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DER KAMPF IM DUNKEL

In der unteren Friedrichstadt hat sieh der Film festgesetzt, und wenn man vom Halleschen Tor zur Leipziger Straße hinaufgeht, kann man oft die jungen Leute sehen, die mit breiten Oxforthosen, amerikanischen Hornbrillen und gestutzten, kleinen Barten das Ideal des gut angezogenen Gentlemans verkörpern. Sie schreiten daher wie aus einem Modesalon, lächeln oder sind ernst und finster wie die Wachspuppen in den großen Warenhäusern. Der Zusammenhang zwischen Film und Konfektion wird sofort klar. Der Film ist heute eine große Industrie, um die sich auch andere Industrien gruppieren. Verlagswesen, Reklame, Kopieranstalten, die Modesalons, die chemische Industrie, der Apparatebau, der optische Konzern: das alles und noch viel mehr dämmert hinter den schimmernden Bildstreifen der vielen Filme, eine ganze Welt voller Geschäft und Geschäftigkeit, deren Ziel das Ziel unserer Zeit ist: Geld zu verdienen, das Gesicht des Volkes in das Gesicht des Normalbürgers zu verwandeln und dem Untertan billige Träume zu vermitteln.

In der Friedrichstadt trifft man auch die jungen Operateure, die nach neuer Arbeit aus sind. Durch ihre bürgerliche Kleidung ist noch oft der frühere Offizier oder Flieger des Weltkrieges zu sehen, der sich jetzt zu den Lichtüberfällen der Lampen und in die Kulissenlandschaften neuer Spiele gerettet hat. Der Operateur kennt alle Kulissen und muß ein guter Techniker sein und seine Arbeit verstehen. Ab und zu hält auch ein amerikanischer Wagen da unten, und der Passant kann den berühmten Star, den Liebling des Volkes mit eigenen Augen und leibhaftig sehen. Es gibt viel zu sehen in jener Gegend, Nutten und Geschäftsleute, Zeitungsmenschen und Straßenhändler, und die blanken Fenster, hinter denen die Großaufnahmen und Lichtbilder neuer Filme ausgestellt sind, werden sehr beachtet. Vor den Bildern findet man junge Mädchen, Verkäuferinnen, Stenotypistinnen, Fräuleins aus der Bar, die ihre Augen verzehrend auf die schönen Photos und Bilder richten. Die Friedrichstraße ist die Straße der großen Illusion.

Die berühmtesten Filmgesellschaften haben in der unteren Friedrichstadt ihre Geschäftshäuser und Büros. Auch Herr Daniel Kreß war in der Zeit zwischen elf und zwölf, wenn er in Staaken nichts zu tun hatte, in seinem Bürohaus da unten zu treffen. Der Weg zu ihm war durch viele Anmeldungen versperrt. Kreß wurde überlaufen. Operateure fragten nach Arbeit, Graphiker wollten beschäftigt werden, Drehbuchschreiber kamen mit neuen Ideen, berühmte Stars machten ihre Aufwartung. Aber auch viele Damen kamen mit Empfehlungsschreiben und großer Leidenschaft für den Film. Daniel Kreß hatte seine Pläne und Ideen für sich, und wenn man doch einmal bis in sein Arbeitszimmer kam, stieß der Besuch mit den neuen Ideen oder großer Filmleidenschaft auf eine Mauer lächelnden Wohlwollens, auf eine Mauer herzlicher Ratschläge, die zu nichts verpflichteten.

Kreß hatte sich einen glänzenden Trick ausgedacht, um die stürmischen Besucher zu erledigen. Er hörte ihnen einige Minuten ernsthaft zu, dann sagte er: »Einen Moment bitte,« kritzelte auf seine Karte einige Zeilen und sagte: »Ich empfehle Ihnen, Mister Fox Ihre Wünsche vorzutragen. Ich rufe Mister Fox an.« Er nahm das Telephon und sagte: »Hallo, Mister Fox, ich schicke Ihnen eine Persönlichkeit, deren Wünsche mir sehr am Herzen liegen. Wir konferieren dann über den Fall.« Der Besuch schob glücklich und erfreut ab, aber bei Herrn Fuchs gab es nichts als eine neue Karte für eine angeblich befreundete Gesellschaft, und von dort wanderte der Mann mit dem Empfehlungsschreiben fast alle Filmgesellschaften ab, kam immer bis zu einem Mister Fox und wurde immer weiter empfohlen.

Das war der Trick von Daniel Kreß. Andere Gesellschaften gingen ähnlich vor: man hörte den Besuch freundlich an, opferte auch manchmal eine halbe Stunde, wenn ein Geschäft zu wittern war und überbot sich in Freundlichkeiten. Die Wege unbekannter Menschen zu den Gesellschaften waren Marterwege. Zwischen den deutschen Büros stand groß und mächtig die Konkurrenz: die Amerikaner und die Russen trumpften mit ihren Häusern auf.

In der unteren Friedrichstadt lagen auch die kleinen Cafés, in denen sich die Filmleute trafen. Die Regisseure, die Operateure, die Aufnahmeleiter und manchmal auch die Direktoren kamen zu einer Tasse Kaffee zusammen. Verabredungen wurden in jenen Cafés getroffen, und bald sammelte sich in ihnen auch die Komparserie. Im Cafe »Urania« entwickelte sich eine richtige Filmbörse. In den Vormittagsstunden oder abends nach der Arbeit wurden hier die Gagenzettel ausgeschrieben. Der Kampf um das tägliche Brot war ein Kampf im Dunkel, und die Mädchen, die siegten, waren durchaus nicht immer die für den Film begabtesten. Marianne Hull war nun acht Tage in Berlin.

Mit ihrem Freund besah sie sich die große Stadt.

Sie fuhren nach dem Wannsee, nach Potsdam oder nach Tegel und schwärmten in den schönen Landschaften. Mit Frau Berthold verstand sich das Mädchen ausgezeichnet. Georg wohnte in Friedenau und war in zehn Minuten zu erreichen. Aber nach den acht Tagen Schwärmerei drängte Marianne nach Arbeit. Sie waren nach Tegel gefahren und schaukelten jetzt in einem kleinen Kahn auf den linden Wellen, sahen die grünen Inseln, die schwarzen Fabriken, den heftigen Zusammenprall zwischen Technik und Landschaft, und mitten auf dem See sagte Marianne:

»Das alles muß nun aufhören, Georg. Zum Kahnfahren bin ich nicht nach Berlin gekommen. Der Tegeler See ist schon schön, aber der Bodensee ist noch viel schöner. Du bist ein Faulenzer.«

Georg ließ den Kahn treiben.

»Aber ein glücklicher Faulenzer, Marianne. Bist du nicht glücklich?« fragte er. »Bist du nicht glücklich, Marianne?«

»Nein,« sagte sie und machte ein ernstes Gesicht. »Nein, ich bin nicht glücklich. Ich will arbeiten.« Als sie seine traurigen Augen sah, erklärte sie: »Ja, ich bin schon glücklich, aber am glücklichsten wäre ich doch, wenn ich endlich arbeiten dürfte. Wir fahren bald nach Berlin zurück. Ich will heute abend noch in die Filmbörse.«

»Muß das heute schon sein?«

»Ja, es muß heute noch sein!«

Georg antwortete nicht. Er ergriff die Ruder und trieb den Kahn wild über den See. Er raste sich auf dem kühlen Wasser aus, landete an der Bucht einer kleinen Insel und lief dann mit dem Mädchen durch den heiteren Wald. Aber sie blieben nicht lange auf der Insel, Marianne bestand auf Berlin, und am späten Nachmittag fuhren sie mit der Straßenbahn in die Stadt. In der Friedrichstraße verabschiedete sie ihren Freund und ging allein in das Cafe »Urania.«

Wieder flammten die Lichter über der Friedrichstraße, wieder erbrauste der Tumult der Millionen, aber Marianne war nicht mehr verwirrt. Sie ging mit sicheren Schritten ins »Urania« und ließ sich an einem weißen Ecktisch nieder. Von diesem Tisch konnte man das ganze Cafe überblicken. Viele Tische waren zu sehen, unter der verzierten und verblichenen Decke aus Goldstuck schwebte der Rauch aus vielen Zigaretten wie ein Opfer fremder Gottheiten. An den Tischen saß die Komparserie und wartete auf Arbeit. Über ein Dutzend Mädchen waren da und einige junge Männer mit kühnen Augenaufschlägen. Die Gespräche plapperten, Gelächter spritzte auf wie eine kleine Woge und zerschellte rasch. Marianne saß nicht lange allein. Ein junges Mädchen setzte sich zu ihr. Mit dem Mädchen kam sie bald ins Gespräch und hörte ihre Geschichte.

»Viermal habe ich im letzten Monat Aufnahmen gehabt,« sagte sie. »Und vor fünf Tagen hat der Meister meine Bilder abverlangt und sie immer noch nicht zurückgeschickt. Ist das nun ein gutes oder ein schlimmes Zeichen?«

»Ein gutes Zeichen!« sagte Marianne auf gut Glück. »Aber wer ist denn der Meister?«

»Das ist ein Freund von Lyssander und Bencke,« antwortete sie, »und er wollte mich ganz bestimmt empfehlen. Ohne Empfehlungen und gute Verbindungen sind wir ja alle erschossen... Wann haben Sie zuletzt gefilmt, Fräulein? Ich bin die Gritt Eisemann... Ach ja, es wäre gut, wenn der Meister mit Lyssander spräche. Meinen Sie nicht auch?«

»Natürlich,« sagte Marianne und stellte sich dann vor. »Ich habe zuletzt in München gefilmt, und will nun sehen, was in Berlin los ist.«

»In München? Wie ist es in München? In Berlin ist alles besetzt. Hier jagt eine der andern das Brot weg,« sagte Gritt.

»Ach, gehen Sie mit München! Was ist in München schon los? In München kann es nicht schlimmer sein als in Berlin.«

Gritt hörte den Bericht.

Marianne aber war aufgeregt. Der Schwindelbericht machte ihr kein Herzklopfen, aber jetzt stieß sie wieder auf Lyssander, den Mann der ersten Nacht. Sie hatte ihn schon beinahe ganz vergessen und nun stieg er auf und hatte viel Macht. Sie befragte die kleine Gritt:

»Der Lyssander ist wohl ein mächtiger Mann in Berlin?«

»Ein mächtiger Mann und ein schöner Mann,« erzählte sie, »und mit der Dolora soll es nun aus sein, habe ich gehört. Kunststück, so wie die Dolora, spiele ich auch... Und der Meister ist so ein ulkiger Bursche. Die Mädels haben Angst vor ihm, weil sie ihn nicht verstehen. Die Sache ist ganz einfach: der Mann spinnt, aber er spinnt harmlos. Man kann durch den Meister auch viel erreichen. Glauben Sie, er zeigt Lyssander oder Bencke meine Bilder?«

»Natürlich, wenn sie gut sind.«

»Das sowieso!« sagte Gritt und lachte. Sie schüttelte ihren schwarzen Jungenskopf, blinzelte Marianne zu und flüsterte: »Achtung, das Geschäft blüht, Ackermann von der »Domino« ist da.«

Plötzlich verstummten die Mädchen im Cafe. Der Aufnahmeleiter Ackermann von der »Domino« kam und ließ seine grauen Augen lässig über die Tische schweifen. Als er Marianne sah, stutzte er ein wenig, aber dann wurde er abgelenkt, eine üppige Schwarze kam auf ihn zu, lächelte und drückte seine Hand. Die Gritt Eisemann verließ ihren Platz und drängte sich dem Manne zu, der einen Block aus der Tasche zog und vier Mädchen für morgen früh bestellte. Die kleine Gritt und auch die üppige Schwarze wurden engagiert. Gritt kam an den Tisch zu Marianne zurück.

»Warum haben Sie sich nicht bemerkbar gemacht, Fräulein?« fragte sie, »hier in Berlin muß man laufen und springen.«

»Ach,« sagte Marianne, »ich wollte mir erst mal den Betrieb ansehen. Es ist beinahe dasselbe wie in München.«

Der leichte Tumult im Cafe Urania hatte sich bald wieder gelegt. Gritt Eisemann verabschiedete sich, ein neuer Hilfsregisseur kam und suchte sich still und ernst seine Typen aus. Die Mädchen blieben feierlich an den Tischen sitzen, und als der stille Mann die Reihen entlang wanderte und suchte, spielten sie ihm ein kokettes Spiel vor und zeigten ihre schönen Beine oder legten die Hände in den Schoß und lächelten. Aber alles war umsonst, der Mann suchte Arbeiterfrauen und Bauernmägde, er suchte drei flinke Burschen. Auch er stutzte, als er Marianne erblickte, aber für eine Magd war sie zu schön, er zog die Stirne kraus und ging weiter. Nein, heute konnte er das stille, ernste Mädchen nicht gebrauchen, aber vielleicht morgen oder übermorgen. Als er daran dachte, ihre Adresse zu notieren, war es zu spät. Er war bei den jungen Männern und schrieb dort seine Zettel aus.

Über zwei Stunden saß Marianne in dem Café und erlebte noch einigemal die blitzschnelle Veränderung der Mädchen, wenn ein Mann kam, der Arbeit zu vergeben hatte. Ja, die Gritt hatte schon recht: man mußte laufen und springen um den Bissen Brot, man mußte lächeln und strahlen, wenn ein Mann kam. Aus ihrer Betrachtung wurde sie durch eine maßlos aufgeschwemmte Frau gerissen, die sich mit freundlichem Nicken an dem Ecktisch niederließ. Bald begann ein kleines Geschwätz.

»Heute ist nicht viel los, Kindchen,« sagte sie, »und wir sollten überhaupt zur Russenbörse gehen. Der Geschäftsführer soll für seine Leute sorgen. Da ist immer etwas los... Ich sehe Sie zum erstenmal, Kindchen, schon lange beim Film?«

»Nein, noch nicht lange. Ich habe in München gefilmt... Wo ist denn die Russenbörse,« wollte sie wissen, »ich habe auch schon davon gehört. Dort sind wohl lauter russische Leute beschäftigt?«

»Nein, nicht lauter Russen, aber in der Hauptsache schon. Die Russenbörse« (sie machte eine verworrene Geste nach dem Norden) »die Russenbörse ist da oben an der Spree. Und es ist eine Gemeinheit von den Ausländern, daß sie uns das Brot wegessen.« Sie seufzte. »Das müßte verboten werden. Wir dürfen ja auch nicht nach Moskau.« Sie tat ein wenig entrüstet, als sei es ihr Herzenswunsch, nach Moskau zu reisen, um dort als Komparsin zu arbeiten.

»Vielleicht brauchen die Russen bei uns das Brot,« sagte Marianne leise.

»Und wir vielleicht nicht?« knurrte die dicke Frau. »Vielleicht haben Fräulein einen Freund und sind nur zum Vergnügen hier?« fragte sie immer noch erbittert.

»Nein, nein, ich habe keinen Freund, und ich bin auch nicht zum Vergnügen hier,« sagte das Mädchen und errötete, »es ist ja gar kein Vergnügen, vor den Herren schön zu tun, damit sie uns bemerken.«

»Kleines Lämmchen, du hast Angst vor dem bösen Wolf?« sagte die Frau und war mütterlich, streichelte Mariannes Hand und lächelte, »kleines Lämmchen, nein, das hier ist kein Vergnügen!«

Im Café saßen nun die letzten Gäste ganz menschlich da. Sie spielten kein Theater mehr, um sich zu zeigen, sie waren wie eine große Familie von verschämten Armen, die viel auf ihre Kleidung halten und einen ewigen Hunger haben. Die aufgeschwemmte Frau erzählte dem kleinen Mädchen ihre Geschichte. Sie trug sie mit so groteskem Humor vor, daß Marianne lachen mußte. Dabei war die Geschichte der Frau Möller im Grunde eine traurige Geschichte. Frau Möller hatte viele Männer in ihrem Leben gehabt, aber keinen Mann. Ihr Vater war kleiner Fabrikant von der alten Schule und hielt seine Tochter sehr streng, bis der Richtige kam. Aber der Richtige kam nicht, und mit dreißig Jahren darf ein älteres Mädchen keine großen Ansprüche mehr stellen, besonders dann nicht, wenn der Krieg zwei Millionen Männer gemordet hat. Mit dreißig Jahren heiratet das ältliche Fräulein einen Musikanten, der aber nur so lange bei ihr blieb, bis die Mitgift verspielt und vertrunken war. Dann verschwand der Herr Musikante und blieb verschollen. Und nun war Frau Möller eine sehr dicke Frau, beinahe vierzig Jahre alt, hatte kein Kind und spielte in Spelunkenfilmen aufgeschwemmte Kuppelmütter.

»Ja ja, Kindchen,« sagte sie, als die Geschichte zu Ende war, »ja ja, Kindchen, so ist das Leben. Also nicht zu lange warten auf den Märchenprinzen. Und man muß schon lächeln, wenn die Filmfritzen kommen. Vielleicht lächelt uns auch noch einmal das Glück. Die Fritzi Massary ist mit vierzig Jahren noch eine berühmte Frau. Neununddreißig bin ich und so gebaut!« Sie streckte ihre Arme aus, als wolle sie die Welt umarmen.

Noch eine kleine Weile saßen sie zusammen. Marianne gewann die dicke Frau Möller lieb. Sie versprachen sich in den nächsten Tagen eine neue Zusammenkunft. Marianne verabschiedete sich, und sie war kaum fünf Minuten fort, als Lyssander ins Cafe kam. Bernhard Glaß hatte ein fabelhaftes Manuskript geschrieben, und der Film mit Dolora näherte sich seinem Ende. Kreß wollte endlich die Madonna sehen und Lyssander mußte viel Spott ertragen. Manchmal bäumte sich sein Stolz auf, weil er einem kleinen Mädchen nachlief, aber dann dachte er an ihr Spiel in jenem Hotelzimmer und suchte weiter.

Marianne traf Georg nach dem Cafe am Potsdamer Platz und wußte viel zu erzählen. Sie malte in das schwarze Bild ihrer Erlebnisse schöne Lichter und berichtete von der Gritt Eisemann und der dicken Frau Möller. Georg hörte gut zu und sagte endlich:

»Und was machst du morgen? Gehst du wieder ins »Urania?«

»Nein,« sagte sie, »ich gehe auf den Nachweis. Und du sollst mitkommen. Dort ist viel mehr los als im Cafe.«

»Dein Wille geschehe!«

Und am nächsten Tag fuhren sie zusammen in die Stadt.

Auf dem Nachweis wehte eine viel reinere Luft als im »Urania«, das doch mehr oder weniger an einen orientalischen Sklavenmarkt erinnerte. Hier in den großen, hellen Räumen war die Vermittlung aus der Zufälligkeit und Gefälligkeit des Cafés in die Gesetzmäßigkeit von Angebot und Nachfrage gehoben. Georg schob zu dem Raum der Männer ab.

»Hals- und Beinbruch,« scherzte er, als er sich von Marianne verabschiedete, »alles Gute und viel Glück!«

Die Männer saßen in zwei großen Räumen an kleinen Tischen, schwätzten oder spielten. Man sah viele ausgezeichnete Typen, die ganze Stufenleiter vom edlen Helden bis zum finsteren Schuft war zu sehen, daneben zeigten sich alte Schauspieler mit dramatischen Gesichtern. Junge Elegants lehnten an der Theke und tranken Kaffee mit so vornehmen Gesten, als tränken sie Sekt aus steinernem Geschirre Man sah die Kopien berühmter amerikanischer Darsteller und junge Sportsleute, in allen Sätteln gerecht, mit allen Hunden gehetzt. Bei den Männern triumphierte auch nicht die geschmeidige Gefälligkeit wie bei den Frauen und Mädchen. Wohl erhoben sich auch hier die Gesichter, wenn ein Mann vom Film kam, aber sie boten sich nicht so schamlos an wie die Frauen.

Marianne passierte das Büro, ließ sich einschreiben und setzte sich dann an einen großen Tisch. Sie ging später suchend durch die zwei Zimmer, kam wieder an den alten Platz und wurde melancholisch. Die alten Frauen in dem kleinen Nebenzimmer waren ein Kapitel für sich. Man sah Denkmäler der Gewöhnlichkeit. Die Hoffnungslosigkeit des Daseins war da, die Verleugnung des ersten Grundgesetzes des Lebens überhaupt: Frauen, die das Schicksal schon niedergeschlagen hatte, saßen an den Tischen und warteten auf die neue Berufung zum Leben, auf die Berufung zum Film. Und was hatten sie schon darzustellen, wenn sich ein Aufnahmeleiter erbarmte, und wenn das mystische Glück lächelte?

Stumme Rollen hatten sie zu spielen, komische Weiber, gewöhnliches Volk der Hinterhäuser, Kartenlegerinnen, Waschweiber, Kupplerinnen. Marianne schauderte zusammen. Sie sah plötzlich hinter der strahlenden Lichtmauer der großen Spiele die arme Schattenseite. Was soll eine Frau von vierzig oder fünfzig Jahren sein? Sie soll Mensch sein, Gefährtin des Mannes, Erzieherin der Kinder. Und was war sie hier? Häßliche Hexe oder komische Figur, über die sich Leute amüsierten. Und wie kamen diese alten Frauen zum Film? Hatten sie, wie die jungen Mädchen, immer noch die wahnsinnige Hoffnung, einmal entdeckt zu werden und aus der grauen Masse aufzusteigen als leuchtender Star? Das Mädchen erinnerte sich an die Geschichte der Frau Möller.

Ja, auch viele der alten Frauen hatten noch die wahnsinnige Hoffnung auf den Aufstieg. Den Aufstieg zum Star!

Der Aufstieg zum Ruhm ging durch das Tal der Erniedrigung, durch das Tal der Tränen, durch das finstere Tal der Käuflichkeit. Da saßen nun hundert junge Mädchen in dem großen Zimmer. Sie saßen an den Tischen und warteten. Immer warteten sie. Da war ein kleines häßliches Ding mit einem Spitzmausgesicht und den Augen einer Wahnsinnigen. Auch sie hatte Ehrgeiz und verbrannte darin. Einmal durfte sie Lastermädchen in einer Filmkaschemme sein, und nun träumt sie den Traum einer neuen Asta Nielsen. Sie träumt den Traum heftig, sie studiert das wirkliche Leben und kennt die richtigen Kaschemmen. Sie wird als Straßenmädchen enden.

Einen Tisch weiter, und dort sitzt das gut angezogene Fräulein Nastja Konstantinowna Kirrilowa. Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt und stammt aus Kiew. Vor vier Jahren kam sie aus Moskau nach Berlin. Sie ist leidenschaftlich am Film interessiert und verehrt die Brigitte Helm und die Bergner. In den Singspielen und Tanzgruppen der großen Kinopaläste ist die Nastja zu finden und manchmal auch unscheinbar als schöne Puppe im Film. Immer ist sie nur Partnerin oder Staffage. Einmal tanzt sie, einmal singt sie, einmal soupiert sie im Film mit einem Gast, ein andermal ist sie die kleine Zofe und meldet der Herrin den Besuch des Herrn Grafen Sowieso an. Und auch diese Nastja träumt den Traum aller Mädchen. Wie wird die Nastja enden? Als Star? Als große Schauspielerin? Nastja geht nicht unter. Sie hat Glück und heiratete. Sie wird eine gute Mutter sein und dann klanglos im Kleinbürgertum versinken.

Ein drittes Mädchen soll für einige Sekunden betrachtet werden, das Fräulein Erna Lawinda. Sie ist einundzwanzig Jahre alt und kennt Dolora gut. Sie ist mit ihr auf dem Rummel in dem Schönheitsballet aufgetreten. Die Lawinda ist die geborene Freundin und sammelt alle Bilder und Kritiken, die sich mit Dolora befassen. Dolora kennt die Lawinda nicht mehr. Die Lawinda ist ein träges, freundliches Mädchen mit großen Kuhaugen und schönem Profil. Die Lawinda wird noch einmal entdeckt, sie wird kein Star werden, aber doch ein begehrter Extra, der seine tausend Mark im Monat verdient. Zum Schluß heiratet sie in die Konfektion ein und macht einen gutgehenden Modesalon auf.

Und so konnte man, wenn man wollte, noch viele Mädchen in jenem hellen Zimmer aus dem Knäuel des vergangenen und kommenden Schicksals lösen, oder aus ihren Träumen die Zukunft enthüllen. Alle Mädchen träumten und durften doch nicht träumen, wenn der Aufnahmeleiter oder Hilfsregisseur kam. Da mußten sie höllisch wach sein. Da warfen sie sich in die Brüste, da waren sie nichts als Geschlecht und lächelten dem Manne zu, der durch die Reihen ging und die Mädchen sachlich musterte, wie ein Viehhändler auf dem Viehmarkt das Schlachtvieh prüft und mustert. Und wenn er dann dieses oder jenes Mädchen ansprach und ihren Gagenzettel ausschrieb, wenn er auch nur eine Adresse für das nächste Mal vermerkte, da kam Leben in die starre Fleischmauer der Komparserie.

Da brach das Lächeln und wurde schmerzhaft, da waren die Mädchen angstvolle Kreaturen, die um die zehn und fünfzehn Mark kämpften, die der Mann zu vergeben hatte. Das Schicksal ging durch das Zimmer: der Mann hatte viele Jahrtausende hindurch alles zu vergeben, Tränen und Lachen, Freude und Elend, und der Kampf in den hellen Zimmern um die Arbeit, um das bißchen Glück und um den Aufstieg war erschütternd anzusehen.

Und was war schon das bißchen Glück?

Das bißchen Glück, wenn es gut war, bestand darin, im Monat sechs- oder siebenmal eine dumme, stumme und irrsinnige Nebenrolle zu spielen, aus Sektkelchen nichts als Wasser zu trinken, ausgelassen durch die fatalen Kulissen einer vorgetäuschten Landschaft zu springen, als Tanzgirl in einer hirnlosen Geschichte die Beine zu werfen und in den Augenblicken, in denen das grelle Licht flammte und die Kamera des Operateurs abschnurrte, ein glückliches, trauriges oder dämonisches Gesicht zu machen, das schmerzhafte Strahlen der Lampen zu vergessen und immer nur an das eine zu denken: wie falle ich auf, wie mache ich mich bemerkbar, wie überzeuge ich den Regisseur, daß ich begabt bin.

Viele der Mädchen wären auch nackt aufgetreten, wenn darin eine Chance bestünde. Sie hatten den schwierigen Weg durch die Vergnügungsindustrie hinter sich, und wenn sie dann in obskuren Filmen als kleine Girls halbnackt auftraten, da hatten sie schon eine Chance. Da strömten aus den Ateliers viele Männer herbei und besahen sich das Spiel. Und aus der erotischen Situation ergab sich manchmal diese oder jene lohnende Verbindung.

Die Filmleute aber waren von der Liebe, wenn man es noch Liebe nennen darf, übersättigt. Sie waren an nackte oder halbnackte Frauen und Mädchen gewöhnt. Wohl suchten sie oft das Neue, aber sie mußten es heimlich tun, denn sie waren meistens in festen Händen, in festen, nervösen Frauenhänden, die auch einmal nach dem Ruhm der Bilder und nach den krachenden Lichtüberfällen gegiert hatten und nun ihre Stellung mit allen Mitteln verteidigten. In den Ateliers gab es viele Intrigen und Verschwörungen. Hinter den geschminkten Gesichtern, die so süß lächeln konnten, lauerten Erbitterung und Haß. Lustspiele wurden über Nacht zu schauerlichen Tragödien. Aus den Tragödien sprangen manchmal kreischende Skandale.

In diese Umwelt kam die kleine Marianne Hull, und weil sie sich nicht vordrängte, als die Arbeit zu vergeben war, blieb sie unbeachtet sitzen. Georg sah bei den Männern auch den Kampf im Dunkel. Auch bei den Männern spielten sich die Kämpfe um das nackte Leben ab, aber diese Kämpfe waren beherrschter als bei den Frauen und Mädchen. Vielleicht war bei den Männern die Besessenheit zum Film nicht so heftig und leidenschaftlich, bei den Männern wurde das Gefühl durch das Gehirn kontrolliert. Die Männer kannten die Welt und ihre tyrannischen Gesetze, Gesetze der Männer, viel besser als die Frauen und Mädchen.

Georg kam für einige Minuten zu Marianne herüber und war guten Mutes. Er berichtete strahlend von einer guten Verbindung, aus der auch für sie etwas werden konnte. Er war für einen Artistenfilm engagiert worden. Und wer war der Hilfsregisseur? Georg lachte. Der Hilfsregisseur war der Herr Reinacker, der Mann mit den Seelöwen, der nun die edle Komparserie bändigte und vorführte. Und er hatte versprochen, sich auch um Marianne zu kümmern.

»Wir sollen den Reinacker einmal besuchen, Marianne. Er wohnt in Wilmersdorf und sagt, ich sei ein Narr, weil ich nicht zu Lyssander gehe. Er meint, Lyssander könne viel für uns tun. Er ist nämlich mit dem Direktor Kreß von der »Lux« liiert. Ich habe Reinacker deine neuen Bilder gezeigt. Sie haben ihm gut gefallen. Er sagte, du hättest ein Filmgesicht.«

»Das weiß ich,« antwortete das Mädchen, »aber bis jetzt hat es kein Mensch, der Arbeit zu vergeben hat, gemerkt. Lyssander, Lyssander, immer höre ich Lyssander! Er ist wohl ein Gott, der Herr Lyssander?«

»Nein, vielmehr ein Götze, dem man Weihrauch opfern muß, Liebling. Aber wir gehen nicht zu dem Kerl, wenn du es nicht selbst willst. Was meinst du aber wegen Reinacker?«

»Gut. Wir werden ihn besuchen.«

»Also schön, nächste Woche...« sagte er und sah sich um. »Bei euch ist aber viel Betrieb, eine Schönheit neben der andern. Und wo geht es denn dahin?« fragte er und zeigte auf die Tür nach dem Nebenraum.

Das Nebenzimmer antwortete selbst, es antwortete stumm, drei alte Damen kamen müde und verdrossen aus dem Raum und verließen die Börse. Georg sah ihnen herzlos und spöttisch nach und verschwand wieder zu den Männern. Dort spielte er mit einem jungen Mann, der große Ziele hatte und Chaplin kopierte, eine Partie Schach.

Marianne blieb bei den Mädchen, saß und wartete.

Der leichte Lärm der Unterhaltung schlug seine Brandung durch den Raum und erstarb, wenn ein Regisseur kam. Einige Mädchen, die engagiert wurden, verließen das helle Zimmer, neue Mädchen tauchten auf, Marianne saß bald nicht mehr allein, sie kam mit einigen Kolleginnen ins Gespräch. Ja, sie lernte die Abgründe der ihr neuen Welt immer besser kennen. Berlin, Berlin! Stadt der vier Millionen! Stadt aller Wünsche und Begierden, aller Hoffnungen und Enttäuschungen, gewaltige Stadt der Arbeit und Maschinen am Tag und abends und nachts das dröhnende Schwingen und Sausen eines anderen Daseins! Berlin, Stadt versteinerter Straßen und Wohnbezirke, in denen die jungen Mädchen blumenhaft blühen. Was für Blumen entfalten sich der kleinen Marianne in der letzten Stunde, in der sie immer noch auf Arbeit wartet?

Sie kam mit einigen jungen Dingern zusammen, die auch in der Konfektion beschäftigt und wie lebendig gewordene Modepuppen der gleißenden Schaufenster in den großen Warenhäusern waren, Mädchen, die nur aus gutgewachsener Figur und schönen, schimmernden Beinen zu bestehen schienen und die als gelegentliche Mannequins auftraten. Das war auch beinahe so wie die Komparserie im Film: für zehn oder zwanzig Mark tänzelten sie in den Modesalons, trugen kostbare Kleidung und waren manchmal für ein Abendessen zu kaufen, sie traten in den Cafés auf oder stolzierten von einer niedrigen Bühne mit ewig lächelnden Gesichtern durch die Reihen der Kauflustigen und wurden von den Damen kritisch, von den Herren lüstern betrachtet, mußten sich in den Hüften wiegen, die weißen Zähne blecken und immer heiter sein. Hinter den glatten Stirnen aber war oft Schwermut.

Die Welt war schon lange keine Welt der Männer mehr. Auch die Frau mußte ins feindliche Leben, und es gab unter den Komparsen kleine Statisten, die überhaupt nicht mehr auf die Börse kamen. Sie suchten auf eigene Faust das Glück. Wenn sie irgendwo einmal eine kleine Rolle gespielt hatten, wenn sie irgendeinmal bei einer Großaufnahme des Stars mit ausgezeichnet wurden, wenn auch nur als unscharfer Schatten hinter der Heldin, dann nahmen sie diese Bilder und klapperten auf der Friedrichstraße alle Filmgesellschaften ab. Sie kamen nie bis ins Privatkontor von Kreß oder Lemansky, aber sie kamen in die Vorzimmer, wo die Operateure und Hilfsregisseure saßen, und diese Bekanntschaft schon vermittelte diese oder jene neue Aufnahme. Und sie waren auch schon zufrieden, wenn sie mit dem Gehilfen des Hilfsregisseurs eine Tasse Kaffee trinken durften.

Dann gab es noch Mädchen, die sich mit allen Mitteln, mit allen Kniffen den Filmleuten einfach anboten und sich lächelnd hingaben, um überhaupt einmal Im Licht einer Aufnahme zu stehen. Der Film war die große, berauschende Faszination. Der Umweg über das Schlafzimmer wurde zu einem pfeilgeraden Wege zum Ziel. Marianne hatte, als sie in Konstanz für das Theater schwärmte, einmal ein Buch gelesen, in dem die Geschichte des deutschen Theaters beschrieben wurde. Und als sie nun heute alle diese Geschichten hörte, wußte sie, daß es beim Film noch oft so ist, wie es damals vor zweihundert Jahren beim deutschen Theater war, als der Pickelhering, die Käuflichkeit und die Verkäuflichkeit triumphierten.

Sie lernte ein Mädchen kennen, das als »Die Schöne« berühmt war. »Die Schöne« stammte aus gutem Hause. Ihr Vater war Geheimrat, hielt auf strenge Zucht und verlangte, daß die Tochter abends um neun Uhr zu Hause war. Sie kam auch jeden Abend nach Hause. Aber manchmal kam sie doch nicht. Sie blieb, wenn ihr ein Gagenzettel für zwanzig Mark ausgeschrieben wurde. Da blieb sie bis zum frühen Morgen »zur Nachtaufnahme«. »Die Schöne« war achtzehn Jahre alt und von jener tausendmal unpersönlichen Schönheit, wie sie Amerika propagiert. Und der Herr Vater, der Geheimrat? Er lächelte, wenn am frühen Morgen seine Tochter eben durch den Gagenzettel und durch das Feuer ihrer Augen ihm ihre glühende Hingabe bei dem Spiel bewies.

Das war »Die Schöne«.

So war die Welt.

Es gibt Augenblicke und blitzschnelle Sekunden, die einen Menschen im Nu verändern und umprägen können. Diese Menschen behalten ihre alten Gesichter, ihre unschuldigen Stirnen, ihre schönen Augen, aber hinter den Stirnen, hinter den Augen wächst ein neues Gesicht. Auch der kleinen Hull wuchs hinter dem alten Gesicht in jener Stunde ein neues Gesicht. Sie wußte wohl, daß es auch viele Filmgesellschaften gab, die sich von den Sklavenmärkten des willigen und billigen Fleisches fernhielten, die jeden Hilfsregisseur auf die Straße setzten, der seine Macht mißbrauchte, aber diese Wissenschaft war für sie kein Trost. Sie dachte an Lyssander. Sie ahnte endlich, daß der Film vor allen Dingen eine Industrie ist und meistens weiter nichts als eine Fabrik zur Herstellung einer bestimmten Ware. Und die erotischen Situationen ergaben eben jene Zwischenfälle, wie sie auch in den Fabriken, wo viele Mädchen beschäftigt sind, an der Tagesordnung und Nachtordnung stehen.

Die kleine Hull mit dem neuen Gesicht lächelte nicht, als »Die Schöne« ihre Geschichte erzählte. Sie lächelte erst, als sie von den Vierzehnjährigen und Fünfzehnjährigen hörte, die auf der Friedrichstraße gelenkig die vielen Etagen emporstiegen, um den Direktor oder den berühmten Regisseur zu sprechen, die ganz kalt und berechnend sind und die Wege zum Ziel kennen. Als »Die Schöne« von den halbwüchsigen jungen Dingern erzählte (wie um ihre Nachtaufnahmen zu rechtfertigen) da lachte Marianne herzlos, daß die andere verwundert aufblickte, verlegen wurde und fragte:

»Aber warum lachen Sie, Fräulein?«

»Weil der Mond untergegangen ist,« antwortete sie lachend und rätselhaft.

»Die Schöne« machte ein ratloses Gesicht und entfernte sich.

Ja, der Mond ihrer Kindheit war untergegangen.

Der Gesang der Nachtigallen war verstummt.

Die kleine Hull lachte immer noch.

Oh, sie war schon lange vierzehnjährig!

Und Georg? Er konnte den Mond erklären. Was kümmerte sie jetzt noch der Mond! Sie stand auf der Erde. Die Erde erklärt sich selber. Sie ist verworren. Durch das Dunkel und Dickicht sind schon breite Breschen geschlagen. Auf den breiten Wegen lächelt das Glück. Im Dickicht und Dunkel wimmern die Unglücklichen. Sie will nicht mehr unglücklich sein. Wer wandelt im Licht? Sie schließt die Augen, und plötzlich steigt groß und klar das Bildnis Lyssanders in ihr au!. Sie hört seine Stimme:

»Die Völker sollen deinen Namen buchstabieren lernen, Marianne Hull!«

Und nun weiß sie ihren Weg. Ihr Gesicht ist unschuldig wie früher, und auf dem Heimweg spricht sie kühl mit Georg darüber, daß es vielleicht doch gut sei, bei Gelegenheit Herrn Lyssander aufzusuchen. Und Georg, der Narr, lobt sie noch dafür. Er lobt sie und küßt ihre Hände!

»Diese Woche gehen wir noch zu Reinacker,« sagte er, »und ich will an Lyssander schreiben. Ich freue mich sehr, daß du endlich Ja gesagt hast. Lyssander ist eine Kanone und kann unser Glück machen.«

»Das Glück!« sagte sie leise und seufzend, »was ist das Glück? Ich will berühmt werden. Hast du mich lieb?«

»Ich habe dich lieb.«

Georg fuhr am nächsten Morgen ganz früh nach Staaken hinaus. Zum erstenmal kam er in die Kulissenwelt des Films, in die komplizierte technische Maschinerie der Aufnahme. Er fand sich schnell zurecht und spielte seine Rolle gut. Er kannte ja den Zirkus. Seine Rolle war unbedeutend, aber er hatte das unverhoffte, und doch immer ersehnte Glück, dem jungen Regisseur aufzufallen. Von jenem Film waren kaum die ersten Bilder gedreht, und an diesem Morgen mußte der Schauspieler Kruse, der als Clown durch alle Zirkusfilme rollte, wegen Krankheit absagen. Der Regisseur fluchte.

Reinacker hörte den Fluch.

»Wir haben da einen jungen Kerl, der die Rolle gut übernehmen kann,« sagte er zu dem Regisseur, »er kennt den Zirkus aus dem Effeff. Ist schon selber als Clown aufgetreten.«

»Holen Sie den Mann her.«

Georg kam.

»Schon mal gefilmt?«

»Ja.«

»Schon mal als Clown aufgetreten?«

»Natürlich,« antwortete Georg, der von Reinacker informiert war.

»Gut, wir machen eine Probeaufnahme. Wenn die Bilder was taugen, können Sie ab morgen Kruse vertreten.«

Die Probeaufnahme wurde gemacht. Die Lampen verschütteten Licht. Georg spielte gut. Der Regisseur war zufrieden.

»Mensch, du hast Schwein gehabt,« sagte dann Reinacker, »zehn Tage hast du mindestens Arbeit und ich will sehen, was ich für dich herausschlagen kann. Du kannst lachen.«

»Ich lache ja, Reinacker, und wenn du heute Abend mit mir eine Flasche Wein trinken willst?«

Sie tranken am Abend nach der Arbeit eine Flasche Wein, und als der junge Filmschauspieler Georg Hammer gegen acht Uhr sehr fröhlich nach Steglitz kam und Marianne besuchte, fand er schon einen Gast vor. Die Schauspielerin Flora war nach Berlin gekommen. Sie führte das große Wort, und als Georg ins Zimmer trat, hörte er eben Flora sagen:

»Das, liebe Marianne, was die Käthe Kollwitz für die Kunst ist, das will ich auf dem Theater sein.«


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