Robert Ascher
Der Schuhmeier
Robert Ascher

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Zwölftes Kapitel

Den nächsten Tag waren sie wieder auf Vogelfang. Von der Geschichte von gestern wurde nichts geredet. Der Paul fing nicht an davon und der Franzl wollte sich nicht in fremde Familienangelegenheiten mischen. Die Gisl spukte trotzdem in seinem Kopf herum.

Der Franzl lag im Grase auf dem Bauch und las, nicht zum ersten Male, Schillers »Räuber«. Am besten gefiel ihm die zweite Szene in der Schenke an den Grenzen von Sachsen, und Karl Moors »Menschen, – Menschen! Falsche heuchlerische Krokodilbrut« wußte er längst auswendig. Und auch jetzt, als er zu dieser Stelle kam, deklamierte er mit geschlossenen Augen diesen Tobsuchtsanfall eines Mannes, den die Menschen so schwer enttäuscht hatten.

Der Köck-Paul betrieb turnerische Freiübungen. Über den Franzl machte er sich lustig: »Willst am End auch a Räuberhauptmann werden? Sag's, i hin dabei.«

»Hör auf mit solche Witz,« wehrte der Franzl ab, »i bin heut net aufg'legt dazu.«

»Is dir a Laus über die Leber 'krochen?«

»Zuwider is mir schon alles. Das Herumfaulenzen führt zu nix. Arbeiten möcht i wieder. Meine Leut z'haus und besonders der Vater, schaun mi schon immer so eigenartig an, wie ein' unnützen Fresser.«

»Such dir halt a G'schäft.«

»Is leicht g'sagt. Wo denn? Überall, wo i anklopf, beuteln s' mit 'n Kopf. Mir brauchen niemand, ham selber nix zu tun, heißt das.«

»Wannst auch so ung'schickt bist. Wer geht heutzutag noch anklopfen? Heutzutag geht man zum Isidor.«

»Isidor?«

»Na, der Isidor! der alte Jud in der Schottenfeldgassen, Stieglitz heißt er, aber alle sagen halt Isidor zu ihm, das is a Arbeitsvermittler, der hat allerweil freie Arbeitsplätz, und wannst sagst, du bist stier, brauchst nur a paar Sechserln geben. Und wann einer schlau is, zahlt er's dem Juden im Jenseits. Morgen gehst hin, sag, ich hab dich g'schickt, oder noch besser, i geh mit dir.«


Der alte Isidor wohnte im Hintertrakt eines behäbigen alten Schottenfelder Bürgerhauses, das noch einen tiefen Garten mit schattigen Bäumen hatte, in deren Rinden Jahrhunderte eingekerbt waren. Der Greis mit dem weißen gekräuselten Patriarchenbart und einem Käppchen auf dem frommen, silberhaarigen Haupte war einer von jenen, die damals Vazierenden Arbeit verschafften. Die Arbeitsvermittlung war noch ein Geschäft wie jedes andere. Um Arbeitsuchende brauchte sich so ein Vermittler nicht umzuschauen. Die kamen von selber. Das wichtigste bei diesem Berufe waren gute Verbindungen mit Fabrikanten und Handwerksmeistern, die es dem Vermittler sagen ließen, wenn sie Leute suchten. Diese Verbindungen hatte der alte Isidor. Er besuchte seine Klientel regelmäßig, um sich fortwährend in Erinnerung zu bringen, und wartete allen, auf die es ankam, aus seiner Schnupftabakdose auf. Die Werkmeister in den größeren Betrieben beschenkte er mit Rauchmaterial und bei besonderen Anlässen, wie Neujahr, Geburt eines Kindes und ähnlichem, mit passenden Kleinigkeiten. Auch sonst wußte er in verzwickten Situationen wertvollen Rat und so war er gerne gesehen. Auch deshalb, weil er meistens gar nicht bösgemeinte Sticheleien über das Volk und den Glauben seiner Väter nicht übel nahm. Die Unternehmer mußten ihm für die Vermittlung von Arbeitsleuten nichts bezahlen. Bezahlen mußten, wie dies ortsüblich war, die Vermittelten. Nicht gleich, denn meistens waren sie längere Zeit ohne Verdienst gewesen und besaßen nichts als Schulden. Daher ließen sich die Vermittler von den Vermittelten die Vermittlungsgebühr an den Arbeitgeber zedieren, der sie vom Lohn abzog und an den Vermittler abführte.

Auf dem Wege zum alten Isidor hat der Paul spontan von der vorgestrigen Geschichte mit der Gisl zu reden begonnen. »Um zwölfe bei der Nacht is das Flitscherl z'haus 'kommen. Der Vater hat s' gar nimmer 'neinlassen wollen. Langmächtig hat s' anklopfen müssen. G'schicht ihr recht, net? Die Mutter hat g'heult und g'sagt, daß man das Mädel doch net bei der Nacht auf der Gassen lassen kann.«

»Wo war s' denn eigentlich?« erkundigte sich der Franzl, den alles, was die Gisl anging, riesig interessierte.

»Das is aus ihr net rauszukriegen. Der Vater hat a Wut kriegt und hat z'erst die Mutter g'haut, als ob er die große Trommel g'schlagen hätt' – die kriegt überhaupt mehr Schläg wie z' essen – dann hat er aufg'sperrt und die Gisl...«

»Hat er s' aa g'haut?« fuhr der FranzI dazwischen.

»Na, dasmal net. Die ganze Nacht hat s' in der Kuchl auf der Rumpel knien müssen und der Vater und i haben abwechselnd aufpaßt, daß s' net aufsteht. Siehst, so heiter is das Familienleben.«

Dem Franzl taten seine Knie weh. Der alte Isidor hatte für den Herrn Schuhmeier etwas auf Lager. Leider keine stabile Beschäftigung, die seien jetzt rar, aber so Gott will, würden doch bald wieder bessere Zeiten kommen, dafür könne er aushilfsweise beim Buchbinder Muth in der Hirschengasse auf Nummero 22 eintreten. Wochenlohn sechs Gulden. Wenn er Glück habe, der Herr Schuhmeier, könne es dort vielleicht doch noch etwas für die Dauer werden, sei ein feiner Mann, der Herr Muth, gar nicht stolz und sogar ein Arbeiter könne mit ihm reden und schließlich, wenn der Herr Schuhmeier wieder Arbeit brauche, werde er, der alte Stieglitz schon dem Herrn Köck zuliebe dem Herrn Schuhmeier wieder ein passendes Plätzchen verschaffen. Dazu sei er ja da, der alte Stieglitz, so Gott will bis hundertzwanzig Jahr. Und der Herr Schuhmeier hätte dem alten Stieglitz für diesmal bloß einen Gulden zu bezahlen, koste ihm selbst so viel, aber für so prächtige junge Menschen tue er es gerne um Gotteslohn und es müsse nicht gleich bezahlt werden, er wisse, daß heutzutage bei jungen Leuten Geld das wenigste sei, und er würde es schon bekommen.

Sie wurden handelseins. Beim Weggehen empfahl sich der Köck-Paul so: Er steckte beide Daumen in die Ärmelausschnitte seiner Weste und imitierte das Mauscheln, was ihm aber kläglich mißlang: »Servus, Jüdlach, laß mir dei alte Sarah grüßen.«

Der Paul war nicht wenig stolz, daß er zu einem alten Manne ungestraft so reden durfte. Der alte Isidor lächelte sauer, wie einer, der es nicht hindern kann, daß jeder dumme Junge mit ihm, dem Greis, so redet, weil die, die so reden, viele und die, die es erdulden müssen, wenige sind; aber aus seinen Augen leuchtete die trotzige Überlegenheit eines Menschen, der entschlossen ist, trotz alledem dem Gott seiner Väter die Treue zu halten, um dereinst gnädig in sein ewiges Reich aufgenommen zu werden, und ginge es über Martertod und Scheiterhaufen.

Der Franzl rügte: »Das g'fallt mir absolut net, daß du junger Lecker mit ein alten Mann so umgehst.«

»Dafür is er a Jud«, beruhigte der Paul den Franzl und sich selber.

»Was haben uns die Juden eigentlich getan, daß mir so grauslich mit ihnen sind«, fragte der Franzl.

»Weil sie unsern Heiland gekreuzigt haben.«

»Is damals der alte Isidor g'fragt worden, ob er einverstanden is, daß unser Heiland gekreuzigt wird?«

»Geh, hör auf, so a alter Jud is er noch net, da müßt er ja schon über tausendachthundertachtzig Jahr alt sein.«

Der Paul mußte über seinen guten Witz selber lachen.


Der Franzl freute sich, wieder Arbeit zu haben, und ganz besonders freute es ihn, daß er in seiner Hirschengasse, ganz in der Nähe seines Geburtshauses, arbeiten konnte. An dem Hause, in dem man zur Welt kam, in dem man als Säugling gebrüllt, gestrampelt, gelallt hat und schließlich Mensch geworden ist, geht man auch noch im spätesten Alter ehrfürchtig vorbei. Auch die Seinigen waren es zufrieden. Da nun der Älteste verdiente, wenig, aber doch, schmiedeten sie im Reithofferhause Pläne. So auch den, den Hansl und den Karli aus der Fremde wieder nach Hause kommen zu lassen. Die Nettl ging, um das möglich zu machen, auch schon in die Fabrik. Sie hat es nicht gerade mit Begeisterung getan, denn auf ein »Fabriksmadl« schaute man damals sehr tief und sehr über die Achseln hinunter. Aber da ihr mangels hinreichender Vorkenntnisse nur die Wahl blieb, in den Dienst oder in die Fabrik zu gehen, die doch mehr Freiheit ließ und das Wohnen im Elternhause ermöglichte, entschied sie sich für das letztere.

In der Buchbinderei Muth wurde der junge Schuhmeier schon wie ein Erwachsener behandelt. Etwas von oben herab behandelten ihn zwar die Professionisten, die gelernten Buchbindergehilfen. Die Professionisten dünkten sich noch etwas Besseres als die ungelernten Handlanger und kehrten ihren Standesdünkel oft recht brutal hervor. Schließlich will jeder Mensch zumindest vor sich und den Seinen etwas gelten und auch der Getretenste fühlt sich, wenn einer da ist, an den er die Fußtritte, die er abbekommt, weitergeben kann. Aber die Ungelernten verkehrten mit dem »Neuen«, wie sie den Schuhmeier nannten, auf gleich und gleich, und aus den Erfahrungen, die sie untereinander austauschten, gewann Schuhmeier Einblick in Verhältnisse, von denen er bisher nichts geahnt hatte. Er lernte dabei so manches begreifen, was er sich vorher nicht erklären konnte und was seiner Grüblernatur viel zu schaffen gab. Faden um Faden knüpfte er aneinander und sah früher als manche andern, die ihr Leben lang nichts sahen, daß nichts, was ist, zufällig, sondern einem System untergeordnet ist, das die Beherrscher von Menschen und Dingen raffiniert und mit unheimlicher Gescheitheit erdacht, eingesetzt haben und mit Feuer und Schwert und mit Kerker verteidigen, damit es für alle Ewigkeit Herrscher und Beherrschte gebe. Der junge Schuhmeier war von da an nicht mehr der ewige Frager, er konnte nun sich und anderen Antwort geben. Freilich beschlichen ihn manchmal Zweifel, ob diese Antworten absolut richtig waren, und es ließ ihm keine Ruhe, die richtigen Lösungen zu finden. Nach der Arbeit setzte er sich in den kleinen Park in der Nähe des Reithofferhauses und las. Immer schwerere Bücher las er, immer neue Wissensgebiete erschloß er sich. Und wenn es dunkel wurde, stellte er sich unter eine Gaslaterne, die spärliches Licht spendete, und las und las wieder, bis die Zeit der Haustorsperre da war. Der Hausmeister brummte oft unfreundlich, weil der junge Schuhmeier gerade immer zum Tor hineinschoß, wenn der Hausvogt schon den Schlüssel umdrehen wollte und sich um das Sperrsechserl geblitzt sah.

Sonntags zog Schuhmeier mit Arbeitskollegen, deren Frauen und Töchtern hinaus ins Grüne, zu Fuß natürlich, denn Bahnfahrten trug es nicht. Hütteldorf, Weidlingau, der Heuberg in Dornbach, Klosterneuburg und die Donau noch ein Stückerl weiter hinauf waren die Ziele ihrer Sonntagswanderungen, die, mit Wegzehrung beladen, zeitlich früh angetreten und abends hundsmüde beendet wurden. Der Schuhmeier konnte sich nicht beruhigen vor Begeisterung über den kleinen Ausschnitt Welt, in dem er sich ergehen konnte, und Baum und Strauch und Blumen und Schmetterlinge und Käfer und gar die Vögel erweckten in ihm eine unbändige Daseinsfreude. Seine Augen leuchteten und auf alles machte er seine Wandergefährten aufmerksam, auf dies und auf jenes und wie unbeschreiblich herrlich alles zusammen sei, und wenn es aufbrechen hieß, band er Blumen zu einem großen Buschen, den er der Mami, die noch immer zu Hause bleiben mußte, noch nirgends war und nirgends hinkam, als duftenden Gruß aus Feld und Flur heimbrachte. Mit den Mädeln, die mit waren, teils allein, teils in elterlicher Obhut, ging er um, als wären sie gar nicht das ganz andere, ohne die frühere Scheu, tollte mit ihnen und trieb mit ihnen übermütige Späße, die ihm, wenn er sich nicht beengt fühlte, locker auf der Zunge saßen. Diese Mädel gaben sich wohl frei und ungeziert und taten an dem einen eigenen Tag nach sechs Tagen Fron und dürftiger Lebensenge ihrem Jugendübermut keinen Zwang an, trafen es aber instinktiv, zwischen sich und den jungen Männern, die mit ihnen, nicht immer bewußt, das alte Katz- und Mausspiel spielten, eine Schranke aufzurichten, die keiner, der Schuhmeier-Franzl schon gar nicht, zu überspringen wagte. Und gerade das gefiel ihm, obzwar ..., obzwar diese Köck-Gisl auch an solchen Sonntagen in seinem Unterbewußtsein herumspukte.

Nach einer solchen Sonntagswanderung, an einem Montagabend war es, als er wieder auf einer Bank saß und las. Mag einem die Arbeit noch so Lebensbedürfnis sein, der Montag ist, vielleicht nur aus Tradition, ein öder Tag. Der Sonntag steckt einem noch zu sehr in den Gliedern. Man hat einen Tag keine Fesseln gespürt und muß sich erst wieder an sie gewöhnen. Am Abend des Montags geht's schon wieder.

Der junge Schuhmeier blätterte um, schaute dabei auf und bemerkte, daß eine feingekleidete Dame auf derselben Bank Platz genommen hatte. Guckte sie von der Seite an und sah, daß es die Köck-Gisl war. Er wurde rot. Vor der hatte er noch die alte Scheu. Das war eine aus einer anderen Welt. Und war die erste, die sein Herz in Unordnung gebracht. Er grüßte schüchtern. Und las weiter. Tat eigentlich nur so. Die Augen glitten wohl über die Buchstaben, das Hirn nahm aber nichts auf. Immer mußte er nebenan schielen. Und überlegen, ob es sich nicht gehörte, die Schwester seines Freundes anzureden. Was sagt man zu so einer Feinen? So gewöhnlich wie mit den anderen darf man mit der doch nicht reden. Was würde sie sich sonst denken? Er würde sich zu Tode schämen müssen.

Diese Sorgen erwiesen sich als überflüssig. Die Gisl saß mit einem Male neben ihm. Ganz nahe und fing selber an: »Net wahr, Herr Schuhmeier, Sie denken net schlecht von mir?«

»Warum sollt i schlecht denken von Ihnen, Fräuln Gisl?« sagte er verlegen.

»No wegen neulich, der Streit mit mein feinen Bruder beim Haustor.« Sie redete nicht so selbstbewußt und überheblich wie damals, sie redete stockend und kleinlaut.

»Aber Fräuln Gisl, da is doch nix dabei, in jeder Familie kommt amal was vor.«

Sie rückte um noch zwei Zentimeter näher. Schuhmeier konnte nun in ihr Gesicht sehen. Es war blaß und eingefallen und die Augen waren rotgeweint.

Er mußte sie fragen: »Haben S' was, Fräuln Gisl? Is was passiert?«

Sie fing zu schluchzen an, daß es sie hob, und der junge Schuhmeier, fassungslos, nahm ihre Hand und streichelte sie begütigend. »Ja, was Schreckliches is passiert. I muß ins Wasser gehn.«

Sie bedeckte mit beiden Händen das tränennasse Gesicht. Die Situation wurde unbehaglich.

»Wird net so arg sein. Kann i vielleicht was helfen?«

»Der Vater bringt mich um, wenn i mich net selber umbring. Aus is mit mir und i leb so gern.«

»Was denn, was denn, reden S' doch.«

»Mei Baron, der Schuft, hat mich ins Unglück g'stürzt. Er hat mich dummes Madel drankriegt, weil er mirs Heiraten versprochen hat, und wie ich ihm g'sagt hab, daß i von ihm in der Hoffnung bin, hat er sich nach Galizien versetzen lassen und laßt nix mehr hören von sich. I schreib ihm alle Tag und er gibt net amal a Antwort, der Schuft.«

Da hätte auch ein wildes Tier mitgeweint. Der Schuhmeier hielt an sich, aber wußte dazu nichts zu sagen.

Die arme Gisl, die, wie tausende mit ihr, die dumme Mädeleitelkeit, mit einem Offizier und Baron noch dazu »gehen« zu dürfen, so furchtbar büßen mußte, klammerte sich an ihren Nachbar: »I möcht Sie halt vielmals bitten, ob S' net so gut wären und das mein Bruder langsam beibringen möchten, i bin's net imstand, der Mutter trau i's mir schon gar net zu sagen, die wüßt sich überhaupt net zu helfen – und der Vater wird eh ihr die ganze Schuld geben, weil s' net besser aufg'paßt hat... Und der Paul soll mi net verfluchen und soll's dem Vater tropfenweis eingeben, damit er mir nichts tut und mi net verstoßt.«

Der Schuhmeier hatte die Empfindung, daß die Gisl eine zu hohe Meinung von seiner diplomatischen Geschicklichkeit habe, versprach aber zu tun, was möglich sei, und verlegte sich wieder auf das Beruhigen. So etwas sei gewiß unangenehm, sei aber auch schon in den besten Kreisen vorgekommen und was man halt so sagt. Und er half ihr die Augen trocknen und das Gesicht abwaschen und ging mit ihr einige Male um die Reithofferhäuser herum, damit sie sich beruhige und nicht so aufgeregt nach Hause komme. Dann empfahl er sich. Ihm war so schwer wie noch nie. Diese Herren Offiziere...

Er hat's dem Köck-Paul wirklich tropfenweise eingegeben. Hat es zuerst so erzählt, als ob es in irgend einer anderen Familie passiert wäre und sich das Mädel, weil Vater und Bruder hart geblieben, vergiftet habe, worauf Vater und Bruder vor Reue irrsinnig geworden seien und im Irrsinn selbst Hand an sich gelegt hätten.

Der Paul verurteilte auf das schärfste die Herzlosigkeit dieses Vaters und dieses Bruders. Als er aber endlich darauf kam, daß es sich um seine eigene Schwester handle – ah, das war etwas anderes. Er ließ den Schuhmeier stehen und rannte nach Hause.

Zwei Tage später haben sie die Gisl unter den Weißgärbern aus dem Donaukanal gefischt.

Den jungen Schuhmeier hat dieses Erlebnis arg hergenommen. Die Gisl spukte lange als eine büßende Magdalena in seinem Kopfe herum. Seine allererste Liebe endete dramatischer als sonst solche Jugendeseleien zu enden pflegen. Nur war er nicht Mitakteur, sondern gerührter Zuschauer dieses Dramas.


Gerade als die beiden Brüder, der Hansl und der Karl, zu Hause einrückten, mußte er seine liebe Hirschengasse verlassen. Er war nur als Aushilfe aufgenommen worden und die Zeit war um. Er hätte wieder zum alten Isidor gehen und sich vermitteln lassen können. Aber er wollte nicht. Es war ihm zu enge geworden im Reithofferhause und in seiner Vaterstadt, so groß und so schön sie auch war. Andere Gegenden und andere Menschen und auch andere Verhältnisse kennenzulernen war schon lange seine größte Sehnsucht. Und jetzt die traurige Geschichte mit der Gisl gab den Ausschlag.

Er ging auf die Walz. Das war zu jener Zeit kein richtiger Handwerksgeselle, der sich nicht in der Welt umtat, ehe er sich daheim oder oft auch unterwegs irgendwo seßhaft machte. Der Walzbruder oder reisende Handwerksbursche war eine Erscheinung, der man auf allen Landstraßen und in den Dörfern ebenso wie in den Städten, lustig singend, hie und da zugreifend, meistens aber fechtend begegnete. Fast ganz Europa stand ihnen damals offen, die Welt war noch nicht mit so vielen Brettern verschlagen und unser Vaterland Österreich selber war noch unermeßlich weit und herrlich.

Mit nicht viel mehr als was sie am Leibe hatten, sind sie ausgezogen und haben zumeist mit noch weniger nach langen Kreuz- und Querfahrten auf Schusters Rappen und oft auch nur auf der eigenen Sohlenhaut wieder heimgefunden. Nur wenige brachten unterwegs Erworbenes mit.

Es war aber auch ein fröhliches und leichtes Leben, dieses Wanderburschenleben, so recht geeignet, den Herrgott einen guten Mann sein zu lassen und ihm die Sorgen für Speise, Trank und Nachtquartier und für die Liebe und gar erst für die Zukunft zu überantworten. Da bekam man ein Stück Brot, dort eine Suppe und anderswo wieder bare Kreuzer und die Erlaubnis, nachts in der Scheune unterzukriechen; manchmal half man bei einer Arbeit mit, nur zu lange dauernd und zu schwer durfte sie nicht sein; in den Werkstätten der Branche, die man gelernt hatte, sprach man sein »Gott grüß das Handwerk« und bekam von Meister und Gesellen blankes Geld in den Hut, gar zu streng wurde nicht immer zwischen Mein und Dein unterschieden; in jedem größeren Orte gab es Herbergen, in Dörfern nicht selten auch Landmannstöchter und Mägde, die nachts ihr Fenster offen ließen und eine Leiter daran stellten, wobei man allerdings Gefahr lief, von ortsansässigen Konkurrenten krumm und blau geschlagen zu werden; sonst aber liefen im Troß der »Kunden«, wie man die Walzbrüder in deutschen Landen nannte, die Tippelschicksen mit, die nicht selten denen, die einmal das dachlose Lager mit ihnen teilten, ein Andenken hinterließen, das dem Beschenkten nie mehr in Verlust geriet.

Es gab Kunden, die nur kurze Zeit die Welt zwischen ihre Beine nahmen, um zu schauen und zuzulernen, und alte, graubärtige Walzbrüder, die sich nie mehr in ein geordnetes Dasein fügen konnten. Die waren so lange unterwegs, bis sie irgendwo elendiglich am Wege blieben. Manche wieder haben Gelegenheit gesucht und gefunden, sich in ihrem Berufe zu vervollkommnen, und sind später etwas Tüchtiges geworden. Im allgemeinen war es ein Stück blumige Romantik, eingestreut in ein sonst graues, hoffnungsloses Sein.

Die Mami weinte zwar, wie Mütter immer weinen, wenn ein Kind sie verläßt, aber sie hielt den Vorsatz des Franzl schließlich auch für die beste Lösung. Sie packte ihm Wegzehrung in seinem Tornister und gab seiner Wanderung ein Ziel: Wagstadt in Schlesien, zu der Großmutter. Für sie gab ihm die Mami tausend Grüße und ein Heiligenbild mit.

Der junge Schuhmeier trabte mit seinem mageren Felleisen, seiner Jugend und dem seligen Gefühle völliger Ungebundenheit nordwärts.

Die unvergleichliche Aufmachung dieser Welt erhob ihn, ihre schlechte Einrichtung drückte ihn nieder. Erheben läßt sich ein junger Mensch gerne, je höher je lieber, niederdrücken minder gern. Und damit es ihn nicht unterkriege, pfiff er sich ein lustig Liedel und pfeifend und singend und fechtend, die Angefochtenen mit seinem kernigen Humor zum Geben zwingend, überschritt er die Grenze des Kronlandes Niederösterreich und betrat die fruchtbare Erde der Markgrafschaft Mähren. In Nordmähren, wo die Seidenbandwebereien stehen, die von Wien weg den billigeren Arbeitshänden nachgezogen sind und er auch die fand, in der auf dem Brillantengrund zu Wien Vater und Mutter gearbeitet und sich gefunden hatten, freundete er sich mit Webern an, durfte manchen Betrieb besichtigen, hörte manches Klagelied über schlechte Bezahlung, sah frühverblühte Frauen und blasse Kinder, die mit verbogenen Beinchen und viel zu großen Köpfen rudelweise herumwatschelten, und er entdeckte: je weniger Brot, desto mehr Kinder. Ob ein solches Leben wert sei, gelebt zu werden? Und ob das auch noch Ebenbilder Gottes seien?

Der junge Schuhmeier war halt ein Wanderer eigener Art. Andere, die meisten sogar, sehen in der Fremde nur die Nobelstraßen, wo die geputzten Menschen kokettierend promenieren, und meiden die Peripherie, so wie der Besuch beim illustren Gastgeber nur die Prunkräume bewundert und die Dienstbotenstuben unbeachtet läßt, – weil es gegen den guten Ton verstieße, sich um Domestikenkammern zu kümmern – der junge Schuhmeier suchte beides und denen in den Dienstbotenstuben fühlte er sich zugehörig.

Er überstieg den Altvater, den höchsten Berg der Sudeten an der mährisch-schlesischen Grenze. Sein Schuhwerk war schon sehr defekt und bestand eigentlich nur mehr aus den Oberteilen ohne Sohlen, die Kleidung von Regen und Wind und den oftmaligen Nächtigen im Freien arg hergenommen. Aber das Endziel, Wagstadt, rückte immer näher. Auf dem Altvater schloß sich ihm ein alter, vom Stromerleben gegerbter Walzbruder an, aus dessen von grauen Bartstoppeln umrahmtem Gesicht zwei pfiffige Äuglein als das Menschlichste an dem ganzen zusammengeflickten Kerl hervorstachen. Der Alte, der nirgends ein Daheim hatte und dem dafür die ganze Welt gehörte, auf den nirgends ein Mensch wartete, nur irgendwo ein Totengräber, war ein Philosoph der Landstraße. Auf seinen langen Wanderschaften hatte er den ganzen Schwindel, der sich Leben und Ordnung und Gerechtigkeit nennt, gründlich durchschaut und ihm konnten sie damit nicht imponieren. Zu ihm konnten sie alle in die Schule kommen, die Wißbegierigen und die Neunmalweisen. Er stach jedem den Star und setzte ihnen seine Brille auf, durch die die Menschen und die Dinge auf einmal ganz anders ausschauten als zuvor.

Der stapfte also neben dem Franzl her und sie kamen ins Diskurieren. Der Franzl schüttete vor dem Alten sein Herz aus, das so übervoll war von seinen Erlebnissen in den Dienstbotenstuben der menschlichen Gesellschaft. Und ob man da denn gar nichts machen könne, weil das ja einfach nicht zu ertragen sei und man wahnsinnig werde, wenn man nur daran denke.

»Brav, Büabel,« lobte der Alte, »brav, daß du so denkst. Wann alle so dächten, brauchtest net wahnsinnig werden. Weil aber die wenigsten so denken, is noch das beste, wenn man wahnsinnig wird, sonst haltert man's überhaupt net aus.«

Er setzte sich ins Gras, lud den Franzl ein, das gleiche zu tun, fing einen Zigarrenstummel aus der tiefen Hosentasche, schob ihn in den Mund und kaute daran, bis der braune Saft heraustropfte. Dann redete er weiter: »Aber es denkt keiner so. Die in der Woll sitzen, die natürlich net, das begreift man. Aber auch die ganz unten san, denken net so. Denen meisten von den Unterigen haben s' so wenig Mark lassen, daß s' überhaupt nix denken können. Und die paar, die noch können, die bilden sich ein, daß sie, weil s' noch denken können, auch amal hoch 'nauf kommen und glücklich sein werden, daß 's a Unten gibt. Denn was hätten die Oberen für a Vergnügen am Obensein, wenn's unten keine Unterigen gäb?«

Dagegen wehrte sich der junge Schuhmeier. So wie es jetzt sei, das sei Menschenwerk, meinte er, und könne von Menschen sicher wieder geändert werden.

»Die Red is net blöd, Büabel,« anerkannte der alte Kunde, »aber z'sammhalten müaßten die Unterigen. Mit jeden allein von uns werden die Oberen leicht fertig, mit alle z'samm nie. Schau, Büabl, das is so.«

Er entnahm einer Streichholzschachtel ein Streichholz und demonstrierte: »I nimm das Schwefelhölzl zwischen zwei Finger, schau, a ganz leichter Druck und i hab's zerbrochen. Stimmt's? Aber jetzt leg i alle Hölzln, die in der Schachtel warn, zu ein Bündel z'samm und nimm das eine End in die linke und das andere End in die rechte Hand, schau, und jetzt druck i und bieg i und werd ganz rot vor Anstrengung, stimmt's? Aber es rührt si nix. Eins brech i mit ein leichten Knax, alle z'samm nie. Und sixt, Büabl, so is's mit uns Untere. Z'sammhalten müaßten mir, aber da g'hört ein Rückgrat und a Hirn dazu, und damit mir ja net z'sammenhalten, haben s' uns das Rückgrat brochen und das Hirn verhungern lassen und extra noch, damit s' auf Numero sicher gehn, tun s' uns gegeneinander hetzen, Deutsche auf Böhm, Christen auf Juden, damit mir uns untereinand die Schädeln einschlagen und auf sie ganz vergessen.«

Der Alte holte aus der inneren Rocktasche eine Flasche, die nach Branntwein roch, und tat einen glucksenden Schluck. Dann bot er die Flasche dem Franzl an, der aber ablehnte. Er war zu bewegt.

»Ja, ja, so ist's Büabl,« sagte der Alte, wischte sich mit dem Handrücken den struppigen Bart und wackelte resigniert mit dem Kopfe, »aber es wird schon wieder anders werden, nur weiß man halt net wann. I erleb's nimmer, vielleicht du, aber auch nur vielleicht. Bis dahin muß man halt so schaun, daß man mit dem Sauhaufen fertig wird. I will dir net raten, daß du a solcher wirst, wie i einer bin, dazu schaust mir zu schad aus, i bin's auch net gern worden – ah, lassen mir das – aber wehren muß man sich doch können, wenigstens mit Nadeln stechen, wenn schon net mit ein Schlägel hinhaun. Der Hund hat scharfe Zähn zum Beißen, die Biene ein Stachel zum Stechen, und wer von uns Unteren beißen und stechen will, wenn er's nimmer aushalt vor Zorn, aber doch mit 'n Schandarm nix z' tua haben mag, der haut den Oberen im richtigen Moment ein Witz ins G'sicht, daß s' glauben, sie san bissen und g'stochen worden und können doch nix dagegen tuan. Glaub mir's Büabel, der Witz is unser Stachel, der kann gar weh tuan, und manche san schon g'storben dran. Der beste Rat, Büabl, den i dir geben kann is: üb dein Witz.«

Dann schwieg er. Auch der Franzl schwieg. Sie schauten vom Gipfel des Altvater hinunter in schlesisches Land und zupften nervös Grashalme aus.

Der Franzl brach das Schweigen: »Wirklich großartig haben S' das g'sagt. I möcht nur noch eins wissen?«

»Noch was möchst wissen, Büabl?« frug der Alte, erhob sich und sagte: »Wart a kleins bisserl, i muß erst auf d' Seiten gehn, gleich bin i wieder da.«

Er schlug sich in den Wald. Der Franzl wartete. Aber der Alte ist nicht mehr gekommen. Es zirpten schon die Grillen als der Franzl den Abstieg antrat.


Die Großmutter Brenner in Wagstadt hat die Hände über den Kopf zusammengeschlagen, als sich der total zerrissene Vagabund, der ihr eben ins Haus gefallen war, als ihr Enkel Franz Schuhmeier aus Wien, ältester Sohn ihrer Tochter Resi, vorstellte. Die Großmutter hat sich noch in derselben Nacht hingesetzt und an ihre Tochter nach Wien geschrieben: »Liebe Resi! Der Franzl ist gekommen, aber ganz zerrissen, daß ich ihn gar nie erkennt hab.«

Sie hätte ihn zwar auch anders nicht erkannt, weil sie ihn noch nie gesehen gehabt hat, aber das macht nichts. Diesem Brief sind übrigens einige Geldnoten beigelegt gewesen, weil die Großmutter gleich gesehen hat, daß es denen in Wien nicht zum besten gehen dürfte.

Die Großmutter wohnte im Hause ihres Sohnes, der eine Gastwirtschaft nebst Fleischhauerei betrieb. Denen in Wagstadt ging es nicht am schlechtesten.

Der Franzl wurde gut aufgenommen, ausstaffiert und in der Wirtschaft des Onkels beschäftigt. Der junge Wiener mit seinem hellen Kopf und ehrlichen Geschau gefiel allen, und er gewann in Wagstadt rasch Freunde. Der Wahrheit die Ehre: auch Freundinnen. Aber auch dort vergaß er nicht, über die kleinen Freuden, die sich ihm boten, den großen Leiden der Leute an der Peripherie auf den Grund zu gehen. Das Weberelend in Schlesien war noch grauenhafter als das in Mähren.

In Wagstadt wurde der junge Schuhmeier Gefühlssozialist. Er dachte jede Stunde an sein Mamerl und an Vater und Geschwister. Wöchentlich schrieb er nach Hause, rührend zärtliche Briefe, und immer lag Papiergeld bei. Auch bei seinen Ausflügen in die Umgebung Wagstadts, inmitten seiner geliebten Natur, dachte er an zu Hause. Die Familie Schuhmeier bewahrt noch heute als kostbare Reliquie ein kleines Tannenreis mit Edelweiß auf, das auf einen Karton genäht ist; darauf steht geschrieben: »Von Bilowa bei Wagstadt 4./8. 1881. F. Sch.«

Fast zwei Jahre blieb er beim Onkel und bei der Großmutter. Im Frühjahr 1882 hielt er es nicht mehr aus. Heimweh und die Sehnsucht, die Seinen wiederzusehen, zogen ihn fort. Heim ist er nicht getippelt, sondern als vollzahlender Passagier der dritten Klasse Eisenbahn von Wagstadt bis nach Wien gefahren. Und brachte einige Ersparnisse und reiche Erfahrungen mit. Er war 18 Jahre alt, aber schon ein Mann.


Vom Jahre 1881 an spielte Josef Peukert durch mehrere Jahre in der österreichischen Arbeiterbewegung eine große Rolle. Er war ein Mann von ungewöhnlicher Begabung und wurde von der Arbeiterschaft der radikalen Richtung bewundert und verehrt. In einem Statthaltereierlaß hieß es von ihm: »Er ist zweifellos der gefährlichste Wanderredner. Er hat sich ziemlich weit herumgetrieben und wurde im November 1880 aus Frankreich ausgewiesen. Peukert ist groß, hager, hat langes, schwarzes, am Hinterhaupt spärliches Haar, schwarzen Schnurrbart, lange Nase, kleinen Mund, im ganzen ein unfreundliches Aussehen und trägt stets einen Demokratenhut. Bei seinen mit ausländischem, norddeutsch klingendem Akzent vorgetragenen Reden pflegt er die rechte Hand hölzern vor sich ausgestreckt zu halten.

Peukert trat für eine gewaltsame Lösung der sozialen Frage ein. Er bekämpfte diejenigen leidenschaftlich, die unter anderem auch das allgemeine, gleiche Wahlrecht forderten, von dem er behauptete, daß es dazu diene, das arbeitende Volk im Namen des Volkes auszubeuten und zu unterdrücken. Peukert gewann damit den Radikalen großen Anhang. Sie stellten ihn an ihre Spitze. Er redigierte auch das Blatt der Radikalen, die »Zukunft«. Von den Machthabern erwarteten sich die rechtlosen, darbenden Massen nichts mehr. Josef Peukert brachte neuen Schwung in die Bewegung. Die Kluft zwischen Radikalen und Gemäßigten erweiterte sich. Die Arbeiter begeisterten sich für die Propaganda der Tat und sie nannten sich Sozialrevolutionäre, sogar auch Anarchisten. Diese Propaganda kostete zahllose Opfer, die in die Kerker geworfen oder ausgewiesen wurden.

Am 4. Juli 1882 wurde an dem Schuhmachermeister Josef Merstallinger in der Zieglergasse am hellen Mittag ein Raubattentat verübt. Er wurde chloroformiert und mehrere hundert Gulden und Schmuckstücke wurden ihm geraubt. Als Täter wurden Ende August die Tischlergehilfen Josef Engel, Franz Pfleger und der Tischlermeister Wilhelm Berndt verhaftet. Alle drei waren Radikale. Polizeiberichten zufolge sollen die Verhafteten gestanden haben, die Tat über Auftrag der Parteileitung zu dem Zwecke verübt zu haben, um Geld für die Parteikasse zu erlangen. Darauf wurden fast alle führenden Radikalen dem Landesgerichte eingeliefert.

Die Gemäßigten nahmen in ihrer Presse, der »Wahrheit«, und in Versammlungen gegen die Taktik Peukerts und der Radikalen Stellung. Deshalb entbrannte ein noch wilderer Bruderkampf. Die Radikalen sprengten alle Versammlungen der Gemäßigten, deren öffentliche Tätigkeit dadurch fast lahmgelegt wurde.

Hie und da wagte die Arbeiterschaft schon Lohnkämpfe. Aber die Besitzenden, die die Macht hatten, wehrten sich. Bei einem Lohnkampfe der Bergarbeiter in Böhmen gab es Tote und Verletzte. Auch anläßlich der Schusterkrawalle brachte schneidige Kavallerie Lorbeerreiser heim.

Im Oktober 1882 wurde die Schuhmachergewerkschaft wegen »Verbreitung verbotener Druckschriften« aufgelöst und die vorhandenen. Organisationsgelder wurden beschlagnahmt. Vom 1. bis 9. November sammelten sich jeden Abend die Schuhmacher in der Kaiserstraße, um gegen diese behördliche Willkür zu protestieren. Das brachte wieder einmal den Staat in Gefahr und an mehreren Abenden bohrten sich blinkende Kavalleriesäbel in Schustergesellenfleisch.

Vom 8. bis 21. März 1883 fand vor dem Wiener Schwurgericht der Merstallingerprozeß statt. 29 Personen waren wegen Hochverrats, Mitschuld am Hochverrat, wegen Raubes, Mitschuld und Teilnehmung am Raub und Vorschubleistung angeklagt. Einer der Verteidiger der Angeklagten war der Advokat Dr. Karl Lueger, Wiens späterer Bürgermeister.

Der Vorsitzende der Verhandlung, Graf Lamezan, höhnte die Gemäßigten als »Wassersuppensozialisten« und »Revolutionäre im Schlafrock«. Den Mächtigen waren und sind die Radikalen immer sympathischer als die überlegteren Gemäßigten, weil sich die bedenkenlosen, tollwütigen Radikalen leichter ins Garn locken lassen.

Die Geschworenen sprachen nur die drei Attentäter Engel, Pfleger und Berndt schuldig, – die beiden ersteren bekamen 15 Jahre, Berndt 2 Jahre – die übrigen 26 Angeklagten aber gingen frei.

Die Taktik Peukerts hat noch viel Unheil über die Arbeiterschaft gebracht. Auf einmal, als er auf der Höhe seines Ruhmes stand, tauchte der Verdacht auf, Peukert sei ein Polizeispitzel. Als 1884 über Wien der Ausnahmezustand verhängt wurde, war Peukert aus Österreich verschwunden. Es ist nie gelungen, nachzuweisen, daß Peukert wirklich im Dienste der internationalen Polizei gestanden ist, wie behauptet wurde. Als ein Geächteter verließ er Europa. 1910 ist er in Amerika gestorben.


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