Ernst Wichert
Mutter und Tochter
Ernst Wichert

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Vorwort

Ernst Wichert hat als Dichter und Kenner seiner ostpreußisch-litauischen Heimat der Nachwelt sein Bestes gegeben. Gerade in den »Litauischen Geschichten« treten die deutschen Züge dieser Heimatkunst am deutlichsten hervor, als deren gediegenster Vertreter Ernst Wichert nicht nur seinen Zeitgenossen galt, sondern auch heute noch im Gedächtnis des literarischen Deutschlands fortlebt. Sein Leben und sein Schaffen wurzeln tief in dem geistigen Boden seiner engeren Heimat Ostpreußen mit ihrem so einfachen, aber liebreizenden Landschaftsbild, der belebenden Würze seiner tiefen, romantischen Wälder, mit den klaren Augen seiner idyllischen Seen, mit dem gesunden, kräftigen Hauch der Ostsee und der an die Riviera erinnernden samländischen Steilküste. Mit diesem Fleckchen Heimaterde im nördlichsten Zipfel der deutschen Nordostmark, die auch das Kleinste nicht ohne hartes Ringen hergibt, aber einen eigentümlichen Zauber auf ein empfängliches Dichtergemüt auszuüben vermag, verwuchs Ernst Wicherts literarisches Schaffen zu einer wesenhaften Art originellen Gepräges. Von ostpreußischer Art war sein Denken und Fühlen, sein gerader, allem Gemachten und Unschönen abholder Sinn, sein stark ausgeprägtes Pflicht- und Verantwortungsgefühl als Richter und Dichter. Es steckte etwas von dem kategorischen Imperativ seines großen Landsmannes Kant in seinem Fleisch und Blut und bestimmte seinen der Pflicht und Arbeit geweihten Lebensweg. Von diesem unbeirrten, stets sich selber treuen Leben und seinem dichterischen Schaffen hat er in seiner Biographie »Richter und Dichter« in der seiner Art gemäßen anspruchslosen Weise der Nachwelt Rechenschaft gegeben, ein Selbstbekenntnis, das von seinem edlen Herzen und seinem von den höchsten Idealen entflammten Geist ein beredtes Zeugnis ablegt. Hier erfahren wir auch, wie er es ermöglichen konnte, in zwei schweren Berufen gleich heimisch und gleich fruchtbar zu sein, so daß er neben seiner vielbeschäftigten juristischen Tätigkeit, die er bis zu seinem fünfundsechzigsten Lebensjahr zuletzt beim Berliner Kammergericht ausübte; noch Dramen, Romane und Novellen schreiben konnte, die sechzig Bände und mehr umfassen. Aber er brachte für diese schwere Doppel-Lebensaufgabe nicht nur den erstaunlichen Fleiß mit, die strenge Selbstzucht, mit der er seine Tätigkeit einteilte und regelte, den klaren Verstand, umfassende Bildung und sonnigen Humor, sondern auch einen unerschöpflichen Fond von Lebensenergie und Begeisterung für die Sache, der er diente, und die solide Grundlage für jedes tüchtige Talent: die gute Gesundheit und unverbrauchte Nervenkraft. Beruf und Poesie standen bei ihm nicht im Gegensatz, sondern gaben seinem glücklichen Leben ergänzenden Inhalt und das notwendige geistige Ausruhen durch den Wechsel der Arbeit. So sah er noch als Zweiundsiebzigjähriger mit weißen Haaren, und doch kein Greis, jugendlich frisch in die Welt, der er noch soviel zu sagen hatte, als am 21. Januar 1902 die frohgestaltende Feder für immer seiner Hand entsank.

Ernst Wichert wurde am 11. März 1831 als der älteste Sohn eines sehr tüchtigen Juristen und einer äußerst feinsinnigen, poetisch beanlagten Mutter in dem preußisch-litauischen Städtchen Insterburg geboren. Er wuchs im Elternhause in eine liberale Gesinnung hinein, die ihn, für alle fortschrittlichen Regungen empfänglich, durchs ganze Leben begleitete. Mit siebzehn Jahren konnte er schon zu einigem Verständnis für die politischen Strömungen der 1848er Jahre gelangen, und als Primaner und Student an der Mater Albertina in Königsberg war er Zeuge der Reaktion in der Konfliktszeit gewesen. So blieb er auch später als königstreuer Beamter und Verehrer des Königshauses doch auf seiten der Fortschrittspartei. Manche seiner späteren Romane, z. B. »Die Arbeiter«, »Getrennte Wege«, »Vom alten Schlage« und Dramen, wie »Washington«, »Die Fabrik zu Niederbronn«, »Peter Munk« und »Die Realisten« können als Zeitbilder betrachtet werden. Früh wandte sich sein vaterländisch gesinnter Geist patriotischen Stoffen aus der preußischen Geschichte zu, die namentlich in den Ostprovinzen vor wie nach lebendig war. Von den Schauspielen dieser Art ist wohl sein »Aus eigenem Recht« das bedeutendste gewesen. Aber es entstand auch im Laufe seines dichterischen Schaffens eine lange Reihe bedeutender historischer Romane aus der preußischen Geschichte, denen gründliche Geschichtsforschung und geistvolles Eindringen in die Zeiten der Vergangenheit nachgerühmt wird. In chronologischer Folge gibt er darin ein sehr treues und lebendiges Bild von der Vormacht Preußens im Wandel der Zeiten, wie in seinem besten Roman »Heinrich von Plauen«, dann »Tilemann vom Wege«, »Die Thorner Tragödie«, »Der Große Kurfürst in Preußen«, einem fünfbändigen Werk, »Von der deutschen Nordostmark« und schließlich in den »Litauischen Geschichten«. Letztere sind es vor allem, deren literarischer Wert seinen Namen überdauern werden, denn sie sind das Volkstümlichste, was er uns aus dem reichen Born seines Wissens hinterlassen hat. Hier schuf er ganz aus eigenem Erleben und eigener Beobachtung von Land und Leuten. Denn es war für den Dichter bedeutsam, daß die Anfänge seiner richterlichen Tätigkeit ihn mitten in das Herz des litauischen Sprachgebiets zwischen Memel und Pregel führten. Nach einem Kommissorium in Memel kam er als junger Kreisrichter 1860 nach dem Marktflecken Prökuls bei Heidekrug in Litauen und verlebte hier als junger Ehemann unter den schwierigsten wirtschaftlichen Verhältnissen drei Jahre, ehe er als Stadtgerichtsrat nach Königsberg zurückkam, das ihm seit seiner Schulzeit zur Heimat geworden war. Hier in der zweiten Residenz Preußens repräsentierte er bis 1888, seinem Wegzug nach Berlin, als der »ostpreußische Lustspieldichter« das literarische Deutschland und schenkte ihm neben anderem das nach Gustav Freytags »Journalisten« anerkannt beste deutsche Lustspiel »Ein Schritt vom Wege«, das auch heute noch seine belustigende Wirkung nicht verfehlt.

Erst in Königsberg formten sich die Eindrücke und tiefgründigen Studien während der litauischen Wanderjahre zu festen poetischen Gebilden und fanden 1868 ihren Niederschlag in dem ersten dreibändigen Roman »Aus anständiger Familie«, entschieden realistischer Art, dann in den »Litauischen Geschichten«, die für die Literatur ein poetisches Neuland gewannen. Er hat diese Novellen frei erfunden, webte aber überall wirkliche Begebenheiten ein, die, aus dem lebendigen Verkehr mit den Litauern gewonnen, den Charakter dieses merkwürdigen Völkchens wahrheitsgetreu widerspiegeln. Die beste Information, so erzählt er selbst, erhielt er von dem alten Gerichtssekretär, der zugleich litauischer Dolmetscher war und sich bei den Litauern, die bei allen Verhandlungen auf seinen Beistand angewiesen waren, eines großen Einflusses erfreute, sich aber auch in der langen Zeit seiner Amtsführung ihr volles Vertrauen erworben hatte. Namentlich boten die häufigen Fahrten in den Gerichtsbezirk zur Wahrnehmung von Lokalterminen und selbst über die Grenze hinaus zur Vernehmung von russischen Soldaten in den Kordonhäusern nach Exzessen bei Schmugglerritten treffliche Gelegenheit, ihn auszukundschaften. Er kannte die ganze Bauernschaft, alt und jung, persönlich und wußte von vielen sehr charakteristische Geschichten zu erzählen. Diese haben wohl auch dem Buch den Titel gegeben. Überall aber sah Wichert mit eigenen Augen, was er später novellistisch schilderte und drang stets auf wirkliche Übersetzung der Äußerungen der Litauer beiderlei Geschlechts.

Es ist eine ganz eigene Welt, die der Dichter hier entdeckte und, heute immer mehr und mehr schwindend, der Vergessenheit entriß. Ein merkwürdiger Volksstamm, dessen Kulturgeschichte, wie die der Wenden und Masuren, dem Untergang geweiht war und, wie der Dichter zeigt, geweiht sein mußte. Diese Litauer folgten ihren Leidenschaften mit einer Unbedenklichkeit, die mit einem Gewissen in unserm Sinne gar nichts zu tun hat. Denn jeder ist sein eigener Richter und büßt die Schuld des andern, ebenso wie seine eigene, in heroischer Selbstverständlichkeit, mit dem Tode. So weicht ihr Begriffs- und Gefühlsvermögen weit von dem unsrigen ab, ist aber doch aus ihren Lebensumständen heraus psychologisch durchaus berechtigt und erweckt unsere ganze Anteilnahme. Ihre Kultur mußte schwinden, da sie ihren alten Sitten und Gebräuchen sowie ihrer veralteten Wirtschaftsweise treu bleiben wollten und so in zähem Festhalten an ihnen mehr und mehr an Boden verloren. Dazu trug die unselige Neigung bei, sich möglichst jung zur Ruhe zu setzen und das Grundstück dem ältesten Sohn oder Tochter zu überlassen, sich selbst aber ein Ausgedinge, einen Altenteil zu sichern, was zu den größten Familientragödien führte. Ihr mangelndes Rechtsbewußtsein ließ sie skrupellos zu Gift und Büchse greifen, um einen Nebenbuhler zu beseitigen, und Meineide, Scheinverträge und Zeugenbestechungen waren Alltäglichkeiten. Durch Abfindung der andern Kinder durch Geld und Naturalien wurde der Grund und Boden derart belastet, daß die Besitzer Wucherern in die Hände fallen mußten, die ihre Not ausnutzten und sie in kurzer Zeit ruinierten. Da suchten sie den Verfall durch Schmuggel aufzuhalten, der an der litauisch-russischen Grenze blühte.

Die ganze Wesensart des Litauers weist jedoch auch Züge von hochpoetischem Reiz auf, die besonders in ihren Volksliedern, den Dainos, zum Ausdruck kommen. Der Menschenschlag ist schön und kräftig und erhält durch die bunte Tracht der Mieder und Röcke eine malerische Note, deren Anmut man sich auch heute noch bei Volksfesten hier und da erfreuen kann. Wie weiß der Dichter da zu schildern und fesselnde Bilder mit allem Licht und Schatten zu entwerfen! Mit treffenden Worten hat der Dichter Julius Wolff den Wert dieser litauischen Geschichten und die Bedeutung Ernst Wicherts als Heimatdichter gezeichnet. »Am packendsten wirkt seine poetische Kraft und Kunst, wenn er uns Land und Leute seiner engeren und weiteren Heimat vorführt. Da spürt man die scharfe ostpreußische Luft, den dumpfen litauischen Moorgeruch, die frische Brise vom Kurischen Haff. Da sieht man, wie die urwüchsigen Menschen dort auf ihrer Scholle leiben und leben, wie sie arbeiten und kämpfen, sorgen und sündigen im Drange der Leidenschaften und unter dem Druck der Not und Armut. Mit einem leisen Schauer legt man diese volkstümlichen Geschichten aus der Hand, und tief in der Seele des Lesers zittert ihr Nachklang.«

Ernst Wichert war neben seinem juristischen und dichterischen Beruf auch ein Künstler mit der Zeichenfeder. Auf allen Reisen und Wanderungen begleiteten ihn seine Skizzenbücher, in denen er nach der Natur mit einem über allen Dilettantismus weit hinausgehenden Maß landschaftliche Eindrücke mit dem Stift festhielt. Bedeutender aber sind seine vielen Hunderte von Federzeichnungen, in denen er aus der Erinnerung oder frei komponierend Landschaften entwarf, die sein inneres Auge widerspiegelte. Zunächst während der Gerichtssitzungen, dann später am Familientisch entstanden diese Federzeichnungen aus einem intuitiven Schauen heraus und zeugten von einem großen, selbst von Berufskünstlern anerkannten Können. Jede Zeichnung gibt ein anderes Landschaftsbild mit immer neuen Motiven und mit künstlerischer Beherrschung von Luft, Licht, Perspektive und architektonischen Einzelheiten, die immer das Wesentliche treffen. Mit ganz wenigen charakteristischen Grundlinien wurde der Entwurf festgelegt, und dann entstand das Bild beim Zeichnen weiter mit leicht hinfliegender Feder. Wichert hatte ein so gutes Formengedächtnis, ein so plastisches Denken, daß er auch noch nach vielen Jahren mit großer Sicherheit eine Landschaft in ihrem charakteristischen Stimmungsreiz bis in Einzelheiten hinein mit der Feder, gewissermaßen typisch, zeichnerisch wiederzugeben vermochte. So ist auch eine Reihe von Federzeichnungen entstanden, die auf den ersten Blick einen litauischen Einschlag zeigen und die dieser Ausgabe der »Litauischen Geschichten« als Beigabe dienen sollen.

Und so möge das Werk des Dichters Ernst Wichert seinen Weg durch Deutschland als kulturgeschichtliches Dokument machen und für unsere ostmärkische Erde und unsere jetzt unter litauischer Herrschaft leidenden ostmärkischen Brüder, die so treu und opferwillig für das Deutschtum einstehen, werben.

Paul Wichert.


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