Émile Zola
Herrn Chabres Kur
Émile Zola

Émile Zola

Herrn Chabres Kur

Herr Chabre haderte mit dem Schicksal, weil seiner Ehe der Kindersegen versagt blieb.

Er hatte ein schönes achtzehnjähriges Mädchen geheiratet und harrte nun seit vier Jahren mit steigender Ungeduld und Herzensangst auf den Erben seines Namens und Vermögens.

Herr Chabre war ehemals Getreidehändler gewesen und hatte ein bedeutendes Vermögen zusammengerafft; er hatte sich aber auch weder Ruhe noch Rast gegönnt, er hatte niemals auch nur die harmlosesten Vergnügungen anderer junger Männer mitgemacht, er war nur von dem einzigen Gedanken beseelt, Millionär zu werden!

Mit einer Rente von fünfzigtausend Francs hatte er sich endlich ins Privatleben zurückgezogen, die schöne Stella geheiratet und wunderte sich nun nicht wenig, daß es leichter sein sollte, ein Vermögen zu erwerben, als Vater zu werden.

Herr Chabre zählte erst fünfundvierzig Jahre, aber trotz seines tugendhaften Lebenswandels sah er fast greisenhaft aus. Seine Beine waren schwer und steif, und sein Gesicht, das übrigens vollkommen nichtssagend war, sah von den fortwährenden Geschäftssorgen völlig grau und verwittert aus.

Frau Chabre dagegen war entzückend schön, üppig und doch schlank, war ihre Gestalt von bewundernswerter Biegsamkeit. Ihr Haar war wie leuchtendes Gold und ihre blauen Augen so unergründlich tief und träumerisch wie ein Bergsee. Ihr blütenweißer Teint, ihre roten Lippen waren bewundernswert, ihr ganzes Wesen atmete Jugendfrische, und wenn ihr Mann über ihre Kinderlosigkeit klagte, antwortete sie bloß mit einem feinen Lächeln, das zu sagen schien: »Meine Schuld ist's nicht.«

Allein ihre Tugend war ebenso makellos wie ihre Schönheit, und selbst die bösesten Zungen wußten ihr nichts Übles nachzusagen. Sie war von einer strengen Mutter in gut bürgerlichen, ehrbaren Anschauungen erzogen, auch zur Frömmigkeit angehalten worden und war ihrem Manne eine treue Gattin, nur hätte vielleicht einen andern als einen ehemaligen Getreidehändler das nervöse Zittern ihrer feinen Nasenflügel ein wenig beunruhigt.

Herr Chabre hatte häufige Unterredungen mit seinem Hausarzt, Doktor Guiraud, der ein lustiger und kluger Mann war.

Er gab lächelnd zu, daß die Wissenschaft noch weit zurück sei und man leider ein Kind nicht wie ein Bäumchen pflanzen könne, aber man dürfe nicht verzagen; Doktor Guiraud versprach seinem Patienten, über den Fall besonders nachzudenken, und richtig – es war gerade ein wundervoller Julitag – kam er mit einem Vorschlag.

»Wissen Sie was, mein lieber Freund, Seebäder würden Ihnen ganz ausgezeichnet bekommen, aber besonders empfehle ich Ihnen viel Schaltiere zu essen, ja sogar, diese Ihrer ausschließlichen Nahrung zu machen.«

»Wirklich«, rief Herr Chabre hoffnungsfreudig, »glauben Sie wirklich, daß Schaltiere nützen?«

»Jawohl, die Kur hat schon wiederholt glänzende Erfolge gehabt. Doch Sie müssen sich streng daran halten und täglich möglichst viel Austern, Seekrebse, Seespinnen, Langusten und anderes Getier, an dem es am Meeresstrand nicht mangelt, essen.«

Herr Chabre war sofort bereit, sich der Kur zu unterziehen und ins Bad zu reisen.

»Ja«, sagte der Doktor, »gehen Sie sobald als möglich. Aber«, fügte er, als er sich verabschiedete, lässig hinzu, »wählen Sie keinen zu einsamen Ort, ein wenig Zerstreuung wird Ihrer Frau nicht schaden. Ich empfehle Ihnen Trouville, dort ist die Luft ausgezeichnet.«

Mit der Badereise war Herr Chabre einverstanden, aber nach Trouville wollte er nicht. »Schaltiere kann ich überall am Strande essen, man braucht darum noch in kein Modebad zu gehen, was ein Heidengeld kostet«, sagte der ehemalige Getreidehändler, der ein wenig geizig war. Ja, er äußerte die Ansicht, daß es in den wenig besuchten Plätzen naturgemäß mehr und billigere Schaltiere geben müsse; Zerstreuungen gebe es überall nur zu viele, und schließlich handele es sich ja um keine Vergnügungsreise!

Ein Freund hatte ihm einen kleinen Strandort namens Pouliguen bei Saint-Nazaire empfohlen, und nach zwölfstündiger Fahrt erreichten sie letztgenanntes Städtchen. Die schöne Stella fand es ungeheuer langweilig mit seinen neuangelegten geradlinigen Straßen, an denen noch gearbeitet wurde. Die am Strande gelegenen Villen waren alle in grellen Farben geschmacklos bemalt, und Stella war froh, als sie vernahm, daß alle schon an Ausländer vermietet waren und sie nun nicht in dem ihr unsympathischen Orte verweilen mußte.

Sie begaben sich nach Guérande, und der Anblick dieses alten, noch wohlerhaltenen Feudalsitzes mit seinen Festungsmauern, Türmen, Toren und den uralten Bäumen auf den Wällen entzückte Stella, und sogar ihr Mann, der durchaus keine poetische Natur war, bekannte, daß er überrascht sei; als sie aber in die Stadt einfuhren und der Wagen durch enge dunkle Gassen über holpriges Pflaster humpelte, da mißfiel ihm der Ort, und er meinte: »Elendes Nest! Bei Paris ist jedes Dorf besser gebaut.«

Seine Frau sagte nichts, sie blickte nur träumerisch die alten Baudenkmäler an.

Endlich hielt der Wagen vor dem ersten Gasthofe am Hauptplatze, neben der Kirche.

Eben war der Gottesdienst zu Ende, und die Andächtigen strömten heraus. Es waren zumeist Landleute, sie hatten eine schöne Tracht, und Stella betrachtete sie mit Interesse. Die Männer trugen weiße Joppen, weite Beinkleider und einen breitrandigen Hut, die Kleidung der Frauen war besonders malerisch. Ein junges Mädchen, das wohl eine reiche Bauerntochter sein mochte, erregte Stellas Bewunderung am meisten. Sie trug eine weiße, eng an den Schläfen anliegende Haube, ein rotes, buntbesticktes Mieder, drei blaue enggefältete kurze Tuchröckchen, die die gelben Schuhe und die roten Strümpfe gar wohl sehen ließen, und eine grellgelbe Seidenschürze; ein mit Gold- und Silberstickereien bedeckter Gürtel vervollständigte die Tracht.

»Das ist ja der reinste Fastnachtsaufzug«, sagte Herr Chabre, »so etwas kann man wirklich nur in der Bretagne sehen!«

Stella antwortete nicht.

Eben trat ein junger Mann, der eine alte Dame am Arme führte, aus der Kirche.

Er war reckenhaft groß und breitschultrig, aber von jugendlicher Geschmeidigkeit, und sein schönes ausdrucksvolles Gesicht war so blendend weiß und zart wie das eines jungen Mädchens.

Von seiner Schönheit überrascht, sah ihn Stella starr an; da wandte er sich nach ihr, blickte auch sie einen Augenblick lang an und errötete.

»Schau«, sagte Herr Chabre, »da ist wenigstens ein vernünftiger Mensch, die andern alle sehen ja wie Jahrmarktskomödianten aus. Der wird einen prächtigen Soldaten abgeben.«

»Es ist der junge Herr Hektor von Plougastel«, beeilte sich der Wirt zu bemerken, der, um seine Gäste zu begrüßen, herangetreten war und Herrn Chabres Bemerkung gehört hatte. »Die Dame, die er führt, ist seine Mama. Die Plougastels sind eine der feinsten und vornehmsten Familien des Landes.«

An der Table d'hote, an welcher einige Einwohner von Guérande teilnahmen, rühmten diese das patriarchalische Leben ihrer Heimatstadt und hauptsächlich die guten Sitten der jungen Leute. Die religiöse Erziehung, die sie genossen, hätte den besten moralischen Einfluß, und die Mädchen und die Jünglinge zeichneten sich alle durch Tugend und Unschuld aus.

So erzählten die Einheimischen mit großer Wärme, aber ein reisender Kaufmann, der mit falschem Schmuck handelte, lachte und sagte, er wäre schon öfter im Lande gewesen und hätte recht gegenteilige Dinge erlebt und gesehen. Und nun gab er allerlei Geschichten zum besten, worüber die Einheimischen so ergrimmten, daß sie sich erhoben, die Serviette hinwarfen und wortlos den Saal verließen. Die übrigen Gäste lachten, das Ehepaar Chabre sprach kein Wort; er ärgerte sich, daß man genötigt war, an Gasttafeln zu essen und solche Geschichten anzuhören, sie aber lächelte traumverloren, als habe sie von all dem nichts vernommen.

Am Nachmittag besichtigten sie Guérande.

In der Kirche war es erfrischend kühl. Sie gingen sachte durch das Schiff, hoben die Augen zu den hohen Wölbungen, die von zahllosen Säulen getragen wurden, und bestaunten die seltsamen Schnitzereien, die Szenen aus der Heiligengeschichte darstellten, in denen Märtyrer allen möglichen Martern unterworfen waren.

Herr und Frau Chabre wanderten hinauf durch die engen winkeligen Gassen voll alter Giebelhäuser und Fachbauten, und Stella, die seit ihrer Verheiratung Romane las, fand, daß diese interessante mittelalterliche Stadt sehr gut der Schauplatz eines Walter Scottschen Romans sein könnte. Herr Chabre hingegen war der Ansicht, daß solch altes Gerumpel demoliert werden sollte und daß eine Stadt, die keinen Handel habe, nichts tauge.

Als sie vor die Stadt kamen, mußten sie die hohe, aus Granit gefügte Festungsmauer bewundern. Tadellos, ohne eine einzige Bresche, als wäre sie eben erst vollendet worden, stand sie glitzernd im Sonnenscheine da. Aus den Schießscharten wucherte Geißblatt und Efeu, und oben auf den Türmen blühte ein ganzer Garten goldgelben Ginsters und flammroter Nelken.

In den alten Festungsgräben, die nur stellenweise verschüttet waren, stand grünes Schlammwasser mit metallischen Reflexen, und darüber beugten sich Weiden mit ihrem grünen Nixenhaar und weißstämmige Birken, deren zarte Blätter leise zitterten. Der Boden der Wälle war mit weichem, dichtem Gras bewachsen, und vollbelaubte uralte Ulmen ließen die Sonnenstrahlen kaum durchsickern. Kein Laut der Außenwelt drang in diese Einsamkeit, an der die Jahrhunderte nichts geändert hatten, nur das Quaken der Frösche in dem Wassergraben gab Kunde, daß nicht alles Leben erstorben war.

Als die Chabres den Rundgang vollendet hatten, sagte er: »Zehn Türme hat die Festung, ich habe sie wohl gezählt.«

Seinen Ärger indes erregten die vier Tore. Sie waren ungeheuer breit und dickmaurig, aber die Einfahrt war so enge, daß nur ein einziger Wagen passieren konnte und ein Ausweichen unmöglich gewesen wäre.

»Nein, daß man so etwas im neunzehnten Jahrhundert noch stehenläßt«, äußerte er, »das ist doch zu lächerlich! Was für schöne sechs Stock hohe Häuser hier statt der dummen Mauer stehen könnten, ganz abgesehen von dem vielen Baumaterial, das man gewänne, wenn man die ganze alte Festung schleifen würde.«

Sie hatten nun eine kleine Anhöhe vor dem Südtore der Stadt erreicht, von wo man einen herrlichen Fernblick genoß.

Über die Giebel und Dächer der Vorstadthäuser hinweg blickte man in eine eigentümliche Landschaft. Vom Seesturm verkrüppelte Fichten, knorriges, seltsam verkrümmtes Busch- und Strauchwerk und dunkles Laub bildeten den Vordergrund, und weiterhin dehnte sich die weite nackte Ebene, aus deren grauer Sandfläche sich kleine Salzhäufchen und Salzlaken weiß abhoben, die in ihren viereckigen Becken im Sonnenscheine glitzerten. Und noch weiter, am äußersten Horizont, blaute der Ozean, und aus seinem tiefen Blau leuchteten drei Segelboote schneeig hervor, wie weiße Schwalben.

Stella war in den herrlichen Anblick ganz versunken, da hörte sie ihren Mann plötzlich sagen: »Schau, dort ist der junge Mann, den wir heute vormittag bei der Kirche gesehen, findest du nicht auch, daß er unserm Bekannten Lariviere frappant ähnlich sieht? Wenn er auch bucklig wäre, könnte man sie fast verwechseln.«

Stella hatte sich sachte umgedreht. Hektor stand in einiger Entfernung und war in den Anblick der Landschaft so vertieft, daß er die Anwesenheit der Fremden nicht zu bemerken schien.

Stella setzte ihren Weg langsam fort und stützte sich auf den hohen Stock ihres Sonnenschirmes. Plötzlich löste sich die Masche des Schirmes und fiel, von dem Ehepaar unbemerkt, zu Boden. Sie hatten aber noch keine zehn Schritte gemacht, als eine Stimme hinter ihnen rief:

»Gnädige Frau...«

Als sie sich umwandten, sahen sie Hektor, der das Band gefunden hatte und es nun der jungen Frau mit einer Verbeugung überreichte.

»Vielen Dank«, sagte Stella mit ihrem sanften Lächeln.

Das sympathische Wesen Hektors gewann sofort die Zuneigung Herrn Chabres, und er ließ sich in ein Gespräch mit ihm ein. Er klagte ihm, daß er über die Wahl eines Strandes in Verlegenheit sei, und erbat sich freundliche Auskünfte.

Der junge Mann, der seinem Äußern nach einem Riesen glich, war schüchtern wie ein Kind, er errötete und antwortete verlegen.

»Ich glaube kaum, daß Sie in den beiden nächstgelegenen Orten Croisic und Batz finden werden, was sie suchen«, sagte er und wies nach zwei Glockentürmen, die man am Horizonte wahrnahm, »aber ich möchte Ihnen Piriac empfehlen.«

Herr Chabre fragte nach der Entfernung. Es sei nur drei Meilen weit und habe eine schöne Lage, berichtete der junge Mann und fügte hinzu, daß er die Gegend genau kenne, weil er dort in der Nähe einen Onkel habe, den er öfters besuche. Herr Chabre erkundigte sich, ob es auch Schaltiere dort gebe, worauf er die befriedigende Antwort erhielt, daß es in Piriac von solchem Getier wimmele.

Stella hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt; sie stand ein wenig abseits und kritzelte mit der Schirmspitze in dem Sand; der junge Mann schien durch ihre Gegenwart so verlegen, daß er die Augen nicht zu ihr hinwandte; da näherte sie sich etwas und sagte mit ihrer wohltönenden Stimme: »Guérande ist wirklich eine reizende Stadt, sie gefällt mir sehr.«

»Oh, überaus reizend«, entgegnete Hektor und sah sie plötzlich mit heißem, verzehrendem Blicke an.

II

Die Chabres hatten in Piriac eine Wohnung mit der Aussicht aufs Meer gemietet, und da es im ganzen Dorfe nur Schenken, aber keinen ordentlichen Gasthof gab, so waren sie genötigt, die Mahlzeiten im Hause einzunehmen. Sie hatten eine Magd genommen, doch diese bereitete die Speisen, die sie immer halb verbrennen ließ, in einer Weise zu, daß Stella vorzog, trockenes Brot zu essen. Herr Chabre meinte, man wäre ja nicht um des Wohllebens willen hergekommen und müßte des guten Zweckes wegen die schlechte Kost in den Kauf nehmen. Er selbst aber ließ die verdorbenen Speisen unberührt und stopfte sich mit der Gewissenhaftigkeit eines Patienten, der ein Medikament einnimmt, zu allen Mahlzeiten mit Schaltieren aller Art voll. Das Schlimmste dabei war, daß er diese kleinen seltsam gebildeten Seeungeheuer nicht ausstehen konnte. Er war an eine schlicht bürgerliche Küche gewöhnt und Zuckerwerk nicht abhold, und nun mußte er diese salzigen, scharf und widerlich schmeckenden Dinger massenhaft verschlucken! Aber was tut man nicht alles dem ersehnten Kindersegen zuliebe!

»Auch du solltest Schaltiere essen«, sagte er zu seiner Frau. Sie entgegnete, daß der Doktor ihr nichts verordnet hätte, sie es also gar nicht nötig habe; da wurde er aber aufgebracht und meinte, es sei doch selbstverständlich, daß sie sich beide der Kur unterziehen müßten. Die schöne Frau Chabre verzog ihr rosiges Mündchen, warf einen sprechenden Blick auf ihren fettleibigen Gemahl und lächelte kaum merklich; da sie aber zu gutmütig war, um, wen es auch sei, zu kränken, sagte sie kein Wort. Schließlich ließ sie sich täglich Austern bringen und aß zu jeder Mahlzeit ein Dutzend. Nicht, daß sie sie für ihre Person nötig gehabt hätte, doch sie liebte sie leidenschaftlich.

Ihre Hauptleidenschaft indes war das Schwimmen, und täglich weilte sie stundenlang im Meere, zu Herrn Chabres größtem Mißvergnügen, weil er das Wasser haßte und fürchtete; da er es aber für passend hielt, dem Bade seiner Frau vom Strande aus beizuwohnen, verdroß es ihn, stundenlang in der glühenden Sonnenhitze ihrer harren zu müssen.

Es war am dritten Tage nach ihrer Ankunft in Piriac; Herr Chabre stand am Ufer und sah seiner Frau beim Schwimmen zu. Er war tadellos in Schwarz gekleidet und trug einen Zylinder, wie für einen Staatsbesuch, nur hatte er einen grüngefütterten Schattenspender mitgenommen, denn die Sonne versprach heiß zu werden.

»Ist das Wasser angenehm?« fragte er seine Frau und tat, als ob er sich riesig für das Bad interessiere.

»Sehr angenehm«, entgegnete sie und schwamm weiter. Stella hatte hier das Bad gefunden, wie sie es liebte. Sie mochte einen Strand nicht, wo man weit hinaus gehen muß und es lange dauert, ehe das Wasser bis zum Gürtel, bis zur Achsel steigt, sie liebte es, gleich ins Tiefe zu springen, und benötigte, wie sie sagte, mindestens sechs Meter Tiefe, um sich nicht an den Klippen anzuschlagen. Hier in Piriac konnte sie vom Ufer aus ihren beliebten Kopfsprung machen und gleich wie ein Fisch fortschwimmen. Sie trug ein blaues Schwimmkleid, das Arme und Beine frei ließ, und sah ungemein reizend aus.

Herr Chabre stand feierlich am Ufer und fing an unruhig zu werden. Die Sonne brannte heiß herab, und er zog dreimal seine Uhr; endlich, nachdem er konstatiert hatte, daß seine Frau schon eine Viertelstunde im Wasser war, wagte er es, ihr schüchtern zuzurufen: »Du bleibst zu lange, meine Liebe, du weißt, daß allzu langes Baden ungesund ist.«

»Ich bin doch kaum hereingegangen«, antwortete sie, »das Wasser ist so mollig und angenehm wie Milch; wenn du dich aber langweilst, geh nur, ich bedarf deiner nicht.«

O nein, davon wollte er nichts hören, er wollte bleiben. »Ein Unglück ist schnell geschehen«, behauptete er, und Stella mußte bei dem Gedanken, welche Hilfe ihr wohl ihr Mann leisten würde, wenn sie plötzlich einen Krampf bekäme, unwillkürlich lächeln.

Aber wie sie den Kopf wendete, fiel ihr am andern Ende der Werft etwas auf.

»Was ist denn dort?« fragte sie, »ich will mal sehen.«

Und mit weit ausgreifenden regelmäßigen Stößen schwamm sie fort.

»Stella, Stella«, rief ihr Mann ängstlich, »willst du wohl dich nicht so weit entfernen, du weißt, daß ich Unvorsichtigkeiten nicht leiden mag!«

Aber da Stella nicht auf ihn hörte, mußte er sich's genügen lassen, ihr nachzusehen: er stellte sich auf die Fußspitzen, um dem Strohhut seiner Frau, der wie ein weißer Fleck auf dem Wasser aussah und sich immer weiter entfernte, mit den Augen zu folgen. Er nahm den Schirm aus einer Hand in die andre und bewegte ihn hin und her, denn die Luft darunter war erstickend heiß.

»Was sie nur gesehen haben mag?... Ah, richtig, dort schwimmt etwas, gewiß ein Unsinn, ein Bündel Algen oder sonst etwas Ekliges aus dem Wasser.... Oder vielleicht ist es eine alte Tonne.... Nein ... das kann es nicht sein, es bewegt sich hin und her.... Schau, schau, das ist ja gar ein Schwimmer ... ein Herr!«

Stella hatte ebenfalls alsbald wahrgenommen, daß es ein Herr war, und sie hörte sofort auf, gerade auf ihn zuzuschwimmen, weil sie fühlte, daß dies unpassend wäre, aber in leichtbegreiflicher Eitelkeit, froh, ihren Mut und ihre Gewandtheit zeigen zu können, kehrte sie nicht um, sondern schwamm der offenen See zu. Sie schwamm gemächlich und gab sich den Anschein, als habe sie den Schwimmer gar nicht bemerkt; dieser aber schien von einer Strömung in dieselbe Richtung gerissen zu werden, so daß, als sie sich wendete, um zurückzukehren, eine zufällige Begegnung stattfinden mußte.

»Wie befinden Sie sich, gnädige Frau?« fragte der Herr höflich.

»Wie, Sie sind's!« rief Stella heiter. »Nein, was es doch für merkwürdige Zufälle gibt!«

Es war Hektor von Plougastel. Er war im Wasser ebenso schüchtern und sah ebenso kraftvoll und rosig aus wie neulich. Eine Weile schwammen sie in angemessener Entfernung schweigend nebeneinander; dann aber meinte Stella, sie müsse sich doch artig zeigen, und sagte: »Wir sind Ihnen sehr verbunden, Herr von Plougastel, daß Sie uns nach Piriac gewiesen, mein Mann ist entzückt davon.«

»Nicht wahr, der Herr, der dort allein auf der Werfte steht, ist Ihr Gemahl?« fragte er.

»Ja«, entgegnete sie.

Sie mußten, um sich zu verstehen, sehr laut reden, da die Entfernung zwischen ihnen eine große war; sie schwiegen wieder und sahen nach Herrn Chabre hin, der wie ein schwarzer Punkt aussah. Er war ungeheuer neugierig und fragte sich, welchem Bekannten seine Frau im Ozean wohl begegnet sein möchte; es war unzweifelhaft, daß sie mit einem Herrn sprach, denn er sah, wie sie die Köpfe einander zuwendeten. Es konnte doch nur einer seiner Pariser Freunde sein, aber er zerbrach sich vergebens den Kopf, welcher von ihnen sich wohl so kühn ins Meer hinaus wagen würde. Indes mußte er das Näherkommen der Schwimmenden abwarten und drehte unterdessen den Schirm wie einen Kreisel, um eine Beschäftigung zu haben.

Dieweil erzählte Hektor der schönen Frau Chabre, daß er zu seinem Onkel auf Besuch gekommen sei, und er zeigte ihr dessen Schloß, das die Küste überragte.

»Und täglich mache ich den Spaziergang bis an die Werfte – es sind nur zwei Kilometer –, um mein Bad zu nehmen, denn das Schwimmen ist meine Passion. Aber Sie, gnädige Frau, sind eine vorzügliche Schwimmerin, ich habe noch keine Dame so gewandt gesehen.«

»O ich«, erwiderte Stella, »ich habe schon im Wasser herumgeplätschert, als ich noch ein ganz kleines Ding war, darum kennt es mich, wir sind innig befreundet miteinander, das Wasser und ich.«

Unversehens hatten sich Stella und Hektor einander genähert, um nicht so schreien zu müssen.

Unter der heißen Sonne lag das Meer still und ruhig. Wie eine Atlasdecke, so glatt und glänzend sah es aus, und erst in weiter Entfernung kräuselte eine Strömung leicht die Oberfläche. Der Tag war strahlend schön und die Luft so klar, daß die fernsten Punkte deutlich zu erkennen waren. Hektor kannte die ganze Gegend sehr genau und wies seiner schönen Gefährtin all die Orte.

Dort hinter den weißen Klippen, die sich so deutlich wie ein Bild abhoben, lag Morbihan, und gegenüber, der graue Fleck mitten in der offenen blauen See, war die Insel Dumet. Hektor zeigte und nannte noch andere Punkte, und Stella hielt jedesmal im Schwimmen inne, um mit den Augen der Richtung von Rektors erhobenem Arm zu folgen. Es bereitete ihr unendliches Vergnügen, den Blick weit über die unermeßliche Wasserfläche schweifen zu lassen, und wenn sie sich dann gegen die Sonne umwendete, gab es eine neue Überraschung: Das Meer schien in eine Sahara ohne Grenzen verwandelt zu sein, wie Goldstaub glitzerte und gleißte es, soweit das Auge reichte, und Millionen Lichtfünkchen tanzten auf und nieder, daß Stella davon wie geblendet war.

»Wie schön das ist, wie schön!« sagte sie. Aber nun war sie vom Schwimmen etwas ermüdet und legte sich zum Ausruhen auf den Rücken; sie rührte sich nicht und ließ sich von der Flut, die ihre weißen Glieder umkoste, sanft wiegen und tragen.

Hektor legte sich ebenfalls auf den Rücken; und so plauderten sie.

Stella fragte ihn, ob er in Guérande geboren sei, er bejahte und berichtete, daß er die Heimat noch nie verlassen und nicht einmal bis Nantes gekommen sei. Er erzählte von seiner Kindheit, seiner Erziehung. Seine Mutter, die sehr fromm war und an den Überlieferungen des alten Adels streng festhielt, hatte befürchtet, daß er fern vom Hause fremden Einflüssen ausgesetzt sein könnte, und hatte darum seine Erziehung selber überwacht. Ein Priester, sein Hofmeister, leitete dieselbe und brachte ihm ungefähr alles das bei, was in den öffentlichen Lehranstalten gelehrt wurde, nur besonders viel Katechismus und Heraldik. Seine Mutter gestattete ihm aber auch, sich in allen ritterlichen Künsten zu üben, so daß er im Reiten und Fechten sehr gewandt war.

Aus seinen Erzählungen entnahm Stella, daß Hektor unschuldig wie ein junges Mädchen war, er hatte noch keine Romane gelesen und ging allwöchentlich zum Tische des Herrn. Schließlich erzählte er, daß er nach erfolgter Großjährigkeit eine Kusine heiraten sollte, die sehr häßlich war.

»Wie, Sie zählen noch nicht einundzwanzig Jahre?« rief Stella und schaute den jungen Riesen verwundert an. Er stellte die Blüte der bretonischen Rasse dar, die noch so kraftstrotzend und unverbraucht ist wie vor grauen Zeiten. Sie fand ihn ungemein interessant, und da er jünger als sie war – »ein Kind« –, fühlte sie sich mütterlich zu ihm hingezogen.

Sie lagen beide noch immer auf dem Rücken, hatten die Augen träumerisch in das tiefblaue, durchsichtig klare Äthermeer versenkt, unbekümmert um alles Irdische, und ließen sich von den Fluten treiben; diese trieben sie aber einander immer näher, so daß sie zuletzt leicht zusammenstießen.

»O Verzeihung«, sagte er verlegen, tauchte unter und erschien erst wieder in einer Entfernung von mehreren Metern auf der Oberfläche.

Sie lachte laut und begann aufs neue zu schwimmen.

»Das war ein Zusammenstoß«, sagte sie.

Er näherte sich wieder und betrachtete sie heimlich. Er fand sie entzückend schön. Der Strohhut beschattete ihr liebliches Gesicht, und ihr Grübchenkinn tauchte bei jeder Bewegung anmutig ins Wasser. Einige widerspenstige Löckchen waren unter dem Wachstaffethäubchen hervorgeglitten, Wasserperlen hingen daran und tropften auf den Pfirsichflaum ihrer Wangen nieder. Er fand ihr Lächeln berückend und konnte sich nicht satt schauen an ihr.

Aber plötzlich errötete er noch tiefer, denn er bemerkte, daß Stella sein Anstarren wahrgenommen und sich offenbar über das sonderbare Gesicht, das er gemacht haben mochte, belustigte.

Um das Gespräch wieder anzuknüpfen, sagte er: »Es scheint, daß Ihr Herr Gemahl schon etwas ungeduldig ist.«

»O nein«, entgegnete sie ruhig, »er ist gewöhnt zu warten, wenn ich bade.«

Herr Chabre jedoch war in der Tat unruhig. Er ging zwei Schritte vorwärts und kehrte wieder um, seinen Schirm setzte er in immer schnellere Bewegung in der Hoffnung, daß das ihm Kühlung geben werde; aber es half nichts, ihm wurde immer heißer, auch fing er an, sich über das Gespräch seiner Frau mit dem Schwimmer höchlich zu verwundern.

Da fiel Stella plötzlich ein, daß ihr Mann Hektor vielleicht nicht erkannt hatte.

»Ich will ihm zurufen, daß Sie es sind«, sagte sie, schwamm gegen die Werft zu, hob die Stimme und rief:

»Weißt du, es ist der Herr aus Guérande, der so liebenswürdig war.«

»Ah, freut mich, freut mich!« rief Herr Chabre, zog seinen Hut und grüßte.

»Ist das Wasser angenehm?« fragte er den jungen Mann höflich.

»Sehr angenehm«, entgegnete dieser.

Das Bad nahm unter den Augen des Gatten seinen Fortgang, und dieser wagte nicht mehr, sich über die Dauer desselben zu beklagen, obgleich ihm seine Füße, die von den heißen Steinen wie verbrannt waren, heftig schmerzten.

Unterhalb der Werfte war das Wasser von wunderbarer Klarheit, man konnte vier, fünf Meter tief bis auf den Grund sehen, den feinen Sand, den Kies, und die hohen Gräser, die hin und her schwankten. Stella freute sich des hübschen Anblickes, sie schwamm äußerst vorsichtig, um die Oberfläche nicht zu sehr zu erschüttern, beugte sich tief darüber und betrachtete aufmerksam die geheimnisvolle Tiefe unter ihr. Die Wasserpflanzen besonders interessierten sie und ließen sie leise erschaudern, wenn sie darüber schwamm; sie rührten und regten sich wie seltsam gestaltete Tiere, die einen hafteten breit wie mit zahllosen Füßen am Felsgestein, andre wieder ringelten und schmiegten sich wie Schlangen. Stella konnte nicht müde werden, alles zu bestaunen und jede neue Entdeckung mit lauten Ausrufen zu begrüßen.

»Nein, der große dicke Stein... aber er rührt sich ja, streckt sich – ist's wirklich ein Stein? Ah, und hier ist gar ein Baum, ein wirklicher Baum mit Ästen und Zweigen – oh, oh, da kommt ein Fisch – ah, der kann schwimmen – fort ist er!«

Und nach einer Weile rief sie: »Aber was ist denn das? Ein Brautstrauß! Gibt es denn Brautsträuße im Meere? Sehen Sie doch nur, sieht es nicht wirklich wie weiße Blumen aus? Wirklich reizend!«

Hektor tauchte und brachte eine Handvoll weißlicher Gräser herauf, die sofort, als sie an die Luft kamen, zusammenschrumpften und welkten.

»Ich danke Ihnen sehr, daß Sie sich die Mühe genommen«, sagte Stella, und zu ihrem Manne: »Bitte, hebe mir das auf«, und warf ihm die Handvoll Gräser zu.

Dann schwammen sie noch eine Weile. Sie bewegten das Wasser lebhaft mit den Armen, daß es um sie her schäumte und rauschte; allmählich wurden die Bewegungen ruhiger, sie glitten lautlos dahin, nur zogen sie mit den Armen immer größere Kreise, die flimmernd zerrannen.

Hektor schwamm hinter Stella und suchte genau in dieselbe Furche, die ihr schöner Leib zog, zu gelangen, er empfand die Flut, die sie umspülte, als eine Liebkosung, und für beide hatte es einen eigenen geheimnisvollen Reiz, von denselben Wellen geschaukelt zu werden. Die unendliche See um sie her war noch ruhiger, glatter geworden und schimmerte rosenrot.

»Meine Liebe, du wirst dich erkälten«, sagte Herr Chabre, dem der Schweiß von der Stirne troff, endlich zaghaft.

»Ich gehe schon«, entgegnete sie.

Und so rasch eilte sie an der Kette, die an der Abschrägung der Werfte als Halt diente, aufwärts, daß Hektor, der gelauert hatte, um sie aus dem Wasser steigen zu sehen, sie erst erblickte, als sie schon oben auf der Plattform in ihren Mantel gehüllt lächelnd und fröstelnd stand. Sie lächelte über sein verwundertes und enttäuschtes Gesicht, und sie fröstelte, weil sie wußte, daß der Schauer, der ihre schlanke und doch üppige Gestalt leise schüttelte, sie reizend erscheinen ließ.

III

Das Leben in Piriac war von einer einschläfernden Eintönigkeit. An Fremden gab es nur wenige Personen, ein Ehepaar, das den ganzen Tag fischte, ein alter tauber Herr und zwei ältliche Damen; die Leute lebten jedes für sich, und es fand keinerlei Verkehr statt. Stella würde sich tödlich gelangweilt haben, wenn Hektor nicht nach kurzer Bekanntschaft täglich gekommen wäre. Er hatte sich Herrn Chabres innige Freundschaft erworben, nachdem sie eines Tages gemeinsam einen Spaziergang längs der Küste unternommen hatten. Herr Chabre vertraute dem jungen Manne den Grund der Badereise an. Er wählte dabei seine Ausdrücke und bemühte sich, es wissenschaftlich zu erläutern, warum er Schaltiere in so großen Mengen zu sich nahm.

Hektor sah ihn verwundert vom Kopf bis zu den Füßen an und vergaß sogar zu erröten, es kam ihm ganz unbegreiflich vor, daß ein Mann einer solchen Kur bedürfe. Indes stellte er sich am nächsten Tage mit einem Körbchen prächtiger eßbarer Muscheln ein, die Herr Chabre sehr erfreut und dankbar annahm. Und da Hektor ein sehr geschickter Fischer war, der jeden Fels in der Bucht kannte, so war es ihm ein leichtes, seinem neuen Freunde täglich die Ausbeute seiner »Jagd« zu bringen. Er brachte Miesmuscheln, die er bei Ebbe fand, Arapeden, die er mit dem Messer von dem Felsgestein löste, Stachelmuscheln, die ihm beim Öffnen die Finger zerstachen, und noch eine Unzahl andre, die er mit seltsamen Namen benannte, aber selber noch nie versucht hatte. Und Herr Chabre, der ganz entzückt war, daß er für Schaltiere keinen Pfennig mehr auszugeben brauchte, erschöpfte sich in Danksagungen.

Hektor hatte nun einen Vorwand für tägliche Besuche, und täglich stellte er sich bei Stella mit den Worten ein:

»Ich bringe Muscheltiere für Herrn Chabres Kur.« Und beide lächelten; in ihren Augen lachte der Schalk, sie fanden Herrn Chabres Kur ungemein spaßhaft.

Stella nahm allmorgendlich ihr Bad, und dann begleitete sie Hektor auf ihrem Spaziergang. Ihr Gatte war stets von der Partie, aber da die beiden rasch gingen und seine Beine schwer waren, blieb er immer zurück.

Hektor zeigte seiner jungen Gefährtin die Überbleibsel der einst so prächtigen Stadt Piriac, die gegenwärtig zu einem elenden Dorfe herabgesunken ist. Er wies ihr Mauerreste voll künstlerischer Bildwerke, Stuckarbeiten von unendlicher Feinheit, er machte sie auf die prachtvollen breitblättrigen Feigenbäume, die ihre Zweige weit über die Gartenmauern streckten, aufmerksam.

Sie besichtigten die baufälligen Hütten, schritten durch die engsten, schmutzigsten Gäßchen und beugten sich über die Brunnen, aus deren Tiefe ihnen im spiegelklaren Wasser ihr lächelnd Bild entgegenblickte. Und überallhin folgte ihnen keuchend Herr Chabre mit seinem grünen Schattenspender, von dem er unzertrennlich war.

Den größten Spaß machten Stella die Gänse und Schweine, welche in kleinen Herden allein durch die Gassen spazierten. Zuerst hatte sie sich vor den Schweinen ein wenig geängstigt, sie fürchtete, daß diese dickwänstigen Leiber auf den dünnen Beinen umfallen und sie streifen oder gar umwerfen könnten; dazu waren sie schrecklich schmutzig und grunzten fortwährend, was sie auch beunruhigte. Aber Hektor hatte sie versichert, Schweine wären die gutmütigsten Geschöpfe der Welt, und seitdem fand sie ihre ungeschlachten Bewegungen drollig, ja sie bewunderte sie sogar, wenn sie nach einem Regen wie gewaschen erschienen: Da war ihre Haut seideglänzend und rosenrot wie ein neues Ballkleid. Sie waren wirklich hübsch! Und gar die Gänse! Es war wirklich unterhaltend, sie zu beobachten. Oft kamen sie von verschiedenen Seiten einzeln heran, sie begrüßten sich, teilten sich schnatternd offenbar wichtige Dinge mit und gingen dann zusammen auf die Suche nach Leckerbissen, Gemüseabfällen oder dergleichen. Eine war besonders bemerkenswert, sie sah ungemein majestätisch aus und wurde auch offenbar von den übrigen als überlegen anerkannt, denn sie schritt immer an der Spitze. Während aber die andern mit gesenktem Kopfe auf dem Boden herumsuchten, trug sie den ihren hoch aufgerichtet und hielt mit Feldherrnblick nach allen Seiten Ausschau. Sah sie etwas Beunruhigendes, so stieß sie einen Schrei aus, die andern streckten dann die Hälse nach derselben Richtung und wackelten mit unendlichem Geschrei ihrer wachsamen Anführerin nach. Kam ein Hund in Sicht, dann reckten sie die Hälse noch mehr und ließen heisere Pfeiftöne vernehmen.

Diese Beobachtungen ergötzten Stella unendlich, sie konnte kein Ende finden, ihr Gehaben zu deuten. Oft trafen sich zwei Gänsegesellschaften, begrüßten sich feierlich, schnatterten miteinander – offenbar erzählten sie ihre Familienangelegenheiten – und trennten sich dann mit der Miene von Leuten, deren daheim wichtige Geschäfte harren.

Ein besonderes Vergnügen bereitete es Stella auch, die Gänse und Schweine baden zu sehen, sie gingen zum Strande hinab und nahmen ein Bad, ganz wie die Menschen.

Stella unterhielt sich ausgezeichnet und fand Piriac wirklich reizend.

Sonntags gingen sie in die Kirche; zwar war dies in Paris nicht ihre Gepflogenheit, hier aber war's eine Zerstreuung, gab Gelegenheit, Toilette zu machen und Leute zu sehen. Auch war Hektor anwesend, der aus einem großen alten Meßbuch seine Andacht verrichtete. Allein über das Buch hinüber sah er sie unverwandt an, und wenn auch sein Mund ernst blieb, so lächelten ihr doch seine Augen zu.

Nach der Messe bot er ihr beim Austritt den Arm, um sie durch den Kirchhof, der die Kirche umgab, zu führen.

Am Nachmittag gab es nach der Vesper etwas zu sehen: Eine Prozession nach dem am Ende des Dorfes gelegenen Kalvarienberg fand statt.

Ein Bauer trug eine mächtige blauseidene, goldgestickte Fahne voraus, dann folgten paarweise Männer, Weiber und Kinder, und in der Mitte schritt die Geistlichkeit; den Schluß bildete eine Jungfrau, die mit starken gebräunten Armen eine weiße Fahne hochhielt, und hinter ihr drängte die Menge nach. Die Prozession zog langsam aufwärts, und in der klaren Luft hoben sich die Fahnen und die weißen Flügelhauben der Weiber ungemein deutlich von dem tiefblauen Himmel, dem tiefblauen Meere ab.

Stella fand den kleinen Friedhof rührend. Sonst war sie keine Freundin von traurigen Sachen und liebte es nicht, an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnert zu werden; als sie am Tage ihrer Ankunft in Piriac von ihrem Fenster aus alle diese Gräber sah, die Kreuze, die sich wie Arme dem Himmel entgegenstreckten, konnte sie sich eines Schauderns nicht erwehren. In stürmischen Nächten gar war es unheimlich, wenn der Wind durch den Wald von schwarzen Kreuzen sauste – da klang es wie Weinen und Wehklagen. Aber allmählich hatte sich Stella daran gewöhnt, dem Ort der Trauer so nahe zu sein. Und eigentlich war er gar nicht so traurig, sondern recht anheimelnd, und die Lebenden waren mit den Toten in stetem Umgang geblieben, denn da der Friedhof mitten im Dorfe lag und nur von einer niederen Mauer eingefaßt war, sprangen die Leute darüber und durchquerten den Gottesgarten. Die Kinder spielten im Grase; Kätzchen lagen im Sonnenschein, schnurrten und spannen und blinzelten schläfrig nach den Vögeln, die sich im blühenden Gezweig wiegten. Üppig schössen Gräser und Kräuter hoch empor, Thymian, Quendel und wilder Anis strömten Wohlgerüche aus, die das ganze Dorf erfüllten. Am Abend aber ging ein besonderer Frieden von dem stillen Garten aus und breitete sich über das ganze schlafende Dorf, in der Dunkelheit verschwammen die Kreuze, nichts regte sich, nur das Meer rollte majestätisch seine Wogen, und eine leichte Brise wehte einen Salzhauch herüber.

Eines Abends, als Stella an Hektors Arm vom Spaziergang zurückkam, wünschte sie den Weg durch den Friedhof zu nehmen. Aber Herr Chabre wollte für seine Person davon nichts wissen, er zog es vor, auf der Straße weiterzugehen. Stella und Hektor traten in den Friedhof ein; sie mußten einzeln gehen, weil der Pfad im hohen Grase nur schmal und fast verwachsen war; die Kräuter sendeten betäubenden Duft aus, und langsam schritten sie dahin. Als sie in den tiefen Schatten der Kirche getreten waren, legte Hektor plötzlich seine Hand an Stellas Taille. Sie erschrak und stieß einen Schrei aus.

»Ist es nicht ein Unsinn«, sagte sie, »ich vermeinte, ein Gespenst hätte mich berührt.«

Er lachte und behauptete, es müsse wohl ein überhängender Zweig gewesen sein.

Sie schwiegen beide, betrachteten die Kreuze, die vom Dämmerlicht umwoben waren, und fühlten sich von dem tiefen Frieden ringsumher innerlichst ergriffen; sie waren bewegt und gerührt, als sie den Todesgarten wieder verließen.

»Du hast dich wohl gefürchtet«, sagte Herr Chabre zu seiner Frau, »ich habe dich schreien hören, es geschieht dir schon recht.«

Eine Unterhaltung gewährte es Stella, bei hoher See der Rückkehr der Sardellenfischer zuzusehen. Sobald sich ein Segel am Horizonte zeigte, machte Hektor seine neuen Freunde darauf aufmerksam, und sie gingen zum Hafen hinab; aber nach dem sechsten Schiffe erklärte Herr Chabre, er habe genug, es wäre immer dasselbe, indes Stella nicht müde wurde und an dem Schauspiel ein steigendes Vergnügen fand.

Sobald ein Schiff in Sicht war, eilten sie zum Hafen hinab, zuweilen mußten sie laufen, um rechtzeitig anzulangen, sie sprang über große Steine und hob mit einer Hand ihr Kleid empor, um nicht zu stürzen. Atemlos langte sie dann an und blieb, die Hand aufs hochklopfende Herz gedrückt, einen Augenblick regungslos stehen. Hektor fand sie entzückend mit ihren vom Laufen geröteten Wangen, den glänzenden Augen und den windzerzausten Löckchen, er starrte sie unverwandt an, während sie das lebhafteste Interesse für die Ausbeute der Fischer an den Tag legte. Sobald das Boot angelegt hatte, hoben die Fischer ihre gefüllten Körbe heraus, und die Sardellen glänzten im Widerscheine der Sonne schneeig wie Silber oder bläulich und rosenrot wie Opale. Stella bewunderte sie, und Hektor berichtete jedesmal, daß jeder Korb tausend Stück enthielte und der Preis täglich schwanke, je nach der mehr oder minder reichen Ausbeute, denn die Fischer teilten den Gewinn unter sich, der Besitzer des Bootes aber bekam den dritten Teil des Erlöses. Auch dem Einsalzen, das sofort in durchlochten Holzkästen vor sich ging, sahen sie aufmerksam zu. Nach und nach erlahmte dann doch ihr Interesse an den Sardellen, sie liefen zwar noch zu den ankommenden Booten, kümmerten sich aber kaum um die Fische, sondern blickten träumerisch ins weite Meer hinaus und kehrten langsam und still zurück.

»Nun, war der Fischfang reich?« fragte Herr Chabre jedesmal, und jedesmal antworteten sie: »Ja, ausnehmend reich.«

Eines Sonntags abends gab es ein interessantes Schauspiel: einen ländlichen Ball im Freien. Die jungen Bauernburschen und -mädchen hielten sich an den Händen, drehten sich im Kreise und sangen dazu eine eintönige Weise. Das dauerte stundenlang. Stella saß am Strande, zu ihren Füßen Hektor, sie lauschte dem Gesang der rauhen Stimmen, der aus der zunehmenden Dunkelheit zu ihr herüberdrang, aber bald von dem Rauschen des Meeres übertönt ward, und sie versank in süße Träumerei. Das Meer sang ein leidenschaftliches Lied, wild jauchzend und lockend, allmählich aber wurde die Stimme sanfter, schmelzender, wie hingebende Liebe. Und Stella träumte von solch gewaltiger Liebe, träumte von einem Riesen, den die Liebe zu ihr gebändigt hätte. –

Herr Chabre fragte seine Frau öfters: »Du langweilst dich wohl hier in diesem Neste?«

Aber sie beeilte sich, ihm jedesmal die Versicherung zu geben, daß sie es gar nicht langweilig finde.

Und in der Tat; hatte sie nicht die Gänse, Schweine und Sardellen zu ihrer Belustigung? War nicht sogar der kleine Friedhof in seinem Blütenschmuck sehr heiter? Die wenigen Fremden, die man nur im Vorübergehen stumm grüßte, schienen ihr anregender als das lärmende Treiben der großen Gesellschaft in den Modebädern, ja sie fand Piriac reizend und unterhaltend. Als nach vierzehn Tagen Herr Chabre, der sich tödlich langweilte und der Ansicht war, daß er genug Schaltiere gegessen, nach Paris zurückkehren wollte, sagte sie: »Was fällt dir ein, du hast deine Kur noch lange nicht beendet, ich weiß es, du mußt noch mehr Krustazeen zu dir nehmen.«

IV

Eines Abends sagte Hektor: »Wir werden morgen eine starke Ebbe haben, da könnten wir Meergarnelen fischen.«

Der Vorschlag fand Stellas vollen Beifall. Ja, Garnelenfischen, das wünschte sie schon lange. Herr Chabre dagegen erhob Einwendungen. Erstens, meinte er, finge man nie etwas, und zweitens wäre es weit einfacher, einen Bauernknaben, der das für einige Pfennige gern besorge, damit zu beauftragen, man hätte dann nicht nötig, bis übers Knie naß zu werden und sich die Füße an den spitzen Steinen aufzureißen. Aber seine Frau war so ganz Feuer und Flamme, daß er schließlich nachgeben mußte, ja er entschloß sich sogar, trotz seiner Abneigung gegen das kalte Wasser, mit von der Partie zu sein, er wollte auch fischen und den andern zeigen, was er leisten könne, wenn er sich nur etwas ernstlich vornähme. Und sofort traf er seine Vorbereitungen, indem er der Magd Befehl gab, ihm seine Stiefel mit Tran zu schmieren. Hektor versprach, die Netze zu besorgen, und als er sich am nächsten Tage einstellte, fand er Herrn Chabre schon völlig bereit; er trug einen weißen Flanellanzug und hatte seine Krawatte mit so viel Sorgfalt geknüpft, als sollte er sich auf eine Hochzeit begeben. Stella hatte einfach über ihr Schwimmkleid einen Leinenkittel gezogen, und Hektor war ebenfalls im Schwimmanzug.

Sie hatten eine halbe Meile durch Sand und Kies und über Seegras zu wandern, um zu einem Felsen zu gelangen, an welchem es Hektars Aussage zufolge förmlich Garnelenbänke gab. Er schritt ruhig geradeswegs voraus, ohne den Wasserpfützen oder sonstigen Hindernissen auszuweichen, Stella folgte heiter und freute sich der feuchten Frische des Sandes, in dem ihre Füßchen wateten; Herr Chabre bildete die Nachhut; er vermochte nicht einzusehen, warum er sich die Stiefel naß machen sollte, ehe er an Ort und Stelle war, und wich jeder Wasserlache unendlich vorsichtig aus, er machte große Bogen um sie, sprang über das Gerinnsel und ging auf den Fußspitzen wie ein Großstädter, der ängstlich mit seinen Lackschuhen Regenpfützen ausweicht. Er war schon völlig atemlos und fragte alle Augenblicke: »Ist's noch weit, Herr Hektor? Sagen Sie, warum fischen wir nicht hier, ich sehe ja das Getier herumkrabbeln, ich bin überzeugt, es genügt das Netz auszuwerfen, um einen kolossalen Zug zu tun!«

»Ja, wenn Sie meinen, dann werfen Sie Ihr Netz immerhin aus, mein lieber Herr Chabre«, entgegnete Hektor weiterschreitend.

Herr Chabre, der zu Atem kommen wollte, blieb stehen und senkte sein Netz in eine winzige Wasserlache; natürlich fing er nicht einmal Seegrashalme, denn das Wasser war klar und rein. Da schulterte Herr Chabre sein Netz wieder und schritt den Voraneilenden würdevoll nach; da er aber beweisen wollte, daß es überall Garnelen gäbe, hielt er sich unterwegs oft auf und blieb schließlich weit zurück.

Indes sank das Meer immer tiefer, die Ebbe war eingetreten, und das Wasser war von der Küste schon um einen Kilometer zurückgewichen. Bald dehnte sich die Sandfläche ins Unermeßliche, das Meer, das dem Auge nur noch als ein ferner grüner Strich erschien, sank immer tiefer und tiefer und verschwand, als ob der Boden es aufsaugte, während das Felsgestein dunkel und feuchtglänzend hoch emporwuchs.

Stella, von dem Anblick dieser Unendlichkeit ergriffen, stand und schaute bewundernd um sich. Hektor wußte auch hier wieder Bescheid. Auf einige Felsen zeigend, die von dem Wasser glatt gescheuert waren, sagte er: »Jener grünliche wird nur zweimal im Monat vollständig freigelegt, dann eilen die Fischer hin, um Miesmuscheln, die es dort in Menge gibt, zu sammeln. Der bräunliche Fleck dort drüben, das ist eine Felsengruppe, die ›die roten Kühe‹ genannt wird, man sieht sie nur zweimal im Jahre – es ist der beste Platz für Hummern, wir aber müssen weiter zu jenen Felsen, deren Spitzen eben emportauchen.«

Stella freute sich, als sie endlich ins Wasser gelangte, sie hob die Füße hoch und stampfte, daß der Schaum aufwirbelte und spritzte. Als sie immer weiterkamen und ihr das Wasser bis ans Knie reichte, freute sie sich des Widerstandes der Fluten und ging rascher, um ihn immer stärker zu fühlen.

»Fürchten Sie nichts«, sagte Hektor, »das Wasser wird Ihnen bis zum Gürtel steigen, dann aber geht der Boden wieder aufwärts, und wir werden kaum die Füße benetzt haben.«

Sie mußten einen kleinen Meeresarm durchqueren und standen nun auf einer breiten bloßgelegten Felsplatte. Als Stella sich umwandte, konnte sie einen Ausruf der Überraschung nicht unterdrücken: Piriac lag weit, weit entfernt, so daß die Häuser nur wie Punkte erschienen. Eine solche ungeheure Fläche hatte Stella noch niemals geschaut. Golden glänzte im Sonnenlichte der Sand, dunkelgrün hoben sich die Algen davon ab, dazu die ragenden Felsen – ein grandioses Bild, freilich ein Bild der Zerstörung, der Vernichtung; wenn alle Kultur zugrunde gegangen, dann wird die ganze Erde wohl diesem Bilde gleichen – – –

Aber Stella verweilte nicht lange bei solchen Gedanken, vielmehr machte sie sich mit Hektors Hilfe ans Fischen. Sie hatten kaum ihre Netze ausgeworfen, als Herrn Chabres jammernde Stimme zu ihnen herüberdrang, er stand mitten im kleinen Meeresarm, das Wasser reichte ihm bis an den Magen, und er wagte keinen Schritt mehr vorwärts, aus Angst noch tiefer einzusinken.

»Wie kommt man denn da durch? Geradeaus?« rief er klagend.

»Nein, links«, antwortete Hektor.

Er wandte sich links, da aber das Wasser noch höher drang, blieb er entsetzt stehen, er wagte sich nicht vorwärts, noch hatte er den Mut umzukehren.

»Helfen Sie mir doch«, jammerte er, »es sind hier tiefe Löcher, ich fühl's, mein Wort darauf; da kann man ja versinken – reichen Sie mir doch die Hand!«

»Es geschieht Ihnen nichts«, entgegnete Hektor, »wenden Sie sich rechts, Sie kommen ganz wohlbehalten herüber.«

Der Ärmste stand noch zögernd einen Augenblick da; er war mit dem geschulterten Netze und mit seiner schön geknüpften Krawatte so komisch, daß Stella und Hektor sich eines Lächelns nicht erwehren konnten. Endlich gelang es ihm doch, durchs Wasser zu kommen, aber er befand sich noch in großer Aufregung und sagte ziemlich unwirsch: »Ich kann ja nicht schwimmen!«

Nun hatte er zwar den Übergang glücklich überstanden, dachte indes schon mit Entsetzen an die Rückkehr, und dies Entsetzen war um so stärker, als Hektor erwähnt hatte, man dürfe sich nicht von der Flut überraschen lassen.

»Sie wissen aber doch, wann sie kommt?« fragte er ängstlich, »und Sie werden mich rechtzeitig aufmerksam machen?«

»Gewiß, gewiß«, versicherte Hektor, »seien Sie außer Sorge.«

Dann begannen sie alle drei zu fischen, sie versenkten ihre engmaschigen Netze in alle Vertiefungen und Löcher. Stella war ganz leidenschaftlich bei der Sache, und sie war es auch, die zuerst etwas fing, es waren drei große rote Garnelen, die so lebhaft im Netze zappelten, daß Stella erschrocken aufschrie und Hektor zur Hilfe rief; sobald sie aber sah, daß sich die Tiere nicht mehr regten, wenn man sie beim Kopfe anfaßte, wuchs ihr Mut, und sie leerte ihr Netz nun jedesmal selbst in das Körbchen, das sie wie eine Jagdtasche umgehängt hatte. Manchmal zog sie ein Bündel Gräser aus dem Wasser und durchsuchte es sorgfältig, denn häufig hielten sich Garnelen darin verborgen. Sie fischte mit Eifer und warf von Zeit zu Zeit einen Blick in ihr Körbchen, ob es denn noch immer nicht gefüllt war.

»Es ist merkwürdig«, sagte Herr Chabre, »ich fange gar nichts!« Natürlich konnte er nichts fangen, da er sich von seinem Standplatze nicht wegrührte, sich nicht zwischen die Felsenspalten wagte – auch behinderten ihn seine Stiefel, die voll Wasser waren – und sein Netz nur auf dem Sande auswarf, aber er fing Krabben – oft zehn auf einmal. Sie flößten ihm eine schreckliche Angst ein, und er schlug sich mit ihnen förmlich herum, um sie wieder aus seinem Netze zu vertreiben. Alle Augenblicke wendete er sich, um Ausschau zu halten, ob die Flut noch immer fiel.

»Sind Sie sicher, daß die Ebbe noch anhält«, fragte er Hektor. Dieser nickte nur, er war ganz von seiner Fischerei in Anspruch genommen, und da er die richtigen Plätze genau kannte, füllte er bei jedem Zug sein Netz mit Garnelen, seinen Fang aber leerte er größtenteils in Stellas Korb; sie lachte, blinzelte nach ihrem Mann hin und legte den Finger an die Lippen. Hektor konnte sich nicht satt an ihr sehen, sie sah zu reizend aus, wenn sie ihr blondes Köpfchen neugierig über ihr Netz beugte, um zu sehen, was sie gefangen. Eine Brise zersprühte das Wasser, das aus dem Netz träufelte, und übertaute sie ganz, und ihr feuchtes Gewand, das sich eng um ihre Glieder schmiegte, ließ die Feinheit ihrer Gestalt voll zur Geltung kommen. Sie fischten schon an die zwei Stunden, als Stella endlich einen Augenblick innehielt, denn sie war vor Eifer ganz atemlos. Um sie her dehnte sich noch immer die ungeheure Sandwüste im tiefsten Frieden, nur das Meer erschauerte leise. Der Himmel spannte sich blaßblau, und die Sonne brannte glühend herab, indes fühlten sie die sengenden Strahlen kaum, weil vom Wasser ein erfrischender Hauch aufstieg. Stella blickte um sich und mußte lachen, denn auf Felsen und Riffen, die sich klar am Horizonte abhoben, wimmelte es von schwarzen Punkten – es waren Garnelenfischer wie sie –, sie waren nicht größer als Ameisen, und doch konnte Stella jede ihrer Bewegungen deutlich wahrnehmen; es war komisch, wie in diesem ungeheuren Raume diese Zwerglein geschäftig taten, wie sie die Netze mit gestreckten Armen auswarfen, den Rücken krümmten und den Fang heraufzogen und mit Armen und Füßen, die wie Mückenbeinchen anzusehen waren, herumruderten.

Stella scherzte darüber, als ihr Mann plötzlich einen Angstschrei ausstieß und rief: »Das Wasser steigt, der Felsen dort ist schon halb bedeckt, schauen Sie nur...«

»Natürlich steigt es«, versetzte Hektor, »da ist der Garnelenfang am ausgiebigsten.«

Aber das war dem biederen Herrn Chabre gleichgültig, überhaupt hatte er die ganze Fischerei schon satt, besonders da er eben mit seinem Netze einen Meerteufel, über den er sich nicht wenig entsetzte, herausgezogen hatte.

»Gehen wir, gehen wir«, rief er ein ums andere Mal, »es hat doch gar keinen Sinn, länger zu bleiben und sich der Gefahr auszusetzen.«

»Aber du hörst doch, daß man bei steigender See am meisten fängt«, sagte Stella.

»Und sie steigt tüchtig«, flüsterte Hektor mit ein bißchen boshafter Freude zu.

In der Tat, die Wogen kamen rauschend herangerollt, schlugen hoch an die Felsen und bedeckten sie immer mehr. Siegreich wie ein Eroberer nahm das Meer wieder Besitz von seinem alten Reiche. Stella aber kümmerte sich nicht um die rauschenden, steigenden Wasser, sie hatte ein Plätzchen entdeckt, wo unter langem, haarartig weichem Grase riesengroße Garnelen eingebettet waren, und wollte um keinen Preis weichen.

»So bleibe«, rief Herr Chabre, dem das Weinen nahe war, »ich für meine Person gehe, denn es hat gar keinen Sinn, daß wir alle zugrunde gehen sollen!«

Und er machte sich sofort auf. Mit Hilfe seiner Netzstange tastete er den Boden ab, denn er fürchtete, in eine Untiefe zu geraten, und kämpfte wie ein Verzweifelter gegen die Strömung.

Endlich bewog Hektor die junge Frau, Herrn Chabre zu folgen.

»Die Flut steigt tüchtig«, sagte er lächelnd, »sie wird uns bis an die Achseln reichen. Ein richtiges Bad für Herrn Chabre. Sehen Sie nur, wie er immer tiefer und tiefer einsinkt!«

Hektor war heute fest entschlossen, der schönen Stella eine Liebeserklärung zu machen, allein es gebrach ihm an Mut, und er ärgerte sich über seine Schüchternheit. Zwar hatte er es versucht, wenn er sein Netz voll Garnelen in Stellas Körbchen leerte, ihre Hand zu berühren, aber er hatte noch kein Wort gewagt. Auch war ihm heute zum erstenmal des Gatten Gegenwart lästig, und es wäre ihm beinahe erwünscht gewesen, wenn der gute Herr Chabre ertrunken wäre.

»Die Flut ist sehr reißend, gnädige Frau«, sagte er, »Sie würden guttun, sich von mir auf dem Rücken tragen zu lassen«, und er neigte sich, um ihr das Aufsteigen zu ermöglichen.

Aber sie lehnte errötend ab; nein, sie wäre kräftig genug, dem Anprall der Wogen zu widerstehen. Doch er wollte nicht nachgeben, er sei für ihre Gesundheit verantwortlich, behauptete er und bat sie so lange, bis sie nachgab und sich auf seinen Rücken schwang; sie stützte ihre Hände auf seine Schultern, um sich festzuhalten.

Der Jüngling richtete sich hoch auf, als ob er nur ein Vöglein auf der Achsel trüge, bat sie noch, sich festzuhalten, und durchquerte mit weitausgreifenden Schritten die reißende Flut.

»Nicht wahr, nach rechts?« klang es wieder jammernd von Herrn Chabres Lippen.

»Ja, ja, nur immer rechts«, entgegnete Hektor, und sobald Herr Chabre den Rücken gewendet, wagte er es, die schönen Hände, die auf seinen Achseln ruhten, zu küssen. Stella wollte sie zurückziehen, aber er bat sie, sich ruhig zu verhalten, weil er sonst für nichts stehen könne; und dann begann er aufs neue, ihre Hände mit Küssen zu bedecken.

»Ich bitte, lassen Sie mich«, sagte Stella und tat sehr empört. »Wahrlich, Sie mißbrauchen meine Wehrlosigkeit ... wenn Sie nicht sofort aufhören, springe ich ins Wasser!«

Er hörte nicht auf, und sie sprang nicht ins Wasser. Er drückte ihre Füßchen heftig an seine Brust und küßte ununterbrochen ihre Hände.

Von Herrn Chabre war nicht mehr viel zu sehen, das Wasser reichte ihm bis an die Achseln, und es sah aus, als ob ihn die nächste Welle wegspülen müßte.

»Rechts, nicht wahr?« fragte er.

»Nein, jetzt links!« rief Hektor.

Herr Chabre machte einen Schritt nach links und stieß einen Schrei aus, er war bis an den Hals eingesunken und der klassische Knoten seiner Krawatte vollständig ertränkt.

In diesem Augenblicke flüsterte Hektor: »Ich liebe Sie, gnädige Frau.«

»Schweigen Sie, ich befehle es Ihnen«, antwortete Stella.

»Ich liebe, ich vergöttere Sie!« rief er emphatisch, sie aber mußte lachen. Die Liebeserklärung war auch gar zu komisch: Er sah sie nicht an, sondern schaute geradeaus und schritt immerzu, das Wasser reichte ihm nun bis an die Brust.

»Ich liebe Sie.«

»Stille«, sagte sie und gab ihm einen leichten Schlag auf die Schulter; das beglückte ihn derart, daß er sogar eine mitleidige Regung für den Mann empfand, der in Verzweiflung stehengeblieben war und sich nicht zu regen wagte.

»Nur immer geradeaus, Herr Chabre«, sagte er heiter, »es kann Ihnen nichts geschehen.«

Als sie alle wohlbehalten am Strande angelangt waren, begann Herr Chabre all seine Leiden zum besten zu geben.

»Ich wäre beinahe ertrunken«, erzählte er ganz erregt, »die Stiefel sind schuld daran –«

Aber Stella ließ ihn nicht ausreden, sie öffnete ihren Korb und zeigte, daß er bis an den Rand mit Meergarnelen gefüllt war.

»Nicht möglich«, rief er höchlich erstaunt, »das hast du alles allein gefischt?«

»Freilich«, entgegnete sie, indem sie Hektor lächelnd anblickte, »ich hatte einen guten Lehrmeister!«

V

Das Ehepaar Chabre sollte nur noch zwei Tage in Piriac verbleiben. Hektor war außer sich darüber, durfte es sich aber doch nicht merken lassen.

»Sie können unmöglich von hier fort, ohne die Felsen von Castelli gesehen zu haben, sie sind eine große Sehenswürdigkeit, das Meer hat sie vollständig ausgehöhlt, so daß sie wunderbare Grotten bilden. Sie sind nur einen Kilometer von Piriac entfernt und dehnen sich längs des Meeres etwa eine halbe Meile. Die Gegend ist wildromantisch, und man muß das gesehen haben. Sie sollten morgen den Ausflug unternehmen.«

»Ja, wenn es so merkwürdig ist, dann müssen wir wohl hin«, sagte Stella, »ist der Weg beschwerlich?«

»Nicht im geringsten, es sind höchstens zwei oder drei Stellen, wo man sich die Füße etwas netzt, sonst ist es der schönste Weg.«

Aber Herr Chabre wollte sich nicht einmal die Füße netzen. Seit er beim Garnelenfang ein unfreiwilliges Bad hatte nehmen müssen, hegte er gegen das Meer einen ungeheuren Groll und war daher im vorhinein gegen den Ausflug eingenommen; es hätte gar keinen Sinn, meinte er, das Leben wieder aufs Spiel zu setzen oder Gefahr zu laufen, beim Felsenklettern sich die Beine zu brechen. Wenn es aber durchaus sein müsse – und das wäre schon Opfers genug –, würde er sie von oben, auf der Küste, begleiten. Hektor wußte ihn zu besänftigen.

»Der Wächter beim Semaphor von Castelli hat immer eine Menge vorzüglicher Schaltiere vorrätig, und er gibt sie fast umsonst«, berichtete er.

Bei dieser Mitteilung fand Herr Chabre seine gute Laune sofort wieder.

»Ja, das ist eine gute Idee«, sagte er, »ich will ein Körbchen mitnehmen und mich noch ein letztes Mal recht satt daran essen, und weißt du«, wendete er sich mit einem schelmisch sein sollenden Lächeln an seine Frau, »weißt du, vielleicht sind's diesmal die richtigen!«

Am nächsten Tag fand der Ausflug wirklich statt; sie mußten die Ebbe abwarten, und da Stella sich verspätete, wurde es fünf Uhr nachmittags, ehe sie aufbrachen. Herr Chabre war wieder recht sorgfältig gekleidet, als wollte er auf den Boulevards spazierengehen, doch trug er seinen unvermeidlichen Touristenschirm und ein Körbchen für seinen wichtigen Einkauf.

Stella hatte ein fußfreies graues Leinenkleidchen an, und ihre nackten Füßchen steckten in Sandalen.

Der Weg war anfangs recht beschwerlich. Sie mußten durch feuchten Sand, in den der Fuß versank, waten; Herr Chabre keuchte und schnaubte wie ein Blasebalg.

»Ich gehe lieber hinauf«, sagte er endlich.

»Daran tun Sie wohl«, entgegnete Hektor, »denn hier führt ein Fußsteig bequem aufwärts, später ginge es nicht mehr, da ist der Weg verlegt – soll ich Ihnen helfen?«

Aber Herr Chabre klomm allein empor, Stella und Hektor blieben stehen und sahen ihm nach; als er oben angelangt war, spannte er seinen Schirm auf, schwang das Körbchen und rief: »Hier ist's weit besser! Also seid vorsichtig – und seht zu, daß euch nichts geschieht; übrigens gebe ich von oben aus auf euch acht!«

Hektor und Stella schritten mitten durch die Klippen. Der Jüngling ging voraus und sprang über das Gestein mit der Gewandtheit und Anmut eines Bergjägers. Stella folgte mutig seinen Fußtapfen, und wenn er sich umwandte, um ihr zu helfen, lehnte sie mit den Worten ab: »Aber ich bin doch keine Großmutter!«

Sie waren auf eine weitgedehnte Felsenplatte gekommen, in die das Meer tiefe und seltsame Furchen gezogen hatte, so daß sie wie der Abdruck des Gerippes eines vorsintflutlichen Tieres aussah. In den Höhlungen rieselten dünne Wasserfäden, und über das Gestein breiteten sich Algen wie dunkles Haargeflecht.

Die beiden schritten weiter, hüpften über das Gerinnsel, sprangen von Stein zu Stein und scherzten über das Geröll, auf dem der Fuß strauchelte.

»Ihre Felsen sind wirklich allerliebst«, lachte Stella, »so niedlich, daß man sie im Salon aufstellen möchte.«

»Oh, warten Sie nur«, entgegnete er, »es kommt noch besser.«

Sie gelangten an einen engen Durchgang zwischen zwei hochaufgetürmten Felsen, aber den Eingang versperrte eine ziemlich tiefe und breite Wasserlache.

»Da werde ich nie hinüberkommen«, sagte Stella.

Hektor erbot sich, sie zu tragen, allein sie schüttelte heftig das Haupt: Nein, sie wollte nicht mehr getragen werden.

Da suchte er Steine und wollte eine Art Brücke damit herstellen, doch das Wasser war zu tief, und die Steine versanken.

Sie verlor die Geduld und rief: »Reichen Sie mir die Hand, ich will hinüberspringen!«

Sie sprang, aber sie sprang zu kurz und fiel ins Wasser; darüber mußten sie nun beide unbändig lachen.

Als sie den Ausgang erreicht hatten, stieß die junge Frau einen Ausruf der Bewunderung und Überraschung aus.

Eine weite, von mächtigen Felsen amphitheatralisch umschlossene Arena lag vor ihnen. Ungeheure Blöcke standen, vorgeschoben wie Wachtposten, inmitten der Wogen. Weiterhin hatte das Wasser tiefe Buchten in der Küste ausgehöhlt und den Granit glattgeschliffen, daß er schwärzlichem Marmor glich. Säle und Säulenhallen gab es, es sah aus, als habe hier einst eine gewaltige Zyklopenstadt gestanden, die der ewige Ansturm der Fluten und Stürme endlich zerstört hatte: Wälle und Mauern waren geschleift, die Türme halb abgetragen, die Häuser eingestürzt; Hektor führte seine Begleiterin in alle Winkel und zeigte ihr die Überbleibsel dieser grandiosen Zerstörung.

Und Stella ging auf feinem, gelbem Sand, der wie Goldstaub aussah, über Kies, der, mit Glimmerflitter bedeckt, im Sonnenschein glitzerte, über gestürzte Felsblöcke, an die sie sich mit den Händen anklammern mußte, um nicht in Spalten und Untiefen zu fallen. Sie schritt durch Pforten und Triumphbogen, die gotischen oder romanischen Baudenkmälern glichen, und stieg in tiefliegende Verliese, in denen es ihr eisig kühl entgegenwehte. Sie fand, daß sich die bläulichen Disteln und dunkelgrünen Fettpflanzen von den grauen Wänden der Klippen hübsch abhoben, und interessierte sich besonders für die Meervögel, die sie greifbar nah umflatterten und dabei einen eigentümlichen rhythmischen Laut von sich gaben. Was sie aber am meisten entzückte, war, von dieser Steinwelt aus immer wieder die blaue Linie des Meeres zu erblicken, das bei jeder Biegung des Weges deutlicher wurde, sich in stiller Majestät ins Grenzenlose dehnte.

»Ah, da seid ihr ja!« tönte Herrn Chabres Stimme von der Küste herab, »ich hatte euch aus den Augen verloren und war besorgt. – Aber der Abgrund hier ist gräßlich, nicht?«

Er stand wohlweislich mindestens sechs Schritt vom Rande entfernt unter seinem aufgespannten Schirm, mit dem leeren Korb am Arme. Er sah aufs Meer hinaus und rief: »Es steigt gehörig, nehmt euch in acht!«

»Seien Sie außer Sorge«, rief Rektor zurück, »wir haben Zeit!«

Stella hatte sich niedergelassen. Bewundernd, unfähig ein Wort hervorzubringen, schaute sie ins Unermeßliche. Hinter ihr erhoben sich Granitpfeiler, die wie Riesensäulen eines verfallenen Tempels aussahen; vor ihr lag das tiefblaue strahlende Meer, und in weiter, weiter Ferne, winzig wie ein Möwenflügel, leuchtete schneeig ein Segel. Der Himmel spannte sich hell und heiter, aber das sachte verschwimmende Licht kündete baldige Dämmerung.

Stella konnte sich von dem herrlichen Bilde nicht loslösen, ihr war, sie wußte nicht wie, so weich, so sehnsuchtsvoll!

»Kommen Sie«, sagte Hektor leise, indem er ihre Hand faßte.

Sie erbebte und erhob sich langsam.

»Nicht wahr, das Häuschen dort mit dem Maste ist der Semaphor?« tönte wieder Herrn Chabres Stimme herab. »Ich gehe meine Muscheln kaufen und hole euch wieder ein.«

Über Stella war eine eigentümliche Mattigkeit und Schlaffheit gekommen; um sie abzuschütteln, begann sie wie ein Kind zu laufen, sie sprang über alle Wasserlachen und kletterte mühselig auf einen Haufen übereinandergeschichteter Felsblöcke, der bei steigender Flut wohl wie eine Insel auf dem Wasser herausragte. Und oben stand sie, erfreut, von dieser Höhe aus mit dem Blicke das ganze weite Gebiet zu umfassen. Sie stand hochaufgerichtet, und ihre feine Gestalt hob sich in der wunderbar klaren Luft ungemein deutlich und anmutig ab.

Als sie wieder herabgeklettert war, hüpfte sie weiter von Stein zu Stein, guckte neugierig in alle Höhlen und neigte sich über die zahlreichen kleinen Teiche und Tümpel, deren klares Wasser den Himmel widerspiegelte. Tief drunten im Grunde bildeten hohe smaragdgrüne Gräser phantastische Wälder, in denen schwarze Krabben wie Frösche hüpften, ohne das Wasser zu trüben. Und träumerisch schaute die schöne junge Frau in die Tiefe, als suchte ihr Blick nach einem Märchenlande, einem Aufenthalt für Selige.

Als sie wieder an den Fuß der Küste zurückgekehrt waren, sah Stella, daß ihr Gefährte in sein Taschentuch ein ganzes Bündel Arapeden gesammelt hatte.

»Für Herrn Chabre«, sagte er, »ich will sie ihm hinaufbringen.«

Eben kehrte Herr Chabre von seinem Gang zurück.

»Auch nicht eine einzige Muschel haben sie im Semaphor«, klagte er, »ich habe es gleich gesagt, daß es ein Unsinn wäre, herzukommen, und ich hatte recht.«

Als ihm aber Hektor von weitem das Bündel mit den Arapeden zeigte, beruhigte er sich und staunte über die Gewandtheit, mit welcher der Jüngling an den Felsen, die glatt wie eine Mauer schienen, empor und wieder hinabkletterte.

»Oh, das will gar nichts bedeuten«, entgegnete Hektor lachend, als ihm Herr Chabre seine Verwunderung ausdrückte, »es ist die reinste Stiege, nur muß man wissen, wo die Staffeln sind.«

Herr Chabre wünschte nun den Rückweg anzutreten, er fand das Meer beunruhigend und beschwor seine Frau, heraufzukommen, wenigstens einen bequemen Weg zu suchen. Aber Hektor entgegnete lachend, daß es auf die Küste hinauf keinen Weg für Damen gäbe und daß sie übrigens noch nicht die Hauptsache, die Grotten, derentwegen sie gekommen seien, gesehen hätten. So blieb denn Herrn Chabre nichts übrig, als ihnen oben längs des Kammes zu folgen; als die Sonne unterging, schloß er seinen Schirm und benutzte ihn als Stock, in der andern Hand trug er seinen Korb mit den Arapeden.

»Sind Sie müde?« fragte Hektor seine schöne Gefährtin.

»Ja, ein wenig«, antwortete sie und nahm seinen ihr angebotenen Arm. Nicht, daß sie wirklich müde gewesen wäre, aber sie fühlte ein süßes Bedürfnis, sich anzuschmiegen, in ihr zitterte noch die Angst und Aufregung nach, die sie empfunden hatte, als sie den kühnen Jüngling hoch an der Felsenwand hatte hängen sehen.

Sie schritten langsam und schweigend über den Kies des Strandes, der unter ihren Tritten knirschte.

Hektor zeigte ihr zwei Höhlen, das Narrenloch und die Katzengrotte genannt. Sie erschauerte, als sie eintrat, denn es wehte ihnen kühl entgegen. Und schweigend setzten sie ihren Weg, der über weichen, schönen Sand führte, fort, nur von Zeit zu Zeit blickten sie sich an und lächelten einander zu.

Das Meer stieg, die Wellen schlugen klatschend an, sie merkten es nicht, Herr Chabre schrie ihnen aus Leibeskräften von oben herab allerlei zu, sie hörten ihn nicht.

»Es ist Wahnsinn«, rief er und schwang Schirm und Korb, um sich bemerkbar zu machen, »Stella... Herr Hektor ...! So hört doch!... Die Flut ist da!... Ihr habt ja die Füße schon im Wasser!«

Sie hörten nicht, sie fühlten auch nicht die Frische der kleinen Wellen, die tatsächlich schon über ihre Füße spülten.

»Stella!... Herr Hektor!...«

»Was gibt's?« fragte endlich die junge Frau.

»Ah, Sie fürchten für uns, Herr Chabre?« rief Hektor, »keine Sorge, es geschieht nichts, auch sind wir mit unsrer Wanderung gleich zu Ende, nur die ›Damengrotte‹ müssen wir noch besichtigen.«

»Aber das ist ja Tollheit«, rief Herr Chabre mit verzweiflungsvoller Gebärde, »ihr werdet ertrinken, es ist euer sicherer Tod!«

Doch sie hörten ihn nicht länger an; um der zunehmenden Flut auszuweichen, schritten sie rasch knapp an den Felsen entlang und erreichten endlich die »Damengrotte«. Es war eine tiefe Höhle in einem Granitblock, der vorgebirgeartig hervorsprang. Hoch wie eine Kuppel wölbte sie sich, und die Wände waren vom Anprall der Wogen glatt und glänzend wie Achat. Der dunkle Granit wies zartes, rosenrotes und bläuliches Geäder auf, das sich in seltsamen Linien wand, als wären es künstliche Arabesken, mit denen Künstler einer längstvergangenen Zeit diesen Badesaal für Meeresköniginnen geschmückt hatten. Auch der Boden mit dem feuchtglänzenden Kies glich einem aus Edelsteinen gebildeten Mosaik, und die Sandbank im Hintergrunde, die weich, trocken und goldschimmernd war, konnte als Königsthron gelten.

Stella hatte sich auf die Sandbank niedergelassen, hielt bewundernd Umschau in der Grotte und flüsterte dann: »Ach, hier möchte ich leben.«

Hektor, der am Eingang stehengeblieben war, beobachtete das Meer, plötzlich tat er sehr erschrocken und rief: »Ach Gott, nun sind wir gefangen! Die Flut hat uns den Weg abgeschnitten – wir müssen zwei Stunden warten...!«

Er trat hinaus, hob den Kopf, um mit den Blicken Herrn Chabre zu suchen, der gerade über der Grotte auf der Küste stand, und kündete ihm an, daß sie eingeschlossen seien.

»Nun, habe ich es nicht vorausgesagt?« rief Herr Chabre triumphierend, »aber ihr wolltet mir nicht glauben, nun habt ihr die Strafe... Es ist doch keine Gefahr dabei?«

»Nein, nicht die geringste«, entgegnete Hektor, »das Meer dringt höchstens fünf bis sechs Meter in die Grotte – nur dürfen Sie sich nicht beunruhigen –, es wird an die zwei Stunden dauern, bis wir wieder heraus können.«

Jetzt aber begann Herr Chabre ärgerlich zu werden, er war hungrig und wollte essen. Ein dummer Ausflug, über den man das Diner versäumen muß! Er brummte noch allerlei, dann setzte er sich auf den grasigen Boden, legte den Schirm links und stellte den Korb mit den Arapeden zu seiner Rechten.

»Nun, wenn es durchaus sein muß, will ich warten«, rief er, »gehen Sie zu meiner Frau hinein, und sehen Sie zu, daß sie sich nicht erkältet.«

Hektor kehrte in die Grotte zurück und setzte sich neben Stella. Nach einer Weile wagte er, ihre Hand zu ergreifen, und sie zog sie nicht zurück. Sie blickte ins Weite, in die zunehmende Dämmerung hinaus. Der Himmel verblaßte immer mehr und mehr, nur am Horizont färbte er sich blaßviolett, das Meer wurde immer dunkler und dunkler, es dehnte sich ins Endlose, und nicht ein einziges Segel war mehr zu sehen.

Langsam drang das Wasser in die Grotte und rollte leise rauschend über den schimmernden Kies. Wie schmeichelnde Stimmen klang es, wollüstige Schauer brachte es und sinnbetörenden Duft.

»Stella, ich liebe dich«, flüsterte Hektor und bedeckte ihre Hände mit Küssen.

Sie antwortete nicht, von den rauschenden, steigenden Wassern wie betäubt, willenlos, lag sie halb auf dem feinen Sandbette und glich einer Nereide, die dem Meergott keinen Widerstand zu leisten vermag.

Plötzlich tönte Herrn Chabres Stimme wie aus den Lüften zu ihnen: »Seid ihr nicht hungrig? Ich komme fast um! Zum Glück habe ich mein Messer bei mir und will mich an den Arapeden schadlos halten.«

»Stella, ich liebe dich«, wiederholte Hektor und schloß sie in seine Arme.

Allmählich verdämmerte das Tageslicht, dunkel kam die Nacht, und nur das weiße Meer erhellte den Himmel. Mit langgezogenen Klagelauten drang das Meer immer tiefer in die Grotte, und seine Wellen atmeten Leben und Fruchtbarkeit. Stellas Kopf sank auf Hektors Schulter, und im Abendwinde verhallten Seufzer und Küsse –

Oben beim Sternenscheine saß Herr Chabre im Grase und aß seine Schaltiere. Er verdarb sich daran den Magen, da er sie ohne Brot genoß und ganz verschluckte.

VI

Neun Monate nach ihrer Rückkehr von Piriac genas die schöne Frau Chabre eines Knaben. Herr Chabre war ungeheuer stolz, und glückstrahlend zog er Doktor Guiraud beiseite und sagte: »Das haben die Arapeden fertiggebracht, darauf möchte ich schwören! Ich habe eines Abends unter den sonderbarsten Umständen einen ganzen Korb voll davon aufgegessen. – Ich hätte es nimmermehr gedacht, Herr Doktor, aber Sie hatten recht, die Kur hat Wunder gewirkt!«