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4. Herzensqualen eines Millionärs.

Was für Musik Greise bisweilen bei den Italienern zu hören bekommen.

Wäre unter den wohl nicht zahlreichen Lesern, die sich mit der moralischen und philosophischen Seite eines Buches beschäftigen, ein einziger imstande, an die Befriedigung des Barons von Nüßingen zu glauben, so bewiese das, wie schwer es ist, ein Dirnenherz irgendwelchen physiologischen Grundsätzen zu unterwerfen. Esther war entschlossen, den armen Millionär das, was er ›den Tag seines Triumphes‹ nannte, teuer bezahlen zu lassen. So war denn auch in den ersten Februartagen 1830 der Einweiheschmaus in dem ›kleinen Palee‹ immer noch nicht vor sich gegangen.

»Aber,« sagte Esther vertraulich zu ihren Freundinnen, die es dem Baron weitersagten, »zum Karneval eröffne ich mein Etablissement, und dann will ich meinen Mann glücklich machen wie einen ›Gipshahn‹!«

Dieser Ausdruck wurde in der Dirnenwelt sprichwörtlich.

Der Baron erging sich also in vielem Gejammere. Er wurde, gleich verheirateten Leuten, reichlich lächerlich, begann seinen nächsten Freunden vorzustöhnen und triefte von Unzufriedenheit. Trotzdem blieb Esther in ihrer Rolle einer Pompadour des Fürsten im Reiche der Spekulation. Sie hatte schon zwei oder drei kleine Abendgesellschaften veranstaltet, nur um Lucien in ihr Haus einzuführen; Lousteau, Rastignac, Du Tillet Bixiou, Nathan, Graf Bramburg – die Blüte der Wüstlinge, sie alle wurden zu regelmäßigen Besuchern. Zudem ließ sie Tullia, Florentine, Fanny Schönwies, Florine, zwei Schauspielerinnen und zwei Tänzerinnen, endlich auch Frau Du Val-Noble als Mitwirkende in dem Theaterstück zu, das sie spielte. Nichts ist ja trauriger als ein Kurtisanenhaus, dem das Salz der Nebenbuhlerschaft, das Spiel prunkender Gewandung und die Mannigfaltigkeit von Gesichtern fehlt.

In sechs Wochen wurde Esther zu der geistvollsten, unterhaltendsten, schönsten und geschmackvoll-glänzendsten Vertreterin der weiblichen Parias, aus denen sich die Klasse der ausgehaltenen Frauen zusammensetzt. Nun sie auf ihrem richtigen Piedestal stand, genoß sie alle Wonnen der Eitelkeit, die gewöhnliche Frauen verlockt; doch blieb sie dabei die Frau, die sich durch einen geheimen Hintergedanken über ihre Kaste erhob. Sie bewahrte in ihrem Herzen ein Bild ihrer selbst, das sie zugleich erröten und stolz machte, und die Stunde ihres Verzichtes blieb ihr stets vor Augen. So führte sie gleichsam ein Doppelleben, indem sie ihr Persönliches mitleidig hegte. Ihre Spöttereien rächten sich für den inneren Zustand, die Folge der tiefen Verachtung dieses zur Kurtisane herabgewürdigten liebevollen Engels gegen seine gemeine, verhaßte Rolle, die der Körper seiner Seele zum Trotz spielen mußte. Indem sie gleichzeitig Zuschauer und Darsteller, Richter und Angeklagter war, verwirklichte sie die wundervolle Annahme der arabischen Märchen, in denen fast immer ein erhabenes Wesen in entwürdigter Gestalt verborgen ist. Das Vorbild findet man im Buch der Bücher, in der Bibel bei Nebukadnezar.

Sie hatte sich vorgenommen, bis zum Morgen nach ihrem Treubruch zu leben, und nun konnte sich das Opfer ja ein wenig auf Kosten seines Henkers erlustigen. Nachdem Esther übrigens Genaueres über die nicht allgemein sichtbaren schändlichen Mittel erfahren hatte, denen der Baron sein Riesenvermögen verdankte, schwanden ihr alle Bedenken, und es machte ihr geradezu Spaß, die Rolle der Rachegöttin zu spielen, wie Carlos sagte. So war sie abwechselnd bezaubernd und gräßlich zu dem Millionär, der nur durch sie lebte. Nahm die Qual des Barons einen solchen Grad an, daß er Esther zu verlassen begehrte, dann fing sie ihn durch einen zärtlichen Auftritt wieder ein. –

Herrera war nach seiner öffentlichen Abreise nach Spanien nur bis Tours gefahren und hatte seinen Wagen bis nach Bordeaux weiterfahren lassen. Ein Diener mußte seine Stelle vertreten. Er selbst kehrte im Postwagen als Geschäftsreisender zurück, verkroch sich heimlich bei Esther und lenkte dort durch Asien, Europa und Paccard sorglich seine sämtlichen Mannschaften, indem er alle, zumal Peyrade, überwachte.

Etwa vierzehn Tage vor der beabsichtigten Einweihungsfeier, die am Tage nach dem ersten Opernball stattfinden sollte, saß die Kurtisane, die durch ihre schlagfertigen Scherze gefürchtet zu werden begann, bei den Italienern tief in einer Parterreloge, die der Baron erwählt hatte, um seine Geliebte dort zu verbergen und sich nicht mit ihr dicht neben Frau von Nüßingen öffentlich zu zeigen. Esther hatte den Platz so gewählt, daß sie Frau von Sérizys Loge beobachten konnte, weil Lucien die Gräfin fast täglich begleitete. Die arme Kurtisane schuf sich ihr einziges Glück, indem sie jeden Dienstag, Donnerstag und Sonnabend Lucien bei Frau von Sérizy anschaute. So sah sie auch diesmal gegen neuneinhalb Uhr Lucien in die Loge eintreten, aber seine Stirn war sorgenvoll, sein Gesicht bleich und entstellt. Freilich waren diese Anzeichen innerer Verzweiflung nur für Esther sichtbar. Für eine liebende Frau ist das Gesicht des Mannes ausdrucksvoll wie das weite Meer für den Seefahrer.

»Mein Gott, was mag ihm nur widerfahren sein? Sollte er mit dem höllischen Engel reden müssen, der sein Schutzengel ist und jetzt bei mir in der Mansarde verborgen lebt?«

Bei diesen quälenden Gedanken vernahm sie kaum die Musik, und begreiflicherweise hörte sie auch nicht auf den Baron, der die Hand seines ›Engels‹ in seinen beiden Händen hielt und in seinem Kauderwelsch auf sie einredete. »Esther,« sagte er schließlich, und ließ ihre Hand mit etwas Ungeduld fahren, »Sie heeren mer nich zu!«

»Ich bin hier nicht in meinem Boudoir. Wären Sie nicht ein Geldkasten, der durch einen Gewaltakt der Natur in einen Menschen verwandelt wurde, dann würden Sie nicht in der Loge einer Frau, die die Musik liebt, solchen Lärm machen. Schon aus der Art, wie Sie seufzen (denn höre ich Sie nicht, so spüre ich Sie doch), entnehme ich, daß Sie übermäßig viel gegessen haben, und daß Ihre Verdauung beginnt. Lernen Sie also von mir (ich koste Ihnen Geld genug, um Ihnen dafür gelegentlich eine gute Lehre zu geben) – lernen Sie, mein Lieber, daß jemand, der eine schwierige Verdauung hat, nicht zu jeder unpassenden Zeit seiner Geliebten sagen darf: ›Sie sind so scheen!‹ Blondchen hat gesagt, daß ein alter Soldat an solcher Geckerei, ›in den Armen der Religion‹ gestorben ist. Sie haben Millionen und Trüffeln zu verdauen, also kommen Sie morgen um zehn Uhr wieder.«

»Wie Se sind grausam!« rief der Baron, der die tiefe Wahrheit dieses ärztlichen Rates anerkannte. Und doch war er verzweifelt, eine Musik zu vernehmen, die verliebte Greise gar oft bei den Italienern zu hören bekommen.

»Grausam?« fragte Esther, die immer weiter auf Lucien starrte. »Haben Sie nicht schon alle tüchtigen Ärzte befragt? Und im übrigen, was haben Sie mir bis jetzt für Annehmlichkeiten geboten? Eher das Gegenteil: Sie haben mich in einen goldenen Käfig gesteckt, zeigen ganz Paris Ihren bunten Papagei und fragen, ob noch jemand anders einen solchen Vogel besitzt, der so schön schwatzt. Sie wollen mein Herz? Schön, ich will Ihnen eine Möglichkeit geben, es zu gewinnen.«

»Sagen Se! ich wer alles fir Se tun! Ich will mer gern lassen von Ihnen beschwindeln!«

»Also dann seien Sie jung, schön, seien Sie wie Lucien von Rubempré, der eben bei Ihrer Frau sitzt. Dann erhalten Sie alles unentgeltlich, was Sie nie mit all Ihren Millionen erkaufen können!«

»Ich wer weggehen, denn Se sind wirklich hait Abend greßlich!« sagte der Luchs mit langem Gesicht und stand auf.

»Hierher, Nüßingen!« befahl Esther und winkte ihm mit einer hoheitsvollen Bewegung. Der Baron neigte sich mit hündischer Beflissenheit zu ihr.

»Wollen Sie mich heute nett sehen und von mir heut Abend zu Hause Zuckerwasser und Zärtlichkeiten zu kosten bekommen, Sie dickes Ungeheuer? … Schön, dann bringen Sie mir Lucien, damit ich ihn für unser Fest einlade und sicher sein kann, daß er dort nicht fehlt. Wenn Sie diesen kleinen Auftrag gut lösen, dann will ich dir gern sagen, dicker Friedrich, daß ich dich liebe, – solange, bis du stirbst.«

»E Zauberin sind Se,« sagte der Baron, und küßte Esthers Handschuhe. »Ich will mer gern e Stund lang Grobheiten sagen lassen, wenn ich am End immer e Zärtlichkeit ze kosten kriege …«

»Aber, wenn ich keinen Gehorsam finde, dann …« sagte sie, und drohte dem Baron mit dem Finger, wie man es mit kleinen Kindern tut. Er duckte den Kopf, wie ein Vogel, der in eine Falle geraten ist und den Jäger anfleht.

»Mein Gott, was hat nur Lucien?« grübelte sie, als sie allein war, und konnte die Tränen nicht zurückhalten. »Noch niemals war er so traurig.«

 

Was man an der Schwelle einer Tür alles leiden kann.

Lucien war an diesem Abend folgendes widerfahren:

Um neun Uhr war er wie alle Abende in seinem Wagen zum Hause der Grandlieus gefahren. Seit einem Monat lachte ihm das Glück: dreimal schon hatte er bei den Leuten dort gegessen, der Herzog war reizend zu ihm gewesen, der Verkauf seiner Aktien, die dreihunderttausend brachten, hatte ihm die Bezahlung eines weiteren Drittels des Kaufpreises erlaubt, Clotilde machte sich schön für ihn und tat auch sonst öffentlich ihre Gefühle für ihn kund. Hochgestellte Personen sprachen von dieser Ehe als einer fast abgemachten Sache, der Herzog von Chaulieu, der ehemalige Gesandte in Spanien, hatte der Herzogin versprochen, für Lucien den Titel eines Marquis beim Könige zu erbitten.

So kam er also am Tore vorgefahren; es tat sich auf, der Wagen hielt in der Einfahrt, Lucien stieg aus und sah im Hofe vier andere Kutschen stehen. Sobald aber einer der Lakaien Herrn von Rubempré erblickte, trat er vor die Tür wie ein Soldat, der seinen Posten einnimmt:

»Seine Herrlichkeit ist nicht zu Hause!«

»Aber die Frau Herzogin …« warf Lucien ein.

»Die Frau Herzogin ist ausgegangen,« erwiderte der Diener ernst.

»Fräulein Clotilde …«

»Ich glaube nicht, daß Fräulein Clotilde in Abwesenheit der Frau Herzogin den Herrn empfängt …«

»Aber es sind Gäste da?« erwiderte Lucien, wie vom Blitz getroffen.

»Ich weiß nicht,« versetzt der Lakai, der sich bemühte, gleichzeitig dumm und achtungsvoll zu sein.

Es gibt nichts Schrecklicheres als die Etikette für Leute, die sie als das furchtbarste Gesetz der Gesellschaft anerkennen. Lucien ahnte gleich den Sinn dieses für ihn so gräßlichen Auftritts: der Herzog und die Herzogin wollten ihn nicht empfangen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die Auseinandersetzung fand vor seinem Kammerdiener statt, dem er nun ein Zeichen gab, wieder fortzufahren. Aber gerade als er einstieg, hörte er Schritte die Treppe hinabkommen und den Lakai ausrufen: »Die Leute des Herrn Herzogs von Chaulieu!« »Die Leute der Frau Vicomtesse von Grandlieu!« Lucien konnte nur noch seinem Diener zuflüstern: »Schnell zu den Italienern!« Aber trotz aller Eile ließ es sich nicht vermeiden, daß er mit dem Herzog von Chaulieu und dessen Sohne, dem Herzog von Rhétoré, einen stummen Gruß austauschen mußte, – denn sie sagten nichts zu ihm.

»Wie kann ich sofort meinen Ratgeber von diesem Zusammenbruch benachrichtigen?« fragte sich Lucien unterwegs. »Was geschieht eigentlich?« Er verlor sich in Mutmaßungen. Aber in Wirklichkeit war folgendes geschehen:

An diesem Morgen hatte der Herzog von Grandlieu um elf Uhr das kleine Frühstückszimmer betreten, Clotilde auf die Stirn geküßt und ihr gesagt: »Liebes Kind, bis auf weiteres kümmere dich nicht mehr um Herrn von Rubempré.«

Dann hatte er die Herzogin bei der Hand genommen, in eine Fensternische geführt und ihr einige Worte zugeflüstert, die der armen Clotilde alle Farbe raubten, denn sie beobachtete ihre Mutter und sah, wie deren Gesicht bei den Worten des Herzogs lebhafte Bestürzung verriet. Dann hatte der Herzog einen der Diener angewiesen:

»Johann, tragen Sie hier diese Zeilen zum Herrn Herzog von Chaulieu und bitten Sie um ein Ja oder Nein. – Ich lade ihn für heut zum Essen ein,« sagte er zu seiner Frau.

Das Frühstück war tieftraurig gewesen. Die Herzogin schien nachdenklich, der Herzog mit sich selbst böse, und Clotilde konnte kaum die Tränen zurückhalten. Schließlich hatte die Mutter mit gerührter Stimme zu ihrer Tochter gesagt: »Liebes Kind, dein Vater hat recht, und ich kann auch nur sagen: denke nicht mehr an Lucien! Ich verstehe deinen Schmerz,« – Clotilde küßte der Mutter die Hand, – »aber ich muß dir sagen: warte, mach' keinen Schritt, leide schweigend, da du ihn liebst, und vertraue den Bemühungen deiner Eltern! Große Damen sind groß, weil sie in allen Fällen mit Adel ihre Pflicht zu tun wissen.«

»Worum handelt es sich denn?« hatte Clotilde bleich wie eine Lilie gefragt.

»Von viel zu ernsten Dingen, als daß man mit dir darüber reden könnte. Denn sind sie falsch, dann würde dein Sinn nutzlos beschmutzt, sind sie wahr, dann solltest du sie nicht erfahren.«

Um sechs Uhr erschien der Herzog von Chaulieu im Kabinett des Herzogs von Grandlieu, der ihn erwartete. »Sag' doch, Heinrich, … ich bin in solcher Verlegenheit, daß ich mich mit einem alten Freund beraten muß, der mit den Dingen Bescheid weiß, und du hast ja Erfahrung. Du weißt, meine Tochter Clotilde liebt den kleinen Rubempré, den man mir als zukünftigen Schwiegersohn gewissermaßen aufgezwungen hat. Ich war immer dagegen, aber als er sein Landgut kaufte und zu drei Vierteln bezahlt hatte, hatte ich keine Einwendungen mehr zu machen. Nun erhielt ich gestern abend einen anonymen Brief (du weißt ja, wie wenig Wert man darauf legen soll), in dem mir versichert wird, das Vermögen dieses Burschen entstamme einer unreinen Quelle, er belüge uns, wenn er behaupte, seine Schwester gäbe ihm das nötige Geld. Man drängt mich, Erkundigungen einzuziehen und weist mir die Mittel, um klar zu sehen. Hier, lies erst.«

»Ich bin ganz deiner Ansicht über anonyme Briefe, lieber Ferdinand,« hatte der Herzog von Chaulieu geantwortet, nachdem er den Brief gelesen hatte. »Aber verachtet man sie auch, so soll man sie doch benutzen. Mit solchen Briefen ist's wie mit Spionen. Schließe dem Burschen die Tür, und dann wollen wir Erkundigungen einzuziehen suchen. Ich kann dir helfen: Dein Advokat Derville verdient Vertrauen, kennt unendlich viel Familien, ist ehrlich, anständig und klug, kann aber für solche Dinge nicht verwendet werden. Dagegen haben wir im Ministerium des Äußeren in der Reichspolizei einen ganz einzigen Kerl, um Staatsgeheimnisse zu entdecken, und der soll Derville helfen. Kündige ihm an, daß unser Spion als großer Herr auftreten wird, und dein Advokat wird dir bald melden können, ob der Berg eine Maus geboren hat oder ob du mit dem kleinen Rubempré brechen mußt. In acht Tagen weißt du, was dahinter steckt.«

»Der junge Mann ist noch nicht Marquis genug, um es krumm zu nehmen, wenn er mich acht Tage lang nicht zu Hause findet,« meinte der Herzog von Grandlieu.

»Zumal, wenn du ihm deine Tochter gibst. Hat der anonyme Brief aber recht, ›wat‹ kann dir das dann tun. Du schickst deine Tochter mit meiner Schwiegertochter auf die Reise … Magdalene möchte gern nach Italien …«

»Du reißt mich aus einer Verlegenheit! Ich weiß nicht, ob ich dir schon danken darf …«

»Warten wir ruhig ab.«

»Übrigens, – wie heißt dieser Herr? Schick' ihn mir doch morgen so gegen vier, damit ich ihn mit Derville zusammenbringe.«

»Sein richtiger Name ist, glaube ich, Corentin … (den Namen dürftest du noch nicht gehört haben), aber er wird mit irgendeinem Amtsnamen ankommen: dann nennt er sich Herr von Saint … Saint-Yves, Saint-Valère oder irgend so etwas. Du kannst ihm trauen, denn Ludwig XVIII. vertraute ihm.«

Nach dieser Besprechung erhielt der Hausmeister die Anweisung, Herrn von Rubempré die Tür zu schließen, wie es denn auch geschehen war.

 

Die Handlung spielt sich in den Logen ab.

Lucien lief im Theater wie ein Betrunkener umher. Er fürchtete, sich bloßzustellen, wenn er zu Esther ging, und konnte dort auch Leute treffen. Dann wieder vergaß er, daß Esther überhaupt da war, und inmitten all seiner Wirrsal mußte er mit Rastignac plaudern, der die Neuigkeit noch nicht kannte und ihm zu seiner bevorstehenden Ehe Glück wünschte. Just in diesem Augenblick tauchte Nüßingen lächelnd bei ihm auf und sagte: »Würden Se mer die Freide machen, zu kommen zu Frau von Schampi, die Sie will selbst einladen zu unserm Einweihungsschmaus …«

»Gern, Baron,« erwiderte Lucien, dem der Geldmann wie ein rettender Engel erschien.

»Gehen Sie doch zu Frau Du Val-Noble,« sagte Esther zu Nüßingen, als sie ihn mit Lucien eintreten sah. »Ich sehe sie in einer Loge mit ihrem Nabob … Jetzt wachsen viele Nabobs in Indien,« fügte sie mit einem verständnisinnigen Blick für Lucien hinzu.

»Und der dort,« meinte Lucien lächelnd, »sieht dem Ihren furchtbar ähnlich.«

»Und bringen Sie mir den Nabob mit,« erwiderte Esther mit einem weiteren Zeichen des Einverständnisses für Lucien, während sie immer weiter mit dem Baron redete. »Er brennt darauf, mit Ihnen bekannt zu werden. Er soll mächtig reich sein. Die arme Frau hat mir schon manch Jammerlied gesungen, weil er nicht in Schwung kommt. Nehmen Sie ihm seine ›Last‹ ab, dann fällt es ihm vielleicht leichter.«

»Halten Se uns etwa fir Diebe?!« meinte der Baron und ging hinaus.

»Was hast du, Lucien?« flüsterte Esther, sobald die Logentür zu war, dem Freund ins Ohr, das sie mit ihren Lippen berührte.

»Ich bin verloren! Eben wurde mir der Eintritt in das Haus Grandlieu verwehrt, weil angeblich niemand daheim war, obgleich der Herzog und die Herzogin zu Hause saßen und fünf Gespanne im Hofe standen …«

»Wie? Sollte die Ehe sich zerschlagen?« fragte Esther tief bewegt, denn sie sah das Paradies winken.

»Ich weiß noch nicht, was gegen mich im Spiel ist …«

»Liebster Lucien,« sagte sie mit bezaubernder Stimme, »warum dir Kummer machen? Du wirst später eine schönere Heirat machen! Ich werde dir zwei Güter erwerben …«

»Gib heute abend ein Essen, damit ich mit Carlos heimlich reden kann. Vor allem lade den falschen Engländer ein. Dieser Nabob ist an meinem Untergang schuld, der ist unser Feind, wir haben ihn dann in der Hand, und wir …«

Lucien unterbrach sich mit einer Bewegung der Verzweiflung.

»Nun, was gibt's?« fragte das arme Ding, die sich wie im feurigen Ofen fühlte.

»Ach, Frau von Sérizy sieht mich!« rief Lucien, »und um das Unglück voll zu machen, sitzt der Herzog von Rhétoré, ein Zeuge meines Mißgeschicks, bei ihr.«

Wirklich spielte eben der Herzog mit dem Schmerz der Gräfin: »Sie gestatten also, daß sich Lucien in Fräulein Esthers Loge zeigt?« spottete er und wies auf Lucien. »Da Sie sich für ihn interessieren, sollten Sie ihm andeuten, daß man so etwas nicht tut. Man kann bei ihr essen, man kann bei ihr … Aber wirklich, die Kälte von Grandlieus für diesen Burschen wundert mich nicht mehr: – eben sah ich, wie er die Tür gewiesen bekam …«

»Diese Frauenzimmer sind sehr gefährlich,« sagte Frau von Sérizy, die durch das Glas Esthers Loge anstarrte. »Sie werden ihn zugrunde richten, denn ich habe gehört, daß sie eben so kostspielig sind, wenn man sie bezahlt, als wenn man sie nicht bezahlt.«

»Für ihn nicht …« versetzte der junge Herzog, und spielte den Erstaunten. »Geld kosten sie ihm nicht, ja, sie würden ihm sogar im Notfalle welches geben, denn alle laufen ihm nach.«

Die Gräfin hatte ein nervöses Zucken am Mund bekommen, das nicht zu ihren verschiedenen Formen des Lächelns zählen konnte.

»Also,« sagte Esther, »komm' heut nacht um zwölf, und bring Blondchen und Rastignac mir. Wir wollen wenigstens zwei unterhaltsame Leute da haben und doch nicht mehr als neun sein.«

»Man müßte ein Mittel finden, um Europa durch den Baron holen zu lassen … etwa unter dem Vorwande, daß Asien vor dem Essen benachrichtigt werden muß. Dann kannst du ihr Bescheid sagen, was mir geschehen ist, damit Carlos erfährt, daß wir den Nabob dabei haben.«

»So wollen wir es machen,« sagte Esther.

Peyrade sollte sich also, wahrscheinlich ohne es zu wissen, mir seinem Gegner unter einem Dache befinden. Der Tiger kam in die Löwenhöhle, und der Löwe war von seinen Wachen umgeben. –

Als Lucien in Frau von Sérizys Loge zurückkam, wandte sie nicht den Kopf, lächelte ihm nicht zu und nahm ihr Kleid nicht zur Seite, um ihm neben sich Platz zu machen, sondern tat, als beachtete sie ihn gar nicht. Aber Lucien bemerkte an dem Zittern ihres Opernglases, daß die Gräfin die Beute einer der furchtbaren Erregungen war, mit denen man unerlaubtes Glück büßt. Trotzdem kam er an die Brüstung der Loge und setzte sich neben ihr in die andere Ecke, so daß ein kleiner Zwischenraum zwischen ihnen blieb. Erst stützte er den rechten Ellenbogen auf die Brüstung, dann wandte er sich ihr dreiviertel zu und wartete auf ein Wort. Als der halbe Akt zu Ende war, hatte die Gräfin noch nichts gesagt, ihn noch nicht einmal angeblickt. Endlich meinte sie: »Ihr Platz ist doch in der Loge von Fräulein Esther …«

»Ich gehe dorthin,« sagte Lucien und ging hinaus, ohne die Gräfin anzusehen. –

»Ach, meine Liebe,« begann Frau Du Val-Noble, als sie in Esthers Loge mit Peyrade eintrat, den Nüßingen nicht erkannte, »ich bin entzückt, dir Mr. Samuel Johnson vorzustellen. Er ist ein Bewunderer von Nüßingens Gaben.«

»Wirklich?« fragte Esther Peyrade lächelnd.

»Ou ja, sähr!« bestätigte dieser.

»Nun, Baron, dann wird es ja sehr unterhaltsam sein, Sie beide von Geld plaudern zu hören. Ihre Aussprache paßt wundervoll zu seinem Kauderwelsch. Also müssen Sie uns schon das Vergnügen machen, bei mir zu essen … Nichts kittet die Leute so zusammen, wie das Wachs der Champagnerflaschen. Also kommen Sie heute abend, es sind sehr nette Leute da! – Und du, kleiner Friedrich, flüsterte sie dem Baron ins Ohr, »nimm deinen Wagen, fahre heim und hole mir Europa, mit der ich noch ein paar Worte wegen des Abendessens reden muß … Ich habe Lucien aufgefordert, und er wird noch zwei geistreiche Leute mitbringen … – Wir werden den Engländer hübsch hineinlegen,« sagte sie Frau Du Val-Noble ins Ohr. Peyrade und der Baron ließen die beiden Frauen allein.

 

Schattenseiten.

»Ach, meine Liebe, wenn du den Kerl anschmieren kannst, dann hast du viel Geist,« stöhnte Frau Du Val-Noble.

»Wenn's nicht geht, leihe ich ihn mir für acht Tage, meinte Esther lachend.

»Nein, du behältst ihn keinen halben Tag,« erwiderte die Val-Noble. »An dem esse ich ein so hartes Brot, daß ich mir die Zähne ausbeißen könnte. Nie in meinem Leben werde ich es wieder übernehmen, einen Engländer glücklich zu machen … Das sind lauter kalte selbstsüchtige Kerle, verkleidete Schweine … Er bewahrt selbst in Augenblicken, wo alle andern Männer mehr oder weniger zutunlich sind, eine eisige Kühle. Und dabei behandelt er mich mit einer Achtung, die jede Frau wahnsinnig machen muß.«

»Wieso? Ist er ohne Achtung?« lächelte Esther.

»Im Gegenteil, Liebste! Dies Ungeheuer hat mich noch nie geduzt! Immer redet er mich mit ›gnädige Frau‹ an.«

»Was gibt er dir denn für diese Dienste?«

»Ach, nichts, meine Liebe, – fünfhundert Franken im Monat und dann bezahlt er noch den Wagen, aber was für einen! … Im übrigen bringt er mich mit seiner Hochachtung um. Keine Laune erschüttert ihn. Mit seiner blassen, trocknen Kälte bezeigt er mir soviel Achtung, wie einem Neger – keine Herzenssache, alles Prinzipien.«

»Ich würde den Chinesen ruinieren!« lachte Esther. »Gemeiner kann man wirklich nicht sein.«

»Ruinieren?« meinte Frau Du Val-Noble. »Dazu müßte er mich doch lieben! Von ihm könntest selbst du keine zwei Heller fordern. Er würde dich auch anhören und in britischer Art, die zu Ohrfeigen herausfordert, dir sagen, daß er dich für das bißchen Liebe, die seine Jammerexistenz aufbringen kann, reichlich bezahlt!«

»Aber dann hat dein Nabob doch sicher irgendeine Absicht!«

»Das meinte Adele auch. Vielleicht hat er sich in den Kopf gesetzt, sich den Haß einer Frau zuzuziehen, damit sie ihn nach einer Weile verabschiedet. Oder er will mit Nüßingen Geschäfte machen und hat mich genommen, weil er uns befreundet wußte. Das wenigstens glaubt Adele, und deshalb stelle ich ihn dir heute abend vor.«

»Sagst du ihm denn nicht bisweilen die Wahrheit?«

»Versuche du es, – wenn du es fertig kriegst, bist du schlau. Man könnte ihn links unter der Brust operieren, ohne daß es ihm Schaden täte. Ich glaube, seine Eingeweide sind aus Blech. Wenn man ihn mit seinen steifen Manieren sieht, könnte man sagen: die Frau wird angebetet.«

»Und da beneidet man uns!« rief Esther.

»Ja, – beneiden! Wir haben ja alle mehr oder weniger im Leben erfahren, wie wenig man sich um uns schert. Aber niemals bin ich von der Brutalität so grausam mißachtet worden, wie von der Hochachtung dieses Schlauches. Er mißbraucht sogar meinen Wagen, denn er fährt öfter darin als ich … Ach, wenn wir ihn heut abend wenigstens unter den Tisch trinken könnten! … Aber der säuft ja zehn Flaschen und ist noch kaum etwas angeheitert. Ach, wenn ihn Nüßingen doch irgendwie einwickeln könnte, dann wäre ich wenigstens gerächt! An den Bettelstab müssen wir ihn bringen! …«

Europa, die Nüßingen inzwischen geholt hatte, steckte ihren Schlangenkopf durch die Tür und verschwand sofort, nachdem ihre Herrin ihr einige Worte ins Ohr geflüstert hatte.

 

Die Schlangen verwickeln sich.

Um elf ein halb Uhr abends hielten in der Sankt-Georgstraße vor der Tür der berühmten Kurtisane fünf Wagen: der von Lucien, der Rastignac, Blondchen und Bixiou brachte, der von Du Tillet, der des Barons von Nüßingen, der von dem Nabob und der von Florine, die Du Tillet herangeholt hatte. Vor den dreifach verschlossenen Fenstern hingen die Falten prächtiger chinesischer Teppiche. Um eins wurde das Essen angerichtet, die Kerzen flammten, und der Salon und der Speisesaal entfalteten all ihre Pracht. Alles rechnete auf eine der zügellosen Nächte, denen nur die drei Frauen und diese Männer standhalten konnten. – Zuerst wurde gespielt, denn es galt, noch etwa zwei Stunden zu warten.

Du Tillet, Nüßingen, Peyrade und Rastignac setzten sich an den Whisttisch, die andern plauderten beim Feuer und Lucien blätterte in einem prächtigen Werk mit Kupferstichen.

»Gnädige Frau, es ist angerichtet,« meldete Paccard in großartiger Livree.

Peyrade kam neben Florine und so hatte er auf der anderen Seite Bixiou, dem Esther anempfohlen hatte, den Nabob zu maßlosem Trinken zu bringen. Bixiou besaß die Gabe, ohne Grenzen trinken zu können. Niemals in seinem ganzen Leben hatte Peyrade solchen Glanz gesehen, solche Küche genossen, sich an so hübschen Frauen ergötzt.

»Am heutigen Abend werde ich für die tausend Taler schadlos gehalten, die mich die Val-Noble schon kostet,« dachte er. »Und übrigens habe ich ihnen schon tausend Franken abgewonnen.«

»Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen!« rief ihm Frau Du Val-Noble zu, die neben Lucien saß und mit einer Bewegung auf die Pracht des Speisesaales wies.

Esther hatte Lucien neben sich gesetzt und hielt seinen Fuß unter dem Tisch zwischen den ihren. Die Val-Noble guckte Peyrade an, der den Blinden spielte und fuhr fort:

»Hören Sie, so sollten Sie mir ein Haus einrichten. Wenn man millionenschwer aus Indien kommt, und mit einem Nüßingen Geschäfte machen will, stellt man sich auf gleichen Fuß mit ihm.«

»Aoh, ich bin aus die temperance society …«

»Also dann werden Sie ja ganz nett trinken« meinte Bixiou, »denn in Indien ist es heiß, Onkelchen!« Bixious Spaß während des Essens bestand darin, Peyrade als seinen Onkel aus Indien zu behandeln.

»Frau Du Val-Noble hat mer gesagt, daß Se haben Absichten …?!« erkundigte sich Nüßingen und sah Peyrade prüfend an.

»Das wollte ich gerade hören,« sagte Du Tillet zu Rastignac, »wie die beiden Radebrecher zusammen reden.«

»Sie werden sehen, die werden sich schließlich verstehen, bemerkte Bixiou, der ahnte, was Du Tillet gesagt hatte.

»Sir Baronet, ich hab' mir gedacht eine kleine Spekulation, – oah, very bequem … sähr viel profitable …«

»Passen Sie auf,« flüsterte Blondchen Du Tillet zu, »gleich redet er vom Parlament und der englischen Regierung.«

»Das seien in China … für deï Opium …«

»Ach mit Opium haben Sie gehandelt?!« rief Frau Du Val-Noble. »Jetzt verstehe ich, warum Sie so verblödet wirken. Ihnen ist etwas davon im Herzen verblieben …«

»Seh'n Se,« rief der Baron dem angeblichen Opiumhändler zu, »Ihnen geht's wie mir: Millionäre kennen Frauen nicht verliebt machen!«

»Aoh, ick lieben Madam sähr und oft,« meinte Peyrade.

»Immer wegen der Mäßigkeit!« bestätigte Bixiou, der Peyrade die dritte Flasche Bordeaux eingetrichtert hatte und ihm eben eine Flasche Portwein langte.

»Aoh!« rief Peyrade, »das ist very Wein aus Portugal of England!«

Blondchen, Du Tillet und Bixiou lächelten sich an. Peyrade hatte die Gabe, alles zu travestieren, selbst den Geist. Nur selten behauptet ein Engländer nicht, daß selbst Gold und Silber in England besser (very finer) sind als sonst wo.

Esther und Lucien waren ganz sprachlos vor so vollkommener Verkleidung, Sprache und Kühnheit. So tranken und aßen sie plaudernd und lachend, bis es vier Uhr morgens war. Bixiou glaubte einen Tafelsieg davongetragen zu haben. Aber als er eben seinem Onkelchen zu trinken anbot und vor sich hin sagte: »Ich habe England besiegt!« da erwiderte Peyrade dem kecken Spötter ein: »Immer zu, mein Bursch!« das nur Bixiou hörte.

»He! ihr andern, der ist so viel Engländer wie ich! mein Onkel ist Gascogner! Einen andern konnte ich ja auch gar nicht haben!« Bixiou war mit Peyrade allein, und so hörte niemand weiter diese Enthüllung. Peyrade fiel vom Stuhl zur Erde. Sofort packte ihn Paccard und trug ihn in eine Mansarde hinauf, wo er in tiefen Schlaf fiel.

Um sechs Uhr abends fühlte sich der Nabob durch ein nasses Tuch geweckt, mit dem ihm das Gesicht gewaschen wurde. Er sah sich auf einem schlechten Gurtbett Gesicht zu Gesicht mit Asien, die eine Maske und einen schwarzen Domino trug.

»Aha, Papa Peyrade, also nun wollen wir beide abrechnen!« sagte sie.

»Wo bin ich?« fragte er und blickte um sich.

»Hören Sie mir zu, dann werden Sie schon nüchtern werden,« versetzte Asien. »Lieben Sie auch nicht Frau Du Val-Noble, so lieben Sie doch Ihre Tochter, nicht wahr?«

»Meine Tochter?« brüllt Peyrade.

»Ja, Fräulein Lydia … Nämlich, – sie ist nicht mehr in der Spatzengasse; sie wurde entführt.«

Peyrade entschlüpfte ein Seufzer wie einem Soldaten, der auf einem Schlachtfelde einer schweren Verwundung erliegt.

»Während Sie den Engländer spielten, hat jemand Peyrade gespielt. Ihre kleine Lydia glaubte ihrem Vater zu folgen, und jetzt ist sie sicher untergebracht … Oh, die finden Sie nie mehr, – es sei denn, daß Sie Ihr Unrecht wieder gut machen …«

»Was für ein Unrecht?«

»Gestern wurde Herrn Lucien von Rubempré beim Herzog von Grandlieu die Tür gewiesen. Das stammt von deinen Ränken und dem Manne, den du uns auf den Hals geschickt hast. Kein Wort! Hör zu!« sagte Asien, als sie Peyrade den Mund auftun sah.

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

»Du bekommst deine Tochter rein und makellos erst an dem Tage zurück,« fuhr Asien fort, indem sie mit jedem Wort jeden Gedanken unterstrich, »nachdem Herr von Rubempré verheiratet mit Fräulein Clotilde die Kirche verläßt. Ist binnen zehn Tagen Lucien von Rubempré nicht wie in der letzten Zeit gern im Hause Grandlieu aufgenommen, dann stirbst du eines gewaltsamen Todes, ohne daß dich etwas vor diesem drohenden Streich schützen könnte; und wenn du getroffen bist, wirst du Zeit haben, vor dem Tode über die Gewißheit nachzudenken: ›Meine Tochter ist den Rest ihres Lebens eine Prostituierte!‹ Du bist zwar dumm genug gewesen, diese Beute in unsern Klauen zu lassen, hast aber immerhin Geist genug behalten, über diese Mitteilung unserer Oberleitung nachzudenken. Belle nicht, sage kein Wort, zieh dich bei Contenson um, geh heim und laß dir von Katt berichten, daß deine kleine Lydia auf deine Anordnung hin auf die Straße gegangen und nicht wiedergekehrt ist. Klagst du oder machst du einen Schritt, so beginnt man mit dem, was ich dir als Ende für deine Tochter angekündigt habe: sie ist Marsay versprochen. Bei Vater Canquoëlle darf man keine Redensarten machen oder Handschuhe anziehen, nicht wahr? … Also schieb' ab und hüte dich, unsere Angelegenheiten weiter zu stören.«

Asien ließ Peyrade in einem wahrhaft beklagenswerten Zustand. Jedes Wort war ein Keulenschlag gewesen. Zwei Tränen standen dem Spion in den Augen, zwei andere Tränen unten an den Backen hingen durch feuchte Spuren mit ihnen zusammen. Einen Augenblick später steckte Europa den Kopf hinein: »Mr. Johnson wird zum Essen erwartet.«

Peyrade antwortete nicht, ging hinab, eilte durch die Straßen zu einer Droschkenhaltestelle, jagte zu Contenson, sagte ihm aber kein Wort, sondern zog sich als Vater Canquoëlle an und war um acht Uhr daheim. Pochenden Herzens stieg er die Treppe hinauf.

Als die Flämin ihren Herrn hörte, fragte sie ihn ganz unschuldsvoll: »Nun, wo ist denn das gnädige Fräulein?«

Der alte Spion mußte sich stützen. Dieser Schlag ging über seine Kräfte. Er trat bei der Tochter ein, fand das Zimmer leer und brach ohnmächtig zusammen, als er Katts Bericht hörte. Die Einzelheiten dieser Entführung waren so geschickt erdacht, als wenn er sie selbst erfunden hätte.

»Vorwärts,« sagte er sich, »man muß nachgeben, später werde ich mich rächen. Jetzt erst zu Corentin. Wirklich das erste mal, daß wir Gegner finden. Corentin läßt den hübschen Bengel sich ruhig verheiraten, und mag's auch mit Kaiserinnen sein, wenn er will … Ja, ich verstehe, daß meine Tochter ihn auf den ersten Blick geliebt hat … O ja, der spanische Priester kennt sich aus … Nur Mut, Papa Peyrade, laß deine Beute fahren!«

Der arme Vater ahnte nicht, welch furchtbarer Schlag ihm bevorstand.

Als er zu Corentin kam, öffnete ihm Bruno, der Diener der das Vertrauen seines Herrn genoß und Peyrade kannte. Er antwortete: »Der gnädige Herr ist abgereist.«

»Für wie lange?«

»Für zehn Tage.«

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht.«

»Mein Gott, ich werde blöd! ich frage wohin … Als ob wir ihnen das sagten!« dachte er.

 

Im Gasthaus ›Zum guten Stern‹..

Einige Stunden, bevor Peyrade in seiner Mansarde der Sankt-Georgstraße geweckt wurde, stellte sich Corentin dem Herzog von Grandlieu vor. Im Knopfloch seines schwarzen Rockes prangte das Band der Ehrenlegion, er hatte sich als Greis hergerichtet mit gepudertem Haar, faltigem, bleifarbenem Gesicht und Augen, die hinter einer Schildpattbrille verborgen waren. Kurz, er sah wie ein alter Bureauchef aus. Als er seinen Namen (Herr von Saint-Denis) nannte, wurde er beim Herzog eingeführt und traf dort Derville, der einen eben diktierten Brief nachlas. Der Herzog nahm Corentin beiseite, um ihm darzulegen, was Corentin längst wußte. Saint-Denis hörte kühl und achtungsvoll zu, während er mit Vergnügen diesen Herrn studierte. So große Herrn sind mit Untergebenen derart naiv, daß Corentin nicht viel zu fragen brauchte, um den Herzog Unverschämtheiten hervorsprudeln zu lassen.

»Wenn Sie mir vertrauen wollen,« wandte sich Corentin an Derville, nachdem er ihm vorgestellt worden war, »dann fahren wir heut abend gleich mit der Eilpost nach Angoulême. Länger wie sechs Stunden brauchen wir uns nicht aufzuhalten, um die nötigen Erkundigungen einzuziehen. – Habe ich Euer Herrlichkeit recht verstanden, dann braucht man doch bloß zu fragen, ob Herrn Rubemprés Schwester und Schwager imstande sind, ihm zwölfhunderttausend Franken zu geben?« fragte er, und blickte den Herzog an.

»Ganz recht,« erwiderte der Pair von Frankreich.

»Wir können also in vier Tagen zurück sein, ohne unsere Angelegenheiten übermäßig lange zu vernachlässigen.«

»Das war mein einziges Bedenken, das ich Seiner Herrlichkeit äußerte,« versetzte Derville. »Jetzt ist es vier Uhr … um acht Uhr bin ich bereit … Aber werden wir Plätze finden?«

»Dafür verbürge ich mich,« sagte Corentin. »Seien Sie nur um acht Uhr im Posthof.«

»Meine Herrn,« erklärte der Herzog gar huldvoll, »noch kann ich Ihnen ja nicht danken …«

Corentin und der Advokat betrachteten dies Wort als eine Verabschiedung, grüßten und gingen hinaus. Und gerade, als Peyrade Corentins Diener ausfragte, saßen Herr von Saint-Denis und Derville in der Eilpost nach Bordeaux und beobachteten sich gegenseitig, schweigend, während sie aus Paris hinausrollten. Am nächsten Morgen zwischen Orleans und Tours wurde Derville vor langer Weile geschwätzig, und Corentin ging darauf ein, ließ ihn aber in dem Glauben, daß er zur Diplomatie gehöre und Generalkonsul zu werden hoffe. Am zweiten Tage hielten sie in Mansle zum großen Erstaunen des Anwalts, der nach Angoulême zu fahren erwartete.

»Wir werden hier hinreichende Erkundigungen einziehen können, denn ich habe den Postkutscher ausgefragt,« sagte Corentin. »Er ist aus Angoulême und erzählte, daß Frau Séchard in Marsac wohnt, und das liegt nur eine Meile von Mansle.«

Der Gasthof hieß »Zum guten Stern«. Er gehörte einem der fetten Kerle, die man jedesmal nicht mehr wiederzusehen fürchtet, und die zehn Jahre später doch immer noch mit genau denselben Fleischmassen, derselben Mütze, denselben fettigen Haaren in der Tür stehen. Alle rühmen ihren feinen Wein und zwingen einen, Landwein zu trinken. Aber Corentin hatte schon von Jugend auf gelernt, solchem Herbergsvater bedeutsamere Dinge zu entlocken als zweifelhafte Gerichte. Er spielte den leicht zu befriedigenden Menschen, der ganz und gar dem geschicktesten Koch von Mansle vertraute. Er ließ sich im Nebenzimmer anrichten, und als die Frau des Wirts aus den höheren Regionen herniederstieg, weil sie hörte, daß die Post Gäste für die Nacht abgesetzt hatte, fragte er sie:

»Ist's noch weit nach Marsac?«

Die Herbergsmutter fand Zeit, sich das rote Bändchen im Knopfloch zu betrachten und meinte dann: »Im Wagen eine kleine halbe Stunde.«

»Glauben Sie, daß Herr und Frau Séchard im Winter dort sind?«

»Sicher, denn sie leben dort das ganze Jahr …«

»Jetzt ist's fünf Uhr … um neun werden sie doch noch auf sein?«

»Ach, sogar bis zehn. Sie haben alle Abend Gäste: den Pfarrer, den Arzt …«

»Sind das anständige Leute?« erkundigte sich Derville.

»Aber gewiß, die Crème!« erwiderte die Herbergsmutter. »Ehrliche, redliche Menschen, und durchaus nicht streberhaft. Herrn Séchard geht's recht gut, es heißt sogar, er hätte Millionen haben können, wenn er sich nicht hätte eine Erfindung rauben lassen, irgendeine Papiersache, die jetzt von den Brüdern Cointet ausgebeutet wird …«

»Ach ja, die Cointets!« nickte Corentin.

»Schweig doch,« mischte sich der Wirt ein, »was geht es die Herrn an, ob Herr Séchard Ansprüche auf eine Papiererfindung hat. Die Herrn sind keine Papierhändler. – Wenn die Herrn bei mir übernachten wollen, dann wollen sie sich bitte hier in das Buch einschreiben,« wandte er sich an die beiden Reisenden.

»Teufel! Teufel! Ich dachte, die Séchards sind steinreich, meinte Corentin, während Derville ihre Namen einschrieb.

»Manche behaupten, sie wären Millionäre,« versetzte der Wirt. »Aber Zungen am Schwätzen hindern, hieße einen Fluß im fließen hemmen. Vater Séchard hat, wie es heißt, für zweihunderttausend Franken Gutsbesitz hinterlassen, – für einen, der als Arbeiter angefangen hat, recht nett. Und ebenso viel dürfte er erspart haben, denn zehn bis zwölftausend Franken bezieht er wohl aus seinem Besitz. Angenommen, er hat sein Geld zehn Jahre liegen lassen, dann stimmt's. Hat er aber, wie man behauptet, Wucher getrieben, dann sind's dreihunderttausend. Von fünfhunderttausend zu einer Million ist noch ein ganzes Ende Weges. Den Unterschied möchte ich besitzen.«

»Also Herr Séchard und seine Frau sind nicht zwei- bis dreifache Millionäre?« meinte Corentin.

»So viel vermutet man ja nur bei den Herrn Cointet, die seine Erfindung ausgebeutet und ihm nur zwanzigtausend gegeben haben!« rief die Herbergsmutter. »Wo sollen die anständigen Leute die Millionen hergeholt haben? Solange der Vater lebte, ging es ihnen furchtbar knapp. Ohne den Verwalter Kolb und seine Frau wäre es ihnen recht schwer geworden. Was hatten sie denn schon? Tausend Taler Rente …«

Corentin nahm Derville beiseite und sagte: » In vino veritas! Die Wahrheit findet man in der Kneipe. Für mich ist ein Gasthaus das Familienregister der Gegend: kein Notar in einer kleinen Stadt weiß besser Bescheid wie der Wirt. Aber wir brauchen ja nicht auf diesen Bericht zu bauen, obgleich es hier bekannt sein müßte, wenn in solcher kleinen Stadt zwölfhunderttausend Franken für ein Gut der Rubemprés verschwunden wären. Wir bleiben hier, denk' ich, nicht lange, denn ich habe ein ganz natürliches Mittel gefunden, dem Ehepaar Séchard die Wahrheit zu entlocken. Ich rechne damit, daß Sie mit Ihrer Eigenschaft als Anwalt meine kleine List unterstützen, durch die ich einen klaren Einblick in die Vermögenslage gewinnen will.«

Dann wandte er sich an die Herbergsmutter: »Nach dem Essen fahren wir zu Herrn Séchard, – richten Sie inzwischen die Betten. Wir wollen jeder ein eigenes Zimmer …«

»Es ist für die Herrn gedeckt,« sagte der Wirt.

»Wo zum Teufel hat der Jüngling das Geld her,« sagte Derville zu Corentin, als sie sich zu Tisch setzten. »Sollte der Anonymus recht damit haben, daß er es von einer schönen Dirne bekommt?«

»Das wäre Gegenstand einer anderen Untersuchung,« meinte Corentin. »Er lebt, wie mir der Herr Herzog von Chaulieu gesagt hat, mit einer getauften Jüdin, die sich für eine Holländerin ausgibt und Esther van Bogseck nennt.«

»Welch seltsamer Zufall! ich suche die Erbin eines Holländers Gobseck, also derselbe Name mit vertauschten Buchstaben …«

»Also, dann werde ich Ihnen nach meiner Rückkehr über den Zusammenhang Auskünfte verschaffen.«

Eine Stunde später waren die beiden Beauftragten des Hauses Grandlieu nach Herrn und Frau Séchards Haus, der Verberie, unterwegs.

 

Eine von Corentins tausend Mausefallen.

Nie war Lucien von so tiefer Bewegung ergriffen worden als in der Verberie beim Vergleich seines Geschickes mit dem seines Schwagers. Den Anblick, den er einige Tage zuvor genossen hatte, sollten nun auch die beiden Pariser kennen lernen: dort atmete alles Ruhe und Wohlstand.

Unmittelbar vor dem Eintreffen der beiden Fremden saßen im Gastzimmer der Verberie vier Personen: der Pfarrer von Marsac, ein junger fünfundzwanzigjähriger Priester, Marron, der Landarzt, der Bürgermeister und ein alter Oberst außer Diensten. Während des Winters beschäftigten diese Leute sich alle Abend mit einem unschuldigen Boston oder den letzten Zeitungen. Frau Séchard war sehr wohltätig und genoß ebensoviel Achtung wie Liebe. Ihre eindrucksvolle Schönheit stand damals auf dem Höhepunkte ihrer Entwicklung. Sie war etwa sechsundzwanzig Jahre alt und hatte die Frische der Jugend inmitten dieser Ruhe und Bequemlichkeit des Landlebens bewahrt. Um sie zu malen, könnte man vielleicht sagen, daß während ihres ganzen Lebens ihr Herz nur für ihre Kinder oder ihren Mann heftiger geschlagen hatte. Der einzige Zoll, den der Haushalt dem Unglück zu zahlen hatte, entstammte, wie man ahnen wird, dem tiefen Kummer über Luciens Leben, in dem Eva Séchard geheimnisvolle Dunkelheiten ahnte und um so mehr fürchtete, als Lucien bei seinem letzten Besuche jede Frage seiner Schwester kurz mit der Bemerkung abgeschnitten hatte, daß ehrgeizige Leute betreffs ihrer Mittel nur sich selbst Rechnung zu geben hätten. Es war zwischen ihr, ihrem Manne und ihrem Bruder zu einem recht ernsten Auftritt gekommen, der im Herzen dieses stillen edlen Wesens schreckliche Zweifel zurückließ.

Das Innere des Hauses war gleich dem Äußeren im Laufe der Zeit neuhergerichtet und umgestaltet worden und ohne jeden Luxus fühlbar gemütlich. Das erwies schon ein flüchtiger Blick auf das Gastzimmer, in dem der Kreis sich eben versammelt hatte. Frau Séchard, die noch um ihren Vater Trauer trug, arbeitete neben dem Kamin an einer Stickerei, bei der ihr Frau Kolb half. Das war die Verwaltersfrau, auf der alle Wirtschaftskleinigkeiten ruhten.

Eben kam auch noch der Witwer Courtois, der Müller, hinzu, der sich vom Geschäft zurückziehen wollte und seinen Besitz gut zu verkaufen gedachte, denn er wußte, warum Frau Eva auf diesen Besitz ein Auge geworfen hatte.

»Da hält ein Wagen vor dem Haus an,« sagte er, »und es scheint, es ist einer hier aus der Gegend …«

»Gnädige Frau,« berichtete Kolb, ein großer, dicker Elsässer, »da kommt ein Anwalt aus Paris und wünscht den Herrn zu sprechen.«

»Ein Anwalt …« rief Séchard. »Das Wort macht mir Leibschneiden.«

»Danke,« meinte Cachan, der Bürgermeister von Marsac, der zwanzig Jahre lang Anwalt gewesen war und einst den Auftrag gehabt hatte, gegen Séchard vorzugehen.

»Ein Anwalt aus Paris?« meinte Courtois. »Haben Sie denn in Paris Geschäfte? Oder ist's Ihr Bruder, der dort lebt?«

»Hoffentlich hat es nichts mit der Erbschaft von Vater Séchard zu tun,« meinte Cachan. »Der gute Mann hat dunkle Geschichten angestellt …«

Als Corentin und Derville mit höflichem Gruß eingetreten waren und ihre Namen genannt hatten, baten sie, mit Frau Séchard und ihrem Manne unter vier Augen reden zu dürfen.

»Gern,« versetzte Séchard. »Aber handelt es sich um Geschäfte?«

»Ausschließlich um den Nachlaß Ihres Herrn Vaters,« erwiderte Corentin.

»Dann erlauben Sie, daß der Herr Bürgermeister, ein früherer Anwalt aus Angoulême, der Besprechung beiwohnt.«

»Sie sind Herr Derville?« fragte Cachan und blickte Corentin an.

»Nein, dieser Herr hier,« versetzte Corentin und wies auf den Anwalt.

»Aber was brauchen wir in mein Kabinett zu gehen, wo nicht geheizt ist,« rief Séchard. »Wir sind ja unter uns, haben vor unsern Nachbarn nichts zu verbergen … Unser Leben liegt vor aller Augen.«

»Im Leben Ihres Herrn Vaters aber gibt es einige geheimnisvolle Punkte, die Sie vielleicht nicht gern offen besprochen sehen werden,« meinte Corentin.

»Etwa etwas, über das wir erröten müßten?« erschrak Eva.

»O nein, nur ein Jugendstreich,« versetzte Corentin, der mit größter Kaltblütigkeit eine seiner Mausefallen aufklappte. »Ihr Herr Vater hatte Sie mit einem älteren Bruder beschenkt …«

»Sieh einer den alten Duckmäuser!« rief Courtois. »Für Sie, Herr Séchard, hatte er nicht viel übrig, und da hat er Ihnen diese kleine Überraschung aufgespart. Der Pfiffikus … Ach, jetzt verstehe ich schon was er damals meinte, als er zu mir sagte: ›Wenn ich begraben bin, werdet ihr nette Überraschungen erleben‹.«

»O, beruhigen Sie sich nur,« wandte sich Corentin an Séchard, während er mit einem Seitenblick Eva studierte.

»Ein Bruder!« rief der Arzt. »Dann ginge ja Ihre Erbschaft in zwei Teile!«

Derville schien angelegentlichst die schönen Kupferstiche in den Wandfüllungen zu betrachten. Corentin wurde der Überraschung gewahr, die sich auf dem schönen Antlitz von Frau Séchard kundtat und wiederholte deshalb: »Beruhigen Sie sich, gnädige Frau! Es handelt sich nur um ein natürliches Kind, dessen Ansprüche nicht dieselben sind wie die eines ehelichen. Es lebt aber in tiefstem Elend und sein Anrecht bemißt sich nach dem Umfange der Erbschaft … Die Millionen, die Ihr Herr Vater hinterlassen hat …«

Bei dem Worte ›Millionen‹ ertönte ein einstimmiger Schrei sämtlicher Anwesenden. In diesem Augenblick betrachtete Derville die Kupferstiche nicht mehr.

»›Millionen‹ hätte Vater Séchard hinterlassen?« erkundigte sich der dicke Courtois. »Wer hat Ihnen denn das gesagt? Wohl irgend ein Bauer …«

»Sie gehören ja nicht zum Fiskus,« meinte Cachan, »also kann man mit Ihnen offen reden.«

»Seien Sie beruhigt,« versetzte Corentin, »ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich kein Fiskalbeamter bin.«

Cachan, der allen einen Wink gegeben hatte, zu schweigen, äußerte seine Befriedigung.

»Wenn es sich auch nur um eine Million handeln würde,« fuhr Corentin fort, »dann wäre der Anspruch des Kindes noch immer recht hübsch. Wir kommen auch nicht in der Absicht, zu prozessieren, sondern wir wollen Ihnen vorschlagen, hunderttausend Franken zu geben, dann können wir gleich wieder heimkehren.«

»Hunderttausend Franken!« unterbrach ihn Cachan.

»Aber Vater Séchard hat doch nur ein paar Morgen Weinberge, Wiesen und fünf kleine Meierhöfe hinterlassen … und außerdem …«

»Dreihunderttausend Franken,« ergänzte Séchard, trotzdem ihn Courtois und Cachan durch Winke am Reden hindern wollten. »So steigt der Wert der Erbschaft auf etwa fünfhunderttausend Franken.«

»Herr Cachan,« erkundigte sich Eva, »welchen gesetzlichen Anteil kann ein natürliches Kind geltend machen?«

»Gnädige Frau,« versetzte Corentin, »wir sind keine Türken, und wollen von Ihnen bloß die zuverlässige Versicherung, daß Sie nicht mehr als hunderttausend Taler bei der Erbschaft in bar erhalten haben. Dann werden wir uns schon verständigen.«

»Geben Sie erst Ihr Ehrenwort,« versetzte der ehemalige Anwalt, und wandte sich an Derville, »daß Sie Anwalt sind.«

»Hier ist mein Paß,« erwiderte Derville, und reichte Cachan eine zusammengefaltete Urkunde. »Außerdem können Sie mir glauben, daß dieser Herr dort kein Fiskalbeamter ist. Wir haben nur ein gewichtiges Interesse, die Wahrheit über den Nachlaß Séchard zu erfahren, und die kennen wir nun.«

Er nahm Eva bei der Hand und führte sie höflich in eine Ecke des Zimmers, und dort sagte er leise: »Gnädige Frau, wäre die Ehre und die Zukunft des Hauses Grandlieu nicht mit dieser Frage verflochten, dann würde ich mich nicht zu dem Schachzuge bereitgefunden haben, den dieser ordengeschmückte Herr erdacht hat. Sie werden ihn aber entschuldigen, denn es galt, eine Lüge aufzudecken, mit deren Hilfe Ihr Herr Bruder diese adlige Familie hintergangen hat. Vermeiden Sie es also künftig, den Anschein zu erwecken, als wenn Sie zwölfhunderttausend Franken hergeliehen hätten, damit Ihr Bruder den Rubempréschen Besitz zurückkaufen konnte …«

»Zwölfhunderttausend Franken!« rief Frau Séchard erbleichend. »Und wo hat sie der Unglücksmensch denn her?«

»Das ist's ja gerade!« meinte Derville. »Ich fürchte, die Quelle seines Vermögens ist nicht ganz sauber.«

Eva hatte Tränen in den Augen, die ihre Nachbarn bemerkten. Derville fuhr fort: »Vielleicht haben wir Ihnen einen großen Dienst erwiesen, indem wir es Ihnen unmöglich machten, bei einer Lüge mitzuwirken, deren Folgen gefährlich sein könnten.«

Er verließ Frau Séchard, die bleich, mit Tränen auf den Wangen, auf einem Stuhle niedergebrochen war, und entfernte sich mit einem Gruß aus dem Kreise.

»Nach Mansle!« befahl Corentin dem Bürschchen, das den Wagen führte.

Die Schnellpost nach Paris, die nachts hier durchkam, hatte nur einen Platz frei, und Derville bat Corentin, ihn benutzen zu dürfen, indem er dringende Geschäfte vorschob. In Wirklichkeit mißtraute er seinem Reisegefährten, dessen diplomatische Gewandtheit und Kaltblütigkeit ihm gar zu gewohnheitsmäßig schienen. So blieb Corentin drei Tage in Mansle sitzen, ohne fortzukommen und langte neun Tage nach seiner Abreise wieder in Paris an. Und all diese Tage lief Peyrade schon früh morgens in seine Wohnung, um seine Rückkehr zu erkunden. Am achten Tage hinterließ er in beiden Wohnungen einen chiffrierten Brief, um seinem Freunde die drohende Todesgefahr, Lydias Entführung und ihr angedrohtes Unglück mitzuteilen.

 

Menetekel.

Peyrade, der ohne Corentin dasaß und sich ebenso angegriffen sah, wie er sonst die andern angegriffen hatte, blieb mit Contensons Hilfe trotzdem in seiner Rolle eines Nabob. Hatten ihn auch seine unsichtbaren Feinde entdeckt, so gedachte er immerhin verständigerweise durch sein Verbleiben auf dem Schlachtfelde einige Aufklärungen erlangen zu können. Contenson hatte all seine Bekannten auf Lydias Spur gehetzt in der Hoffnung, das Haus zu entdecken, wo sie versteckt war. Aber täglich wurde die Unmöglichkeit, etwas festzustellen, deutlicher, und stündlich wuchs Peyrades Verzweiflung.

Er ließ sich mit einer Leibwache von zwölf bis fünfzehn der geschicktesten Agenten umgeben. Die Spatzengasse und die Taitboutstraße wurden bewacht, und in den letzten drei Tagen der Galgenfrist verließ Contenson den alten Polizeiveteranen keine Minute mehr. »Wenn der Spanier verreist ist, haben Sie nichts zu fürchten,« meinte er und machte Peyrade auf die Ruhe aufmerksam, die sie genossen.

»Und wenn er nicht fort ist?« versetzte Peyrade.

»Einer meiner Leute hat sich hinten auf den Wagen gesetzt, aber in Blois mußte mein Mann absteigen und konnte den Wagen nicht wieder einholen.«

Fünf Tage nach Dervilles Rückkehr wurde Lucien von Rastignac besucht.

»Ich befinde mich in der verzweifelten Lage, mein Lieber,« sagte dieser, »einen Auftrag ausführen zu müssen, der mir wegen unserer engen Beziehungen anvertraut wurde. Deine Ehe ist aufgegeben worden, und du darfst nicht mehr hoffen, das Band jemals von neuem zu schlingen. Setze nie wieder einen Fuß in das Haus Grandlieu. Willst du Clotilde heiraten, dann musst du den Tod des Vaters abwarten, und der ist viel zu eigensüchtig, um sich mit dem Sterben zu sputen. Alle Whistspieler halten lange durch. Clotilde wird mit Magdalena von Lenoncourt-Chaulieu nach Italien fahren. Das arme Mädel liebt dich so leidenschaftlich, Verehrtester, daß man sie nicht aus den Augen lassen konnte. Sie wollte dich unbedingt sehen und hatte sich sogar schon einen kleinen Fluchtplan zurechtgemacht ... Das wird dir ein Trost im Unglück sein.«

Lucien antwortete nicht. Er blickte Rastignac an.

»Ist's denn überhaupt ein Unglück?« fuhr der Landsmann fort. »Du wirst mit Leichtigkeit eine ebenso edelgeborene, sogar eine schönere junge Dame statt Clotilde finden! … Frau von Sérizy wird dich schon aus Rache vermählen, denn sie mag die Grandlieus nicht leiden, weil sie dort nie empfangen wurde. Sie hat eine Nichte, die kleine Clemence Du Rouvre …«

»Mein Lieber,« versetzte endlich Lucien, »seit unserm letzten Abendessen stehe ich mit Frau von Sérizy nicht gut; sie hat mich in Esthers Loge gesehen, hat mir einen Auftritt gemacht und ich habe sie links liegen gelassen.«

»Eine Frau über vierzig verzankt sich nicht für lange mit einem so schönen jungen Manne, wie du einer bist,« sagte Rastignac. »Ich kenne mich mit Sonnenuntergängen ein wenig aus! … Am Horizont dauert das zehn Minuten, in Frauenherzen zehn Jahre.«

»Ich warte schon seit acht Tagen auf einen Brief von ihr.«

»Geh' doch hin zu ihr!«

»Jetzt wird das wohl nicht anders gehen.«

»Kommst du wenigstens zur Val-Noble mit? Ihr Nabob gibt Nüßingen das gebotene Abendessen zurück.«

»Ich werde dabei sein und komme hin,« sagte Lucien ernst.

Am Tage nach der Bestätigung seines Unglücks (die Nachricht war Carlos durch Asien sofort übermittelt worden) begab sich Lucien mit Rastignac und Nüßingen zu dem angeblichen Nabob. Um Mitternacht waren in dem einstigen Speisesaale Esthers fast alle Mitwirkenden dieses Dramas versammelt. Asien war von Frau Du Val-Noble ohne Wissen von Peyrade und Contenson herbeigeholt worden, um ihrer Köchin zu helfen. Peyrade hatte seiner Geliebten fünfhundert Franken gegeben, damit sie ihre Sache gut machen sollte. Als er sich zu Tisch setzte, fand er in seinem Mundtuch einen kleinen Zettel, auf dem mit Bleistift stand: »Die zehn Tage sind in dem Augenblick verstrichen, wo Sie sich zu Tische setzen.« Er reichte den Zettel Contenson, der hinter ihm stand und fragte englisch: »Hast du da meinen Namen hineingesteckt?«

Contenson las im Kerzenschein dies Menetekel und steckte das Papier ein. Aber er wußte, wie schwer eine Bleiftiftschrift zu identifizieren ist, zumal wenn sie mit großen Druckbuchstaben geschrieben ist, die jede Schreibgewohnheit verbergen.

Das Abendessen verlief ohne Fröhlichkeit. Peyrade war sichtlich zerstreut, von jungen Lebemännern, die solch Essen unterhaltsam machen, befand sich in dem Kreise nur Lucien und Rastignac: Lucien war traurig und nachdenklich, Rastignac hatte vor dem Essen zweitausend Franken verloren und aß nur in dem Gedanken, sie nach dem Essen wieder einzuheimsen. Die drei Frauen wurden durch diese Kälte betroffen, starrten sich gegenseitig an, und die Langeweile raubte den Speisen allen Wohlgeschmack. Als letztes Gericht gab es Eis mit Früchten. Man weiß, die Früchte liegen sehr appetitlich oben auf dem Eis, das nicht im Ganzen als Kegel, sondern in kleinen Gläsern angerichtet wird. Das Gericht war von Frau Du Val-Noble bei Tortoni bestellt worden, dessen berühmtes Geschäft an der Straßenecke lag. Eben ließ die Köchin den Mulatten rufen, um die Eisrechnung zu bezahlen.

Contenson fand das dringliche Verlangen des Boten ungewöhnlich, lief hinunter und fuhr ihn an: »Sind Sie denn nicht bei Tortoni …?«

Sofort rannte er wieder zurück, aber Paccard hatte seine Abwesenheit benutzt, um den Gästen das Eis zu reichen. Als der Mulatte eben an die Stubentür kam, rief ihm einer der Beamten, die die Spatzengasse überwachten, von der Treppe her zu: »Nummer 27.«

»Was gibt's?« gab Contenson zur Antwort und jagte zum Treppenabsatz zurück.

»Bestellen Sie Papa, seine Tochter sei zurückgekommen, aber in was für einen Zustand, großer Gott! Er soll schnell kommen, – sie stirbt!«

Just, als Contenson in den Speisesaal zurückkam, schluckte der alte Peyrade, der übrigens ganz anständig getrunken hatte, die kleine Kirsche auf seinem Eis. Es wurde auf Frau Du Val-Noble getrunken und er goß sich sein Glas voll und leerte es. Obgleich Contenson durch die eben erhaltene Nachricht tief verwirrt war, fiel ihm beim Eintritt auf, wie aufmerksam Paccard den Nabob beobachtete. Die Augen von Frau von Champys Kammerdiener glichen zwei starren Flammen. Aber die Feststellung durfte den Mulatten nicht aufhalten: er beugte sich zu seinem Herrn nieder, als dieser gerade das geleerte Glas hinsetzte, und flüsterte. »Lydia ist zu Haus, – in bedauernswertem Zustande.«

Peyrade stieß den französischsten aller französischen Flüche so südfranzösisch aus, daß die Gäste vor Staunen starr waren. Er merkte seinen Fehler, gestand nun aber seine Verkleidung ein, indem er Contenson in gutem Französisch zurief: »Hol eine Droschke! … Ich schere mich weg.«

Alle sprangen auf.

»Wer sind Sie denn?« rief Lucien.

»Bixiou behauptete, Sie spielten den Engländer aber ich glaubte es nicht,« sagte Rastignac.

»Irgendein entdeckter Bankerotteur ist er,« meinte Du Tillet laut. »Ich dachte es mir schon …«

»Merkwürdiges Land, dies Paris!« jammerte Frau Du Val-Noble. »Ach, ich habe Pech!«

»Wer ich bin?« meinte Peyrade schon an der Tür. »Ja, das werdet ihr schon erfahren, denn wenn ich sterbe, komme ich aus dem Grabe, um euch an den Beinen zu ziehen!«

Bei den letzten Worten blickte er Esther und Lucien an und benutzte dann die allgemeine Verwunderung, um mit unglaublicher Gewandtheit zu verschwinden. Er wollte heimlaufen, ohne auf die Droschke zu warten. Auf der Straße hielt ihn Asien, die in einen großen Abendmantel gehüllt vor dem Kutschtore stand, am Arme fest und sagte mir derselben Stimme, die ihm schon einmal Unglück verkündet hatte:

»Schick nach den Sakramenten, Papa Peyrade!«

Sie verschwand in einem Wagen, der bereitstand und sie rasch wie der Wind entführte. Fünf Wagen hatten dort gestanden und deshalb konnten Peyrades Leute nichts feststellen.

 

Corentins schreckliches Gelöbnis.

Als Corentin in seinem Landhaus, einem der entlegensten Eckchen in Passy, eintraf, wo er als ein leidenschaftlicher Blumenliebhaber und im übrigen als Kaufmann galt, fand er die Nachricht Peyrades vor. Statt sich auszuruhen, stieg er in den Wagen zurück, der ihn hergebracht hatte, jagte nach der Spatzengasse und fand dort nur Katt vor. Er erfuhr durch die Flämin Lydias Verschwinden und war entsetzt über Peyrades und die eigene mangelnde Voraussicht.

»Mich kennen ›sie‹ noch nicht,« sagte er sich. »Die Leute sind zu allem fähig, und jetzt gilt es, zu erfahren, ob sie Peyrade töten. Denn dann lasse ich mich nicht sehen.«

Er ging heim, kleidete sich um und verwandelte sich in einen kleinen kränklichen Greis. In dieser Vermummung kehrte er, von seiner Freundschaft zu Peyrade gedrängt, wieder dorthin zurück. Er wollte seinen geschicktesten und ergebensten Leuten Anweisungen geben. Auf der Saint-Honoréstraße sah er vor sich ein Mädchen in Pantoffeln und in einer Bekleidung gehen, wie eine Frau sich zur Nacht herrichtet. Unter der Nachthaube entschlüpften dem armen Ding unwillkürlich von Zeit zu Zeit mit Schluchzen vermengte Klagen. Corentin überholte sie und erkannte Lydia.

»Ich bin der Freund Ihres Vaters,« sagte er mit seiner natürlichen Stimme.

»Endlich jemand, dem ich mich anvertrauen kann!« ächzte sie.

»Zeigen Sie nicht, daß Sie mich kennen, denn grausame Feinde folgen uns und zwingen mich zur Verstellung. Aber erzählen Sie mir, was Ihnen widerfahren ist …«

»Ach, das kann man nicht erzählen,« schluchzte das arme Ding. »Ich bin entehrt, verloren und kann nicht sagen wie!«

»Woher kommen Sie?«

»Ich weiß nicht. Ich lief so hastig davon, glaubte mich verfolgt, eilte durch soviel Straßen und Umwege und mußte mich schließlich nach den Boulevards erkundigen, als ich ein ehrliches Gesicht erblickte. Seit Anbruch der Nacht bin ich unterwegs.«

»Sie müssen sich jetzt ausruhen … Daheim finden Sie Ihre gute Katt …«

»Ach, für mich gibt's keine Ruhe mehr, nur noch im Grabe. Im Kloster will ich darauf harren, wenn ich zur Aufnahme würdig befunden werde …«

»Arme Kleine! Sie haben sich widersetzt? Gewiß wurden Sie eingeschläfert?«

»Ach ja, das war's! Noch eine kleine Anstrengung, damit ich ins Haus komme. Ich bin am Zusammenbrechen, meine Sinne verwirren sich …«

Corentin trug Lydia auf den Armen die Treppe hinauf, während sie bereits die Besinnung verlor.

»Katt!« rief er. Katt erschien und stieß einen Freudenschrei aus. »Freuen Sie sich nicht zu früh!« meinte er bedeutungsvoll. »Das arme Mädchen ist recht krank.«

Als Lydia auf dem Bett lag und im Kerzenschein ihr Zimmer erkannte, verfiel sie in Delirien. Erinnerungen an ihr unschuldvolles Leben mischten sich mit den Erniedrigungen der letzten zehn Tage. Corentin ging in der Stube auf und ab und betrachtete sie bisweilen. »Sie zahlt für ihren Vater! Sollte es eine Vorsehung geben? Ach, wie recht hatte ich, daß ich keine Familie haben wollte. Ein Kind ist wahrlich ein Unterpfand, das man dem Unglück anvertraut … Katt, weinen Sie nicht, davon wird das Kind nicht gesund. Holen Sie Ärzte, vor allem den Kreisarzt, und dann die Herrn Desplein und Bianchon … Das unschuldige Ding muß gerettet werden …« Er schrieb die Adressen der beiden berühmten Ärzte auf. In diesem Augenblick kam ein Mann mit dem Schritte der Gewohnheit die Treppe hinauf. Die Tür tat sich auf, Peyrade erschien schweißtriefend, mit blutunterlaufenen Augen, schnaufend. Er stürzte in die Stube und schrie: »Wo ist meine Tochter?«

Er sah Corentins traurigen Wink, folgte mit dem Blicke. Ach, welchen Schlag erlitt er, als sein Vaterherz dieses Bildes inne ward. Dicke Tränen stiegen ihm in die Augen.

»Jemand weint … das ist mein Vater,« sagte das Kind.

Lydia konnte ihren Vater noch erkennen. Sie erhob sich und warf sich vor dem Greise auf die Knie, als er eben auf einen Sessel niedersank. »Verzeih' mir, Papa!« sagte sie mit einer Stimme, die Peyrade tief ins Herz schnitt, während er einen Keulenschlag auf dem Schädel zu verspüren vermeinte.

»Ich sterbe … Ach, diese Schufte …« war sein letztes Wort.

Corentin wollte dem Freunde zu Hilfe kommen, aber der hatte schon den letzten Seufzer getan. »Vergiftet! … Ah, da kommt ja der Arzt,« rief er. Er hörte einen Wagen vorfahren.

Contenson erschien. Er hatte seine Mulattenmaske abgelegt. Wie in Erz verwandelt blieb er stehen, als er Lydia sagen hörte: »Verzeihst du mir denn nicht, Vater? Es war doch nicht meine Schuld!« Sie merkte nicht, daß der Vater tot war. »Ach, was für Augen er mir macht!«

»Man muß sie schließen,« sagte Contenson und legte Peyrade auf das Bett.

»Keine Dummheiten!« murrte Corentin. »Mir müssen ihn in sein Zimmer tragen. Seine Tochter ist halb von Sinnen und würde völlig verrückt werden, wenn sie seines Todes gewahr würde. Denn sie würde sich die Schuld daran zuschieben.«

Als Lydia ihren Vater hinaustragen sah, erstarrte sie wie in Verblödung.

»Das war mein einziger Freund!« sagte Corentin bewegt, als er Peyrade auf seinem Bette liegen sah. »Sein einziger habsüchtiger Gedanke galt der Tochter. Merk dir das, Contenson. Jeder Stand hat seine Ehre. Peyrade tat Unrecht, sich in Privatangelegenheiten zu mischen. Nun aber schwöre ich,« und Ton, Blick und Bewegung erfüllten Contenson mit Entsetzen, »ich schwöre, den armen Peyrade zu rächen! Ich werde seinen Mörder und die Schänder seiner Tochter entdecken, und meine Eigensucht wird erst befriedigt sein, wenn sie um vier Uhr morgens allesamt in voller Gesundheit um einen Kopf kürzer ihr Leben auf dem Richtplatze beschließen!«

Ilustration: Lutz Ehrenberger

»Ich werde Ihnen helfen!« sagte Contenson bewegt. Nichts ergreift ja mehr, als ein derart leidenschaftlicher Ausbruch bei solch kaltem methodischen Menschen. Und so kehrte sich auch in Contenson gleichsam das Innere um.

»Armer Vater Canquoëlle« meinte er. »Wie oft hielt er mich frei … und … nur lasterhafte Menschen können das verstehen … oft gab er mir zehn Franken, um zu spielen …«

Nach dieser Leichenrede begaben sich die beiden Rächer zu Lydia, weil sie den Arzt und Katt auf der Treppe hörten.

»Hole den Polizeikommissar,« sagte Corentin, »denn der Staatsanwalt würde hier keine Anhaltspunkte zu einer Verfolgung finden. Ein Bericht an die Präfektur aber nützt vielleicht etwas.« Dann wandte er sich an den Kreisarzt: »Nebenan liegt ein Toter, der, wie ich glaube, keines natürlichen Todes gestorben ist. Sie werden ihn vor dem Herrn Polizeikommissar untersuchen … Suchen Sie die Spuren des Giftes zu finden. Übrigens können Ihnen gleich die Herren Desplein und Bianchon helfen, die ich für die Tochter meines Freundes herbeigerufen habe …«

»In meinem Beruf brauche ich die Hilfe der Herren nicht …«

Lydia war ihrer Ermattung erlegen: als die beiden Ärzte kamen, schlief sie. Derweilen hatte der Totenarzt Peyrades Leiche geöffnet und forschte nach der Todesursache.

»Bis die Kranke geweckt ist,« wandte sich Corentin an die beiden berühmten Ärzte, »helfen Sie vielleicht einem Kollegen bei einer Todesfeststellung, die Sie sicher interessieren wird.«

»Ihr Verwandter ist am Schlagfluß gestorben,« erklärte der Kreisarzt. »Hier sind die Spuren eines furchtbaren Blutandrangs zum Gehirn …«

»Suchen Sie nach, meine Herren,« meinte Corentin, »ob es nicht Gifte gibt, die eine gleiche Wirkung haben.«

»Der Magen war überfüllt, und wenn es nicht auf chemischem Wege gelingt, läßt sich kein Gift nachweisen.«

»Ist das Anzeichen eines Schlagflusses unverkennbar, dann genügt bei dem Alter des Verstorbenen die Überfüllung des Magens vollkommen als Todesursache,« versetzte Desplein.

»Hat er das zu Haus gegessen?« fragte Bianchon.

»Nein,« versetzte Corentin, »er kam vom Boulevard hierher gelaufen und fand seine Tochter entehrt …«

»Das ist das eigentliche Gift gewesen, wenn er die Tochter liebte,« meinte Bianchon.

»Welches Gift könnte die gleiche Wirkung haben?« beharrte Corentin.

»Nur eines,« antwortete Desplein, nachdem er die Leiche sorgfältig untersucht hatte. »Ein Gift, das von Java kommt und noch wenig untersucht ist. Es wird aus Strychnosstauden gewonnen und als Waffengift benutzt …«

Der Polizeikommissar traf ein. Corentin teilte ihm seinen Verdacht mit und bat ihn, im Bericht aufzunehmen, wo und mit wem Peyrade zu Abend gegessen habe. Er erzählte von der Bedrohung Peyrades und den Ursachen, die Lydia in ihren jetzigen Zustand gebracht hatten. Dann begab er sich zum Zimmer des armen Mädchens, aber er traf die beiden Ärzte im Begriff fortzugehen.

»Nun, meine Herren?« fragte Corentin.

»Bringen Sie das Kind in einem Irrenhause unter. Vielleicht kehrt die Vernunft wieder, wenn sie niederkommt, falls sie überhaupt in anderen Umständen ist. Sonst wird sie wohl zeitlebens umdüstert bleiben. Heilung verspricht nur das Erwachen des Muttergefühls …«

Corentin zahlte jedem der Ärzte vierzig Franken in Sold und wandte sich dann zu dem Polizeikommissar, der ihn am Ärmel zupfte.

»Der Arzt behauptet, daß der Tod natürlich war,« flüsterte der Beamte. »Ich kann um so weniger einen Bericht aufsetzen, als es sich um Vater Canquoëlle handelt, der in manche dunkle Angelegenheiten verwickelt war, an die wir nicht rühren dürfen … Bisweilen sterben solche Leute auf höheren Befehl …«

»Ich heiße Corentin,« flüsterte ihm Corentin ins Ohr. Der Beamte fuhr überrascht zurück. »Also, schreiben Sie nur, das kann Ihnen später nützen; und übermitteln Sie es als vertraulichen Bericht. Ich weiß, daß das Verbrechen nicht zu erweisen geht, aber ich werde die Schuldigen ausliefern und bei einer Tat ertappen.«

Der Polizeikommissar entfernte sich grüßend.

»Fräulein singt und tanzt immer,« berichtete Katt. »Was soll man tun?«

»Ist denn etwas Neues geschehen?«

»Sie erfuhr, daß ihr Vater gestorben ist …«

»Bringen Sie Lydia in eine Droschke und fahren Sie mit ihr nach Charenton,« wies Corentin die Flämin an. »Ich werde dem Generaldirektor der Polizei schreiben, damit sie angemessen untergebracht wird … Und jetzt wir beide, Carlos Herrera!«

»Carlos?« meinte Contenson. »Der ist in Spanien.«

»Er ist in Paris,« sagte Corentin bestimmt. »In ihm steckt der spanische Geist aus den Zeiten Philipps II. Aber ich habe Fallen für jeden, selbst für Könige.«

 

Eine Falle, in die die Ratte geht.

Fünf Tage nach des Nabobs Verschwinden saß Frau Du Val-Noble um neun Uhr morgens neben Esthers Bett und weinte. Denn sie fühlte sich den Abhang des Unglücks hinuntergleiten.

»Wenn ich wenigstens hundert Louis Rente hätte! Damit kann man sich in irgendein Städtchen verkriechen und sich verheiraten …«

»Die kann ich dir beschaffen,« meinte Esther. »Du könntest doch einen Selbstmord planen! Also spiel' diese Komödie, hole dir Asien und versprich ihr zehntausend Franken für zwei schwarze Perlen dünnsten Glases, in denen ein Gift ist, das augenblicklich tötet. Die bringst du mir und ich gebe dir dafür fünfzigtausend Franken.«

»Warum verlangst du sie nicht selbst?«

»Asien würde sie mir nicht geben.«

»Sie sind doch nicht etwa für dich?! Du? Inmitten von Freude und Luxus, am Vorabend eines Festes, von dem man vielleicht zehn Jahre lang reden wird und das Nüßingen zwanzigtausend Franken kostet?!«

»Was redest du? Auf der Treppe allein werden für dreitausend Franken Rosen sein!«

»Wo hast du die zehntausend Franken?« erkundigte sich Frau Du Val-Noble.

»Mein ganzes Geld,« lächelte Esther. »Sieh dort in meinem Putztisch nach, sie liegen da unter dem Wickelpapier …«

»Wer vom Sterben spricht, tötet sich nicht,« meinte Frau Du Val-Noble. »Solltest du etwa …«

»Ein Verbrechen vorhaben?! Was noch!« ergänzte Esther. »Du kannst ruhig sein, ich will niemanden töten, ich will nur einer verstorbenen Freundin folgen … Ich hatte es ihr versprochen. Also tu, was ich sage und geh. Ich höre einen Wagen kommen, das ist Nüßingen, der bald vor Glück närrisch sein wird … Der liebt mich … Warum lieben wir nicht die, die uns lieben, da sie doch alles tun, um uns zu gefallen? … Geh, Liebchen, ich muß deine fünfzigtausend Franken erbetteln.«

»Also dann … leb wohl.« –

Seit drei Tagen hatte Esther ihr Verhalten zu dem Baron völlig geändert. Der Affe war zur Katze, die Katze zur Frau geworden. Sie war reizend, machte zärtliche Anspielungen, nannte ihn Fritz, und er glaubte sich geliebt.

»Armer Fritz,« sagte sie, »ich habe dich hart geprüft und gequält, aber du warst von himmlischer Geduld. Ich sehe, du liebst mich und ich will dich belohnen. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber jetzt gefällst du mir, du bist anders als die jungen Leute, die nur an sich denken. Du, du denkst nur an mich. Ich bin dein Leben. Ich will deshalb auch nichts mehr von dir. Ich will dir beweisen, wie uneigennützig ich bin.«

»Noch gar nix hab' ich Ihnen gegeben,« versetzte der Baron entzückt. »Aber dreißigtausend Franken Rente werd' ich Ihnen geben morgen … mein Hochzeitsgeschenk.«

Esther küßte ihn so reizend, daß er blaß wurde. »Glauben Sie nur nicht, daß ich wegen der dreißigtausend Franken Rente so zärtlich bin. Das bin ich nur … weil ich dich liebe, mein dicker Friedrich!«

»Mein Gott, warum haben Se mich geprift so lange … Drei Monate hätte ich kennen sein glücklich …«

»Sind die Papiere zu drei oder zu fünf Prozent, Liebling?« fragte Esther und strich durch Nüßingens Haar.

»Zu drei … ich hatt' e Menge davon.«

An diesem Morgen also brachte der Baron die Staatspapiere. Er wollte mit seinem kleinen lieben Mädchen frühstücken und die Anordnungen für den nächsten Tag, den berühmten Sonnabend, entgegennehmen. Esther nahm die Gabe ohne Zeichen von Erregung, kniffte sie und tat sie in den Putztisch.

»Sind Sie nun zufrieden, Sie ungeduldiges Ungeheuer,« meinte sie und klopfte ihn auf die Backen, »da ich endlich etwas von Ihnen angenommen habe? Jetzt kann ich Ihnen keine Wahrheiten mehr sagen, denn ich genieße die Früchte Ihrer sogenannten Arbeit mit … Das ist kein Geschenk, mein Jungchen, sondern eine Rückzahlung … Bitte kein Börsengesicht … Du weißt, ich liebe dich und will dir auch keinen Kummer mehr machen, mein Elefantenküken. Du bist ja jetzt unschuldsvoll wie ein Kind geworden … Wirklich, du alter Verbrecher, Unschuld hast du nie gekannt … Sicher hast du etwas Unschuld mit auf die Welt gebracht, aber sie ist erst jetzt aufgetaucht. Deshalb liebe ich dich. Ich allein kenne den richtigen Friedrich … denn du warst schon mit fünfzehn Jahren Bankier … hast deinen Spielgefährten Murmeln geliehen unter der Bedingung, daß du doppelt so viel zurückbekommst …«

Sie sprang ihm lachend auf die Knie. »Nun also, tu was du willst, plündere die Leute aus … ich werde dir dabei helfen. Ich habe mir das überlegt … du hast recht. Die Menschen sind der Liebe nicht wert. Komm, küß deine Esther … Also hör mal, du wirst dieser armen Val-Noble die ganze Einrichtung in der Taitboutstraße schenken! Und dann überreichst du ihr morgen fünfzigtausend Franken … Siehst du, das macht sich gut. Du hast den Falleix umgebracht, die Leute schreien schon hinter dir her … Aber solche Großmut wirkt babylonisch … Ganz Paris, alle Frauen werden von dir reden und du wirst das Großartigste, Vornehmste in der ganzen Stadt. So ist die Welt – man wird Falleix vergessen. Das nennt man Geld auf Hochachtung anlegen!«

»Recht hast de, mein Engel, du kennst de Welt,« versetzte er. »Meine Ratgeberin wirst de sein.«

»Schön, also nun lauf und hole die fünfzigtausend Franken …« Sie wollte Nüßingen los sein, um sofort die Staatspapiere verkaufen zu können.

»Gleich? Warum gleich?« fragte er.

»Teufel, du mußt sie in einem Sammetkasten überreichen, einen Fächer hineinwickeln. Du sagst: ›Ich hoffe, gnädige Frau, daß Ihnen dieser Fächer Freude macht!‹«

»Raizend! Raizend!« rief der Baron. »So werde ich geistvoll … ich sprech der einfach nach …« –

Als Esther erschöpft in einen Stuhl sank, trat Europa ein: »Gnädige Frau, ein Bote vom Kammerdiener des Herrn Lucien. Er bringt einen Brief für die gnädige Frau.«

Esther stürzte ins Vorzimmer, betrachtete den Boten und sah, daß es ein Kommissionär von reinstem Wasser war.

»Sag ›ihm‹, er möchte herunterkommen,« befahl sie mit schwacher Stimme, nachdem sie den Brief gelesen hatte, und ließ sich in einen Stuhl sinken. »Lucien will sich töten,« flüsterte sie Europa ins Ohr. »Bring ›ihm‹ den Brief.«

Herrera, der immer noch sein Gewand als Geschäftsreisender trug, kam sofort herunter. Sein Blick blieb auf dem Boten hängen, als er diesen Fremden im Vorzimmer gewahrte.

»Du sagtest doch, daß niemand hier ist,« flüsterte er Europa ins Ohr.

Und nachdem er vorsichtshalber den Boten nochmals besichtigt hatte, verschwand er im Salon. Er wußte nicht, daß der berüchtigte Chef des Sicherheitsdienstes, der ihn einst im Hause Vauquer verhaftet hatte, einen Nebenbuhler besaß, der auf den Posten scharf war. Der war der Bote.

»Sie hatten recht,« berichtete der angebliche Kommissionär Corentin, der ihn auf der Straße erwartete. »Der Beschriebene ist im Hause, aber das ist kein Spanier, sondern irgendein Wild für uns in geistlichem Gewande.«

»So wenig Priester als Spanier,« meinte Contenson.

»Ach, wenn wir recht hätten!«

Lucien war zwei Tage abwesend gewesen, und die hatten sie benutzt, um diese Falle zu stellen. Aber er kam am Abend zurück, und Esthers Unruhe sänftigte sich.

 

Ein Lebewohl.

Am nächsten Morgen kam zu der Zeit, wo die Kurtisane aus dem Bad ins Bett zurückging, ihre Freundin an.

»Ich habe die beiden Perlen!« sagte die Val-Noble.

»Zeig mal,« versetzte Esther, und stützte, sich aufrichtend, ihren reizenden Ellenbogen auf ein Spitzenkissen.

Frau Du Val-Noble reichte ihrer Freundin zwei Kügelchen, die wie schwarze Johannisbeeren aussahen. Nun hatte der Baron Esther zwei Jagdhunde von berühmter Abkunft zum Geschenk gemacht, die den Namen Romeo und Julia trugen. Esther rief Romeo, der auf festen schmalen biegsamen Pfoten herbeieilte und seine Herrin betrachtete. »Sein Name bestimmt ihn für solchen Tod!« meinte Esther und warf ihm die eine der Perlen zu, die Romeo im Munde zermalmte. Er stieß keinen Schrei aus sondern drehte sich nur um sich selbst und fiel tot nieder. Das war erledigt, ehe noch Esther sein Todessprüchlein beendet hatte.

»Ach mein Gott!« rief Frau Du Val-Noble.

»Du hast eine Droschke, nimm den seligen Romeo mit fort, damit es hier kein Geschrei gibt. Ich hab' ihn dir geschenkt, du hast ihn verloren, mach' nur eine Anzeige. Schnell, – heut abend bekommst du deine fünfzigtausend.«

Das war ruhig und so vollkommen empfindungslos gesagt, daß Frau Du Val-Noble rief: »Du bist doch unsere Königin!«

»Komm rechtzeitig, und mach' dich schön …«

Um fünf Uhr abends machte Esther Hochzeitstoilette. Ein weißes Spitzenkleid, weißen Gürtel, weiße Schuhe, weiße Blumen, ein Perlenkollier. Um sechs war sie bereit, aber ihre Tür blieb allen, auch Nüßingen verschlossen. Europa wußte, das Lucien in ihr Schlafzimmer geführt werden sollte. Er kam gegen sieben und Europa konnte ihn hineinbringen, ohne daß jemand sein Kommen bemerkte.

Als er Esther erblickte, fragte er sich:

»Warum nicht lieber mit ihr auf Rubempré leben, fern von der Welt, ohne je nach Paris zurückzukehren? Ich habe für fünf Jahre das Geld für solches Leben, und das reizende Geschöpf würde sich nie Lügen strafen. Wo gibt es noch ein zweites solches Meisterwerk?!«

»Lieber Freund, du, den ich zu meinem Gotte gemacht habe,« sagte Esther und beugte sich vor ihn kniend auf ein Kissen, »segne mich …«

Er wollte sie aufheben, küssen, über ihren Scherz spotten, versuchte sie zu umfassen; aber sie riß sich mit einer Bewegung los, die ebensoviel Hochachtung wie Abscheu malte. Mit Tränen in den Augen sagte sie: »Ich bin deiner nicht mehr würdig, Lucien. Ich flehe dich an: segne mich und schwöre mir, für das Krankenhaus zwei Betten zu stiften … Denn was die Gebete in der Kirche betrifft, so wird Gott nur mir selbst Verzeihung gewähren … Ich habe dich zu sehr geliebt. Sage mir denn, daß ich dich glücklich gemacht habe und daß du manchmal an mich denken wirst … Sag' mir's!«

Lucien gewahrte in ihrem Wesen eine so feierliche Überzeugung, daß er nachdenklich wurde. Schließlich murmelte er tief versonnen: »Du willst dich töten.«

»Nein, mein Lieber, aber siehst du: heut stirbt die reine, keusche Frau, die dein war … und ich fürchte, der Kummer könnte mich töten.«

»Armes Kind! wart' nur. Seit zwei Tagen tat ich alles, um zu Clotilde zu gelangen …«

»Immer Clotilde!« warf Esther mit gehäufter Wut dazwischen.

»Ja,« fuhr er fort, »wir haben uns geschrieben … Dienstag morgen reist sie ab, und ich kann mit ihr auf dem Wege nach Italien eine Zusammenkunft haben.«

»Ach so! Was wollt ihr denn als Frauen? … Plättbretter!« schrie die arme Esther. »Sag' doch: wenn ich sieben oder acht Millionen hätte … würdest du mich dann nicht heiraten?«

»Kindchen, ich sagte dir doch, daß ich keine andere mag, wenn alles für mich beigelegt ist …«

Esther senkte den Kopf, um nicht ihre jähe Blässe und die perlenden Tränen zu zeigen, die sie schnell abwischte. »Du liebst mich?« fragte sie und blickte Lucien voll tiefen Schmerzes an. »Also nimm meinen Segen. Und nun stelle dich nicht bloß, geh durch die Geheimtür und tu', als ob du aus dem Vorzimmer des Salons kämest. Küß mich auf die Stirn.«

Sie faßte Lucien, preßte ihn leidenschaftlich ans Herz und sagte nochmals: »Geh … geh! … Oder ich bleibe am Leben.«

Ilustration: Lutz Ehrenberger

Als die Todbereite im Gastzimmer erschien, erhob sich ein Schrei der Bewunderung. Esthers Augen strahlten die Unendlichkeit wieder, in der die Seele sich verlor, wenn man hineinschaute. Das Blauschwarz ihres seidigen Haares hob die Schönheit der Kamelien, kurz alle von dem entzückenden Ding erstrebten Wirkungen wurden erreicht. Sie hatte keine Nebenbuhlerin, sie war wie der Höhepunkt des zügellosen Luxus, mit dessen Schöpfungen sie umgeben war. Übrigens sprudelte sie vor Geist über. Aber mit Entsetzen ward ihr bewußt, daß Nüßingen wenig aß, nicht trank und den Hausherrn spielte. Um Mitternacht hatten alle die Vernunft verloren: die Gläser wurden zerschlagen, damit niemand sie mehr benutzen sollte, zwei kostbare Vorhänge zerfetzt. Bixiou betrank sich zum zweiten Male seines Lebens, keiner konnte mehr auf den Beinen stehen, die Frauen lagen schlafend auf den Divanen, die Gäste konnten den ursprünglich vereinbarten Scherz nicht ausführen, Esther und Nüßingen in zwei Reihen, mit Kerzen in der Hand unter Gesang ins Schlafzimmer zu geleiten. So reichte Nüßingen allein Esther die Hand. Bixiou merkte es trotz seiner Trunkenheit und hatte noch die Kraft, Rivarols Wort bei des Herzogs von Richelieu letzter Ehe zu wiederholen: »Man sollte die Polizei rufen … Da ist ein arger Streich im Gange …« Der Spaßvogel glaubte zu scherzen, aber er war Prophet.

 

Nüßingens Klagen.

Herr von Nüßingen tauchte erst am Montag zur Mittagszeit daheim auf. Um ein Uhr berichtete ihm sein Wechselagent, daß Fräulein Esther van Bogseck Staatsscheine für dreißigtausend Franken Rente verkauft und einkassiert habe. »Außerdem kam der erste Schreiber von Herrn Derville eben zu mir, als ich von dieser Schiebung sprach, und als er den richtigen Namen von Fräulein Esther las, erzählte er mir, daß sie ein Vermögen von sieben Millionen erbt … Jawohl, sie soll die einzige Erbin des alten Wucherers Sobseck sein … Derville will die Tatsache bestätigen. Ist die Mutter Ihrer Geliebten die schöne Holländerin, dann erbt sie …«

»Weiß ich,« sagte der Bankier, »se hat mer ihr Leben erzehlt … ich werd e Wort an Derville schreiben!«

Er ging in sein Bureau und schickte ein kurzes Schreiben an Derville durch einen Angestellten fort. Nach der Börse kam er um drei Uhr wieder in Esthers Haus.

»Die gnädige Frau hat verboten, unter irgendeinem Vorwande geweckt zu werden. Sie schläft.«

»Ach Teifel!« rief der Baron. »Europa, se wird sich nicht boßen, wenn se hört, daß se steinreich wird. Sieben Millionen erbt se! Der alte Gobseck ist tot und se ist die ainzige Erbin.«

»Ach so, alter Hanswurst, dann ist Ihre Herrschaft zu Ende!« rief Europa und sah ihn mit unerhörter Frechheit an. »Jawohl, alter Rabe, sie liebt Sie wie die Pest! Gott im Himmel! Millionen! Dann kann sie ja ihren Geliebten heiraten! Wie zufrieden wird sie sein!«

Ilustration: Lutz Ehrenberger

Und Prudentia ließ den Baron wie vom Blitze getroffen stehen, um ihrer Herrin als erste die Schicksalswendung zu verkündigen. Der Greis war von übermenschlichen Seligkeiten noch trunken … er glaubte an sein Glück und hatte nun eine so eisige Dusche bekommen, als seine Liebe eben die höchste Glut erreicht hatte. Mit Tränen in den Augen rief er:

»Betrogen hat se mich! Esther, main Leben! Was bin ich fir e Dummkopf! Sind solche Blumen fir Greise gewachsen?! Kaufen kann ich alles, nur de Jugend nicht! Verloren is se für mich, Eiropa hat recht! Soll ich mich aufhengen? Gott der Gerechte …«

Und der Luchs riß sich die falschen Haare aus, – aber ein gellender Schrei machte ihn bis ins Mark erzittern. Er richtete sich auf und taumelte mit enttäuschungstrunkenen Beinen vorwärts. Denn nichts berauscht mehr, als der Wein des Unglücks. Durch die Zimmertür sah er Esther totenstarr, bläulich von dem Gifte daliegen! Er ging bis zum Bette hin, sank in die Knie. »Sie hatte es gesagt … du hast recht … Se is an mir gestorben …«

Paccard, Asien, das ganze Haus kam gelaufen. Für sie war's ein Schauspiel – mehr Überraschung als Entsetzen. Der Baron aber wurde wieder Bankier. Ein Argwohn tauchte in ihm auf. Er war so unvorsichtig, nach den siebenhunderttausend Franken zu fragen. Paccard, Asien und Europa blickten sich so eigenartig an, daß er sofort davonlief, denn er vermutete Raub und Mord. Europa bemerkte ein Päckchen unter ihrer Herrin Kopfkissen, dessen Weichheit Geldscheine verriet. Sie begann, aufzubahren, wie sie es nannte.

»Benachrichtige den Herrn, Asien! Sterben, bevor sie etwas von den sieben Millionen hörte!« rief sie.

Paccard verstand Europas Absicht. Kaum hatte Asien den Rücken gedreht, da riß Europa das Päckchen mit der Aufschrift »Für Herrn Lucien von Rubempré« auf: siebenhundertfünfzig Tausendfrankenscheine schimmerten ihr entgegen.

»Könnte man nicht glücklich und ehrenhaft für das Ende seiner Tage sein,« meinte sie.

Paccard entgegnete nichts. Seine Diebsnatur war stärker als seine Anhänglichkeit an ›Betrüg den Tod‹. Schließlich sagte er, während er die Billette an sich nahm:

»Durut ist tot! Machen wir uns zusammen fort, teilen wir, damit nicht alle Eier in einem Korbe liegen, und heiraten wir uns.«

»Aber wo uns verkriechen?« fragte Prudentia.

»In Paris,« erwiderte Paccard. Und beide verdufteten mit der Hast zweier Ehrenleute, die zu Dieben geworden waren. –

»Kind,« wies ›Betrüg den Tod‹ die Malayin an, nachdem sie kaum die ersten Worte ausgesprochen hatte, »während ich ein Testament entwerfe, hole einen Brief von Esther und bringe dann beides zu Girard. Er soll sich sputen, denn das Testament muß unter Esthers Kissen liegen, bevor das Haus versiegelt wird.«

Und er entwarf folgendes Testament:

»Da ich in dieser Welt niemand anderen als Herrn Lucien Diestel von Rubempré geliebt habe und entschlossen bin, lieber mein Leben zu beenden als in Laster und in Gemeinheit zurückzusinken, daraus mich seine Barmherzigkeit gerissen hat, gebe und vermache ich besagtem Lucien Diestel von Rubempré all meinen Besitz vom Tage meines Todes unter der Bedingung, daß er in der Pfarre des Heiligen Rochus für immerdar eine Messe stifte zum Seelenheil derjenigen, die ihm alles, selbst den letzten Gedanken weihte.

Esther Gobseck.«

»Das dürfte wohl so etwa ihr Stil sein,« meinte er bei sich. Um sieben Uhr abends wurde dies Testament versiegelt und durch Asien unter Esthers Kopfkissen geschoben. Eilends jagte sie zurück: »Jakob, eben, als ich aus dem Zimmer ging, kam das Gericht …«

»Du meinst, der Friedensrichter?«

»Nein, Jungchen. Der war zwar auch dabei, aber hinterher kamen Schutzleute! Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter sind schon im Hause und alle Türen werden bewacht.«

»Dieser Todesfall hat recht schnell Lärm gemacht!«

»Übrigens, Europa und Paccard sind verduftet. Ich fürchte, sie haben die siebenhundertfünfzigtausend gemopst.«

»Ach, diese Bande!« meinte ›Betrüg den Tod‹. »Mit ihrer Klemmerei richten sie ›uns‹ zugrunde!«

 

Corentins Rache beginnt.

Als Nüßingen der Wirkungen des Giftes inne wurde und die siebenhundertfünfzigtausend Franken nicht fand, argwöhnte er ein Verbrechen der beiden verdächtigen Dienstboten, Paccards oder Europas, an denen er so viel auszusetzen hatte. In der ersten Wut lief er zur Polizei und das war der Glockenschlag, der Corentins sämtliche Leute zusammenrief. Präfektur, Gericht, Polizeikommissar, Friedensrichter, Untersuchungsrichter, – alles war auf den Beinen. Um neun Uhr abends wurde die Leiche der armen Esther geöffnet und die Untersuchungen begannen. ›Betrüg den Tod‹, den Asien warnte, rief:

»Noch weiß keiner, daß ich hier bin, also kann ich etwas an die frische Luft!«

Er kletterte zum Kammerfenster hinaus, gelangte mit unvergleichlicher Hurtigkeit aufs Dach und beschaute die Umgegend kaltblütig wie ein Dachdecker. Als er fünf Häuser weiter einen Garten erblickte, meinte er: »Schön, das klappt ja.«

»Du bist geliefert, ›Betrüg den Tod‹!« rief plötzlich Contenson, der hinter einem Schornstein auftauchte. »Du wirst dem Untersuchungsrichter erklären, was du hier auf den Dächern für Messen zu lesen hast, Freund Abbé, und weshalb du auskneifen willst …«

»Ich habe Feinde in Spanien,« sagte Carlos Herrera.

»Also komm in deine Kammer, damit wir nach Spanien können,« erwiderte Contenson.

Der falsche Spanier tat, als ob er nachgab. Aber als er ans Fenster gelangte, packte er Contenson und schleuderte ihn mit solcher Wucht von sich, daß der Spitzel mitten in den Rinnstein der Sankt-Georgstraße fiel. So starb er auf seinem Felde der Ehre. Jakob Collin aber kehrte ruhig in seine Kammer zurück und legte sich ins Bett.

»Gib mir etwas, das mich schwer krank macht, aber nicht tötet,« sagte er zu Asien. »Ich muß im Sterben liegen, damit ich den ›Neugierigen‹ nicht antworten kann. Fürchte nichts, ich bin und bleibe Priester. Einen von denen, die mich entlarven könnten, habe ich eben ganz natürlich erledigt.« –

Um sieben Uhr abends war Lucien am vorhergehenden Tage mit einem Paß nach Fontainebleau gefahren, hatte dort übernachtet und begab sich am nächsten Morgen gegen sechs Uhr allein zu Fuß zum Walde, wo er bis Bouron ging. Bei Tagesanbruch hörte er eine Postkutsche kommen, in der die Leute der jungen Herzogin von Lenoncourt-Chaulieu und Clotildes Zofe saßen.

»Aha,« dachte er, »da kommen sie. Jetzt gilt's, die Komödie gut zu spielen. Ich bin gerettet und werde Schwiegersohn des Herzogs auch gegen seinen Willen.«

Eine Stunde später vernahm er das Geräusch eines leichtfahrenden eleganten Wagens. – Die beiden Damen hatten angeordnet, auf dem Abhang bei Bouron haltzumachen und just in diesem Augenblick trat Lucien herzu.

»Clotilde!« rief er und klopfte an das Fenster.

»Nein,« sagte die Herzogin zu ihrer Freundin. »Er soll nicht in den Wagen steigen, meine Liebe, und wir wollen nicht mit ihm allein bleiben. Meinetwegen sprich dich zum letztenmal mit ihm aus, aber auf der Landstraße. Wir gehen ein paar Schritte zu Fuß und Baptiste kommt hinterher … Das Wetter ist schön, wir sind dick angezogen gegen die Kälte. Der Wagen folgt nach …«

Beide Frauen stiegen aus und die Herzogin befahl dem Diener: »Der Wagen soll ganz langsam nachkommen. Wir wollen ein paar Schritt zu Fuß gehen. Begleiten Sie uns.«

Magdalene nahm Clotilde am Arm und ließ Lucien mit ihr reden. So kamen sie gegen acht Uhr zu dem Dörfchen Crez, wo Clotilde Abschied von ihm nahm:

»Also, lieber Freund,« beendete sie voll Adel das lange Gespräch, »ich werde nur Sie heiraten. Lieber glaube ich Ihnen als den Menschen, meinem Vater, meiner Mutter … Hat man je größere Anhänglichkeit bewiesen? Aber nun suchen Sie auch die schrecklichen Verdachtsgründe zu zerstreuen, die auf Ihnen lasten …«

Man hörte mehrere Pferde herangaloppieren und zum großen Staunen der Damen wurden sie von Gendarmen umringt.

»Was wollen Sie?« fragte Lucien weltmännisch hochfahrend.

»Sind Sie Herr Lucien von Rubempré?« fragte der Staatsanwalt von Fontainebleau.

»Der bin ich.«

»Dann werden Sie heut abend im Kerker schlafen, ich habe einen Verhaftungsbefehl gegen Sie.«

»Wer sind die Damen da?« rief der Wachtmeister.

»Ach ja … Verzeihung meine Damen, bitte die Pässe … denn nach Bericht hat Herr Lucien mit Damen zu tun, die ihm zuliebe zu allem fähig sind …«

»Halten Sie die Herzogin von Chaulieu für eine Dirne? meinte Magdalene mit einem wahrhaften Herzoginnenblick.

»Schön genug sind Sie dafür,« antwortete der Beamte fein.

»Baptist, zeigen Sie unsere Pässe,« versetzte die junge Herzogin lächelnd.

»Und welches Verbrechens wird der Herr beschuldigt?« fragte Clotilde, als die Herzogin sie in den Wagen drängte.

»Der Mitschuld an einem Mord und Raub,« antwortete der Wachtmeister.

Baptiste hob das bewußtlose Fräulein von Grandlieu in den Wagen.

Um Mitternacht saß Lucien im Gefängnis in Einzelhaft. Der Abbé Carlos Herrera saß dort bereits seit dem Morgen.


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