Portefeuille aus der Tasche des jetzt völlig Wehrlosen.

»Du hast nicht mit mir theilen wollen,« murmelte er halblaut, »Du hast mich niederschießen wollen, wie einen Hund; darum nehme ich Dir jetzt Alles. Ich könnte Dir auch noch vollends das Lebenslicht ausblasen, doch ich will dem Henker nicht in's Handwerk pfuschen. Dein Paß kann wohl auch mir dienen; damit gehe ich jetzt nach England oder wieder nach Amerika. Du aber wirst wohl für eine halbe Stunde wenigstens ruhig hier liegen bleiben. Und somit sage ich denn nun:

Mylord, fahrt wohl!
Auf Wiedersehn in einer andern Welt!«

Martin täuschte sich indeß, wenn er glaubte, daß seines Bruders Betäubung von längerer Dauer sein werde, ja, vielleicht täuschte er sich sogar, wenn er sie für eine wirkliche und nicht vielmehr für eine theilweise verstellte hielt; denn kaum hatte er sich einige Schritte von dem Kampfplatze entfernt, als der Doctor die Augen aufschlug und mit wilden, verstörten Blicken um sich sah. Er holte tief Athem und griff mit der Hand an die Stirn, wie um seine Gedanken zu sammeln. Als sich aber seine Augen auf den davoneilenden Todfeind richteten, zuckte es plötzlich in seinen Zügen wie ein helles Aufflackern des zurückkehrenden Bewußtseins. Er tastete mit den Händen umher, als suche er etwas, und als er das Terzerol entdeckte, das in eines geringen Entfernung unter Moos und Laub halb verborgen lag, erhob er sich etwas aus seiner liegenden Stellung, wälzte sich mit einer schnellen Bewegung der Stelle zu und ergriff es.

Das dadurch hervorgebrachte Rascheln des dürren Laubes konnte der Aufmerksamkeit Martin's nicht entgehen. Erstaunt und erschrocken wandte er sich nach dem Bruder um, und alles Blut wich aus seinem Gesichte, als er diesen sah, wie er, noch halb liegend und auf den linken Arm gestützt, den rechten mit der tödtlichen Waffe gegen ihn ausstreckte. Der Schrecken lähmte für einen kurzen Moment seine Glieder, und wie versteinert bei dem Anblick eines Gorgonenhauptes stand er an den Fleck gebannt; doch rasch gewann er seine Fassung wieder und suchte durch einen schnellen Sprung den nächsten Baum zu gewinnen, um diesen zwischen sich und die Mündung des Terzerols zu bringen. Doch der Schuß fiel, noch ehe er die schützende Wehr erreichte, und ein lauter Schmerzensschrei entfuhr ihm. Er entfloh so schnell er vermochte, aber die Kugel hatte ihn an der Brust getroffen und verursachte ihm einen stechenden Schmerz, der ihn sehr im Laufen hinderte. Vielleicht mochte er hoffen, daß der Bruder außer Stande sei, ihn zu verfolgen; indeß auch hierin täuschte er sich. Der Haß und die Rachgier waren mächtige Triebfedern in dem Herzen dieses Mannes und verliehen ihm jetzt eine Energie, die jeder Schwäche spottete. Er raffte sich vollends empor und eilte dem Bruder nach.

Martin hatte, verleitet von dem Glauben, daß der Doctor eines weiteren Kraftaufwandes nicht fähig sei, die Richtung nach der oft erwähnten Fahrstraße eingeschlagen und lief längs des mit dichtem Buschwerk bewachsenen Erdwalles, der sich von dem Gehölze aus bis dahin erstreckte. Als er aber zu seinem Entsetzen gewahrte, daß er scharf verfolgt werde, und seine eigenen Kräfte mit jeder Secunde mehr und mehr schwinden fühlte, benutzte er mit großer Umsicht eine Krümmung der Hecke, die ihn für einen Moment den Blicken seines Feindes entzog, um diesem wo möglich durch eine List zu entkommen. Er arbeitete sich durch das dichte Gestrüpp und erklomm den Wall. Hier blieb er einen Augenblick stehen, um nach der Anstrengung wieder zu Athem zu kommen und schnell einen Blick hinter sich zu werfen, dann sprang er auf der entgegengesetzten Seite von dem hohen Wall hinunter und eilte, wahrscheinlich hoffend seinen Verfolger dadurch irre zu leiten, wieder dem Gehölze zu. Da traf ihn plötzlich ein kräftiger Schlag an der Schulter, daß er stolperte und, indem er einen lauten Schrei ausstieß, zu Boden stürzte. Behende wie eine Schlange drehte er sich, fast noch im Fallen, gegen seinen neuen Angreifer, um sich gegen diesen zur Wehr zu setzen; doch kaum hatte er ihm sein schreckenbleiches Gesicht zugewandt, als er sofort jeden Widerstand aufgab und sich in feiger Todesangst zu den Füßen seines Gegners krümmte.

»Erbarmen!« rief er, flehend die Hände emporhebend, »Sie haben meines Lebens einmal geschont – vor Jahren – in Amerika – als ich nach dem Ihrigen trachtete – seien Sie heute nicht weniger großmüthig, schützen Sie mich gegen ihn – ihm der kein Mitleid kennt!«

Martin hatte sich nicht getäuscht. Es war in der That Hugo! Etwas weiter zurück standen Werner, Jacob und Madame Pietschmann. Diese hatte, wie der Leser leicht ahnen wird, noch ehe sie zu der Wohnung der Familie Lüders gelangt war, die drei Männer durch einen glücklichen Zufall auf dem Wege getroffen und mit dem ersten Blick Hugo erkannt, der ihr nun auf die Nachricht, daß Louisen eine große Gefahr drohe, unverzüglich mit seinen Freunden gefolgt war.

»Du kennst mich also, Schurke?« fragte Hugo, indem er sich zu Martin niederbeugte und ihn am Kragen packte.

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, lassen Sie mich los,« bat Jener händeringend und mit wilden, unstäten Blicken umherspähend, »er wird mich einholen, und ermorden!« Er riß dabei seine Weste und sein Hemd auf und zeigte auf seine entblößte Brust, die wie die Kleidungsstücke mit Blut bedeckt war. »Er hat nach mir geschossen,« fügte er schaudernd hinzu.

»Wer hat nach Dir geschossen, Elender?« fragte Hugo. »Wer will Dich ermorden?«

»Er, der mich verfolgt – mein Bruder – der Doctor,« stöhnte Martin und umschlang Hugo's Kniee. Aber Hugo wandte sich von ihm ab und lauschte, denn er sowohl wie die übrigen an diesem seltsamen Auftritte Betheiligten, die jetzt ihn und Martin dicht umstanden, hörten jenseit des Walles das schnelle Herannahen des von diesem so sehr gefürchteten Verfolgers, und Aller Augen richteten sich nach der Stelle, wo Martin über den Wall geklettert war. Ein abermaliges Rascheln des Laubes, ein Brechen und Knittern der Zweige – und ein todtenbleiches, an der Stirn von Blut geröthetes Gesicht zeigte sich über dem niedrigen Gestrüpp.

»Herr des Himmels, der Doctor!« schrie Madame Pietschmann. Er war es wirklich; sie erkannten ihn augenblicklich, und Martin wand sich wie ein Wurm unter Hugo's starker Faust, um sich hinter diesem den Blicken seines Bruders zu entziehen. Aber auch der Doctor erkannte jede einzelne der vier Personen, die so plötzlich und unerwartet vor ihm standen; man sah es an dem starren Entsetzen, das sich in seinen Zügen malte.

»Halte Du diesen hier, Jacob,« sagte Hugo, indem er Martin, den er noch immer am Kragen gepackt hielt, mit einem gewaltigen Ruck vom Boden hob und dem Bootsmann in die Arme warf. »Helfen Sie mir, Werner, des anderen habhaft zu werden,« fuhr er fort und lief der Stelle zu, wo der Doctor, wie von Schrecken gelähmt, regungslos stand.

»Zurück!« rief aber dieser und streckte ihm das Terzerol entgegen, »zurück, oder Sie sind des Todes!«

Doch weder Hugo noch der ihm auf dem Fuße folgende Werner achtete der Drohung, sie setzten ihren schnellen Lauf fort. Der Doctor feuerte, aber fehlte. Darauf schleuderte er mit aller Macht das Terzerol seinen Angreifern entgegen und war jenseit der Hecke verschwunden.

Die mit Kraft und Geschicklichkeit geschleuderte Waffe traf Hugo hart an der Schulter, ohne jedoch seinen Lauf zu hemmen. Im Nu hatten er und Werner den Wall erklommen und sahen von hier aus den Doctor mit wilden Sätzen dem nahen Gehölze zufliehen. Sie folgten ihm so schnell sie vermochten; schon kamen sie ihm näher und immer näher; schon hofften sie, ihn einzuholen, ehe er das dichte Unterholz am Saume des Waldes erreichen würde. Aber die Angst beflügelte die Schritte des Verfolgten, er gewann zusehends wieder, was er an Distanz verloren hatte. Eine kleine Vertiefung des Erdreichs entzog ihn abermals ihren Blicken, und als sie diese erreichten, sahen sie nur etwas wie einen dunkeln Schatten in das nächste Gebüsch huschen.

Sie gaben indeß die Verfolgung nicht auf, sondern stürzten sich unbedenklich in das dichte Gestrüpp von Haselstauden, Schlehdorn und Brombeersträuchern, jeder nach einer anderen Seite spähend und horchend, ob sie des Flüchtlings nicht wieder ansichtig würden oder seinen eiligen Lauf durch das Dickicht hören könnten. Ein Paar Mal war es ihnen auch wirklich, als ob das Geräusch eines durch die Büsche Brechenden an ihr Ohr schlage, und sie drangen dann mit erneuertem Eifer vorwärts. Aber die Hindernisse, die sich ihrem Nachsetzen entgegenstellten, und wozu sich jetzt auch die mit jeder Minute zunehmende Dunkelheit gesellte, waren zu groß, und nach einem vergeblichen Hin- und Herirren in dem wildverwachsenen, fast undurchdringlichen Gestrüpp trafen sie auf einer kleinen Lichtung wieder zusammen.

»Es ist umsonst, Falkner,« sagte der von der hitzigen Verfolgung fast erschöpfte Werner, indem er den Schweiß von der Stirn wischte, »in dieser Wildniß fangen wir ihn nicht.«

»Er würde uns nicht entronnen sein,« entgegnete Hugo, »wenn ihm die einbrechende Dunkelheit nicht so sehr zu Statten gekommen wäre. Nun, möge er denn laufen, wohin er will, er ist uns auch so sicher genug.«

»Wir wollen es hoffen.«

»Dank Ihrer Vorsicht muß die Polizei ihm schon jetzt auf der Spur sein. Ein weiterer Wink von unserer Seite, und sie wird ihm auf der Ferse nachfolgen und ihn hetzen, wie die Meute einen angeschossenen Fuchs; und, glauben Sie mir, morgen schon wird er in sicherem Verwahrsam sein.«

»So lassen Sie uns zu dem anderen Schurken zurückkehren.«

»Und nach der armen Louise sehen.«

Jedes ihrer Worte drang an das Ohr des Doctors. Dicht an die Erde geschmiegt, mit zurückgehaltenem Athem, nicht wagend, ein Glied zu rühren, mit vor Todesangst starren Zügen, nur Leben und Bewegung in den funkelnden Augen, die mit dem Ausdruck des bittersten Hasses bald auf den einen der Sprecher, bald auf den anderen gerichtet waren, lag er, nicht fünf Schritte von dem Platze, auf welchem sie standen, unter einem dichtbelaubten Busche zusammengekauert; und erst, nachdem sich jene eine beträchtliche Strecke weit entfernt hatten, kroch er behutsam aus seinem Versteck, indem er zähneknirschend vor sich hin murmelte:

»Die Thoren! sie triumphiren zu früh; sie sollen sehen, daß der Fuchs schlauer ist, als ihre ganze Meute!«


Hugo und Werner hatten, als der Doctor das Terzerol auf sie abschoß, in ihrem Eifer, sich seiner Person zu versichern, nicht beachtet, daß die Collectrice laut aufschrie und mit der Betheuerung, daß sie tödtlich getroffen sei, auf den Bootsmann Jacob zurücksank, der gerade in diesem Augenblick mit Martin allein genug zu schaffen hatte; denn dieser bot alle seine Kraft auf, sich von seinem neuen Hüter loszureißen.

»Heda, meine gute Madame,« brummte Jacob verdrießlich, »zum Teufel, sehen Sie sich doch gefälligst vor, wo Sie hinfallen – Hm, es ist mir zwar sehr angenehm,« fuhr er fort, als Madame Pietschmann beide Arme um seinen Hals schlang, »aber – Gott verdamm' Deine Augen, Du Höllenbrand! willst Du ruhig sein, Kröte!« Und er rüttelte so derb den unglücklichen Martin, daß er unfehlbar die Collectrice von sich abgeschüttelt haben würde, wenn sie sich nicht in ihrer Herzensangst so fest an ihn angeklammert hätte.

»Ach, lieber, guter Herr Seemann,« jammerte sie, »stehen Sie mir bei – ich bin schrecklich verwundet – o, ich fühl's, mit mir ist's aus – – ich – ich sterbe!«

»Fallen Sie nur ja nicht in Ohnmacht, Madame,« bat Jacob, verzweiflungsvoll die Augen gen Himmel erhebend.

»O, ich bin schon ohnmächtig!« stöhnte die Collectrice.

»Da haben wir's!« klagte Jacob.

»Ich bin todt – der gottlose Mensch hat mich ermordet – o, der Bösewicht, gerade auf mich zu zielen!«

»Nu, wo sind Sie denn eigentlich getroffen, Madame?« fragte Jacob halb theilnehmend, halb ungläubig, »ich sehe doch nirgends Blut.«

»O – ah – ich verblute mich inwendig! – helfen Sie mir doch – retten Sie mich!«

»Ja, wenn ich nur wüßte – Bomben und Granaten! – Sie müssen ja doch zum Henker auch äußerlich 'ne Wunde haben – ruhig, verdammter Haifisch, oder ich schlage Dir den Hirnkasten ein! – Wo haben Sie denn die Wunde, Madame?«

»Ach, ich weiß es nicht.«

»Hm,– merkwürdig – wenn Sie's doch gefälligst untersuchen möchten – –«

»O Gott! – hier – vor Ihnen?«

»Na, Madamchen, geniren Sie sich nicht – zum Kuckuck, wenn Sie 'nen Leck haben, muß er ja doch gestopft werden. Ich will mich abwenden, und diesem Hundesohn hier halt' ich die Augen zu.«

Jacob befreite sich – zwar nicht ohne große Mühe – von der Umhalsung der Collectrice und ließ sie so sanft wie möglich auf das Gras niedergleiten. »So, Madame,« fügte er hinzu, »nun untersuchen Sie nur den Schaden – ganz incognito, wie man zu sagen pflegt.«

Madame Pietschmann that es, so weit es unter den obwaltenden Umständen nur immer thunlich war, indem sie alle Augenblicke verschämt zurücksah, ob der Seemann auch in der That so discret sein würde, als er versichert hatte – und wir müssen leider bekennen, daß seine Augen, obgleich er die seines Gefangenen versprochenermaßen mit der Hand bedeckte, auch wirklich einmal die der Collectrice trafen – – – – –

Da sie nun bei der sorgfältigsten Betastung nirgends die Wunde entdeckte, von welcher die innere Verblutung herrühren konnte, auch trotz öfterem Ausspucken durchaus kein Blut wahrnahm, so begann sie allmählig, sich über ihren Zustand zu beruhigen, obgleich sie Jacob gegenüber noch immer steif und fest darauf beharrte, daß der schändliche, rachgierige Doctor ihr einen Denkzettel gegeben habe, und sie nun für die Dauer ihres Lebens ein Krüppel sein würde.

Sie wiederholte diese Behauptung auch gegen Hugo und Werner, als diese zurückkehrten, war aber doch bereits so gefaßt, daß sie an der jetzt erfolgenden kurzen Berathung mit ihrer gewöhnlichen Lebhaftigkeit Theil nehmen konnte; und so wurde denn auf ihren Vorschlag hin beschlossen, Martin in dem Hause der Madame Jordan in Verwahrsam zu bringen, bis man einen Polizeiofficianten herbeigeholt hätte, welchem man ihn übergeben könnte. Das Haus der Madame Jordan war aber so nahe, daß die Collectrice es dem Bootsmann mit der Hand bezeichnen konnte, und dieser nahm denn auch – um uns seines Ausdrucks zu bedienen – den Gekaperten in's Schlepptau und segelte mit ihm ab. Martin folgte ihm ohne Widerstreben. Er dachte an keine Entweichung mehr; denn er war von dem Blutverlust schon völlig entkräftet. Nur hin und wieder bat er, einen Augenblick stillstehen zu dürfen, weil der stechende Schmerz in der Brust immer heftiger werde und ihm das Gehen zu einer unleidlichen Qual mache.

Hugo, Werner und die Collectrice dagegen bogen auf den Fußsteig ein, der nach dem Garten der Madame Dorville führte, in deren Haus nach der Aussage der Madame Pietschmann Louise durch eine List des Doctors gelockt worden war, und wo sie gegen ihren Willen wahrscheinlich noch immer zurückgehalten würde.

Es war jetzt schon ziemlich dunkel, die Baumgruppen längs der Umzäunung des Gartens bildeten große, schwarze Massen, in deren Schatten das Auge die Gegenstände nicht mehr wahrnahm; und unsere Freunde waren dem kleinen Pförtchen schon ziemlich nahe, als dieses hastig aufgerissen wurde und zwei weibliche Gestalten, obgleich nur in schwachen, verschwimmenden Umrissen, ihnen sichtbar wurden, von denen sich die eine, wie es ihnen vorkam, von der anderen, die sie zurückzuhalten bemüht war, gewaltsam losriß und nach der Straße zueilte. Sie stutzte plötzlich, als sie auf dem freien Felde, wo noch eine verhältnißmäßige Helle herrschte, zwei Männer vor sich sah.

Louise – denn sie war es – mochte vielleicht vermuthen, daß sie den Doctor und seinen Helfershelfer vor sich habe; denn schon wollte sie in aller Eile seitwärts ausweichen; jedoch sie besann sich und blieb unschlüssig, halb vorübergebeugt stehen, als strenge sie ihre Augen auf's Aeußerste an, die Nahenden zu erkennen.

»Hugo!« rief sie freudig überrascht und that einige Schritte auf ihn zu, »rette mich, Hugo! – o – mein Gott!« Und sie sank besinnungslos nieder, noch ehe er sie in seinen Armen auffangen konnte.



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