Ein Punkt war es, über den Hänschen nicht zu der Klarheit zu gelangen vermochte, die er sich wünschte, über den ihm auch Fränzchen, sein Schwesterchen, obschon es doch siebeneinhalb Jahre alt und mithin ein ganzes Jahr und zwei Monate älter war als er, keine genügende Auskunft zu geben vermochte; das war die Frage: was eigentlich die Vorsehung sei?
Daß sie vom lieben Gott besorgt würde, darüber waren Hänschen und Fränzchen unter sich einig, denn jeden Abend, wenn die Mutter sie zu Bette brachte, wenn sie ihnen die Händchen über der Bettdecke gefaltet hatte, sprach sie ihnen einen Vers vor, in welchem sie Beide der Vorsehung Gottes anempfohlen wurden; auch darüber, wie der liebe Gott aussähe, und daß er so ungefähr aussehen mußte wie der Vater – nur viel, viel älter und mit einem langen, langen weißen Barte – herrschten keine Zweifel mehr unter ihnen; aber die Vorsehung! – Sie hatten die Mutter danach gefragt; aber gerade die Erklärung, die sie von ihr erhielten, hatte ihre Dunkelheit vermehrt: Der liebe Gott, hatte es geheißen, weiß Alles, Vergangenes und Zukünftiges, er weiß daher auch im Voraus, wenn ein Kind unartig sein und anders thun wird, als es soll. Und in seiner Güte sorgt er dann dafür, daß die Unartigkeit der Kinder keine bösen Folgen hat, und wendet Alles wieder zum Guten.
Das war doch zu merkwürdig; er wußte vorher, daß die Kinder unartig sein würden, und ließ es dennoch geschehen? Er hatte doch so viele Engel zur Verfügung – Hänschen schätzte ihre Zahl auf mindestens tausend, Fränzchen aber hatte ihm versichert, daß es zum wenigsten zehntausend sein müßten – warum schickte er nicht, sobald er merkte, daß ein Kind vor einer Unartigkeit stände, ganz rasch einen Engel herunter, der ihm zurief: »Du – Hänschen – oder Du – Fränzchen, der liebe Gott läßt Dir sagen, daß Du das, was Du jetzt thun willst, hübsch bleiben lassen sollst.«
Und nachher, wenn es trotzdem geschehen war, sorgte er wieder, daß es keine bösen Folgen hätte? Er wußte also vorher, was ihm die Kinder für eine Menge von Mühe und Arbeit machen würden, und trotzdem traf er keine Vorkehrungsmaßregeln?
Hänschen und Fränzchen versitzten sich, je mehr sie darüber nachdachten, in immer tiefere Räthsel. –
Da hatte an einem Sommertage, als Beide mit den Eltern beim Mittagessen zusammensaßen, der Vater verkündigt, daß am nächsten Tage, wenn gut Wetter wäre und wenn Beide bis dahin artig gewesen sein würden, eine Landpartie unternommen werden sollte.
In Gemeinschaft mit den Eltern würden sie Nachmittags nach der Meierei hinausspazieren, etwa eine stunde Weges von der Stadt, dort würden die Eltern Kaffee, Hänschen und Fränzchen aber Milch trinken und dazu Kuchen bekommen. Glücklicherweise hatten Beide sich schon satt gespeist, sonst würden sie vor Entzücken über diese Nachricht vermuthlich die Mahlzeit unberührt gelassen haben. Und was das Merkwürdigste war: als sie den Eltern ihre »gesegnete Mahlzeit« wünschten, und als sie, Hänschen auf dem rechten, Fränzchen auf dem linken Knie des Vaters saßen, hatte dieser mit einem ganz besonderen Lächeln gesagt, »man könne nicht wissen, aber vielleicht würden sie morgen bei der Gelegenheit die Vorsehung kennen lernen.«
Das gab der Sache einen neuen, geheimnißvollen Reiz, und Hänschen und Fränzchen hatten ein Gefühl, als müßten sie bis zu dem morgigen Nachmittage wie auf Eiern gehen, damit sie nicht bewußt oder unbewußt in eine Unartigkeit verfielen, die der Landpartie einen Riegel vorschöbe.
In der Nacht träumten Beide von der Vorsehung: Hänschen sah sie in der Gestalt einer alten Frau, die mit dem lieben Gott Arm in Arm spazieren ging und sich mit ihm über artige und unartige Kinder unterhielt; Fränzchen sah einen ungeheuer langen Arm und eine Hand daran, die sich aus den Wolken hervorreckte, die alsdann einen Zeigefinger, so lang wie einen Pappelbaum, ausstreckte und mit diesem auf der Erde Linien zog – das waren offenbar die Wege, welche artige Kinder zu gehen hatten.
Endlich war der ersehnte Tag angebrochen, und der liebe Gott hatte aus besonderer Freundschaft für Hänschen und Fränzchen dafür gesorgt, daß es ein prächtiger sonniger Tag war. Das Mittagessen war verzehrt und die Mutter zog mit ihnen in die Schlafstube, um sie zur großen Unternehmung zu rüsten. Hänschen bekam ein Matrosenjäckchen von blauem Kattun und einen dunkelbraunen Strohhut mit flatterndem schwarzem Bande; Fränzchen eine schneeweiße Pellerine und einen gelben Strohhut mit flatterndem weißem Bande.
Vom Rathhausthurm schlug es vier Uhr, als Hänschen und Fränzchen, den Eltern voran, aus der Thür des Hauses traten. Kaum hundert Schritte waren sie die Straße entlang gegangen, als auf Anordnung des Vaters die erste Station gemacht wurde, und diese Station bedeutete eine weitere Stufe auf der Leiter zur Glückseligkeit:
Es war an der Ecke, wo der große Konditorladen sich befand, bei dem Hänschen und Fränzchen nie vorübergegangen waren, ohne mit ahnendem Schauer den süßen Kuchenduft einzuathmen, der aus den Kellerräumen, wo die Backstuben lagen, emporstieg. Und es war kein seliger Traum nur, heute sollten sie wirklich in diese Behausung aller Freuden eintreten. Der Vater öffnete selber die Thür und sprach: »Nun kommt hier einmal herein.«
Jauchzend vor Wonne trappelten sie hinein, und ganz erstarrt blieben sie vor dem großen Ladentische stehen, auf dem lauter, lauter Kuchen, einer immer herrlicher als der andere, lagen. »Seht's Euch an,« sagte der Vater, der hinter ihnen stand, »Jedes von Euch darf sich ein beliebiges Stück vom Tische dort aussuchen und mitnehmen.«
Das war zu viel – Hänschen und Fränzchen konnten nur noch stöhnen, sprechen war bei einem solchen Glück nicht mehr möglich – sie sahen erst gegenseitig einander an, als wollten sie sich fragen, ob sie wirklich noch auf Erden sich befänden oder plötzlich ins Schlaraffenland versetzt wären; dann reckten sich die Hälse, um den Ladentisch überschauen zu können. Dazu aber waren sie zu klein; die freundliche Konditorfrau, die lächelnd hinter dem Ladentische stand, eilte rasch herzu und stellte zwei Fußbänkchen hin, auf welche die Kinder traten, um von dieser erhöhten Warte aus das Gebiet ihrer Schätze zu überblicken. Nun erst konnten sie die ganze Fülle in allen ihren Einzelheiten wahrnehmen und nun begann auch mit der Wahl die Qual. Ein gewaltiger Baumkuchen, der wie ein Thurm auf dem einen Flügel des Ladentisches stand, fesselte zunächst die Augen Beider.
»Sieh mal die vielen Nasen,« raunte Hänschen, indem er in seiner Aufregung Fränzchen einen Stoß in die Seite gab, daß sie beinah von der Fußbank gepurzelt wäre.
»Ach und sieh mal hier den großen Apfelkuchen – und so viel Zucker drauf,« stammelte Fränzchen.
Lange, außerordentlich lange dauerte die Besichtigung, und wenn nicht endlich ein Machtwort des Vaters erfolgt wäre, der sie zu beschleunigter Wahl aufforderte, so ständen Beide vielleicht heute noch vor dem Kuchentische. In der Mitte des Tisches, leuchtend wie der volle Mond an einem Sommerabend, stand ein großer, frisch angeschnittener Käsekuchen – und der war es, an welchem Hänschens Wahl schließlich hängen blieb, nachdem er von den übrigen Herrlichkeiten mit einem betrübten Blicke Abschied genommen hatte. Fränzchen blieb dem Apfelkuchen treu und wählte sich ein Stück von ihm.
Die Konditorfrau nahm aus jedem der beiden Kuchen eine große Schnitte heraus, streute noch eine besondere Lage Zucker darüber und steckte sie in je eine Düte, die sie alsdann über den Tisch hin in die ausgestreckten Hände der Kinder legte. Vorsichtig, als trügen sie das zerbrechlichste Gut der Erde in Händen, stiegen Beide von ihren Fußbänken herunter und warteten, die Düten in der Hand, weiterer Anweisungen.
»Nun gebt einmal Acht,« sagte der Vater »jetzt werden wir sehen, ob Ihr artige und enthaltsame Kinder seid. Ihr werdet Euren Kuchen selber tragen, und in der Meierei draußen werdet Ihr ihn dann zur Milch essen – wer sein Stück aber unterwegs aufißt, bekommt keinen anderen Kuchen und auch keine Milch.«
Andächtig, als hörten sie die Stimme des jüngsten Gerichts, lauschten Hänschen und Fränzchen diesen inhaltschweren Worten, und unwillkürlich drückten sie die Oeffnungen der Düten fester in ihren Händen zusammen, als wollten sie den duftenden Versucher darinnen in seine tiefste Tiefe bannen.
»So,« sagte der Vater, »nun wißt Ihr's – nun kommt.« Vom Rathhausthurm schlug es halb fünf, als Hänschen und Fränzchen, den Eltern voran, aus der Thür des Konditorladens traten. Sie schritten vor dem Vater und der Mutter her, mit einer gewissen Feierlichkeit, wie Menschen, die da wissen, daß ihnen eine große und bedeutsame Aufgabe zu Theil geworden ist, die Düten möglichst weit von sich gestreckt. Als sie jedoch die Brücke überschritten, drückten sie dieselben leise an sich – es wäre doch zu schlimm gewesen, wenn sie ins Wasser gefallen wären.
Jenseits der Brücke, in der freien Natur, löste sich die strenge Ordnung des Zuges, und während die Eltern gemächlich dahinschritten, machten sich Hänschen und Fränzchen zur Rechten und Linken des Weges zu schaffen. Die Eltern ließen sie gewähren, und so kam es, daß die Kinder bald ein Stück hinter ihnen zurückblieben. Nun kam der Moment, da man zum ersten Male die Düten näher betrachten konnte; geöffnet wurden sie nicht, das hätte der Versuchung zu großen Vorschub geleistet, nur von außen wurden sie betrachtet. – Was für schönes, glänzendes Papier das war, und wie stattlich sich die Firma des Konditors darauf ausnahm! Während sie noch damit beschäftigt waren, kam ihnen ihr gemeinsamer kleiner Freund Menne, der Dachshund, entgegen, der mit seinem Herrn vom Spaziergange heimkehrte. Sobald er die Kinder erkannt hatte, die ihn mit Jubel begrüßten, kam er im Galopp auf sie zu; er spitzte seine braunen Ohren und drängte seine spitze, kalte Schnauze in Hänschens Hand, indem er eifrigst an der Düte herumschnoberte. Das war nun ein Hauptvergnügen, und Fränzchen ruhte nicht, bis daß er auch ihre Düte beschnobert hatte. Menne's verlangende Blicke blieben jedoch unerhört, und er mußte sich damit begnügen, daß Hänschen und Fränzchen ihn zärtlichst von allen Seiten umarmten, streichelten und küßten. Dann, als er sah, daß es nichts gab, wandte Menne sich ab, nieste und galoppirte mit seinen krummen, kleinen Teckelbeinen hinter seinem Herrn her, begleitet von den wehmüthigen Blicken der Kinder, die ihn ungefähr wie einen entfernten Vetter betrachteten.
Menne's Vorgang war indessen nicht ohne Nachwirkung geblieben; denn nach einigen weiteren Schritten hob Hänschen die Düte an die Nase. »Ach« – wandte er sich an Fränzchen – »riech einmal; riecht Deiner auch so schön?«
Das mußte festgestellt werden; und eine Zeit lang schnüffelte Hänschen an Fränzchens, und Fränzchen an Hänschens Düte herum. Das Ergebniß war äußerst befriedigend; die Kuchenschnitten dufteten ganz verführerisch schön.
Indem Fränzchen ihre Düte emporhob, hörte sie ein gewisses Bröckeln und Rollen darin.
»Horch doch mal,« sagte sie, die Düte vor Hänschens Ohren schüttelnd.
»Er ist wohl entzwei gegangen?« fragte er; »Du solltest doch einmal nachsehen.«
Fränzchen mochte die Gefahr erkannt haben, die in diesem Vorschlage schlummerte; denn sie blieb stehen und warf einen Blick auf die Eltern. Diese aber setzten, ohne sich umzusehen, ihren Weg fort; die Düte zu öffnen war ja nicht verboten – mit vorsichtiger Hand knitterte daher Fränzchen die Oeffnung der Düte auseinander und beide Kinder steckten ihre Köpfe darüber zusammen und schauten in die Düte nieder, als blickten sie in die Schatzkammer eines Märchenschlosses. Richtig – ein einzelnes Stückchen Apfel nebst zwei Rosinen hatte sich vom Teige losgetrennt und vagabondirte in der Düte neben dem Hauptstück einher.
Hänschen sah schweigend auf Fränzchen, Fränzchen schweigend auf Hänschen; dann plötzlich wurden Beide gleichzeitig roth, Fränzchen schloß wieder die Düte, und schweigend setzten sie ihren Weg fort.
Nachdem sie fünfzig Schritte weiter gegangen waren, kam Hänschen zu Fränzchen heran. »Weißt Du,« sagte er, und er sagte es ganz leise, »das abgegangene Stückchen gehört eigentlich nicht mehr dazu, das könntest Du eigentlich essen!«
Fränzchen zerknitterte ihre Düte, erwiderte nichts und wurde bis über beide Ohren roth.
Wieder dreißig Schritte weiter fing Hänschen noch einmal an. »Weißt Du,« sagte er, »wenn Du Dich so fürchtest, können wir es auch Beide zusammen? Sonst – will ich es auch allein essen? Dann hast Du ja keine Schuld.«
Fränzchen blieb standhaft und setzte den Vorhaltungen des kleinen Sophisten passives Schweigen entgegen.
Abermals verrann einige Zeit.
Plötzlich öffnete Hänschen seine Düte und blickte hinein.
»Ich gebe Dir dafür auch was von meinem,« sagte er, »sieh einmal her.«
Wie vorher über Fränzchens, so steckten sich jetzt Beider Köpfe über Hänschens Düte zusammen. In verführerischem Glanze leuchtete der Käsekuchen, mit schwarzen Korinthen geschmückt. Hänschen drückte an der Düte, und pink – pink – fielen ein paar Korinthen aus dem gelben Rahm auf das Dütenpapier. Hänschen schüttelte sich dieselben in die hohle Hand und bot sie der Schwester hin. Fränzchen fuhr anfänglich zurück, dann verschwanden ihre Finger in ihrer Düte, und während sie mit zwei Fingern die Korinthen des Bruders nahm, reichte sie ihm mit den anderen das Stückchen Apfel nebst den zwei Rosinen, und die Korinthen sowie das Stückchen Apfel verschwanden nach entgegengesetzten Richtungen im Munde der Kinder. Sobald dies geschehen war, drückten Beide krampfhaft ihre Düten wieder zu und gingen lautlos neben einander her, indem sie entsetzte Blicke auf die voranschreitenden Eltern richteten. Diese gingen, ohne sich umzusehen, gemächlich ihren Weg dahin.
Um zur Meierei zu gelangen, mußte man jetzt rechts abschwenken und einen breit gelagerten Wiesengrund durchschreiten. Da war kein Baum, kein Strauch, da war nur volle, heiße Nachmittagssonne, und was dazu gehört: Trockenheit und Durst. Wenn man jetzt schon die kühle, schöne Milch gehabt hätte, die es in der Meierei draußen geben sollte!
Aber bis dahin war es noch weit.
Jetzt ein paar Rosinen, oder ein bischen von dem schönen gelben Rahm des Käsekuchens – das wäre immerhin eine Erquickung gewesen.
»Schüttle doch noch mal Deine Düte,« wandte sich Hänschen mit plötzlichem Entschlusse an Fränzchen.
Sie that es – nichts ließ sich hören – leider.
»Wir wollen doch mal nachsehen,« entschied er; und es schien, als ob er dem halsstarrigen, unzerbrechlichen Apfelkuchen gern nachgeholfen hätte.
Man kann nicht sagen, daß Fränzchen ihre Düte hingegeben hätte; aber sie ließ es geschehen, daß er dieselbe mit seiner einen, freien Hand öffnete und daß er von Neuem in die geöffnete Düte hineinblickte. Der Apfelkuchen lag wie ein Felsblock, in unzerstörbarer Ganzheit. Mit zorniger Energie riß Hänschen seine eigene Düte auf, und eine Weile gingen beide Kinder, die Augen in ihre Düten gesenkt, dahin, als wenn sie mit ihren beiderseitigen Kuchen Zwiesprache hielten.
Dann raufte Hänschen einen Halm aus der Erde und fuhr damit in seine Düte. »Ich will nur die Löcher wieder glatt machen,« erklärte er, »wo die Korinthen gesessen haben.«
Plötzlich hielt er den Halm, der ganz mit gelbem Rahm bedeckt war, Fränzchen vor's Gesicht.
»Leck' mal,« sagte er.
Fränzchen leckte.
Und nun geschah etwas, das Fränzchen bis ins Tiefste erbeben machte: mit einem jähen Griff hatte Hänschen die ganze Spitze seiner Käsekuchen-Schnitte abgebrochen und steckte sie Fränzchen zu.
»Aber dafür mußt Du mir auch was von Deinem abgeben,« sagte er.
»Aber wir sollen's doch nicht,« wandte Fränzchen ein, indem sie ängstlich nach den Eltern schaute.
»Sie sehen sich ja nicht um,« beschwichtigte Hänschen, »und dann ist es ja so wenig, und es bleibt ja noch so viel übrig.«
»Aber dann auch nichts, nicht ein bischen mehr,« sagte Fränzchen, indem sie mit zögernder Hand an den Apfelkuchen griff.
»Nein, dann ganz gewiß nichts mehr, versprach Hänschen, und gleich darauf wanderte ein Stück Apfelkuchen in seinen, und ein Stück Käsekuchen in Fränzchens Mund. O – das schmeckte in der Hitze! – Die beiden Kinder schnalzten vor Wonne, und mit diesem Bissen glitt der Verführer über ihre Lippen.
Im Augenblick, als Fränzchen die Düte wieder schließen wollte, kam Hänschen auf sie zugestürzt: »Nur noch ein Stückchen,« rief er ganz flehentlich, »nur noch ein ganz, ganz kleines Stückchen! dann auch ganz gewiß nichts mehr, gar nichts, gar nichts mehr! O bitte, bitte, bitte!« Er stammelte förmlich vor Erregung, und Fränzchens Widerstand, an sich schon nicht gerade stark, brach völlig entzwei, als Hänschen blindlings in seine Düte griff und seine Hand mit einem großen Brocken Käsekuchen wieder herauszog.
»Jetzt ist nur noch die Hälfte da,« sagte Fränzchen mit dumpfem Tone, als sie danach den Schaden besah. Aber nun bemächtigte sich der Beiden eine Art von Verzweiflung, so daß sie noch zweimal rasch hintereinander in die Düten griffen und sich gegenseitig ihren Kuchen in den Mund stopften. Dabei hatten sie ein Gefühl, als wenn sie mit jedem Griffe in die Düte und mit jedem Male, daß der Kuchen kleiner ward, ein Stück von ihrer ewigen Seligkeit davongäben. Daher fingen sie Beide plötzlich, wie auf Verabredung, zu weinen an, und zwar lautlos, damit die Eltern es nicht hörten, und während sie mit beiden Backen kauten, liefen ihnen die Thränen stromweise über die Wangen.
In die Düten hineinzuschauen wagte man jetzt nicht mehr, man fühlte nur noch mit tastenden Fingern daran herum, und was man fühlte, war entsetzlich: auf dem untersten Boden der Düte ein letztes Schnipsel des Kuchens. Hänschen und Fränzchen sahen sich bei dieser Entdeckung mit thränenverschleierten Augen eine Zeitlang starr und wortlos an, dann steckte er ihr seine Düte, sie ihm die ihrige in die Hand, und unter herzbrechendem Schluchzen und leisem Jammern aß Hänschen den Rest von Fränzchens Apfelkuchen und Fränzchen den Rest von Hänschens Käsekuchen auf. Kaum war der letzte Bissen hinunter, so brachen sie gleichzeitig in ein jammervolles Gebrüll aus, indem sie sich wie zwei Schächer ansahen, und als die Eltern sich, von dem Geschrei erschreckt, umwandten, sahen sie Hänschen und Fränzchen, die sich jetzt Beide den Rücken zugedreht hatten, wie zwei Thränenweiden zu beiden Seiten des Weges stehen und in ihre leeren Düten hineinstarren.
Von drüben leuchtete das rothe Ziegeldach der Meierei durch die schattigen Wipfel der Bäume, und als man hundert Schritte weiter gegangen war, befand man sich am Ziele der Reise. An der Pforte des Gartens, in dem man sich niederzulassen gedachte, blieben die Eltern stehen und wandten sich mit ernsthaftem Gesichte zu den Kindern um. Langsam, als hätten sie Blei an den Füßen, mit gesenkten Köpfen, kamen Hänschen und Fränzchen wie zwei arme Sünder herangeschlichen, die leeren Düten krampfhaft in der Hand zusammengedrückt.
»Nun kommt,« sagte der Vater, der den Unwissenden spielte, »wir wollen jetzt die Milch bestellen, gebt mir Eure Kuchen her.«
Ein fürchterliches Jammergeschrei, in welches Hänschen und Fränzchen wie auf Kommando ausbrachen, war die einzige Antwort auf die Aufforderung; Beide blieben stehen, und während sie mit dem einen Arme das Gesicht versteckten, verschwand der andere Arm mit der leeren Düte hinter dem Rücken. Der Vater zeigte ein befremdetes Gesicht und kam ihnen entgegen, und wenn in diesem Augenblicke zwei Mäuse ihnen den Gefallen gethan hätten, ihre Existenz mit der ihrigen zu vertauschen, so wären Hänschen und Fränzchen mit tausend Freuden auf den Handel eingegangen. Leider geschah etwas Derartiges nicht, und so mußte denn der schreckliche Augenblick ertragen werden, da der Vater die Düten hinter ihrem Rücken hervorholte, scheinbar staunend hineinblickte und feststellte, daß sie leer waren.
»Das ist freilich sehr schlimm,« sagte er kopfschüttelnd, und ein verzweifeltes Schluchzen, Schlucken und Stöhnen beider Kinder bestätigte, daß es sehr schlimm war. Hätte man ihnen verkündigt, daß ihnen nun sogleich der Kopf abgeschnitten werden müßte, sie hätten es in der Fülle ihres Schuldbewußtseins nur als verdiente Buße empfunden.
»Ja,« sagte der Vater, indem er der Mutter heimlich mit den Augen zuzwinkerte, »ich habe Euch vorhergesagt, welches die Folgen sein würden, wenn Ihr den Kuchen unterwegs aufäßet; der Mensch muß die Folgen seiner Handlungen tragen, mit der Milch wird es nun nichts sein.«
»Ach, wäre doch nur Menne nicht gekommen!« sagte Hänschen mit trostlosem Tone, »aber er roch immerfort an meiner Düte, und es roch doch auch gar zu schön.«
»Menne ist ein unvernünftiges Thier,« versetzte der Vater, während er sich heimlich auf die Lippen beißen mußte, »Ihr aber seid vernünftige Kinder, Ihr hättet nicht an den Düten riechen sollen.«
Hänschen und Fränzchen ließen diese Vorhaltungen schweigend über ihre gesenkten Häupter dahingehen, dann wurden sie auf eine Bank gesetzt, jedes in eine Ecke, und dort versanken sie in schmerzlich brütende Betrachtung ihrer traurigen Lage. Es dauerte jedoch nicht lange, so machte sich die durch den Spaziergang hervorgerufene Müdigkeit geltend, dazu kamen die erschütternden Gemüthsbewegungen und der Thränenverlust, und nach einiger Zeit schlossen sich die feuchten Augen, und beide Kinder nickten in den Ecken ihrer Bank in süßem Schlummer ein. –
Nachdem sie etwa ein Viertelstündchen geschlafen hatten, fühlten sie eine weiche Hand, die liebkosend über ihr Gesicht strich; es war die Mutter, die sie geweckt hatte, und als sie aufschauten, rissen sie die Augen weit auf: Vor ihnen auf dem Tische standen zwei große Schalen voll herrlichster Milch, und daneben, lag auf Hänschens Platz ein großes Stück leuchtenden Käsekuchens, neben Fränzchens Schale ein großes Stück Apfelkuchen.
War das Wirklichkeit? War das ein berückender Traum? Hänschen und Fränzchen wagten kaum zu athmen; lautlos blickten sie auf ihre Kuchen nieder, und die Korinthen des Käsekuchens, sowie die Rosinen des Apfelkuchens erschienen ihnen wie schwarze Augen, die vorwurfsvoll zu ihnen emporschauten. »Siehst Du, was für ein unartiger Junge Du bist,« sagte der Käsekuchen zu Hänschen, und »siehst Du, wie unrecht es von Dir war, daß Du, die Du doch ein ganzes Jahr und zwei Monate älter bist als Hänschen, ebenso unartig gewesen bist wie er,« sprach der Apfelkuchen zu Fränzchen.
Eine schamvolle Rührung, ein tiefes Bewußtsein von ihrer Verworfenheit bemächtigte sich Beider und spiegelte sich auf ihren erglühenden Wangen. Scheuen Blickes wagten sie endlich zu den Eltern hinüberzuschauen, die ihnen am Tische gegenübersaßen, und als sie deren Augen lächelnd auf sich gerichtet sahen, kamen sie aus den Ecken ihrer Bank hervor und kletterten, ohne ein Wort zu sagen, von rechts und links zum Vater hinauf.
»Wißt Ihr denn nun auch,« fragte der Vater, als Hänschen auf seinem rechten, Fränzchen auf seinem linken Knie saß, »wer Euch die beiden neuen Kuchenschnitten besorgt hat?«
Hänschen und Fränzchen verharrten in lautloser Andacht.
»Das hat die Vorsehung gethan,« fuhr der Vater fort, »die vorher gewußt hatte, daß Ihr Euren Kuchen unterwegs aufessen würdet und mir darum in der Stadt den Rath gegeben hat, gleich noch zwei andere Stücke für Euch einzustecken, damit Eure Unartigkeit keine bösen Folgen hätte, und Alles sich wieder zum Guten wenden ließe.«
Mit einem stummen Blicke voll unermeßlicher Ehrfurcht sahen die Kinder den Vater an. Er hatte mit der Vorsehung gesprochen, und sie hatten es gar nicht bemerkt; ja es war klar, der liebe Gott konnte nur so aussehen wie er. – Dann kam ihnen das Gefühl, wie gut die Vorsehung sei und was sie der armen Vorsehung für Mühe und Leid bereitet hätten, und eine Thräne der Rührung fiel in die Milch, die sie nun langsam auszutrinken begannen. –
»So – und nun der Kuchen,« sagte die Mutter, indem sie die beiden Schnitten vor Hänschen und Fränzchen schob – und nie ist ein Stück Käsekuchen, nie ein Stück Apfelkuchen mit weihevolleren Empfindungen verspeist worden, als es jetzt durch Hänschen und Fränzchen geschah. –