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Viertes Kapitel

Fritz lag mit geschlossenen Augen, sein Kopf ruhte in dem Schoß der Geliebten.

Langsam und langsamer glitt die Spitze ihrer Nägel über sein blondes Haar.

Fritz blieb mit geschlossenen Augen liegen, sein Kopf ruhte leicht in ihrem Schoß: also wirklich – er, Fritz Schmidt aus der Frankfurter Gasse, er, der vaterlose Junge, dessen Mutter eines Tages, als sie betrunken war, in den Fluß sprang und dessen Großmutter ihn verkauft hatte – ihn und den Bruder – für zwanzig Mark. –

Also wirklich, er, Fritz Schmidt, genannt Cecchi von den »vier Teufeln«, war ihr Liebhaber geworden, der Liebhaber der »Dame aus der Loge«. Das war sein Nacken, der auf ihren Knien lag. Das war sein Arm, der ihren Leib umfassen durfte. Das war sein Hals, auf dem nun ihre Lippen ruhten.

Er, Fritz Cecchi von den »vier Teufeln«!

Und er öffnete halb die Augen, und er sah mit derselben nicht begreifenden, berauschten Verwunderung ihre feine Hand, die so weich war, die keine Arbeit verunstaltet hatte, ihre hellroten gewölbten Nägel, ihre mattweiße Haut, die er so gern weich und lange küßte. –

Ja – die Hand glitt über seine Stirn hin.

Er war es, der im Atmen den Duft ihres Körpers empfand, der ihm nahe war, ihrer Kleider, deren Stoffe Wolken ähnelten – o wie seine Hände so gern über sie hinstrichen. –

Auf ihn wartete sie nachts an dem hohen Gitter, und sie fror während des Wartens, wie vor Kälte. Ihn führte sie durch den kleinen Garten des Palais und hängte sich in jedem Gebüsch an ihn. –

Seine Lippen nannten sie ihre »Blume«, seine Arme nannte sie ihr »Verderben«.

Ja – solch sonderbare Worte sprach sie, sie sagte: seine Lippen seien eine Blume, seine Arme ein Verderben.

Fritz Cecchi lächelte, und er schloß wieder seine Augen. –

Sie sah sein Lächeln, und sie bog den Kopf über ihn herab und führte ihre Lippen weich über sein Gesicht hin.

Fritz fuhr fort zu lächeln – gebannt von derselben Verwunderung:

»Aber das ist sonderbar«, sagte er leise und fuhr immer in demselben Tone fort: »Aber das ist sonderbar«, und er drehte seinen Kopf ein wenig hin und her.

»Was denn?« fragte sie.

»Dies!« erwiderte er nur und lag wieder still unter ihren Küssen, als fürchtete er, aus einem Traum zu erwachen.

Er lächelte noch immer: In Gedanken wiederholte er ständig ihren Namen, immer wieder über ihren Namen erstaunt – einen von den großen Namen, die von europäischem Klang sind und der selbst bis zu ihm, wie eine Sage, herabgelangt war.

Und langsam schlug er wieder die Augen auf und sah sie an und faßte mit beiden Händen nach ihren Ohren und lachte wie ein Junge, während er sie kniff – fester und fester: auch das durfte er – auch das.

Er richtete sich halb empor und schob seinen Kopf zu ihrer Schulter hinauf. Immer mit demselben Lächeln sah er sich in der Stube um:

All das war ihm untertänig, alles, was ihr gehörte: diese tausend zerbrechlichen Nippesgegenstände, die die seltsamen dünnbeinigen Möbel bedeckten: Beinahe wagte er auch sie nicht zu berühren, er, der Jongleur, faßte sie so behutsam an, als würden sie zwischen seinen Fingern zerbrechen; bald konnte er voll Übermut – denn er war hier Herr, er, Fritz Schmidt – mit einem Luxustisch Ball spielen oder eine ganze Etagere balancieren, während sie lachte, immerfort lachte.

Die Gemälde waren ihm fremd, Bilder von Ahnen in der Tracht der »Restaurationszeit« mit Galadegen und behandschuhten Händen.

Es gab Augenblicke, da er plötzlich den Bildern laut, ausgelassen ins Gesicht lachte, wie ein Straßenjunge – unaufhörlich lachte, daß er, Fritz Schmidt, hier bei ihr saß, dem Sprößling dieser Ahnen, und daß sie nun die Seine war.

Und er fuhr fort zu lachen und zu lachen – ohne daß sie begriff, warum. Und zuletzt sagte sie:

»Aber warum lachst du denn?«

»Ja, ja«, erwiderte er und hörte plötzlich auf zu lachen: »denn dies ist sonderbar, dies ist so sonderbar –«

Er empfand ein eigentümliches, halb glückliches, halb scheues Erstaunen – daß er hier war.

Daß er hier Herr war!

Denn er fühlte sich als Herr: sie war ja sein. Er besaß sie. In seinem unzivilisierten Hirn ruhten noch alle Gedanken von dem unbegrenzten Besitz des Mannes – dem Besitz der »Frauenzimmer« –, er, der Handelnde, der selbst im verzehrenden Genuß noch der Überlegene war und sie unter sich zerdrücken konnte.

Aber all diese männlichen Urvorstellungen bei Fritz – dem es eine Wollust bereitete, sie zu bändigen und zu zähmen und zügellos zu gebrauchen – schwanden wieder macht- und hilflos vor seiner stummen, erneuten Verwunderung über sie: ihr unbedeutendstes Wort war von anderem Klang und hatte anderen Tonfall; ihre geringste Bewegung war von anderer Art; ihr Körper, jeder Teil desselben, war von anderer, fremder Schönheit, unentwickelt und zart. –

Und er wurde gefügig und furchtsam, und er schlug plötzlich die geschlossenen Augen auf, um zu sehen, es war kein Traum, und langsam liebkoste er ihre feinen, schlanken Finger: ja, es war die Wahrheit!

Ihre Hände glitten immer zögernder und zögernder durch sein Haar, und sein Atem wurde schneller, während er dalag, als wenn er schliefe.

Plötzlich schlug er die Augen auf:

»Aber was wollen Sie denn von mir?« sagte er.

»Du dummer Mann«, flüsterte sie und hielt ihren Mund dicht über seiner Wange: »Du dummer Mann!«

Sie fuhr fort, nahe seinem Ohr zu flüstern – der Ton ihrer Stimme erregte ihn noch mehr als ihre Liebkosungen –:

»Du dummer Mann, du dummer Mann –«

Und als wenn sie den schönen und apathischen Körper in einen Rausch einlullen wollte, flüsterte sie:

»Du dummer Mann, du dummer Mann!«

Aber er erhob sich nur und sagte mit seinem ständigen Lächeln, während er neben ihr saß, ihren Kopf an seine Brust drückte und sie unsäglich zärtlich ansah:

»Könntest du hier schlafen?« und er wiegte sie in seinem Arm wie ein Kind, bis sie beide lachten, Aug in Auge.

»Du dummer Mann!«

Da flammten seine Augen auf, und er ergriff sie; schnell, ohne ein Wort, trug er sie vor sich her in erhobenen Armen, durch das Zimmer hin – dort hinein.

Nur die hellblaue Ampel sah still zu, wie ein schläfriges Auge.

 

Der Tag graute, als sie schieden. Aber in allen Ecken auf den Stufen der Treppe, im Garten mitten vor dem stillen Hause – das so vornehm und ehrbar mit verhüllten Scheiben dalag – verlängerten sie noch die geistlosen Stunden ihres Stelldicheins, während sie noch immer dieselben drei Worte flüsterte, die gleichsam der Refrain ihrer Liebesworte wurden – einer Liebe, deren einzige Seele der Instinkt war –:

»Du dummer Mann!«

Dann riß Fritz sich los, und die Gittertüre fiel hinter ihm zu. –

Aber sie blieb stehen, und noch einmal kehrte er zurück. Er nahm sie noch einmal in seine Arme, und plötzlich lachte er – während er vor dem großen Palais neben ihr stand.

Und als wenn ihre Gedanken sich begegneten, lachte auch sie – zum Hause ihrer Väter empor.

Und er begann – indem er mit seiner Neugier einen besonderen Triumph genoß – nach jedem einzelnen von den großen steinernen Wappen über den Fenstern, nach jeder Inschrift der Portale zu fragen, und sie antwortete ihm und lachte und lachte.

Es waren die stolzesten Namen des Landes. Er kannte sie nicht, aber sie erzählte von jedem etwas.

Es war Geschichte von Ehrungen, Geschichte von Kämpfen, Geschichte von Schlachtensiegern.

Er lachte.

Da waren Schilde, die den Thron geschirmt hatten. Da waren Zeichen, die selbst auf St. Peters Stuhl hindeuteten.

Er lachte.

Als würde sie von ihrer Unwürdigkeit selbst erhitzt, wurden ihre Liebkosungen heißer, roh und fast blasphemisch in diesem dämmernden Tageslicht, während sie fortfuhr zu erzählen, als wollte sie eines nach dem andern, Wort für Wort die Schilde ihres Vaterhauses herabreißen und in dem Schmutz ihrer Liebe zerschmettern.

»Und das?« fragte er und zeigte auf ein Wappen.

»Und das?«

Und sie fuhr fort zu erzählen.

Es war Geschichte von Jahrhunderten. Hier waren Throne erbaut und Königsthrone zusammengestürzt. Der war der Freund eines Kaisers. Der wurde der Tod eines Königs.

Und sie fuhr fort zu reden – flüsternd mit neckendem Spott, indem sie sich an die Schulter des Akrobaten lehnte und sich selbst dem Eindruck dieser Entweihung hingab.

Auch er wurde berauscht.

Es war, als sähen sie beide, hier vor ihren Augen, selbst die Vernichtung und genössen sie – genössen Minute für Minute den Fall dieses großen Hauses – mit Wappen, Portalen, Schilden, Gedächtnistafeln, Turmspitzen –, des Hauses, das unter dem Mühlstein ihres Triebes vernichtet wurde und zusammenstürzte.

Dann riß sie sich endlich los und flüchtete den Gang hinauf.

Noch einmal wandte sie sich in der kleinen Türe um und warf mit winkender Hand – gleichsam als letzten Scherz – dem großen Wappenschild auf dem Türgiebel eine Kußhand zu und lachte. –

Fritz ging nach Hause. Es war, als hätte er Flügel unter den Füßen. Er empfand gleichsam noch alle ihre Liebkosungen.

Ringsum erwachte die große Stadt.

Wagen ratterten die Straße entlang. Es lagen auf ihnen alle Schätze des Blumenmarktes: Veilchen, Frührosen, Aurikeln, Goldlack.

Fritz sang. Halblaut sang er die Verse des Liebeswalzers:

Amour, amour,
oh, bel oiseau,
chante, chante,
chante toujours.

Die Wagen fuhren noch immer an ihm vorbei. Die ganze Straße wurde von all den Düften erfüllt.

Die Blumenverkäufer, die, in große Decken eingehüllt, auf den Böcken saßen, wandten sich auf ihren Sitzen um und lächelten ihm zu.

Er sang noch.

Amour, amour,
oh, bel oiseau,
chante, chante,
chante toujours.

In seiner Gasse war es still und noch halbdunkel zwischen den hohen Häusern. Fritz ging langsamer. Noch immer summte er vor sich hin, und er blickte an seinem Hause hinauf und hinab.

Einen Augenblick fuhr er zusammen – ihm war, als hätte er oben hinter den Scheiben ein Gesicht gesehen.

Bleich, mit zurückgehaltenem Atem lauschte Aimee hinter ihrer Tür:

Ja, das war er.

Amour, amour,
oh, bel oiseau,
chante, chante,
chante toujours.

Die Türe oben wurde geschlossen, und alles wurde still.

Weiß wie eine Nachtwandlerin, die Hände gegen die Brust gedrückt, ging Aimee zu Bett. Unbeweglich starrte sie dem grauenden Tag entgegen – einem neuen Tag.


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