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Das blinde Findelkind.

Kaum dämmerte der Morgen jenes Tages, den die christkatholische Kirche besonders dem Gedächtniß der sieben Schmerzen Marie'n gewidmet: da kniete schon eine arme, gottesfürchtige Witwe vor ihrem alten Cruzifixe im einsamen Kämmerlein, um die gewohnte Andacht zu verrichten.

Plötzlich klopft es leise an ihrer Hausthüre; doch das schwache Geräusch dringt nicht bis zur inbrünstig Betenden, denn sie erfleht im selben Augenblicke die Fürbitte der barmherzigen Mutter Gottes, damit auch ihr mühseliger Kreuzweg zu Gottes Ehre gereichen möge.

Erst als sich die Witwe gestärkt vom Gebete erhoben, vernimmt sie das immer lauter und lauter werdende Pochen. Rasch eilt sie dann zur Thüre, um dieselbe zu öffnen. Draußen steht eine auffallend blasse Fremde mit einem schadhaften Korbe, um dessen Aufbewahrung sie bis zur Rückkehr von ihrem Gange bittet.

Die gefällige Witwe ist gerne bereit, der sehr erschöpft aussehenden Unbekannten diesen Liebesdienst zu erweisen. Behutsam trägt sie sofort den ihr anvertrauten Korb zum geöffneten, mit rothen Nelkenstöcken und Edelweiß geschmückten Fenster ihrer kleinen Kammer.

Eine Stunde verfloß nach der andern, ohne daß die Fremde wiederkehrte.

Bereits hatte die emsige Frau ihre einzige Ziege gemolken, ihre kleine, äußerst reinliche Haushaltung geordnet, Unkraut aus ihrem Gärtchen gejätet, und Gemüse zum Mittagsmahl geholt.

Nun ist sie im Begriffe, am Fenster ihr spärliches Frühstück (aus Milch und schwarzem Brod bestehend,) einzunehmen, als sie ein leises Wimmern hört, das immer deutlicher und deutlicher wird, je mehr sie sich dem Korbe nähert.

Nachdem sie eine kleine Weile ängstlich gezögert, den fremden Korb zu öffnen, faßt sie endlich diesen Entschluß und entfernt sachte den durchlöcherten Deckel. – Ach, da gewahrt sie in demselben ein armseliges, hilfloses, in dünne Windeln gewickeltes Kindlein! – Welche Ueberraschung, welch' ein Schrecken für die dürftige Witwe, deren gutes Herz aber gleichzeitig von innigem Erbarmen erfüllt wird.

Nach kurzer, demüthiger Berathung mit Gott entschließt sich die arme Witwe – ihre Sorge auf den Herrn werfend – das Knäblein an Kindesstatt anzunehmen. Gott hatte ihr das einzige, eigene Kind bald nach der Geburt genommen, und ihr nun ein fremdes Kind bescheert.

Vor Allem nahm sie das arme Findelkind aus dem alten Korbe und legte es in reinliche Windeln, welche sie vor vielen Jahren mit freudiger Mutterliebe für ihr eigenes Kind aus selbst gesponnenem Flachse genäht hatte. Dann labte sie das weinende, hungerige Knäblein mit guter Ziegenmilch.

Beim Durchsuchen des Korbes fand sie einen Zettel mit der Bemerkung, das Kind sei noch ungetauft.

Nun war es ihre erste Sorge, dem anvertrauten Kinde das Glück der heiligen Taufe so bald als möglich zu verschaffen. Daher bat sie ihren alten, armen Nachbarn, seinen Holzknecht (der wegen seines Fleißes und seiner Redlichkeit in der ganzen Umgegend sehr in Achtung stand), Taufpathenstelle beim armen Findelkinde übernehmen zu wollen.

Der Nachbar war dermaßen über das opferwillige Vorbild seiner kränklichen Nachbarin gerührt, daß derselbe – ohne nur einen Augenblick zu zögern – ihre herzliche Bitte erfüllte.

Noch in derselben Stunde befanden sich Beide mit dem schwachen Knäblein auf dem Wege zur fernen Pfarrkirche. Während sie mühsam den schmalen Waldweg verfolgten, der von ihrer kleinen, hölzernen, auf hohem Berge gelegenen Hütte in's Thal hinabführte, war es Beiden, trotz ihrer Armuth, wohl um's Herz, ja sie fühlten sich wahrhaft reich; denn sie vermochten ja ein noch ärmeres Wesen zu unterstützen.

Der greise, ehrwürdige Pfarrer war tief ergriffen, als er dem armen Findelkinde das heilige Sakrament der Taufe ertheilte. – Auf dem Heimwege (während das neu getaufte Christen-Kindlein sorglos schlummerte) beriethen sich die frommen Nachbarn, auf welche Weise sie am Besten den großen, übernommenen Pflichten nachkommen könnten.

Unter treuer Pflege und angestrengter Arbeit verging ein Tag, eine Woche nach der andern, ehe die sorgende Pflegemutter den starren Blick ihres kleinen Schützlings entdeckte. – Welch' ein Schrecken durchdrang ihre schwergeprüfte Seele, als in ihr zum ersten Mal die Ahnung erwachte: das arme Findelkind sei blind geboren.

Aber an einem sonnenreichen Herbstnachmittage ward die schmerzliche Ahnung (welche sie sich umsonst auszureden gesucht), zur schauerlichen Gewißheit geworden; denn sie sah, wie unbeweglich die zarten Augenlider des kleinen Johannes blieben, als ein glänzender Sonnenstrahl auf dieselben herabfiel, und wie ausdruckslos sein großes, blaues Auge auf den dargebotenen, rothwangigen Apfel hinstarrte.

Da ward ihr mitleidiges Herz von namenlosem Weh ergriffen, und einen Augenblick versank sie sogar in Kleinmuth. Aber nur einen Augenblick; – dann klammerte sie sich wieder fest an unsern treuen Heiland an, der uns ja mit den freundlichen Worten: »Kommet Alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid; denn mein Joch ist süß und meine Bürde ist leicht«, einladet, unsere Zuflucht bei Ihm zu nehmen.

Von diesem Augenblicke an verdoppelte sich gleichsam die Liebe der gewissenhaften Pflegemutter zu ihrem kleinen Schützling, dem sie, sobald er nur zu stammeln vermochte, den Namen Jesu lehrte. Wollte sie dem kleinen Johannes eine besondere Freude bereiten, so sang sie demselben jene frommen Lieder vor, die sie einstens von ihrer eigenen guten Mutter gehört hatte.

An einem freundlichen Sonntage bot das blinde Findelkind einen rührenden, poetischen Anblick dar. Da saß der Kleine wieder auf seinem Lieblingsplätzchen, auf der niedern Bank vor der Gebirgshütte, deren Wände durch Alter und viele überstandene Gewitter mit dunklem, röthlichem Braun gefärbt waren.

Während sich vor Johannes eine herrliche, mannigfaltig geformte Bergkette ausbreitete (welche die blinden Augen nicht zu sehen vermochten), erfreute sich doch der Kleine am balsamischen Dufte der Alpenpflanzen und am frohen Gezwitscher der zutraulich zu ihm herflatternden Vöglein, welche aus seinen Händen Brosamen pickten.

Jetzt ertönt eine glockenhelle Kinderstimme, welche in die harmonischen Waldchöre einfällt; denn Johannes wollte mit den kleinen Vöglein seinem Schöpfer danken und ihn lobpreisen.

Rechts an einem niedern Felsblocke war die weiße, der Witwe angehörende Ziege hinangeklettert, welche auf den armen Knaben herabschaute, gleichsam als wollte sie denselben bewachen.

So hatte das blinde Findelkind in sorgloser Ruhe, von Liebe und Frieden umgeben, sein sechstes Lebensjahr zurückgelegt, als der menschenfreundliche Pfarrer der Witwe rieth, sich an's mitfühlende Herz der Landesmutter zu wenden, die – selbst augenleidend – eine besondere Theilnahme für Blinde hege. Jene zögerte nicht, den weisen Rath ihres Seelsorgers zu befolgen, worauf sichtbar Gottes Segen ruhte.

Bald kam die frohe Kunde, daß die erbetene Aufnahme im fernen, vom wohlwollenden Landesvater gegründeten Blindeninstitut bereits genehmigt sei.

Hiefür sandte die fromme Witwe viele heiße Dankgebete zum Vergelter alles Guten empor.

Nach mehrtägiger, mühesamer Fußreise brachte sie ihren Liebling zur segensreichen, in der Residenzstadt gelegenen Anstalt. Daselbst versäumte sie nicht, ihren kleinen Pflegesohn noch recht mütterlich zu ermahnen, stets Gottes Gegenwart eingedenk zu sein, und sich eifrig zu bemühen, dem unendlichen, unschätzbaren Glücke theilhaftig zu werden, Ihn einstens im unvergleichlich schönen Himmelreiche von Angesicht zu Angesicht schauen zu dürfen. Unter Segenswünschen und vielen Thränen schied sie von ihrem ebenfalls bitterlich weinenden Pflegesohn. Die Thränen vergoß sie nicht nur aus Schmerz über die bevorstehende Trennung, sondern auch aus Freude, ihren kleinen Liebling so gut versorgt zu sehen.

*

Der arme Knabe hatte schon eine Reihe von Jahren im Blindeninstitute zugebracht, daselbst allen für ihn nöthigen Unterricht genossen, als auch in der Stadt, wo er sich befand, die schauerliche Cholera zu wüthen begann, welche unter vielen schweren Opfern auch die gute Landesmutter in wenig Tagen hinwegraffte. Bald darauf erfolgte die Entlassung des bereits zum kräftigen Jünglinge herangereiften Johannes aus dem Blindeninstitute, und seine Pflegemutter begab sich zur Residenz, ihn abzuholen.

Die lange Reise fiel diesmal der im Alter bereits vorgerückten Witwe noch beschwerlicher, als vor zehn Jahren. In der Heimat angelangt, entdeckte Johannes leider bald, daß seine gute Pflegemutter bereits zu kränkeln begann; daher diente es ihm zur wahren Beruhigung, eine so große Fertigkeit im Stroh- und Korbflechten erworben zu haben, daß er dieselbe durch seine Handarbeit zu unterstützen vermochte. Sein Taufpathe, der treue Nachbar, war ihm hiezu sehr behilflich, indem er die geeigneten zarten Weidenzweige vom fernen See herbeischaffte. Die gefertigten Strohmatten und Weidenkörbe brachte er in den nächsten Marktflecken zum Verkaufe und händigte dann den gewonnenen Erlös dem Blinden selbst ein, wodurch er demselben eine besondere Freude bereitete.

Täglich, nach vollendetem Tagwerke, ging der Blinde, den Weg sorgfältig mit dem Stabe prüfend, zu dem etwa eine halbe Stunde entfernten Feldkreuze, wo er gerne sein Abendgebet verrichtete.

Als er jedoch eines Tages wie gewöhnlich den kleinen Steg, welcher über den Wildbach führte, überschritt, brach unter seinen Füßen die morsche, alte Brücke zusammen. Kaum hatte dies der Nachbar gesehen, welcher auf der angrenzenden Höhe einen Baum fällte, als sich dieser, – obgleich schweißtriefend, – in die schäumende Fluth stürzte. Mit Gottes Hilfe gelang ihm die Rettung; der Blinde erholte sich bald, doch den braven Holzknecht befiel ein Schüttelfrost, dem ein hitziges Fieber folgte. Als der Blinde korbflechtend am Krankenbette saß, dankte er seinem Lebensretter auf die herzlichste Weise. Hierauf sprach er mit rührender Dankbarkeit von allem Guten, das ihm von seiner zarten Kindheit an bis zu diesem Tage durch Gottes Barmherzigkeit zu Theil geworden.

»Ja,« schaltete der Nachbar mit matter Stimme ein, »Du hast vollen Grund, Gott aus ganzem Herzen zu danken, daß er Dich vor Verwahrlosung beschützt hat, und ich kann Dir versichern, daß ich ungeachtet meiner beiden gesunden Augen in meiner Kindheit weit beklagenswerther gewesen, als Du – trotz Deiner angebornen Blindheit. Ich hatte das Unglück, meine Eltern zu verlieren, ehe ich nur ihren Namen auszusprechen vermochte, und wurde dermaßen vernachlässigt, daß ich mich ungehindert dem Müssiggange, diesem Anfange aller Laster, hingeben konnte. Als ich eines Morgens recht hungrig an einem Bäckerladen stand und mich unbewacht wähnte (denn an das allgegenwärtige Auge Gottes dachte ich damals nicht) entwendete ich rasch einen Eierwecken, und dies war mein erster Diebstahl. Es war der Bäckermeisterin, einer zu gutmüthigen Frau, nicht entgangen, denn, anstatt mich zu zanken, schenkte sie mir noch ein Milchbrod. – Weit entfernt, mich durch ihre Großmuth beschämt zu fühlen, fuhr ich leider fort, mich verschiedener kleiner Diebstähle schuldig zu machen. Da es mir wiederholt unbemerkt gelungen, wagte ich sogar während der Verwirrung, welche bei einer Feuersbrunst herrschte, einen silbernen Löffel zu entwenden.

Mit den Jahren wuchs auch mein Hang zum Laster; ich häufte Schuld auf Schuld, bis ich endlich zu einem Strafarbeitshaus verurtheilt ward. Im vergitterten Kerker eingesperrt, erlag ich fast der Verzweiflung, und schon stand ich im Begriff, durch einen Selbstmord meinem qualvollen Dasein ein Ende zu machen, als, Gott sei Dank, mein Blick in jenem entscheidenden Augenblicke auf ein kleines, an der Wand hängendes Bild fiel, das unsern göttlichen Erlöser als guten Hirten darstellte, welcher das wiedergefundene Schaf auf seinen Schultern zur Heerde zurückträgt. Da empfand ich zum ersten Male in meinem Leben das Gefühl der Reue. Unter heißen Thränen warf ich mich, Gott um Vergebung anflehend, auf die Erde nieder. Da trat der Beichtvater des Gefängnisses herein, der mich liebreich ermahnte, von diesem Tage an ein bußfertiges Leben zu führen und alles Schwere Gott als Sühne zum Opfer zu bringen. Erst nach einer Reihe von Jahren und nach vielen Kämpfen verließ ich, durch Gottes Gnade in einen neuen Menschen umgewandelt, das Zuchthaus, welches ich in einer so schrecklichen Seelenstimmung betreten hatte. Von Gott sichtbar beschützt, wanderte ich sofort in die Fremde, woselbst ich meinen Lebensunterhalt bis jetzt als Holzknecht ehrlich verdiente.«

Nach diesem offenen, demüthigen Bekenntniß versagte dem Kranken aus Erschöpfung die Stimme, und nach einer kleinen Weile lautloser Stille drückte er kaum hörbar den Wunsch aus, einen Priester zu sehen. Während er das hl. Sakrament der Oelung empfing, knieten vor dem Sterbebette der Blinde und die hochbetagte Witwe. Bald hauchte er seinen letzten Athemzug aus, und seine treue Nachbarin erwies dem Todten noch den Liebensdienst, die erloschenen Augen zuzudrücken.

Nachdem schon lange das Sterbeglöcklein verstummt war, das die irdische Hülle des so auferbauend gestorbenen Nachbars zu Grabe geläutet hatte, ertönte am heiligen Gründonnerstag der besonders festliche Glockenruf, und drang beim Morgenanbruche bis zur einsamen Berghütte, um Alle, auch die Entferntesten, zum Tische des Herrn einzuladen.

Obwohl sich die Witwe an diesem Tage besonders schwach fühlte, machte sie sich unverzüglich mit ihrem blinden Schützling auf den Weg zu ihrer kleinen, im Thal gelegenen Pfarrkirche.

Während sie den schlüpfrigen Pfad verfolgten, beleuchtete gerade die Morgensonne den majestätischen Gletscher, der den dunklen Tannenwald weit überragt. Der Schnee lastete nicht nur auf den herabhängenden Zweigen, sondern bedeckte mit seinem Leichentuche die ganze Erde. Nur an den Berg-Abhängen, wo die Sonne freien Zutritt hatte, schauten neugierig die röthlichen Blüthenkelche des Haidekrautes aus dem sammtartigen Moose hervor. Hin und wieder entdeckte man auch ein Schneeglöckchen, das den Frühling schon anzukündigen schien.

Mit großer Anstrengung gelangten die Beiden endlich zum Ziel ihrer weiten Wanderung. Nachdem sie vereint mit besonders herzlicher Andacht den lieben Heiland empfangen, verbrachten sie noch den größten Theil des Tages betend im Gotteshause, und traten erst nach der Oelberg-Andacht ihren Heimweg an. Gegenseitig theilten sie sich das Wonnegefühl mit, das ihre Herzen durchdrang und Beide äußerten den Wunsch, daß Gott ihnen einst an ihrem Sterbetage diese glückliche Seelenstimmung bescheeren möchte.

Allmählig verfinsterte sich der Himmel, dunkle Wolken lagerten am Horizont und bald begann ein heftiges Schneegestöber; der eisige Nordwind heulte in den hohen Tannengipfeln und jagte die dichten Schneeflocken in wildem Tanz von einem Strauch, von einem Baum zum andern. Mühsam kämpfte die Witwe, den Blinden am Arm führend mit dem immer mehr zunehmenden Unwetter und verlor bald jegliche Spur ihres Heimweges. Erst nach langem Herumirren entdeckte sie zu ihrer Freude das auf einem Felsen emporragende Kreuz in der Nähe ihrer heimatlichen Hütte. Da raffte sie ihre letzten Kräfte zusammen und erreichte fast athemlos das Lieblingsplätzchen des Blinden, wo sie ermattet zusammensanken. Kaum hatten sie zu beten begonnen, so überfiel sie ein unüberwindlicher Schlummer, der sich bald in einen tiefen Schlaf verwandelte.

Plötzlich – horch – da löst sich krachend eine Schneemasse von der höchsten Spitze der nahen Felswand ab; sie wächst zur Lawine an, rollt immer rascher und gewaltiger hernieder, bis sie endlich auf die hochbetagte Witwe und den Blinden als Grabhügel herabstürzt, über welchen das heilige Versöhnungszeichen, das Kreuz, allein noch emporragt.


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