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Zwanzigstes Kapitel

Als wir in der Droschke saßen, die uns in der Richtung nach Balham davonführte, nahm Dick den Gegenstand wieder auf.

Nun, Perigord, sagte er, was hältst du von dieser Wendung der Geschichte?

Offengestanden weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll, erwiderte ich. Eines indes ist gewiß. Trotz der Versicherungen der alten Dame bin ich überzeugt davon, daß es nicht der Graf war, der neulich nachts am Pontifex Square erschienen ist.

Was veranlaßt dich zu diesem Glauben?

Der Graf ist ein kleiner Mensch mit einem glattrasierten Gesicht. Der andere ist wenigstens einen Fuß größer und trägt einen langen, schwarzen Bart. Der Maurer Mimms hat mir den letzteren beschrieben, und der sollte es doch wissen; und dann sah ich, wie ich dir erzählt habe, denselben Menschen ein oder zwei Stunden später mein Haus bewachen, als ich ausging, um das Paket auf die Post zu tun.

Stimmt, pflichtete mir Dick bei. Das hatte ich vergessen. Und dann, denkst du, muß trotz allem etwas Wahres an der Erzählung des Erbgrafen sein, daß er nichts von dem Aufenthaltswechsel der alten Dame in der letzten Zeit weiß.

Ich zuckte mit den Achseln.

Ich habe keinerlei Meinung darüber, antwortete ich. Gegenwärtig tappe ich völlig im Finstern. Aber, fügte ich hinzu, ich habe die feste Absicht, der Sache nun auf den Grund zu gehen, koste es, was es wolle und komme, was kommen mag.

Jedenfalls, meinte Dick lachend, hast du einen erstaunlich gewandten Hintermann. Diese Frau ist ja ein Prachtswesen, mein Junge.

Allerdings. Darüber kann kein Zweifel aufkommen.

Noch etwas steht außer Zweifel, bemerkte Dick.

Was wäre das?

Daß sie sich ihren Mann angesehen hat und mit ihm zufrieden ist. Ich wette was du willst, daß du diese Frau, ehe das Jahr zu Ende geht, heiratest.

Rede doch keinen Quatsch! Eine Gräfin und Millionärin! Blödsinn!

Na, wir werden sehen, wollen wir wetten?

Gewiß, du alter Quälgeist, erwiderte ich. Ich gebe ehrlich zu, daß ich mich in dieser Einsicht für völlig besiegt erkläre, aber –

Was aber?

Na, glaubst du denn, daß ich solche Luftschlösser baue! Ich sag' es noch einmal: es ist Blödsinn!

Sie ist ein Weib, daher zu erobern, und ich wette mit dir, was du willst, daß sie dir halbwegs entgegenkommt, falls du sie ein wenig aufmunterst. Na, was sagst du dazu?

Daß wir am besten auf ein anderes Thema übergehen würden.

Ganz recht, sagte Dick, und so wandten wir uns anderen Gegenständen allgemeinerer Art zu, bis der Kutscher durch die Sprechluke am verschlag der Droschke hereinrief:

Hier is die Penelope-Terrasse. welche Nummer sagten Sie, Herr?

Halt! rief ich. wir steigen hier aus.

Nun muß ich sehen, Dick, sagte ich einen Augenblick später, als die Droschke davonrollte, wie ich den Namen der Leute in Nummer 37 ausfindig machen kann – das ist nämlich die Hausnummer.

Dort kommt ein Briefträger, erwiderte Dick, der im Fall der Not rasch entschlossen war. Frag' doch ihn! Er sollte dir's schon sagen können. Fünf Schilling würden ihm vielleicht das Gedächtnis schärfen. Wart, überlaß mir das! – Damit winkte er dem Briefträger, der sich ihm augenblicklich näherte.

Ich möchte gern einen Herrn Tinsley aufsuchen, begann Dick, der hier in dieser Straße wohnt. Ich glaube, er wohnt in Nummer 37. Allerdings bin ich nicht ganz sicher, ob es diese Nummer ist. Können Sie mir's vielleicht sagen? – Gleichzeitig ließ er dem Manne zwei halbe Kronen in die Hand gleiten. – Ich möchte nämlich nicht alle Türen in der Nachbarschaft abklopfen.

Natürlich nich, Herr, erwiderte der Briefträger. Aber um die Wahrheit zu sagen, ich erinnere mich nich an den Namen. Sicher is es nich 37, das weiß ich. Die Leute da heißen Simpkins. Tinsley – Tinsley, nein, Herr, is mir sehr leid, ich kann Ihnen nich dienen.

Er wollte schon das Geld zurückgeben, als Dick sagte:

Nein, nein, behalten Sie es nur! Besten Dank! wir wollen bei 37 anklopfen und uns dort erkundigen. Guten Tag!

Der Briefträger grüßte militärisch und verfolgte fröhlich seinen weg.

Simpkins, aha! Das hast du hübsch gemacht, Dick, sagte ich.

Keine Zeit für Komplimente, erwiderte er. Und so bin ich der »gewandteste Detektiv in London«, nicht wahr? vorwärts!

Ein paar Augenblicke später klopfte ich an Nummer 37. Ein unordentliches Dienstmädchen leistete meinem Pochen Folge.

Ist Frau Simpkins zu Hause? fragte ich.

Jawohl, Herr.

Bitte, sagen Sie ihr, daß zwei Herren sie ein paar Minuten in geschäftlichen Angelegenheiten zu sprechen wünschen.

Jawohl, Herr. Bitte treten Sie ins Wohnzimmer! – Damit führte sie uns in ein ziemlich anständig ausgestattetes Gemach, das im parterre gelegen war.

Alsbald kehrte das Mädchen mit einem einigermaßen bestürzten Gesichtsausdruck zurück.

Bitte, Herr, sagte sie, die Frau Simpkins möchte wissen, was es für 'n Geschäft is.

O, sagte ich mit meinem liebenswürdigsten Lächeln, es handelt sich um etwas, das sie sehr interessieren wird. Teilen Sie ihr das mit!

Das Mädchen machte die Türe hinter sich zu, und volle fünf Minuten verstrichen, ehe die Türe von neuem aufging, und das hübsche, junge Weib, das ich neulich in ihrem Bett oben gesehen, auf der Schwelle erschien. Als sie mich erblickte, wurde sie weiß wie eine Kalkwand und blieb stehen.

Kommen Sie nur herein, Frau Simpkins! sagte ich mit beruhigendem Lächeln, ich hoffe, Sie sind wiederhergestellt. Sie sehen viel besser aus.

Jawohl, es geht mir weit besser, erwiderte sie mit einem, wie ich deutlich sah, furchtsamen Blick auf Dick.

Bitte setzen Sie sich, Frau Simpkins! sagte ich. Das ist mein Freund, Herr Scrubbs, der berühmte Detektiv, den Sie zweifellos dem Namen nach schon kennen.

Die Wirkung dieser einfachen Worte war ganz erstaunlich. Die Frau schnappte nach Lust und wäre zu Boden gesunken, hätte ich sie nicht in meinen Armen aufgefangen.

Du bist ein wenig zu rasch vorgegangen, flüsterte Dick.

Um so besser, erwiderte ich, da ich immer noch einen Zorn wegen des Streichs hatte, den mir dieses Weib gespielt. Und, mich an sie wendend, fügte ich hinzu: Setzen Sie sich in den Lehnstuhl, Frau Simpkins! Immer noch ein Rest von Ihrem alten Herzleiden, wie ich fürchte.

Jawohl, ich glaube, erwiderte sie mit einem verzweifelten versuch, sich zusammenzunehmen, warum wünschen Sie mich zu sprechen, meine Herren?

Das ist rasch gesagt, Frau Simpkins, erklärte ich in der freimütigsten Art der Welt, wir möchten uns über eine gewisse alte Dame erkundigen, die letzte Woche aus einem gewissen Haus weggeschleppt wurde – um genau zu sein, aus Nummer 19 Pontifex Square.

Sie errötete bis zu den Haarwurzeln.

Warum, fragte sie, mit einem vergeblichen Versuch, beleidigt zu scheinen – denn ich konnte deutlich sehen, daß dieses Weib eine Stümperin in der Verstellung war –, warum kommen Sie zu mir, um sich zu erkundigen?

Warum? wiederholte ich. Weil Sie alle näheren Umstände kennen, Frau Simpkins, das ist der Grund und zwar ein sehr guter Grund!

O, mein Gott, Sie irren sich gewaltig. Ich weiß nichts von alten Damen, die weggeschleppt worden sind, – von wo sagten Sie gleich?

Pontifex Square, Lambeth.

Ich habe nie von dieser Gegend gehört.

So? sagte ich in strengerem Tone als bisher. Denken Sie rasch einen Augenblick nach! Es sind ein paar Tage her, da fuhr eine Dame, die genau aussah wie Sie, – Ihr Ebenbild, meiner Treu! – von diesem Hause in einem Zweispänner zum Pontifex Square wo die alte Dame, von der ich rede, gelebt hatte. Das waren natürlich nicht Sie, Frau Simpkins, und selbstverständlich wissen Sie nichts von diesem Briefe! – Damit holte ich meine Brieftasche heraus. – Ah! Da ist er ja, dieser Brief, mit der Unterschrift ›Frau Latimer‹, angeblich von der alten Dame selber geschrieben, worin Ueberbringerin beauftragt wird, deren Eigentum, Kleider, Schmuckgegenstände usw. abzuholen. Wollen Sie ihn sehen?

Nunmehr brach sie mit einem Male zusammen.

Ich habe ihn nicht geschrieben. Ich versichere Sie! Dann war es Ihr Mann, der ihn geschrieben hat. praktisch ist es ein und dasselbe. Uebrigens, fügte ich, mich an Dick wendend, hinzu: sagten Sie mir nicht, Herr Scrubbs, daß der Gatte dieser Dame in eine schlimme Geschichte verwickelt sei?

Dick ging sofort auf meinen Gedanken ein.

Jawohl, und er ist bis jetzt noch mit knapper Not seinem Schicksal entronnen. Ich würde sehr gern 'mal dem Herrn begegnen!

Jetzt war ihr Zusammenbruch vollständig.

O bitte, guter Herr, wenn Sie ihn nur noch dieses Mal laufen lassen, will ich Ihnen alles sagen, was ich weiß.

Mehr wollen wir gar nicht, bemerkte ich nunmehr.

Ich denke, Sie werden jetzt eingesehen haben, daß wir von dieser Geschichte am Pontifex Square genau unterrichtet sind, wir haben nicht die Absicht, Ihnen, noch Ihrem Mann bös mitzuspielen. Er ist eben der Versuchung unterlegen, die im Gelde lauert, und hat das Risiko auf sich genommen.

Das war es gerade, sagte sie darauf.

Und hatte in Wirklichkeit persönlich keinerlei böse Absichten der alten Dame gegenüber.

Nicht im mindesten.

Aber da er ein mutiger Kerl ist und sich dachte, es möchte eine günstige und einträgliche Gelegenheit sein, das Eigentum der alten Dame in Sicherheit zu bringen, schrieb er den Brief, den ich Ihnen eben zu zeigen mich erbot, und schickte Sie im Wagen zum Pontifex Square.

Ganz richtig. Es war sehr schlecht gehandelt, ich weiß es.

Allerdings, aber das tut nichts. Es ist nicht ans Licht gekommen, oder, Frau Simpkins?

Wehmütig lächelnd erwiderte sie:

Nein, es ist nicht herausgekommen.

Und nun, wie lange war Herr Simpkins in dem leeren Haus am Pontifex Square an der Arbeit?

Etwa drei Tage oder richtiger Nächte.

Und er war dort, als die alte Dame weggeführt wurde?

Jawohl.

Wie ging die Sache vor sich?

Er hat nur die Möbel aus dem Weg geräumt (er arbeitet sehr geräuschlos, mein Mann!), während die Geschichte erledigt wurde, und sie nachher wieder an ihren Platz gestellt.

Aber sicherlich sah und erfuhr er, wie die Geschichte vor sich ging?

O gewiß; die alte Dame lag in tiefem Schlaf. Sie –

Wie viele waren es?

Zwei! Sie banden ihr ein Taschentuch vor den Mund, schlugen eine Bettdecke um sie und trugen sie ins angrenzende Zimmer, wo Pelze und Kleider in Menge vorhanden waren. Dann kamen sie zurück und brachten etwa eine halbe Stunde in ihrem Zimmer zu, welches sie nach etwas durchstöberten, das sie nicht finden konnten, und fluchten fürchterlich darüber. Dann wurden sie durch etwas aufgeschreckt, und so nahmen sie die arme alte Dame, die ganz in Pelze gehüllt war, trugen sie hinab in einen Wagen und führten sie –

Hierher?

O nein. Ich habe die Dame nie gesehen,

Wohin dann?

Ich habe nicht die blasseste Ahnung davon.

Hm! sagte ich und biß mich ärgerlich auf die Lippen, wieviel hat Ihr Mann für die Arbeit erhalten?

Fünfzig Pfund – das Risiko war es wert.

Gewiß, und wer hat ihn angestellt?

Ein Fremder, der sich Salviati nannte.

Ein kleiner Mann, glattrasiert?

O nein! Ein großer Mann mit schwarzem Bart.

Haben Sie je Ihren Mann von einem Grafen reden hören in dieser Geschichte?

Einem Grafen? O nein, niemals. Warum?

Ich habe nur gefragt. Und nun, wer hat die Guinee bezahlt, die Sie mir neulich nachts gegeben haben?

Salviati.

Wissen Sie, zu welchem Zwecke Sie beauftragt wurden, mir den Streich zu spielen und mich wegen Ihrer »Herzstörungen« kommen zu lassen?

Keine Ahnung!

Sie wußten nicht, daß, während ich hier bei Ihnen war, in meinem Hause ein Einbruchsdiebstahl verübt wurde?

Heiliger Gott! Nein, das habe ich nicht gewußt! rief sie ehrlich bekümmert aus. Ich hab' mir nicht davon träumen lassen, so wenig als mein Mann. Er ist nicht so schlecht.

Gut; und nun – und dies ist für mich und Sie eine sehr wichtige Frage, da ihre befriedigende Beantwortung gleichbedeutend mit einer Belohnung von über fünfzig Pfund für Ihren Mann ist: weiß Ihr Mann, wo die alte Dame sich nunmehr befindet?

Ich glaube, daß er es weiß, begann sie.

In diesem Augenblick ging die Haustüre auf und zu, und es ließen sich auf dem Vorplatz Schritte hören.

Hören Sie nur! rief sie aus, da kommt mein Mann gerade nach Hause.


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