Claude Anet
Lydia Sergijewna
Claude Anet

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Als Savinsky seiner Wohnung zuschritt, die kaum zweihundert Schritte weit war und eben in die einsame und finstere Gasse einbog, in der sie lag, krachte ein scharfer Schuß in die nächtliche Stille. Eine Kugel pfiff ganz nahe an ihm vorbei und zersplitterte mit dumpfem Krach in der Mauer eines Hauses. Er fuhr heftig zusammen, dann zuckte er die Achsel.

»Auch daran muß man sich gewöhnen,« dachte er.

Zuhause rauchte er in seinem Arbeitszimmer noch ein paar Zigaretten. Es war dort angenehm warm, man hörte jetzt von der Straße keinerlei Geräusch mehr, es schien, als wenn er als einzig Lebender eine tote Stadt bewohnte. Behaglich lehnte er in seinem Lederfauteuil. Sein Blick fiel auf das Bild seiner Frau und seiner Kinder, das auf dem Schreibtisch vor ihm stand. Er dachte an die Ruhe der Finnländer Villa. »Nächste Woche werde ich sie wieder besuchen,« überlegte er, »und Pässe für England muß ich besorgen. – Welches Glück, daß Sonja jetzt ihr Baby hat! Das wird sie doch ein wenig ablenken und ihre Sorge um mich vergessen lassen.« Gegen Mitternacht, als er sich eben niederlegen wollte, läutete das Telephon. Er nahm den Hörer und war überrascht, eine trockene, scharfe Männerstimme zu hören.

»Hier Semeonow, Institut Smolny. Sind Sie's, Nikolaus Wladimirowitsch?« Eine lange Unterhaltung begann. Semeonow sprach wie immer, als hätte er Nikolaus am Tage vorher gesehen, als wäre seit ihrer letzten Begegnung gar nichts besonderes geschehen. Kein Wort von Politik; nur ein ironischer Hauch war in seinen gleichgültigen Worten fühlbar. Er endete damit, daß er Savinsky sagte, er habe mit ihm zu sprechen, eine Zusammenkunft werde für beide Teile vorteilhaft sein und Savinsky möge sich vielleicht morgen um sieben Uhr für ihn ein wenig frei machen. Er werde ihm im Laufe des Tages durch ein paar Zeilen den Ort der Begegnung angeben. Trotz der scheinbaren Gleichgültigkeit, mit der diese Einladung erfolgte, hatte sie doch etwas ziemlich Dringendes. Savinsky, der rasch die Situation überdacht hatte, nahm, als wäre es eine ganz natürliche und alltägliche Sache, an.

»Was kann er mir mitzuteilen haben?« überlegte er. »Da wäre ich ganz so wie ein beliebiger Schupow mit den Bolschewiken in Verkehr! Aber was riskiere ich eigentlich? Ich nehme bloß eine Rückversicherung, sonst nichts.«

Und er dachte daran, daß Sonja entzückt sein werde, ihn für die restlichen Tage seines Petersburger Aufenthaltes unter dem geheimen Schutz der Sowjets zu wissen. Und neben diesen Gedanken zuckte es auch durch seinen Kopf, daß er nun ohne viel Gefahr seinen Aufenthalt in dieser abenteuerlichen Stadt noch verlängern könne. Dies gefiel ihm besonders. Warum, wußte er nicht genau.

 

Sie gingen zusammen die Newaquais entlang. Vor dem Sommergarten lag ein totes Pferd im Schnee. Seine Beine waren steif gefroren. So lag es schon seit einigen Tagen, ohne daß sich jemand die Mühe genommen hätte, es fortzuschaffen. Savinsky bemerkte, daß der obere Teil des Rückens fehlte. Sicher hatten Leute, die am Verhungern waren, hier ihr bescheidenes Mahl gehalten. – Sie durchquerten den schönen Park, dessen schnurgerade Wege verlassen zwischen den Bäumen lagen. Der gefrorene Sand knirschte unter ihren Schritten. Die bleiche Dezembersonne ließ die Fontanka, deren Ufer sie folgten, glitzern. Trotz des Winters war der Tag milde und langsam schlenderten sie den Kanal entlang, in dem viele große, holzbeladene Barken bis zum Frühling im Eis gefangen lagen.

Sie sprachen wenig. Aber aus den wenigen Worten, die sie gewechselt hatten, war es Savinsky bewußt geworden, daß die Vertrautheit zwischen Lydia und ihm seit jenem schon so weit zurückliegenden Tage, da er sie aus der Bank nach Hause geleitet hatte, nur noch inniger geworden war. Sie sprach in einem Ton zu ihm, der auch die alltäglichen Sätze, die sie gebrauchte, für Nikolaus mit einem ganz neuen Sinn erfüllte. Sicherlich hatten sich in der langen Einsamkeit nach dem Tode ihres Vetters die Gefühle der Freundschaft und des Vertrauens, die sie zu Savinsky zogen, gefestigt und eine tiefere Schichte ihres Wesens erreicht. Schon aus ihrer Art, ihn anzublicken, wußte Savinsky, daß sie beide in eine reinere und höhere Sphäre gelangt seien, in der nichts mehr von all den Äußerlichkeiten gesellschaftlicher Beziehungen bestehen konnte. Er neckte sie mit den eifrigen Aufmerksamkeiten, die Lord Douglas ihr erwies.

»Er ist reizend,« meinte sie, »aber, Nikolaus Wladimirowitsch, so fern von uns . . . Sind Sie auch ganz sicher, daß England zu der gleichen Welt gehört, wie das Land, das wir Russen bewohnen? Das Leben ist so einfach für ihn, so leicht, so durchsichtig! Alles ist dort so geordnet, so festgelegt! Jede Frage findet ihre Antwort bereit, niemals braucht man danach zu suchen, niemals zu grübeln, um eine Lösung zu finden; sie ist immer schon da, schon vorgeschrieben im dicken Buch von Anstand und Sitte . . . Hier, bei uns, begreift man doch nichts, gar nichts. Bei ihnen aber weiß man schon alles im voraus. Das ist mühelos, aber wie öde erscheint es mir! – Ich glaube, ich würde bald vor Langeweile sterben, wenn ich in England leben müßte.«

»Sagen Sie das nicht,« unterbrach Savinsky, »wer weiß, ob es Ihnen nicht bestimmt ist und auch mir, in wenigen Monaten schon die Nebel der Themse zu atmen . . .«

Das Mädchen wurde noch ernster.

»Ich werde aus Rußland nicht fortgehen und Sie ebensowenig,« erwiderte sie, ohne Nikolaus anzusehen, als spräche sie zu sich selbst.

»Wo Sie sind, werde auch ich sein, denn Sie begreifen doch wohl, daß man eine Freundin wie Sie, wenn man einmal das Glück hatte, sie zu finden, nicht verläßt. – Sie wollen also wirklich nicht fort?«

Lydia schüttelte den Kopf.

»Ich kann mein Gefühl kaum erklären . . . Ich verabscheue die schrecklichen Leute, die jetzt an der Macht sind, ich weiß, wir gehen hier einer furchtbaren Zeit entgegen und doch will ich hier bleiben. Rußland blutet aus tausend Todeswunden. Ist das die Stunde, es zu verlassen? Ich fühle, ich liebe mein Land in seiner Not täglich mehr. Der Gedanke, sorgenlos in der Fremde zu leben, wäre mir unfaßbar. Ich wußte gar nicht, wie sehr ich Russin bin. Jetzt habe ich es erfahren. Es ist ein starkes, sehr starkes Gefühl; ein Gefühl, das Leiden mit sich bringt und doch ein Gefühl, das ich nicht mehr missen könnte.« –

»Ich empfand wohl das Gleiche, Lydia Sergijewna,« auch Savinskys Worte fielen ernst und schwer, »aber ich begriff es nicht so recht, bevor Sie es nicht aussprachen. Wie schön, daß gerade Sie mich's verstehen lehrten.«

Sie verstummten, in ihre Gedanken versinkend.

Die Newskiperspektive überquerend, folgten sie weiter dem Ufer der Fontanka. Sie wechselten nur wenige Worte über gleichgültige Dinge und schwiegen meist. An manchen Stellen, an denen der schlecht gekehrte Schnee zu glatt war, stützte sich Lydia auf seinen Arm. Die große Ruhe, die in der Stimmung dieses hellen Wintertages lag, senkte sich auch in beider Gemüt. Als sie aber zur Eisenbrücke kamen, hörten sie plötzlich Schreie, die aus einem Menschenhaufen tönten, der auf dem anderen Ufer etwas weiter stromabwärts vor dem Ministerium des Innern zusammengerottet war. Sie sahen Leute, die auf dem Quai durcheinanderliefen und zehn oder zwölf Männer, die auf dem Eis des Kanals eine von heftigen Gesten bewegte Gruppe bildeten.

Die erste Bewegung Savinskys war, stehen zu bleiben. In diesen Tagen konnte man bei jeder Art Unruhe eines schlimmen Endes sicher sein und man mußte damit rechnen, daß die ihren Instinkten überlassene Menge bis zum äußersten ging.

»Kehren wir um,« meinte er zu Lydia.

»Nein, nein, warum denn?«

Und sie beschleunigte ihre Schritte, um deutlicher zu erkennen, was vorging. Geschrei drang aus der Menge auf dem Ufer. Man verstand nur selten ein paar lautere Rufe: »Gebt ihm einen Schluck«, »Tötet ihn!« Die Gruppe, die auf das Eis niedergestiegen war, schwankte bald nach rechts, bald nach links und weder Lydia, noch Savinsky unterschieden genau, was sie barg. Die Männer dort bewegten sich langsam gegen ein Loch, das neben einem Schiff ins Eis gehackt war. Jetzt erkannte man für einen Augenblick in der Mitte der Gruppe einen Mann, der sich, aus vollen Kräften mit Händen und Füßen um sich schlagend, zu wehren schien. Aber die derben Fäuste, die ihn am Kragen und um den Körper gepackt hielten, schleppten ihn unerbittlich zu dem schwarzen Loch im blinkenden Eis . . .

Schreckerfüllt vermochten Lydia und Savinsky sich nicht von der Stelle zu rühren. Gellende und verzweifelte Schreie stiegen in die Luft und übertönten den übrigen Lärm. Diese Hilferufe waren in ihrer gequälten Angst herzzerreißend und hatten kaum noch etwas Menschliches an sich. Und dann war die düstere Gruppe angelangt; man sah die um sich schlagende Gestalt plötzlich zusammenbrechen, mit schweren Fußtritten auf den Kopf und in die Seiten wurde sie zu dem Loch gestoßen. Sie verschwand und wurde unter dem Eis fortgeschwemmt.

Savinsky erwachte, wie aus einem peinigenden Traum. Er wandte sich zu seiner jungen Gefährtin. Sie war so bleich, daß er eine Ohnmacht befürchtete. Sie taumelte, als sie einen Schritt zu machen begann. Er legte einen Arm um ihre Gestalt und drückte sie an sich. Das Gewicht ihres Körpers ruhte auf ihm, sie war fast bewußtlos.

»Lydia Sergijewna,« sprach er eindringlich, »kommen Sie zu sich! . . . Ich bitte Sie . . . Nehmen Sie sich zusammen! . . . Armes Kind, wie Sie mir leid tun. – Ich bin verzweifelt, Lydia Sergijewna. – Ich hatte doch recht, wir können nicht hier bleiben.«

Schon richtete sich das Mädchen auf.

»Verzeihen Sie. – Welche Schwäche! Gehen wir. Aber reichen Sie mir ihren Arm.«

Sie gingen den gleichen Weg zurück. Ein Iswostschik kam vorbei. Savinsky hob Lydia hinein und behielt den Arm um sie gelegt.

Lydia befragte den Kutscher.

»Was ist dort geschehen?«

Der Alte drehte den Kopf herum, blinzelte und zuckte mit den Achseln! »Man hat einen Dieb erwischt. – Er hat Mehl gestohlen . . . Da haben sie ihn ertränkt . . .«

Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »So sind halt die Leute jetzt . . .«

Und er trieb sein Pferd zu leichtem Trab.

»So sind halt die Leute!« wiederholte Lydia. »Was bedeutet heutzutage ein Menschenleben, Nikolaus Wladimirowitsch? Ich habe viel darüber nachgedacht und meinte es schon so gut zu verstehen. Ja, ich glaubte, daß mich nichts mehr zu erregen vermöchte, ich dachte gegen alles gewappnet zu sein . . . Und jetzt hat dieser gemeine Auftritt mich ganz überrumpelt . . . Das war furchtbar!«

Nach einer Weile wandte sie sich mit ganz zaghafter, leiser Stimme an ihren Begleiter:

»Sie werden nicht mehr mit mir ausgehen wollen, Nikolaus Wladimirowitsch! Mit einem Mädchen, das auf offener Straße fast in Ohnmacht fällt . . . Wenn Sie nur wüßten, wie sehr ich Sie brauche. Sie scheinen mir der einzig lebende, wahre Mann in Petersburg und der einzig Würdevolle. Verlassen Sie mich nicht . . .

Savinsky war tief erschüttert. Sein Arm drückte sie zart an sich.

»Ich sagte Ihnen schon, kleines Mädchen, niemals werde ich Sie verlassen. Sie können mir vertrauen . . .«

Dann setzte er in geändertem Ton hinzu: »Aber glauben Sie nur nicht, daß ich stark bin. Ich bin auch nur ein Mensch, wie alle anderen. Auch durch mein Gemüt strömen alle Wogen, gute und böse . . . Sie werden mir Stärke geben müssen . . . Indessen aber genießen wir wenigstens die Vorteile der Revolution und lassen Sie uns täglich zusammenkommen!«

Die Dämmerung umfing sie schon; die frühe Dämmerung der Dezembertage, die schon von vier Uhr ab die Stadt ins Dunkel taucht. Der Schlitten versank in Löcher und hüpfte über Haufen zusammengewehten Schnees, den keine Straßenpflege mehr entfernte. Die Stöße des Wagens warfen das Paar hin und her und Savinsky meinte in Augenblicken, in denen Lydia gegen ihn sank, ihr junges, starkes Herz an seinem alten, verbrauchten pochen zu fühlen.

 

Auf dem Heimweg hatte Savinsky alles vergessen, was nicht Lydia war; nur an sie dachte er noch. Weder die Revolution, noch seine Geschäfte, noch seine Familie existierten mehr für ihn. Alles war zerflattert, wie der Morgennebel, den ein frischer Wind verweht. Er schritt unter einem blauen Himmel dahin, er sah ihn tiefblau, wie die Augen des jungen Mädchens, ein frohes Leuchten, das zum erstenmal auf der Welt zu sein schien, erfüllte alle Dinge und gab ihnen einen neuen Glanz. Das war das strahlende Morgenrot, dem noch schöner der Tag folgen mußte, den sie beide gemeinsam durchleben würden. Er versuchte sich an jedes einzelne, auch an das geringfügigste ihrer Worte zu erinnern, an alles, was sie während ihres langsamen Weges gesagt. Es hatte der Erschütterung jener tragischen Szene bedurft, deren Zeugen sie gewesen, um sie die Worte finden zu lassen, deren flehender Klang noch in ihm nachzitterte. »Verlassen Sie mich nicht!« – Nein, nein, er wird sie nicht verlassen, er wird ihr täglicher Freund sein, der Freund, auf den man rechnen kann. Könnte denn ein Mann mit Gemüt ein so reizendes und so gebrechliches Wesen allein dem Sturm überlassen? Wen hatte sie denn um sich? Einen leidenden Vater, der seinen Krankenstuhl nicht mehr verlassen würde; eine Mutter, die nur dem beschränkten Kreis ihrer nichtigen Gedanken und ewig wechselnden Pläne lebte, die ebensowenig, wie ihr beharrlicher Freund Wasiljew das mindeste von den Umwälzungen begriff, in denen sie lebte und die, da sie niemals zu handeln vermochte, ahnungslos die ihren in die schlimmsten Abenteuer verketten würde. »Nur ich bin da,« sagte er sich, »Lydia während der wenigen Monate durch die Gefahren des Kommunismus zu lenken. Nur Zeit muß man gewinnen. Und schließlich werde ich doch bei der ersten ernsthaften Bedrohung über die Grenze gehen . . .«

Bei diesen Betrachtungen angelangt, betrat er seine Wohnung. Sofort wurde er in die Gegenwart zurückgerufen. Vanja, sein alter Kammerdiener, der seit zehn Jahren bei ihm war, brachte ihm einen Brief. Aber noch ehe er ihn überreichte, sagte er zögernd, daß er schlechte Nachrichten von seiner Familie aus dem Gouvernement Nishnij-Nowgorod habe und daß er gezwungen sei, dorthin zu reisen. Er habe übrigens, als Ersatz, seinem Herrn, der ja gewiß auch nicht lange mehr in Petersburg bleiben werde, eine sehr verläßliche Frau gefunden, deren Herrschaft eben die Stadt verlassen habe.

»Und wann fährst du?« frug Savinsky, der sofort begriffen hatte, daß nichts Vanja zurückzuhalten vermöchte.

»Morgen früh, Barin,« murmelte der Diener.

»Es ist gut. Du hast recht, Petersburg zu verlassen . . . Und der Koch, bleibt er bei mir?«

»Er bleibt, er kann nirgends hingehen. Er ist von hier.« Savinsky nahm den Brief. »Er hat Angst,« sagte er sich, »Angst, wie alle, wie übrigens auch ich . . . Und er bringt sich in Sicherheit. Ich aber, ich will noch nicht fort . . .«

Und die besonnte Fontanka, ihre buntbemalten Häuser, die Barken in dem vereisten Kanal, die abgestorbenen Bäume im Sommergarten zogen an seinem Geist vorbei. –

Der Brief enthielt nur zwei Zeilen.

»Sieben Uhr im Restaurant Donon. Verlangen Sie das für Radionow reservierte Zimmer.«

Unterzeichnet war ein »S.« – –

Savinsky fand Semeonow in strahlender Laune. Der zweite Kommissar für die äußeren Angelegenheiten hatte ein Diner bestellt, mit dessen Üppigkeit und raffinierter Auswahl er auch im alten Petersburg Ehre eingelegt hätte. Trotz des ausdrücklichen Alkoholverbotes wurde zur Feier seines Gastes Wutki und eine Flasche Bordeaux serviert. Savinsky dachte bei sich, daß das Bewußtsein der Macht auch auf die Bolschewiki nicht anders wirke, als auf die Herren des entschwundenen Regimes; dieser erste Eindruck versetzte ihn in gute Laune und er meinte, wenigstens eine schwache Seite entdeckt zu haben, an der der stahlharte Semeonow zu packen wäre. Aber im Verlaufe des Abends bemerkte er, daß Semeonow den Wutki nicht berührte und sich damit begnügte, seine Lippen in einem kaum rosa mit Wein gefärbten Glas Wasser anzufeuchten. Also nur für ihn, Savinsky, waren Schnaps und Wein bestellt worden! Er sah darin eine bestimmte Absicht und blieb auf seiner Hut.

Die Unterhaltung drehte sich anfangs um persönliche Fragen. Semeonow erkundigte sich nach dem Befinden der gemeinsamen Beamten. Savinsky, der jede Einzelheit aufmerksam beobachtete, bemerkte, daß keine Frage über die Schupows fiel und sah darin eine Bestätigung jener ihm zugetragenen Gerüchte über die geheimen Beziehungen der schönen Natalie zu dem streithaften Bolschewiken. Sehr erstaunt war er dagegen, daß Semeonow sich eifrig nach Lydia Sergijewna erkundigte.

Er erzählte ihm, daß sie einige Zeit leidend gewesen sei, als Folge des Ablebens ihres Vetters, der »unter höchst beklagenswerten Umständen getötet wurde«, – so fügte er wörtlich hinzu, wobei er sein Gegenüber scharf beobachtete. Semeonow machte jene abwehrende Handbewegung, mit der man eine ärgerliche, aber unwichtige Sache abtut und sprach mit seiner eindringlichen Stimme, die Savinsky schon nervös machte:

»Lassen Sie sie wissen, daß ich eine Stellung, die ihrer und ihrer seltenen Fähigkeiten würdig ist, im Außendienst für sie bereithalte; sobald sie entschlossen sein wird, dem Staat zu dienen, kann sie eintreten. Wir sind mit Arbeit überhäuft. – Im neuen Rußland wird übrigens niemand in Müßiggang leben können.«

Er machte eine kleine Pause und setzte dann fort: »Auch Sie nicht, verehrter Nikolaus Wladimirowitsch! – Und das ist eigentlich der Grund, warum ich Sie bat, hierher zu kommen.«

Er lehnte sich im Sofa, auf dem er saß, bequem zurück, kreuzte, wie es seine Gewohnheit war, die Arme über der Brust und begann, Savinsky voll anblickend, ihm die allgemeine Lage, so wie er sie beurteilte, darzulegen.

Savinsky sah mit Vergnügen, daß Semeonow alle demagogischen Schlagworte vermied und zu ihm, als einem gebildeten Menschen, in anderer Weise sprach, als er es in seinen Volksversammlungen gewöhnt war. Es fiel keine jener bekannten Phrasen von der »gemeinen Gewaltherrschaft des Zaren«, oder von der »verderbten Autokratie«, ebensowenig war von den »Leiden des Volkes«, von dem »abscheulichen Krieg« die Rede, oder von dem »unbestreitbaren Triumph des Proletariats«, aus dem sich Semeonow, wenigstens so weit das Proletariat in Frage kam, nicht allzuviel zu machen schien. Denn das war gewiß, daß das Proletariat für ihn nur als das notwendige Sprungbrett Interesse hatte, als der bequemste Steigbügel, um sich in den Sattel zu schwingen und die Zügel in die Hand zu bekommen, daß aber die Besitzergreifung der Macht für ihn, ebenso wie für Lenin und Trotzki das Wesentliche war. Es schien Savinsky, als Eindruck dieser ersten Unterhaltung, daß es nur eine andere, neue Autokratie sei, die den alten Zarenthron bestiegen habe und dies berührte ihn angenehm; denn wie unmöglich es auch ist, mit einer rohen, aufgepeitschten und mißgünstigen Menge zu debattieren, mit einigen klugen, allmächtigen Männern läßt sich immer verhandeln, wie weit ihre Ansichten auch von unseren abweichen mögen.

Für Semeonow war es unzweifelhaft, daß die Bolschewiki dauernd an der Macht blieben. Sie würden den Frieden mit Deutschland unterzeichnen.

»Täuschen Sie sich nicht,« sagte er, »der Friede wird von uns geschlossen! Er wird schlecht sein, das gebe ich zu, – aber ein schlechter Friede ist mir immer noch lieber, als der beste Krieg! Und im Frieden werden wir unsere Vergeltung üben! – Aber, Nikolaus Wladimirowitsch, wir sind jung und in Geschäften unerfahren. Über die Grundfragen gibt es in der Regierung keine Zweifel, das Prinzip steht fest und ist gut. Aber in der Technik des Verhandelns fehlen uns Spezialisten . . . Wir werden mit den deutschen Experten wirtschaftliche und finanzielle Fragen zu besprechen haben, die Regierung zählt darauf, daß Sie das Amt eines finanziellen Beirates in Brest-Litowsk übernehmen, womit übrigens durchaus nicht gesagt ist, daß Sie unsere politischen oder sozialen Ansichten teilen.«

So entschlossen auch Savinsky gewesen war, sich über nichts zu wundern, er konnte sich doch nicht zurückhalten, aufzufahren. Diese Handvoll Männer, die mit Gewalt die Macht an sich gerissen, dieser kleine Haufen von Ausgewiesenen und Juden schien ihm während des langen Lebens in der Fremde jede Spur von Taktgefühl verloren zu haben. Wie, diese Leute, deren offenkundiges Programm es war, die alte Gesellschaft mit Stumpf und Stiel auszurotten, ja, selbst deren Grundlagen zu vernichten, die wagten es, sich bei der ersten Schwierigkeit an ihn zu wenden, an ihn, Savinsky, der doch gerade ein typischer Vertreter jener Klasse war, die sie blutgierig bekämpften! – Aber es war nötig, mit Semeonow und den Smolny-Herren in Fühlung zu bleiben und Savinsky ergötzte sich daran, auf diesen bündigen Vorschlag die gewundenste, verschleiertste und zweideutigste Antwort zu geben. Es war daraus unter zahllosen Vorbehalten zu entnehmen, daß Savinsky, wenn er sich auch nicht geeignet fühle, bei den Konferenzen in Brest-Litowsk im Namen der Volksregierung und der Diktatur des Proletariats zu sprechen, als russischer Bürger nicht berechtigt zu sein glaube, jenen Männern, die mit den Deutschen die schwierigen wirtschaftlichen Verhandlungen zu führen haben werden, sachliche Ratschläge, die sie erbitten sollten, zu verweigern. Er stand daher zu ihrer Verfügung, wenn sie ihn besuchen wollten, denn ihm wäre es lieber, wenn diese Unterhaltungen in der Nordischen Bank stattfänden. Besuche Savinskys im Smolny-Institut würden unfehlbar Neugier erwecken und zu Deutungen Anlaß geben, die weder der Regierung noch ihm, Savinsky, angenehm wären. Semeonow scheine ja übrigens das gleiche Gefühl zu haben, da er für diese erste Unterhaltung die verschwiegenen vier Wände eines Chambre separée gewählt habe. –

Semeonow schien von dieser Antwort zwar nicht befriedigt, aber die Entschlossenheit Savinskys ließ es ihm rätlich erscheinen, auf diesem Gegenstand nicht weiter zu beharren und das Gespräch drehte sich weiterhin nur um sachliche Erörterungen.

Aber im Aufbrechen konnte Savinsky sich nicht enthalten, ohne alle Umschweife zu fragen: »Und welche Chancen haben Sie für den Bestand, Leo Borissowitsch?«

Semeonow erwiderte: »Sie können sicher sein, Nikolaus Wladimirowitsch, daß wir bei dieser Wahrscheinlichkeitsrechnung alle Chancen auf unsere Seite bringen. Sie wissen doch, was Lenin in einer seiner letzten Reden sagte: ›Genossen, arbeiten wir für unsere Grundsätze, aber vergessen wir die Bajonette nicht!‹ Vergessen auch Sie nicht,« sprach er mit leiser Drohung, »daß der Terror auf unserem Programm steht! Noch haben wir ihn nicht angewendet. Aber lassen Sie uns nur Zeit und bald wird jeder in Rußland begreifen, daß ihm keine Wahl bleibt und daß er sich unterwerfen muß!«

Die harten Augen Semeonows flimmerten in hellerem Glanz. Savinsky hatte die sichere Überzeugung, wenn Semeonow Kommissar zur Unterdrückung der Gegenrevolution wäre, fände niemand den Weg zum Herzen dieses ehemaligen Offiziers und jeder Appell an sein Mitleid ließe ihn unberührt. Ein unversöhnlich harter Wille stände im Dienste des schärfsten, klarsten und dabei verbohrtesten Verstandes der Welt. –

»Und Sie werden der unbestechliche Robespierre sein!« entgegnete Savinsky mit einem Lächeln.

Semeonow zuckte mit den Achseln.

»Wenn's nötig ist . . .« sprach er kalt.

Zum Abschied reichte Semeonow Nikolaus die Hand und meinte noch nebenbei: »Sie werden ein Financier im Ruhestand sein. Ich glaube morgen werden wir die Banken beschlagnahmen.«

Er machte eine Pause, um seinem Gast Zeit zu lassen, die ganze Schwere dieser im leichtesten Ton gemachten Mitteilung erfassen zu können. Dann fügte er nachlässig hinzu: »Sie persönlich haben nichts zu fürchten. Wir brauchen Ihre Fähigkeiten.«

»Sehr verbunden«, sprach Savinsky, der die Zwecklosigkeit jedes Protestes erkannte, »zunächst wäre ich aber schon zufrieden, wenn Sie mir eine heile Rückkehr bis zur Apotheker-Passage zusichern könnten! Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen, aber Eure Straßenbeleuchtung ist miserabel und die Moika ist eine wahre Mördergrube geworden«.

»Ich habe ein Auto«, antwortete Semeonow, jetzt wieder gut gelaunt. »Ich setze Sie ab. – In diesen Zeiten, Verehrtester, hängt auch mein Leben so wie das Ihre an einem Haar . . . Was liegt daran! Jedenfalls sollen Sie vorläufig von allen Hausdurchsuchungen verschont bleiben. Wenn man nachts bei Ihnen eindringen will, öffnen Sie nicht und rufen Sie die Nummer 4–15 an. Dann wird unverzüglich eine Patrouille zu Ihnen kommen.« –

Der Wagen Semeonows war von einem Soldaten in Uniform gelenkt. Er fuhr durch die Millionaja. Als sie an dem Hause der Schupow-Karamin vorbeikamen, sah Savinsky noch Licht in der Wohnung, und ließ halten.

»Bitte, der schönen Natalie meine Empfehlungen zu bestellen«, sagte Semeonow mit einer Verbeugung.

Die Neuigkeit, die Savinsky eben gehört, erregte ihn nicht sehr. Er war über die Vorgänge im Smolny ziemlich genau unterrichtet und wußte schon seit einigen Tagen, daß die Beschlagnahme der Banken bevorstehe. So hatte er auch seine Vorkehrungen treffen können. Als er bei den Schupows die beleuchteten Fenster sah, hatte er sofort daran gedacht, daß Lydia vielleicht oben sei, daß er sie sehen und bitten werde, ihn gleich zu ihrem Vater zu bringen, dem er die Aufregung ersparen wollte, die böse Nachricht unvorbereitet am nächsten Morgen zu erfahren.

Und wirklich, Lydia war da. Sie erhob sich beim Eintreten Savinskys und eilte ihm mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Ich ahnte nicht, daß ich die Freude haben würde, Sie heute noch zu sehen, mein Freund!«

»Nur Ihretwegen kam ich hierher«, sprach Savinsky zärtlich und behielt ihre Hand in seinen beiden. »Sie müssen mich gleich zu ihrem Vater führen. Ich habe ihm Wichtiges mitzuteilen.«

Natalie und Lord Douglas beobachteten sie.

Savinsky trat zu den übrigen. Die Aufregungen des Tages, der Spaziergang an der Fontanka, das unerwartete und merkwürdige Diner bei Donon, gleich einem Duell mit Semeonow, bei dem er manchmal den Eindruck hatte, es würde mit unmaskierten Floretts gefochten und schließlich der herzliche Empfang durch Lydia, – alles dies hatte ihn in einen Zustand angenehmster Überreizung versetzt. Das Leben schien ihm wie ein Zauberspiel mit wechselnden Szenen, die einen düster und traurig, die anderen aber mit reizenden Ausblicken auf eine in sinkendem Abendschatten hindämmernde Landschaft mit blühenden Obstbäumen, hinter denen verborgen eine klagende Flöte sehnsüchtig die Liebe besingt. –

»Was haben Sie nur heut abend, Nikolaus Wladimirowitsch«, rief Natalie, »Sie sind ja um zehn Jahre verjüngt? Bringen Sie uns eine gute Nachricht?«

»Jedenfalls eine wichtige«, erwiderte Savinsky. »Ob gut, das hängt von der Auffassung ab. Die Nachricht von einer Maßnahme, die dazu beitragen kann, den Sturz der Sowjets zu beschleunigen, würden Sie die eine gute nennen?«

»Aber natürlich!« sprach Natalie als Wortführerin der stumm aufmerkenden Gesellschaft.

»Dann also freuen Sie sich: alle Banken Petersburgs werden morgen von den Bolschewiki in Besitz genommen!«

»Aber was bedeutet denn das?« frug eine ältere, beleibte Dame. »Was ändert sich dadurch im Geschäftsleben?«

»Oh, nicht sehr viel, wenn man es vom Standpunkt der Unendlichkeit betrachtet, wie die Philosophen sagen. – Sie werden von Ihrem Konto kein Geld mehr beheben können und ihre Safes werden beschlagnahmt.«

In diesem Augenblick trippelte Iwan Schupow auf seinen kurzen Beinen zu Savinsky heran.

»Genug gescherzt, Verehrtester!« rief er mit schriller Stimme. »Ist die Nachricht verbürgt? – Ja, wissen Sie denn, daß dies für uns alle den Ruin bedeutet? – Unser Guthaben in der Bank . . .! Das ist doch offenkundiger, gemeiner Raub!«

»Es ist eine politische Maßnahme, die mit dem Programm der Sowjetregierung vollständig im Einklang steht«, sprach Savinsky. »Sicher sind wir zugrunde gerichtet . . . Aber ich schätze, daß unser Ruin den des Staates nach sich ziehen wird und daß auf diese Weise die Beschlagnahme der Banken den Sturz der Bolschewiki beschleunigt.«

»Wann aber?« warf Natalie, die ihre ganze Ruhe verloren zu haben schien, ein. »Wann . . .? Und die Safes auch? Quälen Sie uns nicht! Bedenken Sie doch . . . Sie sind gräßlich mit Ihrer Ironie«.

Sie fügte nichts hinzu, aber ihrem Ton hörte man an, daß ihr der Inhalt ihres Safes wichtiger war, als alles andere. –

Eine ungeheure Aufregung herrschte im Salon. Jeder begriff, daß mit der Sperrung der Banken die ganze bisherige Gesellschaft, die bis jetzt trotz des Zugrundegehens Einzelner, in ihren wesentlichen Einrichtungen noch fortbestanden hatte, mit einem Schlag zusammenbrach.

Nur Lord Douglas blieb unberührt. In dem Kreuzfeuer der Ausrufe und Fragen, die hin und herflogen, neigte er sich zu Lydia, neben der er saß, und sprach lächelnd:

»Also Sie sind ruiniert, dear little thing? Das ist sehr interessant!«

Lydia hatte nur ein Achselzucken. Ihr Gesicht war freudig erregt.

»Das hat gar keine Bedeutung«, sagte sie.

Das wirre Durcheinander benutzend, das seine Mitteilung verursacht hatte, wandte Savinsky sich mit der Bitte an seine Freundin, ihn zu ihrem Vater zu begleiten. Sie erhob sich sofort und nahm von Natalie Abschied. Savinsky folgte ihr. In dem weiten Hof wärmten sich Dworniks an einem prasselnden Holzfeuer, das sie neben einem Tor entzündet hatten. Die in der dunklen Nacht aufzuckenden Flammen beleuchteten gespenstisch die großen Schneehaufen ringsum, die regelmäßigen Stöße des für den Winter aufgeschichteten Holzes, die nackten Mauern der Häuser und die schwankenden Silhouetten der Dworniks, die in weite Kapuzenmäntel gehüllt, langsam mit ihren Sohlen den gefrorenen Schnee stampften. Nach dem alten Luxus der Schupowschen Wohnung war dies wieder eine richtige Revolutionsszene, die Savinsky hier vor Augen hatte. Diese nächtliche Wache beim flackernden Feuer, die die Gedanken auf die vielen drohenden Gefahren lenkte, erinnerte Savinsky daran, daß diese große Stadt, wie tot sie auch in dem winterlichen Frost daliegen mochte, voll von Feinden sei, gegen die es sich zu wehren galt. Doch hatte dieser Eindruck keine andere Wirkung, als daß er das Leben nur noch intensiver fühlte und stärker der zärtlichen Bande bewußt wurde, die ihn an das schutzlose, junge Mädchen knüpften, die so leicht und aufrecht neben ihm dahinschritt.

Sie betraten das Palais durch eine Nebenpforte und kamen durch viele Gänge und über eine Dienertreppe in einen großen, schlecht geheizten Saal, der die Bildergalerie des Fürsten enthielt. Lydia schaltete das Licht ein und frug Savinsky:

»Wollen Sie hier warten oder drüben bei Mama? Ich will meinem Vater Ihren Besuch ankündigen.«

Savinsky hatte gar keine Sehnsucht nach der Fürstin und ihrem Freund Wasiljew, dessen kindisches Geschwätz ihm unerträglich war. Er blieb also in der Gemäldegalerie, die von einer einzigen Glühlampe nur schwach beleuchtet war. Ihm gegenüber breitete eine große Landschaft von Poussin ihre dunkelgrünen Flächen in einem breiten, vergoldeten Rahmen aus. Daneben unterschied er eine fliehende Eurydike am Ufer eines Baches. Aus einem dunklen Winkel leuchtete in mattem Weiß die schlanke Statuette Apollos. In der Ruhe dieses weiten Saales, in dem die Meisterwerke an längst entschwundene Kulturperioden gemahnten, an ein strahlendes Leben unter blauem Himmel, an sonnendurchglühte Felsen – von Meereswogen umbrandet –, wanderten Savinskys Gedanken weit, weit fort von Petersburg, in ein Arkadien, wohin ihn Lydia begleitete – – –

Da erschien das junge Mädchen wieder.

»Papa erwartet Sie. Es geht ihm heute abend nicht gut, aber er will Sie sehen.«

Savinsky folgte seiner Freundin. Als sie vor dem Zimmer des Fürsten anlangten, berührte er ihren Arm und hielt sie zurück.

Sie war keineswegs überrascht, und wandte ihm das Lächeln ihrer Augen und ihres halbgeöffneten Kindermundes zu.

Sie blickten einander wortlos an.

Dann neigte Savinsky sich zu ihr.

»Ich möchte Ihnen bloß sagen, daß ich sehr glücklich bin.«

Sie drückte, ohne zu antworten, seine Hand und führte ihn zu ihrem Vater.

 

Als Nikolaus allein für sich die Gespräche jenes denkwürdigen Soupers überlegte, wurde er über Semeonow immer empörter. Mehr noch als der Zynismus seiner Vorschläge irritierte ihn der Ton, in dem die Mitarbeit von ihm gefordert worden war. Hatte er recht daran getan, diesen Herren der Stunde seinen Rat zuzusagen? Machte er sich dadurch nicht mitverantwortlich an dieser bolschewistischen Periode, die Rußland in ein Chaos führte? Mitschuldig, wenn auch in noch so kleinem Maße?

Was würde man von ihm denken, wenn man wüßte, daß er in geheimen Beziehungen zu den terroristischen Diktatoren stehe? Ihre Herrschaft wird nur von kurzer Dauer sein. Nur die Schande wird ihm bleiben, daß er ihrem Befehl entsprochen hatte. Und warum tat er es eigentlich? Warum dieser Eigensinn, Petersburg nicht verlassen zu wollen? Nichts wäre leichter als nach Finnland zu entkommen. Und dort würde es ihm bald möglich sein, mit den Seinen Schweden und England zu erreichen. Er fand keine Antwort auf diese Fragen, die ihn unaufhörlich beschäftigten. »Werde ich wagen, es Lydia zu sagen?« dachte er eines Tages. Nie würde sie urteilen, sie, die doch keine Unaufrichtigkeit begriff? Seiner Freundin etwas zu verheimlichen, war ihm jetzt schon peinlich. Sie hatte sich eine so hohe Meinung von ihm gebildet, daß sie ihn dadurch verpflichtete, über sich selbst hinauszuwachsen. Merkwürdig war, daß sie so selten von den Bolschewiki sprach. Niemals hatte sie ein hartes Wort gegen Lenin oder Trotzki gebraucht. Sie schien in einer Stadt zu leben, die von einer schrecklichen Seuche verwüstet wird, vor der man sich wohl hütet, aber für die man nicht die Menschen verantwortlich macht. –

Die Nordische Bank war, wie alle Banken Petersburgs, nationalisiert worden. Rote Garden hielten sie besetzt und ein Kommissar amtierte im Zimmer des Direktors. Täglich sah Savinsky eine dichtgedrängte Menschenmenge, die vor den Toren wartete, um mit eigenen Ohren die Bestätigung ihres Ruins zu hören. Die Bank zahlte nur 150 Rubel monatlich von den eingelegten Beträgen aus. Die Besitzer der Safes wurden der Reihe nach vorgeladen, man konfiszierte Juwelen und Gold. Eine maßlose Unordnung herrschte im ganzen Hause, in dem Tags zuvor noch alles voll Vernunft und Methode gewesen. Dieser Zustand stieß Savinsky ab. So verbrachte er auch kaum mehr als eine knappe Stunde in seinem Zimmer, eine Stunde, die übrigens in endlosen und zwecklosen Debatten mit dem Kommissar verloren ging. Einmal kam ein brillenbewehrter Jude zu ihm, geradewegs vom Smolny, mit einigen Einführungsworten Semeonows. Dieser Regierungsvertreter stellte ihm eine Menge Fragen über die wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen zu Deutschland. Savinsky fand, daß er vollkommen unerfahren, aber klug und lernbegierig sei. Der Gedanke, daß so ein neuer Mann, ungehobelt und nie früher mit geschäftlichen Dingen vertraut, mit den deutschen Führern die wichtigsten ökonomischen Probleme erörtern werde, war ein wenig lächerlich . . . Aber seine Unterhaltung mit Savinsky erfolgte in erträglichem Ton.

Es geschah im Verlaufe dieser Woche, in der seine Nerven so gereizt waren und er mit sich selbst im Streite lag, daß Savinsky in seiner Wohnung den Besuch eines Soldaten hatte, an dem nur ein ungewöhnlich edler Kopf auffiel. Der Soldat hatte darauf bestanden, ihn persönlich zu sprechen; nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie allein seien und daß die Tür geschlossen sei, sprach er mit gedämpfter Stimme:

»Ingenieur Muschin sendet mich. Er möchte Sie sehen. In der Moika Nr. 58, zweiter Stock. – Kommen Sie nach Sonnenuntergang und fragen Sie nach der Wohnung Kartaschin. Ich selbst werde Ihnen öffnen.«

Das erste Gefühl Savinskys war das der Freude. »Nach so vielen Lumpen in beiden Lagern, werde ich wieder das Gesicht eines Ehrenmannes sehen. Der ist ein Russe ohne Kompromisse!« So meinte er bei sich. Und er dachte an das Umherirren seines Freundes während des letzten Monates, seitdem er ihn nicht gesehen. Er hatte nichts von ihm gehört. Wohin war Spaßki in diesem Sturm verschlagen worden? Das Einzige, das er sicher von ihm gewußt hatte, war, daß er noch lebte, denn die Bolschewiki, die seine Energie fürchteten und in ihm den gefährlichsten ihrer Feinde sahen, hatten eine Kundmachung in den Zeitungen veröffentlicht, worin sie hunderttausend Rubel demjenigen versprachen, der ihn tot oder lebend bringe.

Er blickte auf den Soldaten, der noch auf Antwort wartete . . . »Und hier ist noch ein zweiter anständiger Mensch. Es gibt deren doch noch! Hunderttausend Rubel, welches Vermögen wäre das für ihn!«

Er schüttelte ihm die Hand und ließ »Ingenieur Muschin« sagen, daß er um sechs Uhr bei ihm sein werde. –

Als er allein geblieben war, ging ein neuer Gedanke durch seinen Kopf. »Da hab' ich mich in ein etwas gewagtes Unternehmen eingelassen. Wenn nun der kluge Semeonow mich zufällig überwachen läßt? Was ist dann wohl das Ende? – Gefängnis oder glatte Hinrichtung?« Der Gedanke, daß Semeonow ihn möglicherweise überwache, belustigte ihn. »Wenn er sich um mich kümmert, wird er wissen, daß ich täglich mit Lydia zusammenkomme, an der er so viel Anteil nimmt.« Bald aber dachte er nur noch an das Vergnügen, Spaßki wieder zu sehen.

Bei Einbruch der Dämmerung begleitete er Lydia, mit der er an der Newa einen längeren Spaziergang gemacht hatte, nach Hause. Er brannte darauf, ihr zu sagen, daß er zu Spaßki gehen werde, aber es schien ihm doch klüger, zu schweigen. Er sah übrigens niemand, der ihnen zu folgen schien. Um aber ganz sicher zu sein, betrat er mit Lydia durch das Hauptportal am Quai das Palais Volynski, hielt sich eine Weile auf, um Tee zu trinken, und verließ das Haus durch den rückwärtigen Eingang, von wo er durch den Hof und das Haus der Schupows die Millionaja erreichte. In wenigen Minuten stand er vor dem bezeichneten Haus in der Moika.

Der Hausflur war schlecht beleuchtet. Er sah keinen Portier und stieg, ohne jemand zu begegnen, in den zweiten Stock. Eine Minute später stand er Spaßki in einem kleinen Zimmer, in dem ein aufgebetteter Divan stand, gegenüber.

Spaßki trug eine gewöhnliche Mannschaftsuniform.

»Das ist heute in Rußland die beste Verkleidung«, meinte er lächelnd, als er die erstaunte Miene Savinskys sah. »So bin ich bloß einer der drei oder vier Millionen Soldaten, die jetzt durch das Land irren. Und hier ist mein Ausweis,«

Er reichte Savinsky ein fettiges Büchlein, auf den Namen Karpow, Iwan Fornitsch, aus dem Gouvernement Orel, ausgestellt.

»Sie werden es begreifen, lieber Freund, daß ich den Bolschewiken nicht die Ehre erweise, mich wegen ihrer Polizei zu beunruhigen . . . Ich bin der Ochrana des Zaren entkommen! – Die Leute von heutzutage sind ja die reinsten Kinder gegen die frühere Polizei.«

Spaßkis Ordonanz brachte Tee.

Wie mit Semeonow, begann auch ihre Unterhaltung mit persönlichen Fragen, und Savinsky beachtete, daß Spaßkis erste Frage Lydia Sergijewna galt. Spaßki wollte sofort wissen, ob sie in Petersburg geblieben sei und sprach in Ausdrücken von ihr, die Savinsky bewegten.

»Ich würde sie gerne sehen,« sagte er, »denn sie ist ein entzückendes Geschöpf und unter ihrer Schüchternheit verbirgt sich ein aufrechter, stolzer Charakter. Zu ihr hätte ich Vertrauen. Die Frauen bei uns sind besser, als die Männer. – Ich würde sie gerne sprechen, aber ich hätte Bedenken, Nikolaus Wladimirowitsch, sie in unnütze Gefahren zu verwickeln. Diesmal muß ich verzichten. Nur wenn es wirklich nötig sein wird, werde ich sie aufsuchen. Wollen Sie ihr aber sagen, daß ich sie nicht vergessen habe, daß ich oft an sie denke?«

»Gewiß will ich es tun,« erwiderte Savinsky, »auch ich liebe sie wie meine Tochter. Wir sprechen oft von Ihnen. Trotz der gegenwärtigen Greuel, ist Lydias Vertrauen zu Rußland unerschüttert. Ihre jugendliche Begeisterung ist mir überaus wertvoll. Sie hilft mir über die vielen elenden Stunden, in denen ich oft Lust hätte, alles hinzuwerfen, und nur fortzugehen. – Wir leben in einer schlechten Zeit, mein lieber Andreas Iwanowitsch, man wird müde und feige . . .«

Er verstummte nach diesem Wort, das, wie ihm schien, den Raum erfüllte. Eine Weile überlegte er, blickte Spaßki an, der ihn ganz erstaunt nicht aus den Augen ließ, und plötzlich entschloß er sich, seinem Freund die ganze Unterredung mit Semeonow zu erzählen und von der schwierigen Stellung zu berichten, in die er seither geraten sei.

Zu seiner großen Überraschung billigte es Spaßki, statt, wie er erwartet hatte, ihm Vorwürfe zu machen, daß er mit der Regierung in Fühlung getreten sei. Sicherlich dürfe man sich nicht öffentlich bloßstellen und dadurch den Diktatoren den moralischen Erfolg einer so wertvollen Verbindung verschaffen. Aber unter Beobachtung dieser Vorsicht sehe er nur Vorteile darin, mit den Gebietern im Smolny Beziehungen zu unterhalten.

»Sehen Sie, der einzige Fehler wäre es, jetzt Rußland zu verlassen. Es müssen alle russischen Patrioten hier sein; Männer, wie ich, müssen gegen die Bolschewiken offen Krieg führen, und Männer, wie Sie, müssen sich bereithalten, im gegebenen Moment die Führung der Geschäfte zu übernehmen . . . Sie können sich ja nicht, wie ich es tue, in einem Soldatenrock verbergen. Sie müssen in Petersburg bleiben, und wenn Sie, um hier zu leben, genötigt sind, sich eine oder zwei Stunden in der Woche mit den Bolschewiki zu unterhalten, so sehe ich darin kein solches Übel . . . Wir werden Sie nötig haben. Ich reise ins Dongebiet, um die Generäle Alexejew, Kornilow und Kaledin wieder zu treffen. Dort allein liegt unsere Rettung . . . Aber hier in Petersburg brauchen wir verläßliche Freunde. Ihnen werde ich einen Teil der nötigen Nachrichten senden. Sie werden Ihnen durch vollkommen sichere Leute und zumeist mündlich zukommen. In Rußland haben alle die Sucht zu schreiben. Nichts ist gefährlicher . . . Von mir werden Sie nur Briefe bekommen, wenn es unbedingt nötig ist. Sie werden sie besonders aufmerksam lesen müssen, um auch das zu verstehen, was zwischen den Zeilen steht! Unterschrieben werden sie nie sein, Ihr Name wird auch nicht darauf stehen, und sie werden von fremder Hand geschrieben sein, denn meine Schrift ist diesen Lumpen hier nur zu gut bekannt. Sie werden sie daran erkennen, daß der zweite Satz mit dem Worte »noch« beginnt – und nun zu unseren Plänen! Aber ich will Sie gleich darauf aufmerksam machen, daß wir vor allem Geld brauchen, denn wir haben keine Kopeke im Don, und ohne Geld gibts keine Armee. Man muß die Verbündeten aufsuchen und ihnen erklären, daß die einzige Möglichkeit, die Bolschewiki zu vertreiben, darin besteht, eine Freiwilligen-Armee im Kosakengebiet aufzustellen . . .«

Das Gesicht Spaßkis leuchtete auf. Er war jetzt ganz in seinem Element. Für ihn war ja das Leben einfach, er hatte ein Ziel, für das er alle seine Kräfte einsetzte. Und dieses Ziel war wundervoll: die Befreiung Rußlands aus der schändlichen Sklaverei, in die es gefallen war. Könnte man wohl dem Tätigkeitsdrang eines jungen Mannes, der seinen Fähigkeiten vertraut, eine schönere Aufgabe stellen?

Er besprach in allen Einzelheiten die Schaffung einer sicheren und raschen Verbindung von Petersburg zum Don. Alles berücksichtigte er, auch die Möglichkeit, daß Savinsky verhaftet oder nur überwacht werden könnte. Er schärfte ihm die folgsamsten Verhaltungsmaßregeln ein und empfahl ihm eine ganze Reihe von Vorsichtsmaßnahmen, die er gebrauchen sollte, wenn er Spione um sein Haus beobachte.

Als er ihn spät abends verließ, fühlte auch Savinsky sich voll Leben und Mut und als er an Spaßkis Miene zurückdachte, sagte er sich: »Ich habe einen glücklichen Menschen gesehen! Ja, denn in den Schrecken dieser Tage hat er zufällig das unerhörte Glück, die richtigste Verwendung seiner Fähigkeiten zu finden. Er selbst weiß es kaum; er ist sich darüber gar nicht klar; wie ich, wie wir alle, spricht er von der Schande, die es heute ist, Russe zu sein und trotzdem hat er niemals früher schönere und erfülltere Stunden erlebt . . .«

Und Savinsky überließ sich seiner Freude am Grübeln und verfolgte eifrig diese an neuen Gedanken so reiche Fährte, die ihm eigenartig anziehend erschien.

 

Seit nahezu drei Wochen hatte der Wirbel der Ereignisse, in die er verstrickt war, Savinsky abgehalten, seine Familie zu besuchen. Von einem Tag zum andern hatte er es immer wieder verschoben. Aber wachsende Gewissensbisse lasteten auf ihm und er vermochte sie nicht abzuschütteln. Seine Frau wartete auf ihn . . .! Sie beklagte sich nicht, das lag nicht in ihrer Natur. Sie schrieb nie von sich, stets nur von ihren Kindern, die ungeduldig würden, vor allem Boris. Ihren Mann in tausend Gefahren zu wissen, die sie in der Entfernung noch vielfach größer sah, machte sie sicherlich sehr unruhig. Aber sie hatte unerschütterliches Vertrauen zu ihm, sie wußte ihn von wichtigen Geschäften abgehalten und zweifelte nicht, daß er, sobald es ihm nur irgend möglich sei, zu ihnen eilen werde, um mit ihr und den Kindern in Finnland zu leben oder nach England weiter zu reisen. – Endlich entschloß sich Savinsky, einen Augenblick der Ruhe in dem Sturm, der die Stadt durchbrauste, benützend, auf zwei Tage über die Grenze zu gehen. Lydia, diesen Entschluß mitzuteilen, war ihm aber ungemein peinlich. Er sah sie jetzt täglich, und die Vertrautheit, die zwischen ihnen immer inniger geworden war, schien ihm das Recht zu nehmen, sie auch nur für kurze Zeit zu verlassen. Er sagte es ihr endlich, als sie in den Anlagen an der Newa dort, wo die Broncestatue Peters des Großen steht, spazieren gingen.

»Sie werden verstehen, kleine Freundin, daß ich Ihretwegen große Sorge haben werde,« fügte er hinzu, »was geschieht in der Stadt, werde ich mich unaufhörlich fragen. Ist alles ruhig? Wird geschossen? – Ja, Sie müssen mir das ernste Versprechen geben, sehr, sehr vorsichtig zu sein und keine Dummheiten zu machen. Wären Sie vielleicht einverstanden, gar nicht auszugehen? Ich bilde mir halt schon ein, daß Sie ohne mich überhaupt nicht mehr ungefährdet aus dem Hause gehen können!«

Lydia aber wies diese Zumutung lebhaft zurück.

»Bin ich ein Kind? – Die Stadt ist ruhig, ich verspreche gar nichts. Wahrscheinlich werde ich mit meiner Freundin Helene ausgehen. – Ja, und was Dummheiten betrifft – die möchte ich schon gerne machen, aber das ist gar nicht so leicht, wie Sie glauben . . .«

Nach einer kleinen Unterbrechung fuhr sie fort: »Eigentlich möchte ich wissen, was Sie überhaupt Dummheiten nennen . . . Wenn ich Semeonow im Ministerium besuche, ist das eine Dummheit? Nein, ich bin sicher, daß er mich sehr liebenswürdig empfangen und von vollendeter Höflichkeit sein wird. Oder vielleicht werde ich bei dem entzückenden Lord Tee trinken, wozu er mich schon seit langem auffordert. Oh, nicht allein, werter Herr, immer in Begleitung meiner Freundin! – Dummheiten in Ihren Augen? – Für mich sehr vernünftige und sogar recht langweilige Dinge . . . Ich will Ihnen etwas sagen, Nikolaus Wladimirowitsch, worüber ich viel nachgedacht habe . . . Wir sind doch jetzt mitten drin in der vollen Revolution. Unter Kerenski konnte man vielleicht noch daran zweifeln; da waren Sie noch Präsident der Nordischen Bank . . . Aber jetzt? – Jetzt sind Sie gar nichts mehr, ein Niemand und Ihr Auto haben die Bolschewiki genommen. Alle sind wir ruiniert. Man ist sich dessen vielleicht noch nicht so recht bewußt, aber das kommt schon noch . . . Nach und nach verläuft sich unsere Dienerschaft, man bekommt immer weniger Lebensmittel, man heizt wohl noch, aber nur mit den alten Vorräten, das elektrische Licht versagt immer häufiger und gerade dann, wenn man es am nötigsten brauchen würde . . . Nachts kann man nicht mehr ausgehen, denn man wird an jeder Straßenecke ausgeplündert – und was morgen noch alles kommt, wissen wir gar nicht! – Und doch, wenn man's genau betrachtet, führen wir alle dasselbe armselige seichte Leben, wie bisher, inhaltslos, phantasielos, nur zurückgezogener, denn man sieht einander ja kaum mehr . . . Es fehlt uns an Würde, an Größe . . . Wir sind recht erbärmlich, lieber Freund. Und das Schlimmste ist, daß ich keine Ahnung hab, was wir Großes ausdenken könnten. Das ist zum Verzweifeln! Abends im Bett vor dem Einschlafen prüfe ich mich und muß mir stets sagen: ›Nun ist wieder ein Tag meiner Jugend verflogen, was habe ich damit angefangen?‹«

Sie sprach halb lächelnd, halb ernsthaft. Aber an mancher Schattierung ihrer Stimme, die sie nicht ganz in der Gewalt hatte, erkannte Savinsky, daß eine verborgene Saite schmerzlich in ihr mitklang. Sein Unvermögen, sie glücklich zu machen, kam ihm mit einemmal zu niederschmetterndem Bewußtsein. Er entgegnete nichts. Bittere Gedanken stiegen in ihm auf. –

In dem Garten waren sie ganz allein. Über ihnen an der höchsten Stelle der Anlage tummelte der Broncereiter sein bäumendes Pferd. Ein tiefliegender, bleigrauer Himmel bedeckte die Stadt. Auf der einen Seite hoben sich die weißen Säulen und Pfeiler der großen Gebäude des heiligen Synods und des Senats vom gelben Hintergrund der Häusermauern ab. Auf der anderen Seite breitete der Admiralitätspalast den reichen kaiserlichen Prunk seiner Architektur bis zur Newa hin. Eine kleine rote Fahne, die auf der Dachspitze flatterte, schien die ganze vergangene Größe, Ordnung und Pracht zu verhöhnen. Savinsky hatte das Gefühl, als wären Lydia und er in einem unbekannten, feindlichen Land verloren. Eine Katastrophe drohte ihnen. Man müßte fliehen . . . Aber es war zu spät . . . Ein Frösteln überlief ihn . . .

Er faßte sich indes bald wieder und lächelte über seine unvernünftige Nervosität. Er fühlte sich voll Kraft und Lydia war ja bei ihm. Genügte dies nicht, um jedem Geschick zu trotzen?

Während er das junge Mädchen nach Hause brachte, war er über ihre Verstimmung, die sie jetzt zeigte, erstaunt. Sie war nervös, reizbar. Zum erstenmal, seit er sie kannte, sagte sie ihm verletzende Worte. Vergeblich versuchte er sie zu besänftigen, sie blieb höhnisch und abweisend. Als er von ihr Abschied nahm, in dem Bewußtsein, sie zwei Tage lang nicht zu sehen, war er verzweifelt. –

Am nächsten Morgen verließ er zu früher Stunde Petersburg und kam mittags bei den Seinen an. Das Wetter war feucht und kalt, die finnische Landschaft traurig, endlos grau. Er fand sich wieder in jener Familienstimmung, die er so gut kannte, in jener Ruhe und Heiterkeit, die Sonja verbreitete und für die er in den langen Jahren seiner Ehe so empfänglich gewesen war. Alles in ihrer Nähe schien wie von selbst in geregelte Bahnen zu gleiten und sich verborgenen Gesetzen zu fügen, die schon in ihrem Wesen über jeder Erörterung standen. Nichts konnte befremdend oder überraschend in ihre Beziehungen zu ihrem Mann oder ihren Kindern eingreifen. Die Auswirkung ihrer Persönlichkeit war wie die linde Wärme, die immer gleichmäßig, gelassen, wohltuend den großen russischen Fayenceöfen entstrahlt. Savinsky war auch diesmal dafür dankbar; seine Nerven, denen das schwere Leben in Petersburg harte Aufgaben stellte, entspannten sich. Eine Flut von weichen Empfindungen umhüllte ihn. Nach dem Tee setzte Sonja sich ans Klavier und sang mit ihrer schönen Altstimme Volkslieder. Savinsky hielt seine kleine Tochter auf den Knien, die unbeweglich lauschend einen Arm um seinen Hals geschlungen und ihre Wange an sein Gesicht gedrückt hatte. Er wehrte sich nicht gegen die Rührung, die in ihm aufstieg, immer stärker wurde und ihn schließlich ganz erfüllte. Ein reiches, stetes und ruhiges Glück lag hier vor ihm, er brauchte es nur festzuhalten! Und plötzlich frug er sich gequält: »Warum bin ich so ergriffen?« Und schon stand auch eine Antwort erschreckend unfreiwillig vor ihm: »Ich bin für dieses Glück nicht mehr geschaffen!« Als hätte ein Fremder aus ihm gesprochen. – Die Erschütterung preßte ihm Tränen in die Augen. Er zog seine Tochter an sich und küßte ihre reine Stirne; das Kind schlang seine Ärmchen fester um ihn und drückte seine weichen Lippen an des Vaters Wange. Er atmete heftig, als hätte er einen steilen Berg erklommen. –

Das Abendessen war voll Heiterkeit. Boris belebte es durch Scherze und Savinsky unterhielt sich mit seinem Sohn und ließ sich in unwiderstehlicher Erschlaffung von dem kindlichen Ton mitreißen, den die Gespräche durch Boris erhielten. Doch einige fragende Blicke seiner Frau, die während des Essens verwundert auf ihm ruhten, entgingen ihm nicht. Einen Augenblick glaubte er eine Spur staunender Unruhe darin zu lesen, aber dieser flüchtige Eindruck zerstreute sich schnell wieder. –

Es war nahe an Mitternacht, schon war die Lampe über dem Doppelbett verlöscht. Savinsky neigte sich zu seiner Frau, um sie vor dem Einschlafen zu küssen. Da fühlte er warme Tränen an ihrer Wange.

»Du weinst?« frug er zärtlich mit sanfter Stimme.

»Vergib, es ist nichts. Ich war in den letzten Tagen ein wenig nervös . . . Die Zeiten sind auch für mich schwer . . . Doch ich bin glücklich, denn ich liebe dich.«

Sie schmiegte sich an ihn. Ihre Tränen flossen weiter. Der Schlaf überfiel sie endlich in den Armen ihres Gatten, der sie sanft streichelte und schweigend neben ihr ruhte. –

Gegen Abend des nächsten Tages war er wieder in Petersburg. Sonja hatte ihn mit den Kindern zur Bahn begleitet und keinerlei Schwäche mehr gezeigt. Savinsky hatte ihr seine Absichten auseinandergesetzt. Es mußte noch zugewartet werden; Finnland war ruhig und sicher, wenn auch Banden von Matrosen und Soldaten die Gegend durchzogen. Aber sie wichen kaum von der Bahnlinie ab und trotz der Agitation der Sozialisten schien die Stellung der bürgerlichen Regierung Finnlands unerschüttert. Für Sonja und die Kinder war hier also keine Gefahr. Savinsky aber wollte die weitere Entwicklung der Krise in Petersburg beobachten. Wenn die Bolschewiken verjagt würden, dann mußte er zur Stelle sein; wenn aber das Gegenteil einträte und sie ihre Macht befestigten, nun, dann sei immer noch Zeit, über die Grenze zu gehen, um ins Ausland zu gelangen. Indessen werde er trachten, jede Woche nach Finnland zu kommen und einen verläßlichen Weg zu finden, um Nachrichten zu senden.

Im Zug während des Aufenthaltes in Bialyostrow und bis zu dem Augenblick, da er spät abends aus dem Schlitten stieg, der ihn vom Finnländer Bahnhof nach Hause gebracht hatte, blieb er noch unter dem Einfluß der bei seiner Frau verlebten Stunden. Aber kaum in seinem Zimmer, eilte er zum Telephon und verlangte Verbindung mit den Volynskys. Er erfuhr bestürzt, daß Lydia nicht zuhause sei. Er rief sofort Natalie Schupow-Karamin an. Sie hatte Grippe, war allein zu Hause und empfing niemand. – Wohin konnte Lydia gegangen sein? Seit mehr als zwei Stunden war es Nacht. Wie konnte sie nur wagen, so spät abends noch außer Haus zu sein? War sie vielleicht bei ihrer Freundin Helene in der Mokhovaja? Die hatte kein Telephon. – Um von dort nach Hause zu kommen, mußte sie aber die gefährliche Einsamkeit des Marsfeldes überqueren! Und er hatte das Bild vor Augen, wie Lydia allein den finstern Weg entlang schritt, den auf der einen Seite der Kanal begleitet und auf dessen anderer Seite die hohen Holzstöße lagern, die einen Teil der städtischen Winterreserve bilden. Sie ging leicht wie immer, arglos bloß darauf bedacht, den Löchern der Straße auszuweichen. Und nahe bei der Brücke lauerten schweigend drei Soldaten. Die Vision stand so deutlich vor seinen Augen, daß er ins Vorzimmer stürzte, seinen Pelz umwarf und einige Minuten später keuchend auf dem Marsfeld anlangte. Der Platz lag offen, öde, trostlos vor ihm. Ein Nordwind hatte sich erhoben und die winzige Flamme der einzigen angezündeten Straßenlaterne flackerte trübe hinter ihren gesprungenen, klirrenden Scheiben. Es war grimmig kalt. Jenseits des Platzes kreischten Straßenbahnwagen über die gefrorenen Schienen. Er ging ein paar Schritte auf der Straße weiter; dann wartete er einen Augenblick, zündete eine Zigarette an und kehrte wieder um. Endlich entschloß er sich, zögernd heimzugehen.

»Dieses Leben ist unmöglich!« entschlüpfte es ihm, als er wieder in seinem behaglichen Zimmer stand. Er ging nochmals zum Telephon, diesmal war Lydia am Apparat.

»Wo waren Sie denn um Himmelswillen, ich vergehe ja schon vor Unruhe!«

»Aber ich hab mich nur ausgezeichnet unterhalten. Weswegen sorgen Sie sich denn? – Ich habe Ihnen übrigens etwas mitzuteilen.«

»Was denn?« Savinsky, noch kaum beruhigt, verfiel neuerdings in eine unbegreifliche Erregung.

»Ich sag's Ihnen morgen, wenn Sie mich besuchen wollen. Aber ausgehen kann ich nicht mit Ihnen, ich bin nicht frei . . . Kommen Sie gegen fünf Uhr zum Tee . . . Heute abend? Nein, ich bin müde, auch will ich Papa noch Gesellschaft leisten, es geht ihm nicht gut . . . Auf morgen also!«

Savinsky verbrachte einen elenden Abend. Er blieb zu Hause und las die Zeitungen, an denen er gar kein Interesse fand, obgleich sie voll von Berichten über die ersten Verhandlungen in Brest-Litowsk waren. Als er sich endlich niederlegte, war er fest entschlossen, Rußland endgültig zu verlassen und nach Finnland zurückzukehren. – Es war für einen anständigen Menschen doch einfach unmöglich, sich auch nur indirekt mit einer Regierung von Verbrechern zusammenzutun und an der Schmach, mit der sie das Land besudelten, teilzunehmen.

 

Savinsky hatte einen schwierigen Tag. Früh schon rief Semeonow in einem Ton an, der ihm höchlichst mißfiel. Es machte den Eindruck, als wären sie Komplizen und schon dieser Gedanke war Savinsky besonders in seiner jetzigen Stimmung verhaßt. Semeonow hatte seinen Besuch in der Bank für zwölf Uhr des nächsten Tages in einer solchen Art angekündigt, daß es Savinskv unmöglich gewesen war, Ausflüchte zu gebrauchen. – Später, als Savinsky bei Tisch war, meldete sich ein aus Moskau eingetroffener Offizier in schlichtem Soldatenmantel. Er kam von Spaßki. Dieser war voller Zuversicht und glaubte fest an den Erfolg der Aktion im Süden. »Wir wollen dort einen neuen Sammelpunkt für das wahre Rußland bilden und von dort, aus den Kosakengebieten wird dem Lande das Heil kommen.« Aber nach einigen Fragen, die Savinsky dem Boten stellte, erkannte er, daß wieder einmal die Rivalität unter den führenden Männern am Don eine große Rolle spielte, daß das Zusammenarbeiten der Generäle nicht ohne Reibungen vor sich ging, daß Spaßki selbst wegen seiner revolutionären Vergangenheit sich nur schwer durchzusetzen vermochte und daß schließlich in den Städten auch dort unten die Bolschewiki Anhänger gewannen. Er hatte das ziemlich klare Gefühl, daß das ganze Werk seines Freundes nutzlos sei. Was aber konnte er tun? Man mußte wohl mit den Karten spielen, die man in der Hand hielt und so besuchte Savinsky den ganzen Nachmittag Politiker und Finanzleute, mit denen er konferieren mußte, ehe er Spaßki antworten konnte. Und während er unaufhörlich von Politik und Geschäft sprach, dachte er doch nur an eines: An die Freude, die ihm das Wiedersehen mit Lydia um fünf Uhr versprach.

Verspätet, abgehetzt und schlechter Laune kam Savinsky endlich zu Lydia und seine Verstimmung nahm noch zu, als er Helene, die Freundin, bei ihr antraf.

Lydia begrüßte ihn in freundschaftlichster Weise. Sie war lebhaft und heiter. Das kleine Boudoir, in dem sie ihn empfing, war behaglich und warm. Die jungen Mädchen plauderten von ihren Freundinnen und von jungen Leuten, die sie gesehen hatten oder von denen Nachrichten gekommen waren. Von den jüngsten Vorgängen, von Politik fiel kein Wort. Hundert Meilen weit schien die Revolution! Sogar Savinskys Stimmung wurde bei diesem harmlosen Geplauder heiterer. Er beteiligte sich an der Unterhaltung. Er betrachtete das lebhafte Mienenspiel Lydias; sie war wieder zum Kind geworden und er sah wieder die gleiche Lydia vor sich, wie er sie vor dem Tode ihres Vetters gekannt hatte. Er zögerte noch, sie zu fragen, was sie ihm hatte mitteilen wollen. Aber Lydia selbst lenkte das Gespräch auf den gestrigen Tag. Sie hatte den Tee bei Lord Douglas genommen, der sein kleines Appartement in der Nähe der englischen Botschaft behalten hatte. Doch er hielt sich bloß nachmittags dort auf, denn wie Savinsky bekannt war, wohnte er jetzt bei Natalie. Sie waren zu viert dort gewesen; er hatte auch ihre Freundin und einen Kollegen von der Botschaft eingeladen. Helene und sie tauschten lebhaft ihre Eindrücke vom gestrigen Nachmittag aus und ergänzten gegenseitig eifrigst die Erinnerung an diese gemütliche Teestunde.

Savinsky schienen sie vergessen zu haben. Schweigend saß er da und hatte plötzlich das Gefühl, von der Unterhaltung ausgeschaltet zu sein, ja, einer fremden Welt anzugehören, aus der keine Brücke mehr zu Lydia führte. Sollte seine kurze Reise nach Finnland schon genügt haben, eine so tiefe Kluft zwischen ihnen zu schaffen? Jetzt erkannte er auf einmal, daß Lydia hier in Petersburg, wo sie beide lebten, Interessen und Erinnerungen hatte, die er nicht mit ihr teilte. Er verlor sich in immer grämlichere Gedanken, während die beiden Mädchen ihr lustiges Geplapper fortsetzten. Zuweilen blickte er Lydia an. Niemals noch war sie ihm so reizvoll erschienen wie heute. Als wäre sie aus einem selteneren Stoff als alle anderen Frauen gemacht. Neben ihr schien Helene, obgleich sehr anmutig, nur wie die Magd neben der Herrin. Lydia hatte eine Art, ihre großen strahlenden Augen zu öffnen und einen anzublicken, daß man meinte, darin auf den tiefsten Grund ihrer Seele zu blicken. Gab es noch einen zweiten, so vollkommenen Körper mit einer so unschuldsvollen Reinheit?

Savinsky wartete ungeduldig auf den Aufbruch Helenes, um mit Lydia allein sprechen zu können. Aber als diese sich endlich erhob, hielt Lydia sie zurück und bat sie, zum Abendessen zu bleiben. Und auf den Einwand des jungen Mädchens, daß sie so spät abends doch nicht allein nach Hause gehen könne, erwiderte Lydia, daß sie doch, wie schon so oft vorher, bei ihr übernachten solle.

Das war Savinsky zu viel; er nahm von den Mädchen Abschied. Lydia begleitete ihn ins Vorzimmer. Sie schien die düstere Stimmung ihres Freundes nicht zu bemerken. Als er sich vor ihr verneigte, sprach sie plötzlich:

»Also die große Neuigkeit, Nikolaus Wladimirowitsch! Lord Douglas will, daß ich ihn heirate! – Er meint, dadurch wäre alles bestens für mich geordnet, bei ihm wäre ich in Sicherheit und schon im Januar würden wir mit dem Botschafter, der nach London zurückkehrt, Rußland verlassen. – Das waren alle Gründe, die er anführte; nicht echt englisch?«

Savinsky fühlte sein Herz hämmern. Es brauchte einer Gewaltanstrengung, daß er seiner selbst Herr blieb. Er blickte Lydia voll an; sie lächelte, aber er glaubte zu bemerken, daß ihre leicht geschwellte Unterlippe ein wenig zusammengepreßt war. Einen Augenblick war es still zwischen ihnen.

Dann meinte er ganz ungezwungen: »Wirklich, Lydia Sergijewna, das wäre eine Lösung. – Adieu.«

Und er ging.

 

Erst jetzt, nach dem Eindruck dieser Szene, gewann Savinsky Klarheit über sich selbst. »Wie täuschte ich mich über meine Gefühle für Lydia! Ich glaubte, eine tiefe Freundschaft für sie zu empfinden, ich glaubte, ein Kind in ihr zu sehen – Irrtum, Einbildung! Es ist keine Freundschaft, es ist Liebe – nicht zu einem Kind, zu dem Mädchen, das morgen Weib werden kann!« So erkannte er sich. Vier Zeilen eines Volksliedes zogen durch seinen Geist:

»Das Gras wurde zerstampft;
Nicht durch dich.
Zum Weib wurd' ich gemacht;
Nicht durch dich . . .«

»Es ist ja klar! Warum blieb ich denn in Petersburg, als alles mich zur Flucht drängte? Ihretwegen! – Warum komme ich fast gar nicht mehr nach Finnland? Warum diese Angst, die mich unlängst mitten im Kreise der Meinen überfiel? Weil ich mich von ihnen geschieden fühlte, alles wegen Lydia! Sie ist mir teurer, als alles andere auf der Welt. So ist's! Sie erfüllt mein Leben; es ist unausdenkbar, wundervoll ist es. Hätte ich mich noch eines so tiefen Gefühles fähig gehalten? Ich, der ein braver Hausvater geworden war! Der seine Tage in trägem Hinbrüten zu beenden meinte. – Da begegne ich ihr! – Und diese wirren Zeiten, man weiß kaum, wie man lebt . . . Und alles schwankt – Gottlob, ich bin nicht tot! Welches Verlangen zu leben fühle ich in mir! – –«

Ganz verloren an das Entzücken über seine Entdeckung durchmaß Savinsky sein Zimmer. Zum Abendessen war er nicht allein gewesen und sein Geist war von den Gedanken, die ihm teuer waren, durch lange ermüdende Gespräche, die er mit seinen Gästen hatte führen müssen, abgelenkt worden. Aber sein Gehirn hatte im stillen gearbeitet und jetzt, da er sich allein fand, hatte er mit einem Sprung seiner Gedanken seine Gefühle klar erkannt. Diese unvermutete Erkenntnis überraschte und begeisterte ihn derart, daß er im Augenblick an nichts anderes dachte. Er, Nikolaus Wladimirowitsch Savinsky, der seit fünfzehn Jahren nur dem engen Kreis seiner Familie lebte und darin alle Freuden und alles Glück der Welt gefunden hatte, ihn beseligte noch einmal, mit fünfundvierzig Jahren, die große Liebe! – Er betrachtete sich im Spiegel. – Allerdings, das Alter war ihm nicht sehr anzumerken. Einige schärfere Falten, wenige graue Haare; aber seine Züge waren noch offen und kraftvoll, der Blick noch lebhaft. Im ganzen das Bild eines Riesen, der mit beiden Füßen fest im Boden wurzelt. – Nun erst sprach er vor sich hin: »Ich liebe Lydia, aber Sie? Sie liebt mich nicht! – Sie fühlt Freundschaft für mich, herzliche Freundschaft, große Zuneigung, – aber sonst nichts.«

Sonderbar war, daß dieser Gedanke ihm doch gar kein Leid verursachte. Es war eine Tatsache; unabänderlich, selbstverständlich, über jeder Diskussion stehend, was aber wunderbar und beglückend blieb, war das Gefühl, das in ihm, Savinsky erwacht war . . . Ja, aber Lord Douglas? Wird er ihm Lydia entführen? Diese Möglichkeit schien ihm unerträglich. Er wollte gerne Lydia lieben, ohne Hoffnung auf Gegenliebe, aber niemals würde er zugeben, daß sie einen anderen liebe, oder daß sie Petersburg verlasse. Nein, er brauchte sie; er mußte sie in seiner Nähe wissen. Ohne sie war er gar nichts mehr; ohne sie war das Leben öde; eine unerträgliche Leere würde ihn töten.

Das Gesicht des jungen Lords tauchte vor ihm auf. Schön, wie ein Gott! Keine Frau konnte ihm widerstehen! – Aber Lydia? Sie war nicht wie alle anderen. In ihr schlummerte die tiefe russische Seele; sie würde keinem britischen Antinous erliegen . . . Und ihren Vater verlassen? Unmöglich! – Und wenn der Fürst stürbe? Würde der Selbsterhaltungstrieb nicht alles überwinden? Würde sie nicht doch nach dem üppigen, ruhigen Leben, das er ihr bot, greifen?

Savinsky verbrachte einen unruhigen Abend; er wälzte die widerstreitendsten Gedanken in seinem Kopf.

Aber ganz tief in ihm lebte nur das Glück über seine Entdeckung, das Glück, das durch nichts aufgewogen wurde: er liebte! Er liebte Lydia Sergijewna! Das war ein Geschenk des Himmels. Sein Leben war davon durchstrahlt. –

In der Begegnung, die er tags darauf mit Semeonow hatte, machte sich die Spannung seiner Nerven fühlbar. Die Unterhaltung führte fast zu einem Zerwürfnis. Die beißende Kaltblütigkeit des jungen Bolschewikiführers empörte ihn. Er ließ sich in seinen Antworten zu einem lebhafteren Ton hinreißen, als er gewollt hatte. – Semeonow gab sich den Anschein, als würde er die Revolution außerhalb jeder Diskussion stellen.

»Das ist eine Tatsache!« sagte er. »Ein verständiger Geist kann sich vor einer gegebenen Situation nur beugen und sein Verhalten danach richten. Es hängt nicht von Ihnen ab, ob wir in vollster Revolution leben oder nicht. Nehmen Sie es also endlich als unabänderlich; was werden Sie tun?«

»Aber wie lange wird diese Ihre unabänderliche Tatsache bestehen? Zwei Monate sind Sie jetzt an der Macht gewesen; wie lange werden Sie's noch sein? – Die Ereignisse überstürzen sich bei uns! Kerenski, der populärste Mann Rußlands, hat keine sechs Monate dem Sturm standgehalten. Wer kann behaupten, daß Lenin und Trotzki nicht vielleicht schon in wenigen Wochen fliehen – oder hängen?«

Kaum war Savinsky dieses Wort entschlüpft, hätte er es gerne wieder zurückgenommen.

Semeonow lächelte mit seinen dürren Lippen, öffnete beide Hände mit der ihm gewohnten Geste und entgegnete, sein Gegenüber starr anblickend:

»In Einem haben Sie recht, Nikolaus Wladimirowitsch, in Rußland gilt heute ein Menschenleben nicht gar viel. Man soll das ja nicht vergessen!«

Und er unterbrach sich, um diesen Gedanken, der eine Warnung und eine Drohung sein konnte, auf Savinsky wirken zu lassen.

Dann setzte er in leichtem Gesprächston fort:

»Wenn Sie unser Land kennen, müssen Sie verstehen, daß es für uns ist und begreifen, daß es lange mit uns gehen wird. – Warum? Wir bringen dem Russen, diesem wunderlichen Menschen, der jedem Fremden stets vollkommen unverständlich bleibt, zwei Dinge, die er über alles auf der Welt liebt. – Der Russe liebt vor allem die Gewalt; ich drücke mich da noch schlecht aus: er hat geradezu eine Leidenschaft dafür . . . Und er verehrt jeden Wechsel. Auch da bleibt das Wort hinter der Wahrheit zurück; den Umsturz vergöttert er, die Umkehrung aller Werte . . . Wir aber bieten ihm gleich beides! Nichts von der alten Gesellschaft wird bestehen bleiben und ein neues System wird von uns geschaffen, ein Absolutismus, wie er noch nie angewendet wurde, den der Russe als erster erleben wird: der Kommunismus! Welcher Stolz für ein großes Volk, der Welt eine neue Wahrheit aufzuzwingen! Damit können Sie unseren Russen zu allem haben. Dafür wird er leicht tausend Entbehrungen ertragen . . . Und weiß Gott, wir werden seine Geduld auf die Probe stellen! – Der Russe wird die ganze Erdkugel in Erstaunen setzen, denn er wird beweisen, daß er von nichts leben kann, wenn eine Idee ihn erfüllt! Wir Russen sind ein gläubiges Volk, Nikolaus Wladimirowitsch. Aber den alten Formen der Religion fehlt jeder Inhalt. Sie stürzen zusammen und kehren zum Staub zurück. Wir aber predigen ein neues Evangelium, daß sich die Menschheit unterwerfen wird!«

In dieser Weise sprach er fort. Savinsky folgte ihm immer ungeduldiger. Wohl fand auch er, wie alle Russen, Geschmack an geistreichen Schwärmereien, aber die Reden Semeonows machten ihn heute nervös und schienen ihm nicht recht angebracht. Metaphysische Betrachtungen über politische und soziale Fragen mögen eine angenehme Beschäftigung für Leute sein, die nach Tisch müßig ihre Zigarre rauchen, hier jedoch, im Arbeitszimmer seiner Bank, von wo er gewaltige Geschäfte gelenkt hatte, war er realere Worte gewohnt.

In unvermittelter Weise kam Semeonow auf praktische Dinge zurück. Es handelte sich um die Gründung einer Volksbank, die alle vom Staat besetzten Privatbanken aufnehmen sollte und darüber wünschte er den Rat eines so eminenten Finanzmannes, wie Savinsky es war.

Dieser konnte sich nicht enthalten, verächtlich die Achseln zu zucken.

»Was erzählen Sie mir da? Wissen Sie denn überhaupt, wovon die Banken leben? Sie meinen vom Geld . . . Keineswegs! Sie leben nur vom Kredit, vom Vertrauen. Ohne Vertrauen könnte keine Bank der Welt auch nur einen Tag ihre Schalter offen halten! – Und welchen Kredit genießt denn die Regierung, der Sie angehören? . . . Gar keinen! – Sie haben die Depots beschlagnahmt. Wer wird Ihnen danach noch Geld anvertrauen? Kein Mensch! Und wenn Sie das Land mit Prospekten überschwemmen und selbst, wenn Sie die förmlichsten Zusicherungen geben – kein einziger Komittent, auch Sie selbst nicht, wird Ihrer Bank seine Werte anvertrauen. – Sie können mit allen Kräften knapp zweihundert Millionen Rubel im Tag drucken. Nicht eine einzige von allen Banknoten, die Sie in Umlauf setzen, werden Sie jemals wiedersehen! – Sie sind von vornherein zum sicheren Bankrott verurteilt . . . Meine Ansicht wollen Sie hören? Das ist sie, klar und bestimmt! Sie werden niemand finden, der die Sache versteht und ein anderes Urteil abgibt. – Wenn Ihr Wert darauf legt, daß wir mit Euch arbeiten, dann laßt den Kommunismus fallen, denn auf dieser Basis kann kein Geschäftsmann der Welt hier tätig sein.«

Semeonow überlegte eine Weile.

»Sie sind von der alten Schule, Nikolaus Wladimirowitsch, Sie sind Sklave der Grundsätze, in denen Sie aufgewachsen sind. Ist es möglich, daß Sie sich einer neuen Ordnung durchaus nicht anpassen können? Es wäre wünschenswert, glauben Sie mir . . . Es wird nötig sein. – Ich verzichte nicht darauf, Sie mit uns arbeiten zu sehen.«

Savinsky verabscheute die Gemeinplätze, in denen sich Semeonow manchmal gefiel. Bei anderen hätte er noch milder geurteilt; aber im Munde eines Semeonow, eines Mannes von diesem Charakter und solcher Intelligenz waren sie einfach unerträglich. Jede Unterhaltung, die er mit dem Kommissar der Bolschewiki hatte, endete schließlich damit, daß dieser ihn auf irgendeine Weise, mehr oder weniger taktvoll, fühlen ließ, daß er der Herr sei, daß er und seine Genossen vor nichts zurückschreckten und daß es, wolle man seine Haut retten, klug wäre, trotz allem zu ihnen zu halten.

Wie verschleiert diese Anspielungen auch immer sein mochten, sie waren auf die Dauer unerträglich. Es war dies eines der Zeichen dieser wirren Zeit und nicht das leiseste, daß man gezwungen war, die Drohungen eines Terroristen-Diktators hinzunehmen. Niemals wünschte Savinsky es glühender, daß Spaßkis Unternehmen Erfolg haben möge, als in den Augenblicken, da er Semeonow gegenübersaß.

Dieser erhob sich jetzt, trommelte, wie gedankenlos, mit den Fingern auf dem Rücken der zur Faust geballten anderen Hand, durchmaß das Zimmer, blickte durchs Fenster auf die Newa und sprach ganz nebenbei, belanglos: »Den englischen Botschafter werden wir verhaften.«

Savinsky fuhr auf.

»Ihr seid ja verrückt!« entfuhr es ihm, ohne daß er Zeit zur Überlegung fand.

Semeonow sandte ihm einen eisigen Blick zu und antwortete in förmlichster Weise: »Die Sowjetregierung duldet keine Beleidigungen, auch nicht vom britischen Staat, der Männer, wie Tschitscherin und Petrow im Gefängnis hält.«

Diesmal hatte Savinsky aber schon genug und auch er replizierte mit kältester Höflichkeit: »Wenn ich hier nicht als Mensch zu Mensch offen sprechen kann, dann begreife ich nicht den Zweck unserer Begegnungen.«

Es wurden noch wenige, unbedeutende Worte gewechselt, dann verabschiedete sich Semeonow.

»Wir sehen uns noch,« waren seine letzten bedeutsam betonten Worte. »Wenn Sie mich brauchen, zögern Sie nicht, mich anzurufen.«

Sobald Semeonow gegangen war, legte sich Savinskys Zorn. Er überdachte die Mitteilung, die ihm eben der zweite Kommissar im Ministerium des Äußeren gemacht hatte. Plötzlich hellte sich seine Miene auf und er lächelte.

»Das ist eine Erpressung,« dachte er. »Wenn Trotzki beschlossen hätte, den Botschafter zu verhaften, würde er nicht Semeonow damit betrauen, es mich wissen zu lassen. Aber da sie Schlauköpfe sind, haben sie sich diesen großartigen Weg ausgesonnen, um auf den Botschafter Seiner britischen Majestät einen Druck auszuüben, denn sie rechnen damit, daß ich mich beeilen werde, ihm meine Unterhaltung mit Semeonow wiederzugeben.«

Er überlegte noch einen Augenblick und sprach dann vor sich hin: »Und meiner Treu, es ist richtig, daß ich es ihm sagen muß. Sie haben ganz gut kombiniert. Aber die Erpressung ist deshalb nicht weniger offenkundig und sie denken im Ernst nicht einen Augenblick daran, meinen verehrten Freund zu verhaften.«

Er ließ beim Botschafter fragen, ob er ihn gegen fünf Uhr empfangen könne. Sehr verspätet kam er zum Essen nach Hause. Er fand einige Zeilen von Lydia, die ihm mitteilte, daß ihr Vater kränker sei und daß sie nicht ausgehen könne; sie hätte öfter vergeblich angerufen. – Um fünf Uhr ging er zum englischen Botschafter, wo er Lord Douglas traf. Er unterhielt sich eine Weile freundschaftlich mit ihm. »Liebt er Lydia wirklich?« frug er sich, während er mit dem schönen, jungen Mann plauderte, »aber nein; Liebe ist es nicht. Sie ist schön, sie ist jung, sie gefällt ihm, – er will sein Vergnügen an ihr haben, aber das ist auch alles. Er liebt sie nicht, er wird sie niemals lieben. Weiß er denn überhaupt, was das heißt, Lydia zu lieben?« Er lächelte vor Freude, so sehr erfüllte ihn diese Sicherheit. Und sie verließ ihn auch nicht, während er mit dem Botschafter sprach und er trug sie heim, als er eine halbe Stunde später von ihm Abschied nahm.

Abends rief er seine Freundin an. Der Fürst hatte einen schlechten Tag verbracht; er war erregt und verlangte Savinsky bald wieder zu sehen. Ob es ihm morgen um vier passen würde?

Er sagte zu und erkundigte sich, ob er Lydia nach dem Besuch bei ihrem Vater nicht eine Weile sprechen könne.

»Sicher,« erwiderte Lydia. »Ich habe viele Sorgen und werde mich freuen, Sie zu sehen.«

 


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