Sagen aus Niedersachsen
Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wechselbalg entdeckt

Auf der obern Straße in Wulften wohnte ein Leinweber namens Mönch. Einst ging dessen Frau nach Osterode und nahm ihren anderthalbjährigen Sohn mit, den sie auf dem Rücken trug. Als sie in die Nähe von Schwiegerhausen gekommen war, erblickte sie in einiger Entfernung etwas, das wie ein Nebel aussah. Als sie näher gekommen war, stand mit einem Male ein kleines Männchen vor ihr, welches kein Wort sprach, ihr aber, ohne daß sie etwas gemerkt hätte, ihren Sohn vom Rücken nahm und dafür einen Zwerg darauf setzte. Mit diesem ging sie weiter, merkte jedoch bald, daß die Last auf ihrem Rücken viel schwerer geworden war. Unterwegs redete sie das vermeintliche Kind auf ihrem Rücken mehrmals an, bekam aber keine Antwort; da nun ihr Sohn bereits sprechen konnte, so erkannte sie daraus, daß ihr Kind mit einem Wechselbalg vertauscht sei, und als sie sich umsah und den ungewöhnlichen dicken Kopf des Zwerges erblickte, da wurde ihre Vermutung zur Gewißheit. Voll Betrübnis ging sie ihres Weges weiter nach Osterode, wo ein Arzt, den sie befragte, es ihr bestätigte, daß dies ein Zwerg, ihr rechtes Kind somit vertauscht sei. So ging sie denn mit dem fremden Kind nach Wulften zurück und weinte bitterlich. Schon hatte sie den Zwerg mehrere Jahre bei sich gehabt, ohne jemals Freude davon zu haben (denn dieser zeigte zwar recht guten Appetit, wurde aber trotzdem um nichts größer und sprach auch nie ein Wort), als sie sich endlich Hilfe suchend an ihren Nachbar Hesse wandte, der in dem Ruf stand, ein kluger Mann zu sein. Dieser erteilte ihr den Rat, den Wechselbalg auf den Herd zu setzen und dann in zwei Eierschalen das Wasser zum Brauen zusammenzutragen: dann werde der Wechselbalg schon den Mund auftun, und die Zwerge würden ihn wieder holen und das rechte Kind zurückbringen. Die Frau tat, wie der Nachbar ihr geraten hatte. Der Wechselbalg auf dem Herde sah ihrem Beginnen anfangs in stummer Verwunderung zu, endlich aber brach er sein langes Schweigen und sprach die Worte: »So bin ich doch so alt wie der Thüringer Wald und habe noch nie gesehen, daß in Eierschalen das Wasser zum Brau getragen ist.« Da hatte die Frau ihren Zweck erreicht, hob den Zwerg vom Herd und brachte ihn in die Stube zurück.

Als nun der Jahrstag wieder kam, an welchem die Zwerge ihr das Kind vertauscht hatten, nahm sie den Wechselbalg auf den Rücken und ging mit ihm denselben Weg nach Osterode, den sie damals gegangen war. Mit einem Male sah sie auf derselben Stelle den Zwerg wieder vor sich stehen, der ihr früher hier begegnet war. Dieser redete das Kind auf ihrem Rücken sogleich mit den Worten an: »Hast du denn geschwatzt?« – »Ja, das habe ich getan; sie machte so närrisches Zeug, daß ich wohl schwatzen mußte.« Nun wurde der Frau der Wechselbalg von dem Rücken gehoben, und ihr das rechte Kind darauf gesetzt, jedoch so, daß sie nichts davon merkte. Sie aber ging, wir ihr der Nachbar gleichfalls geboten hatte, ohne sich umzusehen und ohne ein Wort zu sprechen, erst wieder ganz hin nach Osterode und kehrte von dort aus nach Wulften zurück, wo sie dann auch wirklich ihr rechtes Kind vom Rücken hob.

Nun erst fragte die glückliche Mutter ihren Sohn, wie es ihm bei den Zwergen ergangen wäre, und der Knabe erzählte: ein kleines Männchen habe ihn auf den Rücken genommen und sei so mit ihm davongelaufen; endlich wären sie vor einen Berg gekommen, da habe der Zwerg eine Blume gepflückt, worauf der Berg sich alsbald aufgetan habe und sie hineingegangen wären. In dem Berg wären noch viele andere Zwerge gewesen; so oft einer hineingekommen sei, habe er die Blume in der Hand gehabt; sei aber einer herausgegangen, habe er die Blume weggeworfen und der Berg habe sich wieder geschlossen; er selbst sei nicht wieder aus dem Berg herausgekommen. Wäre einer der Zwerge nach Hause gekommen, so habe er auch immer Geld mitgebracht. In dem Berg selbst sei alles niedlich und sauber gewesen, und ihn hätten die Zwerge recht gut behandelt. Eines Mittags aber wären sie alle recht verdrießlich geworden und als er nach der Ursache gefragt habe, hätten sie geantwortet, er käme nun wieder in seine Heimat zurück. Darüber habe er sich gefreut und geäußert, das sei ja recht gut; die Zwerge aber hätten gesagt, für sie sei es ein großes Unglück. Als nun der Jahrestag der Vertauschung wiedergekehrt sei, da habe ihn der Zwerg wieder auf den Rücken genommen und sei mit ihm zu der Stelle gegangen, wo ihn die Mutter wieder bekommen hatte.

 


 


 << zurück weiter >>