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Der Gebieter des Himmels ließ sein Donnerwort ergehen, und wie glänzend gefiederte Schwäne im Sturm eilten die gehorsamen Heerscharen vor seinen unvergänglichen Thron. Da erlas der Herr den Erzengel Michael und sprach zu ihm:
»Ich bin irre am Geschlecht der Menschen. Nie hat solcher Kummer die Erde gefüllt; Klage und Anklage erhebt sich maßlos. Schwer ist es, zu wissen, ob sie allesamt Verlorene sind, schwer zu erkennen, ob in allen der Funke erloschen ist, der ihnen als Teil der Göttlichkeit in die Brust gehaucht ward. Ich will eine Probe machen. Geh hinab zu ihnen, du scharfäugiger Spürer, und suche unter den Verstockten den Verstocktesten, unter den Umschlossenen den Umschlossensten. Nicht um den Übeltäter geht es, merke wohl; um den Gleichgültigen geht es. Den Unscheinbaren, der in der Trägheit verhärtet ist, sollst du suchen in seinem umfriedeten Bezirk; den, dessen Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Und wenn du zurückkehrst und sprechen kannst: Ich habe ihn erweicht, ich habe ihm die Binde von den Augen gerissen, und er vermag zu sehen, dann soll ihnen noch einmal Gnade gewährt sein und Aufschub des letzten Gerichts.«
Der Engel senkte stumm das Haupt, und während ihn gewaltige Posaunenschälle umdröhnten, verließ er in seiner großen Schönheit die erhabene Region, um den Befehl des Herrn zu vollziehen.
In einer Wirtsstube saßen beim trüben Licht mehrere Beamte der Stadt, Notabilitäten in ihrer Art, um einen Tisch. Bis auf einen armselig aussehenden Menschen, der in der Nähe des Ofens kauerte und zu schlafen schien, waren sie die einzigen Gäste. Da sie ihn kannten, auch seiner nicht achteten, brauchten sie sich im Gespräch keinen Zwang aufzuerlegen. Er hieß Jost und war ein Kleinbürger, dem Anschein nach ein Agent oder Vermittler, der an gewissen Abenden kam, um dem Wirt Lieferungsgeschäfte anzutragen.
Die Unterhaltung drehte sich um die Trostlosigkeiten des Alltags. Verärgerung lag jedem im Gemüt, Lebensangst den meisten. Still verhielt sich nur einer, nicht weil er weiser oder zufriedener, sondern weil er bequemer war. Auch dann nahm er nur stummen Anteil, als der trübseligen Gegenwart die glänzende Vergangenheit entgegengehalten wurde, in deren schwachem Widerschein sie sich ihrer Sorgen entledigten. Die Welt, war sie auch zum Erbarmen zugerichtet, einstmals hatte sie ihnen eine festliche Zeit gegeben, und unter diesem Einstmals verstanden sie den Krieg, zumindest seinen Anfang. Da war auch dem Abseitigen unerwartet Macht zugefallen, sofern er nur mit dem allgemeinen Strom geschwommen war, und wie erst, wenn er sich mit seiner Person für das Ziel erklärt hatte. Macht, Bewegung, Wechsel der Geschehnisse; es klang schon jetzt nicht anders, als wie es schönfärbende Fibeln den Späteren melden. Auch die sich tätigen Dabeiseins nicht rühmen konnten, ergingen sich breit im Nachgenuß martialischer Erinnerungen. Was Blut und Not und Tod; erlogene Gespenster. Die triumphierende Wahrheit war dort, wo man Ehre gewonnen, wo man sich eingesetzt und gespürt hatte.
Postoffizial Erbegast, als beredtester Schwärmer, sprach davon, wie man Raum gehabt, im Westen, Osten, Süden, überall Raum, Weite, Luft, Landschaft, Freiheit. Raum und Gelegenheit. Quartier in Schlössern, Fahrten ins Unbekannte, neue Städte, neue Menschen, neue Dinge, zwischen Morgen und Abend keine Langeweile. Wenn man da erzählen wollte! Wie es wohltat, sich der Fülle zu erinnern. Er wandte sich lebhaft und herausfordernd an den Schweigsamen, Rechnungsrat Siebold, und ermunterte ihn zur Zustimmung. Mit bloßem Kopfnicken wollte er sich nicht abspeisen lassen. Der Schweigsame ist nicht beliebt, wenn Geister erglühen. Siebold sollte laut bestätigen, da er es doch aus Erfahrung zu tun imstande war, daß man Unvergleichliches gesehen und erlebt habe. Oder sei an ihm die Herrlichkeit spurlos vorübergegangen?
Ungern sah sich Siebold in die Mitte der Aufmerksamkeit versetzt. Er liebte es nicht, sich mit Gewesenem zu beschäftigen. Ihm lag der gestrige Tag schon fern. Unter den fragenden Blicken der Tischgenossen stiegen wohl Bilder aus entlegenen Gehirnschächten empor, aber es gestaltete sich keines. In den Jahren, er zählte die Jahre nicht, waren sie ihm abhanden gekommen, kaum daß er sie noch als eigenen Besitz erkannte. Blasse Farben, schattenhafte Figuren, verhallte Worte. Was berührte einen daran? Man -war ein anderer. Jahre! Was ist nicht ein einziges an Gedehntheit! Zudem war er nur vier Monate draußen gewesen; kleiner Fähnrich, freudlos wie Tausende. Man hatte ihn darnach in ein Proviantlager geschickt, und als er dort erkrankt, war er auf seinen Platz im Amt zurückgekehrt, wie wenn die Zwischenzeit ein unergiebiger Ferienausflug gewesen wäre.
Es dünkte ihn aber, daß ihn Offizial Erbegast sticheln wollte. Auch die übrigen betrachteten ihn mit ironischen Blicken, als trauten sie ihm besondere Erlebnisse nicht zu und hegten nicht einmal die Erwartung, daß er sich zu solchen bekenne. Das verdroß ihn. Sein bedrohtes Selbstbewußtsein richtete sich wehrhaft auf. Er begriff die Notwendigkeit, den spöttischen Zweiflern Achtung abzuringen, und forschte in seinem Gedächtnis. Nicht vergeblich; die verkniffene Miene erhellte sich; ein Vorfall fiel ihm ein, bei dem er handelnd mitgewirkt. Da er sich der Einzelheiten nur ungenau entsann, dauerte es geraume Weile, ehe seine Erzählung in verständlichen Fluß kam. Doch die Zuhörer zeigten Geduld, und so hatte er Muße, der schwerfälligen Erinnerung den Verlauf abzuzwingen.
Die Geschichte war in keiner Weise ungewöhnlich. In einem galizischen Dorf waren sieben Menschen unter dem Verdacht der Spionage eingebracht worden. Die Beschuldigung lautete, sie hätten dem Feind durch das Dachfenster des Gemeindehauses, in welchem sie zusammengepfercht gefunden worden waren, Lichtsignale gegeben. Siebold hatte das Protokoll aufgenommen. Nur einem unter ihnen, einem riesenhaft gewachsenen Burschen, hatte das Verbrechen nachgewiesen werden können; bei den ändern sprachen gewichtige Umstände dafür, daß sie die Opfer böswilliger Angeberei waren. Trotzdem hatte der Hauptmann alle sieben nach einem summarischen Verhör kurzerhand zum Tod verurteilt: drei Juden, ein siebzehnjähriges polnisches Mädchen, einen zwölfjährigen Knaben, einen sechsundsiebzigjährigen Greis und den Rädelsführer der Bande, eben jenen Riesen.
Ein Tropfen im Meer der Ereignisse; ein paar vernichtete Leben mehr neben den Millionen. Die Welt hatte wohl kaum eine Kunde davon erhalten. Auch jetzt, wo es die Merkmale der Verjährung und der erfahrenen Häufigkeit trug, konnte solches Standgericht kein tieferes Interesse erregen als eines, das aus Höflichkeit dem Erzähler gebührt. Mochte auch der eine oder der andere die Willkür empfinden, die dabei gewaltet, und dem in halben Andeutungen Worte verleihen, so wurden die schüchternen Einschiebsel leicht mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit abgetan. Für zarte Gemüter war die Zeit nicht geschaffen; die Moral bürgerlichen Lebens, das humane Gesetz hatte da keine Gültigkeit mehr, wo man sich täglich seiner Haut wehren mußte. Wer auf seinem Posten stand und der Vorschrift genügte, war entlastet. »Die Gegner haben es genauso gehalten«, wurde gesagt; »weil wir in der Patsche sitzen, spuckt man uns ins Gesicht, und sogar im Lande selbst entblödet man sich nicht, Leuten, die ihre Pflicht erfüllt haben und als Helden gefeiert würden, wenn das Glück bei uns geblieben wäre, soviel wie möglich am Zeug zu flicken.« Jawohl, bemerkte hierzu der Offizial bissig, die Menschen seien eben Schweine, und von ihrer schweinischen Natur könne man nichts Besseres erwarten.
Nach diesem Intermezzo nahm Siebold den Fäden wieder auf. Da er nun zu sprechen begonnen hatte, wollte er seine Sache auch bis zum Ende führen. Das Wort hatte ihm Hilfe geleistet und Bild um Bild aufgefrischt; er wunderte sich selbst über die wiederbauende Fähigkeit der Erinnerung und gefiel sich in seiner Rolle des Mitrichters über Schicksale. Er verweilte. Er ging in der Schilderung zum Kleinen und Intimen; mit behaglicher Ausführlichkeit beschrieb er die traurige Gegend, das verwahrloste Dorf, die Armut der Menschen, sogar das regnerische Wetter, das geherrscht hatte. Dann erzählte er von der jungen Polin; wie trotzig sie alle angeschaut mit ihren schwarzen Augen; er hatte den Namen gewußt; er hatte ihn vergessen. Er besann sich und fand ihn. Katinka war der Name gewesen. Als wohne dem Namen Leuchtkraft inne, wurde gegenwärtig, wie sie stolz und wild die Antworten verweigert, auch als man ihr den Revolver vor die Stirn gehalten; auch als man ihr versprochen, den Knaben, ihren Bruder, zu schonen. Immer wieder betonte er die teuflische Halsstarrigkeit des Mädchens, schließlich mit Einschaltung eines lasziven Witzes, der, wie billig, belacht wurde. »Glauben Sie, meine Herren, sie hätte die Zähne voneinandergetan? Um keinen Preis. Eher noch die Beine, scheint mir.«
Als der Spruch gefällt war, hatten sich alle, mit Ausnahme der Katinka und des Riesen, auf die Knie geworfen. Die Juden vor dem Hauptmann, das Bürschchen vor ihm. Das Bürschchen hatte seine Beine umschlungen und jämmerlich geschluchzt, bis es die Schwester angeschrien und weggerissen. Der alte Mann hatte ihm fortwährend die Hände geküßt und unverständliche Worte gelallt. In die größte Verzweiflung waren aber die drei Juden geraten. Mit gellenden Anrufungen Gottes hatten sie ihre Unschuld beteuert, sich die Haare gerauft und an den Kaftanen gezerrt. Einer, mit fuchsrotem Bart und käseweißem Gesicht, hatte sich äußerst demütig betragen; als aber der Hauptmann, dem das Unwesen zu lärmend wurde, den Befehl erteilte, die Gesellschaft abzuführen, war es gerade dieser, der die Arme gegen ihn streckte und eine alttestamentarisch-greuliche Verfluchung ausstieß.
Eine gespenstische Idylle, gerahmt in Selbstzufriedenheit, beschloß die Darstellung: nächtlicher Regensturm; Siebold auf Runde; an den Ästen von sieben Pappeln neben der Chaussee sieben Leichen, schwankend im Wind, unheimliche Kleiderbündel, unheimliche Gerippe, schief, schlapp, verbogen wie die Vogelscheuchen, und in der schwarzen Ebene ein klagendverklingender Ruf.
Da dem Offizial die Düsterkeit des Gemäldes nichts anzuhaben vermochte, weniger aus Herzenshärte, als weil seine Einbildungskraft, wie übrigens bei alle diesen, das Entscheidende nicht zu fassen vermochte, schreckte er vor der zynischen Erkundigung nicht zurück, ob denn die wilde Katinka ihre vermeldeten Beine nicht hätte nützlich gebrauchen wollen oder können. Im selben Augenblick erhob sich der schlafende Kleinbürger oder Agent Jost mit störendem Geräusch. Er trat an den Tisch der Herren, schüttelte sich raschelnd, feixte verlegen, und während er irgendwelche Laute vor sich hin murmelte, betrachtete er einen um den andern; zuletzt blieben seine Augen, zwei kleine, glitzerige Messingscheibchen wie bei Katzen, auf Sie- bolds Gesicht haften, mit einem so neugierigen und boshaften Ausdruck, daß es dieser als Belästigung empfand und ihn stirnrunzelnd musterte. Ein Unbehagen blieb.
Doch war seine Haltung aufrecht und seine Stimmung geläutert, als er durch die abendlich finstern Gassen seinem Heim zuwanderte. Ein zurückgedrängtes Stück seiner inneren Person war an dem Abend zu neuem Wertbewußtsein erwacht. Er folgerte daraus, daß dem geistig und sozial entwickelten Menschen Gedankenmitteilung und Gespräch mit Gleichgearteten zu einer Vermehrung des Kräftevorrats verhelfe. Man müsse sich zu erkennen geben, war die Lehre, die er daraus zog; man dürfe sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Zufällig hatte er eine abgebrochene Brücke wieder geschlagen, vernachlässigtes Lebensgut in Sicherheit gebracht; und siehe, er befand sich wohl dabei. Die Färbung der Existenz war intensiver, der Schritt gewichtiger, der Blick bedeutender. Er blieb stehen, sog Luft in die Lunge, nahm eine Zigarre aus dem Behältnis und zündete sie an.
Das Ziel des Weges stand nicht im Einklang mit seiner Gehobenheit. Sechzehn Quadratmeter Raum und vier Betten: das eheliche Schlafgemach. Im Vorgefühl umfing ihn schon die trübe Enge. Die beiden Kinder, die sich von Zeit zu Zeit auf dem Lager wälzten und im Traum redeten. Kleider und Wäsche auf den Stühlen; Schuhe auf dem Boden; die Vorhänge über den Fenstern morsch; oval gerahmte Familienphotographien an den Wänden, deren Tünche zu bröckeln begann; die Decke vom Schlafdunst vieler Nächte geräuchert. Als sicher war anzunehmen, daß die Frau erwachen würde; mit den steif geflochtenen Zöpfen würde sie sich aufrichten, blaß, vergrämt, verdrossen; würde fragen, wo er gewesen, warum er so spät kam; würde ihn mit ihren häuslichen Miseren quälen; etwa daß sie beim Händler kein Gemüse, beim Kaufmann keinen Zucker bekommen; daß weder Kohle noch Holz, weder Brot noch Mehl im Hause sei; daß das ältere Töchterchen über Halsschmerzen geklagt und wahrscheinlich Fieber habe. Es wollte ihn bedünken, als gehe dies alles wider die Würde. Man war Beamter mit Machtbefugnissen. Es war ein Zwiespalt zwischen seiner Stellung im öffentlichen und im privaten Leben; unversöhnlicher Konflikt. Der Rechnungsrat in der Steuerverwaltung genoß Ehren; er wollte es nicht verkennen noch mißachten. Menschen zitterten vor ihm. Menschenwohl und -wehe war in seine Hand gegeben. Der Gatte, der Vater war zur Geringfügigkeit verdammt, niedergezwungen auf die Straße der Vielen.
Er schob es fort. Es gelüstete ihn nach Aufmunterungen. Neulich hatte er auf demselben Weg ein Mädchen getroffen und war mit ihr gegangen. Ungeachtet ihres niedrigen Gewerbes, das zu verabscheuen er als Mann von makellosem Ruf und geachteter Position verpflichtet war, hatte sie ihm gefallen. Es gibt Heimlichkeiten in der Lebensführung, durch die man nur etwas aufs Spiel setzt, wenn sie aufhören, Heimlichkeiten zu sein, also wenn man unvorsichtig ist, wenn man Spuren hinterläßt, wenn man die Grenze nicht respektiert. Sabine Jäger war ihr Name. Ihre Haare waren gelb wie frisches Holz, eine anziehende Besonderheit; sie hatte Temperament und war verhältnismäßig noch unverdorben. Als sie davon gesprochen hatte, ihn wiederzutreffen, hatte er sich nicht ablehnend verhalten. In selbstbetrügerischer Zerstreutheit lenkte er den Schritt nach der Richtung, wo sie wohnte.
Da drang ein Gruß an sein Ohr. Betroffen drehte er sich um und erkannte den Agenten Jost, der ihm gefolgt war.
Er trug ein gelbes Mäntelchen, das kaum bis zu den Hüften reichte. In die schlottrigen Ärmel hatte er die Hände wie in einen Muff gesteckt. So trippelte er vorüber. Aber plötzlich zögerte er, wartete, bis Siebold herankam, und sagte mit einer dünnen, hohen, quietschenden Stimme, es freue ihn, den Herrn Rechnungsrat noch getroffen zu haben; er habe nicht gewußt, daß der Herr Rechnungsrat in dieser Gegend zu Hause sei.
Zwischen Herablassung und Mißlaune brummte Siebold ein paar leere Worte, und jener machte Anstalten, weiterzugehen. Wieder trippelte er, wieder hielt er in- ne. »Weit ist's«, seufzte er, zog die Hände aus dem Ärmelmuff und griff nach dem lächerlich flachen Melonenhut mit ausgefransten Rändern, den ein Windstoß zu entführen drohte; »man läuft sich die Füße wund, Tag für Tag. Ist mir nicht an der Wiege gesungen worden, daß es mir so ergehen soll. Darf ich mich Ihnen anschließen, Herr Rechnungsrat? Nur bis zur Ecke da droben, da ist meine Gasse; hinter der Atlantik- Bar. Schönes Lokal, die Atlantik-Bar, wie? Schöne Leute; immerfort Musik. Wer doch auch einmal lustig sein könnte; ei ja!«
Siebold wußte nicht recht, wie er sich zu benehmen habe. Von dem hergelaufenen, verlotterten Menschen angesprochen zu werden, verletzte sein Standesgefühl. Er kannte ihn kaum. Andererseits waren die Zeiten derart, daß man sich hochmütiger Regungen versehen mußte. Er verbarg seinen Ärger, als Jost mit unterwürfiger Zutraulichkeit an seiner Seite weiterging, und hatte eine steif zurückhaltende Miene.
Mit der pfeifenden Stimme und vom schnellen Gehen atemlos, fuhr Jost fort: »Da kenn ich einen, der ist dort angestellt als Wagenrufer. Ein alter Mann. Vor zwei Jahren hatte er noch ein Speditionsgeschäft und eine Villa. Vor zwei Jahren hat er noch in seinem Garten Rosen gezüchtet. Und jetzt ruft er die Wagen, vielleicht für solche, die früher Kratzfüße vor ihm gemacht haben.« Ein asthmatischer Husten unterbrach ihn. »Angst und bang wird einem, Herr Rechnungsrat«, quietschte er dann, »angst und bang. Das Schicksal ist wie ein Wolf. Tückisch schleicht es her und fällt einen an. Hab drei Kinder zu versorgen; acht Jahre das älteste. Ein Mädchen; ein gutes Kind; eine Seele wie Gold. Eveline heißt sie. Poetischer Name, wie? Nun, das ist der einzige Luxus, den sich die Armen leisten können. Ruft man sie, ruft man Eveline, so wird einem gleich ganz wohl. Sie verkauft Schuhbänder auf den Straßen, Schuhbänder aus Papierstoff; billig und schlecht. Vorige Woche komm ich gegen Abend heim, hängt mir das Fünfjährige am Stiegengeländer, außen am Geländer, unter sich den Abgrund, hängt und zappelt und schreit. Noch zehn Sekunden, Herr, und die Muskelchen haben keine Kraft mehr. Was sagen Sie dazu? Freilich, die armen Würmer sind sich selber überlassen. Die Mutter ist tot. Hin und wieder beaufsichtigt sie das Töchterchen vom Tapezierer nebenan. Aber darauf ist nicht mehr lang zu rechnen. Mit seinen vierzehn Jahren ist das Menschlein bereits schwanger. Der Vater ein Saufbold, der Bruder im Zuchthaus, nicht das Stück Brot zum Fressen, kaum ein Hemd auf dem Leibe, und trotzdem juckt sie das Fleisch. Und wenn man über die Stiegen geht, stolpert man über knochenkranke Kinder, und an den Türen steht ausgemergeltes Volk, und oben ist Elend, und unten ist Elend, und in der Mitte ist Elend. Hab ich da nicht recht, kann einem nicht angst und bang werden?«
Siebold räusperte sich. »Es lebt sich schwer heutzutage«, gab er widerwillig zur Antwort. Die Geschwätzigkeit des einfältigen Menschen, die unliebsame Begleitung vor allem erregten seine Ungeduld, und er suchte nach einem Vorwand, sich loszumachen.
»Das ganze Leben ist ein finsterer Keller«, fing das Männchen mit seiner weinerlichen Stimme wieder an; »wenn ich mir so die Leute betrachte, mit denen ich zu tun habe, da wird mir, ich weiß nicht wie. Reden, reden, reden. Geschäfte; und was für Geschäfte! Wenn zwei beisammen stehn und wispern, so heißt das gewöhnlich, daß einem dritten die Gurgel zugedrückt wird. Ich komme zu ihnen in ihre Häuser; ob fein, ob nicht fein, ganz gleich, es liegt wie Unrat und Spülicht überall. Auf Tischen und Stühlen, in Schränken und Betten, überall Unrat und Spülicht. Ich glaube, irgendein Stern da droben, ein von Gott verfluchter, hat in irgendeiner Nacht all seinen Unrat und Spülicht auf uns heruntergeschüttet. Dem ist nicht beizukommen, nicht mit Wasser, nicht mit Feuer; Unrat und Spülicht, das klebt in alle Ewigkeit. Nun, wird's bald, sag ich, was redet ihr denn? Was sinnt ihr? Was macht ihr für Grimassen? Was grinst und lacht ihr und laßt euch von einem Alten, der Rosen gezüchtet hat, eure Karossen rufen, wo doch das ganze Leben ein finsterer Keller ist? Heda, was werft ihr denn euern Jammer auf einen Haufen, daß man hineinstürzt und drin erstickt? Und ist der Zorn verraucht, so möcht ich mich am liebsten hinschmeißen und heulen, vom Morgen bis zum Abend, nichts als heulen. Zu denken: So ein Kind, eine vierzehnjährige Schwangere. Zu denken! Herrgott! Das halt ich nicht aus. Das raubt mir den Schlaf in der Nacht; ich liege und liege, und auf einmal seh ich dann den Weg nach Golgatha. Den großen, fürchterlichen, schmerzensreichen Weg nach Golgatha.«
Siebold blieb stehen. Er schleuderte den Zigarrenstummel fort und fragte streng: »Zu welchem Zweck erzählen Sie mir eigentlich das alles? Das ist doch der reine Blödsinn, mein Bester.«
Die schroffe Zurechtweisung beschämte den Kleinen sichtlich. »Es ist wahr, Herr Rechnungsrat, es ist lauter Blödsinn«, erwiderte er schüchtern. »Ich bin eben ein blödsinniger Mensch. Das sagen viele. Ich habe selbst am meisten drunter zu leiden. Es geht bei mir bis zu fixen Ideen. Zum Beispiel, Sie werden es kaum für möglich halten, zum Beispiel hab ich heut abend die Wörter gezählt, die in Ihrer Geschichte vorgekommen sind. Sollte man so was glauben? Achthundertneunundachtzig Wörter, alles in allem, genau gezählt. Hab mich schlafend gestellt und dabei gezählt. Ich höre, versteh auch den Sinn, zugleich arbeitet das Hirn wie eine Additionsmaschine, klapp, klapp. Kann mir nicht helfen, muß zählen. Achthundertneunundachtzig Wörter, ein ganzer Zeitungsartikel. War aber auch sehr spannend, Herr Rechnungsrat; wirklich, mein Kompliment, eine spannende Geschichte. Aber in der Nacht, wenn ich liege und in die Finsternis stiere, dann marschieren die sämtlichen Wörter an meine Bettstatt, stellen sich der Reihe nach auf wie die Zinnsoldaten, und da begreif ich erst die Meinung, da wird mir alles erst klar, und da seh ich dann den Weg nach Golgatha, wie gesagt. Ein schlimmer Zustand. Es ist kein Spaß, wenn man jede Nacht und jede Nacht auf den Weg nach Golgatha geschleppt wird. Ich muß einmal zum Doktor. Ich muß mich einmal untersuchen lassen.«
Siebold überlief es kalt. Die Reden und das Gebaren des lumpenhaften Menschen beunruhigten ihn allgemach. Daß er es mit einem Verrückten zu tun hatte, stand fest. Entschlossen, sich von der unangenehmen Gesellschaft zu befreien, murmelte er bei der nächsten Straßenabzweigung einen mürrischen Gruß und entfernte sich rasch.
Glückliche Organisation befähigte ihn, leicht zu vergessen. Ist ein Mann aus Neigung wie aus Eignung Beamter, so bilden die täglichen Obliegenheiten seine Schutzwache. Berufsgewalt erhöht ihn.
Menschen mußten warten, bis er geruhte, sie zu empfangen und anzuhören. Auch wenn es ihm beliebte, nichts weiter zu sein als launenhaft, lustlos, ungewillt ihre Gesichter zu sehen, sie mußten trotzdem warten. Das machte die Bedeutung des in gewiesenem Bereich absolut regierenden Beamten aus: daß sie warten mußten.
Sie froren im Korridor, und in seinem Büro barst der Ofen vor Hitze. Akten häuften sich mit Inhalt von unbestrittener Tragweite. Sie verrieten dem kundigen Auge wirtschaftliche Schwäche, törichte Bemühung, gesetzesfeindliche Ausflucht, verbrecherische Verschleierung. Sie eröffneten den Blick in die Schlupfwinkel der Existenzen; sie boten die Handhabe, Säumige zu zitieren, daß sie kommen mußten und dastehen wie ertappte Diebe. Aufsässigkeit war vergeblich. Der Akt machte sie zuschanden. Einspruch prallte ab. Der Akt redete. Der Akt beugte sie.
Es drang aber aus dem Vergessenen herauf bisweilen eine quietschende Stimme. Es zeigte sich auch, selbstverständlich nur in der Einbildung, das gelbe Mäntelchen mit den in muffartigen Ärmeln geborgenen Händen. Er schüttelte zu solchen Erscheinungen, die zwei-, dreimal während des Tages auftauchten, den Kopf, denn er war es nicht gewohnt, Dinge zu sehen, die nicht gegenwärtig waren, und eine Stimme zu vernehmen, ohne daß ein Sprechender zu erblicken war. Es war eine Unzuträglichkeit, doch nicht groß zu achten. Immerhin mied er das Stammlokal. Einer neuen Begegnung mit dem aufdringlichen Schwätzer auszuweichen dünkte ihm ratsam. Es gab andere Zufluchtsstätten. Vor allem war er in diesen Tagen in intimere Beziehung zu Sabine Jäger getreten, und die Abende waren von dem Zusammensein mit ihr beansprucht.
Da geschah es, daß er einen Brief mit der Post erhielt; auf dem eingeschlossenen Blatt stand nichts weiter als der Satz: Der Weg nach Golgatha ist lang. Er starrte eine Weile darauf nieder, schien sich zu besinnen, dann zerriß er den Wisch und warf ihn ins Feuer. Verwegene Anrempelung; so ein Bursche müßte festgenommen und bestraft werden.
Zwei Tage später reichte ihm seine Frau eine offene Karte, die der Postbote soeben gebracht hatte, und fragte erstaunt, was es damit für eine Bewandtnis habe. Er las: Die Zinnsoldaten ziehen jede Nacht zur Parade auf.
Er versuchte zu lachen. Die Frau beharrte auf ihrer Frage, da sie ein Geheimnis vermutete, eine chiffrierte Mitteilung. Zornröte stieg in sein Gesicht. Er antwortete, er kenne den Schreiber; es sei ein Wahnsinniger, aber von der harmlosen Art, der sich einen albernen Scherz mit ihm erlaube; er werde dem Narren das Handwerk legen.
Am selben Nachmittag gewahrte er auf dem Heimweg vom Amt Jost in seinem gelben Mäntelchen vor einer Branntweinbudike. Er zog sogleich den Melonenhut und grüßte devot. Siebold schaute geradeaus, ohne den Gruß zu erwidern. Doch bemerkte er, daß ihm Jost folgte. Unwillkürlich beschleunigte er seinen Schritt. Das Zwergentrippeln näherte sich trotzdem. Erregung packte ihn, deren er sich schämte. Jäh blieb er stehen.
»Schlechtes Wetter, Herr Rechnungsrat«, sagte Jost kleinlaut; »wenn es schon im November so ist, wie soll man da durch den Winter kommen? Hab bereits alles, was beweglich ist, ins Pfandhaus getragen.«
»Ich empfehle Ihnen, sich zu trollen, sonst lass' ich Sie auf der Stelle verhaften«, knirschte Siebold erbittert; »verschonen Sie mich, in des Teufels Namen, mit Ihren unverschämten Vertraulichkeiten.«
Aber als er darauf den Kleinen anschaute, erblaßte er. Jost hatte die Augen auf ihn gerichtet, die zwei Messingplättchen hinter zuckenden Lidern, und in diesen Augen war etwas, was er noch an keinem Menschen wahrgenommen: eine unfaßbare, geradezu unsinnige Qual verbunden mit einer ebenso unfaßbaren, ebenso unsinnigen Bosheit. Vielleicht kam es ihm nur wie Bosheit vor; jedenfalls fuhr ihm ein befremdlicher Schrecken in die Glieder. Schwerfällig ging er weiter, verwundert, in hemmendem Nebel, in heimlicher, hemmender Sorge, die wie eine nachschleifende Kette klirrte. Es wurde so, daß er von dem Tage an keinen Gang durch die Straßen tun konnte, ohne daß er den Gelbmantel nicht mindestens einmal erblickte. Zwar redete ihn Jost nicht mehr an; aber daß er in der großen Stadt, unter Tausenden von Menschen jederzeit darauf gefaßt sein mußte, gerade diesem zu begegnen, immer wieder diesem, brachte ihn nach und nach aus dem Gleichgewicht.
In schäbigem Aufzug, schlotterig trippelnd, die Hände in den Mantelärmeln, mumienhaft eingeschrumpft, in bekümmerter Eile oder auch in gleich bekümmerter Gedankenversponnenheit tauchte er unerwartet an einer Ecke auf; unter den Bäumen einer Allee; in der Mitte einer Straße. Bald stand er vor einer Ladenauslage und betrachtete mit blöden Mienen die Waren, den Melonenhut in die Augen gedrückt; bald kauerte er auf dem Prellstein vor einem Torweg. Manchmal marschierte er auf dem gegenüberliegenden Gehsteig in der nämlichen Richtung, überschritt die Straße und verschwand plötzlich; manchmal schoß er unmittelbar auf Siebold zu und wich erst in der letzten Sekunde zur Seite. Stets hatte er den Kopf gesenkt und die Augen niedergeschlagen: bescheiden, verängstigt gehetzt und eingehüllt in jene unfaßbare und unsinnige Qual und Bosheit.
Eines Morgens, als Siebold seine Wohnung verließ, die in einem Hintertrakt gelegen war, und durch den mit einem Gärtchen verzierten Hof schritt, gewahrte er ihn am Flurfenster im zweiten Stock des vorderen Hauses. Er hatte beide Ellbogen auf das Sims gestützt, das Fenster war offen, den Kopf hielt er zwischen den Händen, der Melonenhut saß diesmal ganz im Nacken, so daß das sorgfältig gescheitelte und ölig verklebte Grauhaar sichtbar wurde, und in dieser Haltung starrte er regungslos in die Luft. In Siebold kochte berserkerhafter Ingrimm auf; er rief den Hauspfleger; unartikuliert redend, deutete er mit dem Schirm in die Höhe, brachte endlich die Frage hervor, was das Individuum da oben zu suchen habe, und während der Hausmeister hinaufging, wartete er wutbebend an der Stiege. Alsbald schlich Jost an ihm vorbei, vom schimpfenden Hauswart verfolgt, gedrückt, still und hastig. Siebold eilte ihm nach, wurde eines Polizisten ansichtig, trat auf ihn zu, nannte seinen Namen und Titel, wies, abermals mit dem Schirm, auf den sich entfernenden Gelbmantel, sagte zu dem Schutzmann, er möge ein Auge auf den Strolch haben, es sei vermutlich ein Einschleicher, er selbst beobachte ihn schon lange und habe Grund, ihn für ein gemeingefährliches Subjekt zu halten. Der Schutzmann, über seine schäumende Gereiztheit erstaunt, versprach, den Verdächtigen zu stellen, falls er sich wieder in der Gegend zeige.
Siebold glaubte, sich Ruhe verschafft zu haben. Zwar blieb eine ahnungsvolle Verwirrung in seinem Innern bestehen, eine gewisse Zerstreutheit und Erregbarkeit, deren er nicht Herr zu werden vermochte, aber da sich der Mensch in den nächsten Tagen nicht blicken ließ, atmete er auf. Als er jedoch am dritten oder vierten Tag in sein Amtszimmer kam und sich an das Schreibpult setzte, lag da ein großer Bogen Papier; an jeder Ecke war mit Rotstift ein Kreuz gezeichnet; in der Mitte befanden sich drei Kreuze, und unter diesen stand, ebenfalls mit Rotstift geschrieben:
Die blutigen Weiser stehen auf dem Plan,
Und was sie weisen, das ist Gram und Scham,
Und der sie aufgericht und hingestellt,
Auf den weist jetzt die ganze Geisterwelt.
Er wußte zuerst nicht, was das sein solle. Verse; was hieß denn das? Er dachte an einen Schabernack der Kollegen, runzelte die Stirn, schaute hinter sich, blätterte in einem Faszikel, nahm den Bogen wieder zur Hand, studierte die Schriftzüge, verfärbte sich, spürte etwas wie Lähmung in den Händen, eine Glutwelle im Kopf; sprang auf, fuhr den Schreiber an, wer das Zeug auf seinen Tisch praktiziert habe, geriet außer sich, als der versicherte, von nichts zu wissen, rief mit heiserer Stimme den Amtsdiener, deutete auf den beschriebenen und bemalten Bogen, drohte, eine Disziplinaruntersuchung anhängig zu machen, und als einige Beamte aus den benachbarten Räumen, über den Auftritt bestürzt, herbeigerannt waren, wollte er ihnen erklären, was ihm widerfahren, daß Unfug gegen ihn verübt werde, aber er kam ins Stottern, und auf einmal schwieg er, wischte sich den Schweiß von der Stirn, begab sich auf seinen Platz zurück und versank in sonderbares Brüten. Die Herren zuckten die Achseln und warfen einander bedenkliche Blicke zu.
Den Parteien erwuchs Übles von seiner verdüsterten Gemütsverfassung. Die geringen Leute harrten stundenlang vergebens auf den Aufruf. Auch an den folgenden Tagen. Zeitbedrängte standen sich die Zehen in den Stiefeln wund. Schuldbewußte verzagten. Die zur Amtshandlung Vorgelassenen wurden in messerscharfe Inquisition genommen. Mutmaßliche Fehlangaben stießen auf ätzenden Hohn. Strafausfertigungen wimmelten. Den Korridor füllte Murren. Der Gewaltige selbst aber saß und befahl. Saß und verschanzte sich gegen die Stimme, die eine Stimme. Machte sich blind gegen das Gesicht, das eine Gesicht. Bemühte sich, den Worten eines läppischen Verses zu entrinnen. Wußte, was die Stimme verlangte, während er das schwindsüchtige Weib anschrie, das die Quote nicht zahlen konnte und zur Pfändung verurteilt war. Erboste sich um so mehr. Unnachgiebigkeit war zu erweisen, Unerbittlichkeit. Kam er nach Hause, so fühlte er sich erschöpft.
Am Sonntag um die Dämmerungsstunde hatte er sich im Wohnzimmer aufs Sofa gelegt und war eingeschlafen. Die Frau saß am Fenster und nähte, die zwei Kinder hatten sich in die Ecke gedrückt und blätterten in einem halbzerfetzten Bilderbuch. Die Stille wurde von einem gräßlichen Schrei unterbrochen. Siebold fuhr empor; in seinem Gesicht war weißer Schrecken; es war wie zerfetzt von Schrecken. Die Frau stürzte hin, packte ihn; »Mann, Mann«, rief sie; die hagere Gestalt, abgehärmt Teil für Teil, war der Wucht der Befürchtung kaum gewachsen; die Kinder standen zitternd hinter ihr, den Vater mit verzehrend großen Blicken betrachtend.
Der war entwirklicht. Er hatte nicht selber geschrien. Einer in ihm hatte geschrien. Überlegte er es genauer, so war es nicht einer gewesen, sondern mehr als zehn. Sie waren schreiend an ihm vorübergestürmt, in einem violett-feurigen Ring. Sie hatten sich zu dem Schrei in ihm vereinigt, daß er aufwachen solle. Er begriff sonst nichts, äußerte auch dieses nicht. Es erschien ihm erniedrigend, er hatte es noch nie erlebt, es widerstritt dem Rang und der Regel. Unfreundlich wies er die Frau ab, nachdem er sich gefaßt, wusch das Gesicht in kaltem Wasser, zog den guten Rock an, ging fort.
Er war mit Sabine Jäger verabredet, suchte aber erst das Stammwirtshaus auf, um zu Abend zu essen. Gerade dorthin wollte er, wo er möglicherweise den Gelbmantel treffen konnte. Dorthin, jawohl, um sich nicht der Feigheit bezichtigen zu müssen. Vielleicht wurde eine Entscheidung dadurch herbeigeführt. Vielleicht machte er den Halunken dingfest. Vielleicht holte er sich Rat bei den Freunden und berichtete ihnen, was für Streiche ihm der Kerl spielte. Er nahm sich einen bestimmten scheltenden und entrüsteten Ton vor, in welchem er die Anmaßung und Übergeschnapptheit des Menschen darlegen wollte, aber als es so weit war, als er in der wohlwollenden Runde saß, brachte er keine Silbe aus der Kehle, ja, wenn er bloß daran dachte, fing sein Herz an zu klopfen. Er fand den Eingang nicht, er fand das Wesen nicht, er fand den Modus nicht, alles war verwischt, dumm, kindisch, unfaßbar. Es wurde ihm gesagt, daß er schlecht aussehe, schlaffe Wangen und trübe Augen habe; er gab zu, sich krank zu fühlen; es war ein Anlaß, sich bald zu verabschieden. Der Offizial stülpte hinter ihm die Stirn in Falten und meinte, mit dem gehe es bergab, der werde es nicht mehr lange treiben.
Mit großer Hast eilte er durch die Straßen. Nebengassen glichen Schlünden, geschlossene Tore und Fenster waren wie für die Ewigkeit verriegelt. Das verhohlene angenehme Grauen, mit dem der unbescholtene Bürger, Staatsbeamte, Ehegatte zu einer Prostituierten geht, täuschte ihn über anderes Grauen, das in innerste Zellen entwichen war. Die Jäger bewohnte in einem uralten Vorstadthaus mit vielen Höfen und Durchgängen, vertretenen Stiegen, steinern kalten Fluren im letzten der Höfe zwei Zimmer im Erdgeschoß. Deckchen, Kissen, bunte Stoffe und eine schummerig umhüllte Lampe überschminkten die Dürftigkeit.
Das Mädchen empfing ihn im grünen Schlafrock und zeigte über sein Kommen Freude. Sie plauderten von Abstand zu Abstand, leer, hölzern, zweckhaft; der Regen plätscherte draußen. Siebold dünkte sich leidlich in Sicherheit; was noch an Unruhe in ihm trieb, versprach die Lust abzutun, er wurde deshalb wortkarg und verlangend. Doch hatten sie sich nicht sobald auf das vorbereitete Lager begeben, als er mit erstarrendem Auge an die Mauer blickte und die erstarrende Hand hinstreckte. Es war ein Karton mit Reißnägeln angeheftet, darauf gemalt zwei schwarze Schmetterlinge links und rechts, in der Mitte eine rote Flamme, und darunter war in lapidaren, fast wie in alten Mönchsschriften kunstvoll ausgeführten Lettern zu lesen:
Die blutigen Weiser stehen auf dem Plan,
Und was sie weisen, das ist Gram und Scham,
Und der sie aufgericht und hingestellt,
Auf den weist jetzt die ganze Geisterwelt;
Und immer neue baut er Tag und Nacht Und hat des Wegs und hat des Ziels nicht acht.
»Wo hast du's her?« fragte er mit bebender Kinnlade und kraftloser Lippe, »wo hast du's her?« Und sie, erschrocken über sein Aussehen, unbefangen wegen der Frage: »Einer hat mir's geschenkt.« Er umklammerte ihren Arm, daß sie schmerzlich stöhnte. »Wer, wer hat's geschenkt? Wer?«
Da erschallte vom Hof herein ein klagendes Rufen, nicht sonderlich laut, aber mit durchdringend hoher Stimme. »O Golgatha!« rief's, und wieder, langgedehnt: »O Golgatha!« Wie er die Stimme kannte! Er sprang auf, tastete nach den Kleidern, fiel entkräftet auf einen Stuhl und murmelte ohne Atem, die Hosen halb über den Beinen: »Er hat mich dahier ausfindig gemacht; das gibt Unheil; ich muß ihn erwischen; ich muß ihn erwürgen.« In verstörter Eile kleidete er sich vollends an, Sabine war um ihn bemüht, lauschte zugleich, denn das wehe »o Golgatha!« tönte, obzwar ferner und schwächer, noch immer herein. Während er den Kragen befestigte und die Krawatte band, kam es wie geistesabwesend aus seinem Mund: »Weiß nicht, was er will. Immer hinter mir her, früh und spät hinter mir her; weiß nicht, was er von mir will. In meinem Leben hab ich nichts Schlechtes getan. Wie ein Detektiv auf der Lauer und hinter mir her. Das darf nicht geduldet werden. So einen muß man einsperren. Ins Irrenhaus gehört so einer.«
Die Jäger betrachtete ihn scheu und mißtrauisch, war froh, daß er sie verließ, riegelte die Tür auf, als er fertig war, und bekreuzte sich, als er grußlos hinausstürzte.
Der Hof war finster. Das Rufen hatte aufgehört. Er suchte. Es war niemand da. Er stand und ging mit vorgeneigtem Rumpf; die Augen irrten durch die nasse Dunkelheit.
Er suchte den geheimnisvollen Verfolger. Violettfeurige Ringe drehten sich wieder. Er wankte durch die Torwege, pochte an ein Fenster, und eine Alte kam, das Tor zu öffnen. »Haben Sie keinen gesehen?« fragte er. »Ist nicht einer fortgegangen, ein Kleiner mit gelbem Mantel?« - »Nichts gesehen, keinen gesehen«, war die Antwort.
Auf der Straße machte er ein paar Schritte, dann mußte er nach einer Stütze tasten. Er lehnte sich an die Mauer. Brodeln war in der Luft, der Erdboden bog sich und gab nach wie Gummi. Was war denn? Was geschah denn? »Ich habe doch in meinem ganzen Leben nichts verbrochen«, murmelte er grübelnd und verdüstert; »meine Hände sind rein, niemand kann mir etwas vorwerfen, ich habe kein unrechtes Gut erworben, habe keinen Menschen unterdrückt; war fleißig, pünktlich, solid, nüchtern, anständig; was will der Schuft von mir? Was will er mit seinem Golgatha und seinen blödsinnigen Verschen?«
Da hörte er sich selbst, zu seinem Entsetzen, wie wenn seine Zunge andern Pfad liefe als sein Denken, hörte er sich selbst in einer monoton und schülerhaft deklamierenden Weise sprechen:
»Die blutigen Weiser stehen auf dem Plan,
Und was sie weisen, das ist Gram und Scham,
Und der sie aufgericht und hingestellt,
Auf den weist jetzt die ganze Geisterwelt.«
Der Verstand, wo war der Verstand? Es mußte doch ein Verstand drinnen sein. Und dann das noch:
»Und immer neue baut er Tag und Nacht
Und hat des Wegs und hat des Ziels nicht acht.«
Ja, was denn, wie denn, warum denn? Wegen dem schwindsüchtigen Weib am Ende? Es war seltsam, daß ihm dies einfiel; er wußte nicht, was er daraus machen sollte. Langsam ging er weiter, im Regen, ohne den Schirm aufzuspannen, nicht in sich gekehrt, nicht nach außen gekehrt, doch horchend, unablässig horchend. Auf das Rätsel horchend. Was sich mit ihm ereignete, war Rätsel. Wie er den Verfolger im Hof gesucht hatte, so suchte er jetzt die Lösung des Rätsels oder bloß die Natur davon. Er schleppte etwas und wußte nicht, warum es so schwer war noch warum es ihm aufgebürdet war, noch was für ein Ding es überhaupt war. »Man hat Frau und Kinder, man muß sich zusammennehmen«, sagte er auf einmal laut und fühlte sich ein wenig erleichtert, vielleicht unter dem Einfluß grellen Lichts, das ihn traf. Es war die Bogenlampe vor der Atlantik-Bar. Musik und Gelächter schallten heraus, Automobile und Wagen standen in langer Reihe. Er wagte kaum hinzuschauen, ging etwas rascher, und nach einigen hundert Schritten bemerkte er eine ziemlich große Menschenansammlung. Laut redende und heftig gestikulierende Gruppen hatten einen eleganten Fiaker umringt und offenbar den Lenker vom Bock gerissen, denn die Pferde, denen anzusehen war, daß sie im raschesten Lauf aufgehalten worden, standen allein, und aus den Stimmen hob sich die rohbrüllende des Kutschers am vernehmlichsten hervor. Dem Gespräch zweier Burschen entnahm Siebold, was sich zugetragen hatte.
Es befand sich in diesem Teil der Straße eine kommunale Kartoffelverkaufsstelle, die natürlich während der Nacht geschlossen war, vor der jedoch in Erwartung des Morgens zahlreiche Leute aus dem Volk postiert waren, Weiber, alte Männer, halbwüchsige Kinder. Einige kauerten auf der Erde, hatten eine Decke, eine Kapuze, einen Unterrock zum Schutz gegen Regen und Nachtkälte über den Kopf gezogen und schliefen. Plötzlich war jener Fiaker herangerast, ein offenes Gefährt, und darin lehnte blasiert ein Herrchen, vielleicht neunzehn, vielleicht zwanzig Jahre alt, die Spuren der Ausschweifung in den Zügen, die Finger voller Ringe, Brillantnadel im Schlips, mit Lackschuhen, gebügelter Hose, Spazierstöckchen, Glacéhandschuhen, die ganze Welt in der Tasche, doch sie verachtend. Die bis auf den Fahrdamm hockende und stehende Menge in der Dunkelheit zu spät gewahrend, hatte der Kutscher geschrien; Angstlaute antworteten, Weiber flüchteten überstürzt; aber der Wagen fuhr zu nah am Rinnstein; ein Kind war vom Hinterrad erfaßt worden und lag bewußtlos da.
Für Siebold war es Gelegenheit, dem zu entrinnen, für eine Weile, was ihn peinigte; daß er ihm zulief, ahnte er nicht. Er drängte sich durch die Menschen und gelangte in den freien Raum, der sich um den Kutscher, den Fahrgast und das auf dem Pflaster liegende Opfer des Unglücks gebildet hatte. An der Seite des Kindes, das mit bläulich-fahlem Gesicht hingestreckt lag, ein wenig blutigen Schaum vor den Lippen, die offenen, blonden Haare von Kot besudelt, kniete Jost, und kein Scharfsinn war nötig, um zu erkennen, daß er der Vater des Kindes war. Er redete, doch im wüsten Gezänk verhallten seine Worte. Mit dem Taschentuch wischte er bisweilen das Blut vom Munde des Mädchens, strich mit der Hand über Stirn und Wange der Leblosen, erwiderte nichts auf die Fragen und Ratschläge der Umstehenden, war eingewühlt und hingegeben in den Schmerz.
Jemand sprach vom Transport ins Spital; ein anderer sagte, alle Spitäler seien überfüllt. Ein Weib meldete, die Rettungsgesellschaft habe wissen lassen, daß augenblicklich kein Wagen zur Verfügung stehe, in einer Stunde erst, worauf unwilliges Murren hörbar wurde. Ein Mann trat in den Kreis, der sich als Arzt auswies, beugte sich nieder, legte das Ohr an die Brust des Kindes, sprach mit Jost. In den lärmenden Streit zwischen dem Kutscher und der erregten Menge hatte ein Polizist vermittelnd eingegriffen, es gelang ihm, die Ruhe herzustellen. Das Herrchen, von drohenden, feindseligen Blicken gemustert, stand blaß und lässig da, verbarg die Angst vor der Wut und dem Hohn der Leute unter einer hochmütig-teilnahmslosen Miene, zupfte am Schnurrbärtchen, ahmte in seiner Haltung aristokratische Art nach, was die Hohlheit, die freche Neuheit seiner Umstände erst recht zum Vorschein brachte.
»Gott kann das nicht zulassen«, hörte man nun den Gelbmantel sagen, oder vielmehr Siebold hörte es, da er sich unter unbesiegbarem Zwang dicht herangedrängt hatte; »immerfort rinnt Blut aus der Seele«, sprach er wie ein Betäubter; »Gott kann mir das nicht antun. Man muß die Tropfen von dem Blut zählen, damit sie alle wieder zurückgegeben werden. Ich will sie alle wiederhaben. Die Seele braucht das Blut. Wo ist das Körbchen? Meine Eveline hat ein Körbchen gehabt. Wo ist das Körbchen?«
Neugierig und mitleidig starrten die Männer und Weiber auf ihn nieder. Ihre übernächtigten, von vielfacher Bedrängnis gemeißelten Gesichter gaben Andacht kund; finstere Gedrungenheit der Erfahrung des Übels war in ihnen, die gelernte Geduld, der Rost des Elends. Einer hatte das Körbchen gebracht, ein zerfetztes Strohgeflecht mit beschmutztem blauen Band. Indessen regte sich das Kind, und Jost sagte, er wolle es nach Hause tragen, er wolle auch zu seinen andern Kindern heim, er wolle es auf den Arm nehmen. Da schien es Siebold unter demselben unbesieglichen Zwang, als müsse er Hilfe anbieten; es trieb ihn hierzu unter trotzigen und bösen Vorbehalten. Es war die Hoffnung, sich loskaufen zu können; er wollte sagen können: Mein Lieber, ich bin da, du siehst also, daß du mir unrecht getan hast und mich künftig in Frieden lassen sollst; ein Mißverständnis, du siehst nun selbst, ein Irrtum.
So beugte er sich nieder, um die Hand des Kindes zu befühlen. Sie war überraschend kalt und vermittelte eine Empfindung von der Grenzwelt. Jost schaute in sein Gesicht und hatte einen Ausdruck, als fände er es selbstverständlich, ihn hier zu sehen. Seine Wangen hatten Furchen, die Messerschnitten glichen; die Lider waren wie verklebt, die Hände mit Straßenkot bedeckt, Mantel, Beinkleider, Schuhe, sogar der Melonenhut, in den Nacken geschoben wie damals am Treppenfenster, mit Kot überzogen. Er hob das Kind empor. Man hätte ihm die Kraft nicht zugetraut. Es schlang die Arme um seinen Hals. Siebold, wie mit Stricken angebunden, blieb ihm zur Seite, er, dem die Nähe des Menschen Pest gewesen. Ein Bub eilte nach und ließ Geldscheine flattern. Der Herr, der Fahrgast, hatte sich in letzter Minute zu einer Spende entschlossen. Jost schüttelte den Kopf. Er begleite ihn und werde ihm zu Hause das Geld geben, sagte Siebold, nahm dem Knaben die Scheine ab und steckte sie in die Tasche. »Das Körbchen!« rief Jost bänglich, und ein Weib holte es herbei. Siebold nahm auch das Körbchen. Der Schutzmann hielt sie noch einmal auf und verlangte Josts Adresse.
Nach und nach verloren sich diejenigen, die aus Zeitvertreib oder Vorliebe für traurige Zwischenfälle mitgegangen waren, und Siebold war mit Jost und der Leidenslast, die dieser trug, allein. Es herrschte in seinem Geist welkes Erstaunen über sein Tun. Es war, als trete ein Fremdes aus ihm heraus und er gehe zwiefach; der zweite blieb dahinten. Jeder Schritt erniedrigte ihn um eine neue Stufe. In seiner kränklichen Stummheit redete er zu dem stummen Begleiter: Du siehst, wozu ich bereit bin; du siehst, wie ich mich herablasse. Dann spürte er, daß ihn stärker als alles andere die Begierde nach der Lösung des Rätsels unterjocht hatte; schwarze, giftige, fressende, brennende Ungeduld, den Grund unerhörter Vergewaltigung und Beleidigung zu erfahren, der Kühnheit, mit der in die Schranke der Persönlichkeit eingebrochen, gewährleistete Würde verletzt, Sicherheit und Ruhe zerstört worden war eines Trägers von Verantwortungen, eines Funktionärs mit Befugnissen, die über das Gemeine erhoben und gegen das Ordnungslose feiten. Aber der hartnäckigere Aufruhr war bei dem, der hinten blieb und mit dem die Bindung zerfiel.
Da es heftiger regnete, spannte er den Schirm auf und hielt ihn im Gehen über Jost und das Kind. Dem schwachen Menschen wurde die Bürde zu schwer; sein Schwanken verriet es, der keuchende Atem. Siebold sah sich um, als erwarte er Beistand von wo; daß er selbst ihn leisten konnte und schließlich mußte, dawider bäumte er sich auf, bis eine Bewegung Josts ihn dringend anrief. Er umfaßte das Kind; die feuchten, besudelten Haare streiften sein Gesicht; der Kopf fiel wie gebrochen sogleich über seine Schulter; die Ärmchen hingen steif und mager herunter. Robust wie er war, fand er die Last federleicht. Er reichte Jost Schirm und Körbchen, dann setzten sie den Weg fort. Plötzlich gellte Jost in die Nacht hinaus: »Das darf Gott nicht zulassen«, mit einem gemarterten, rebellischen Ton.
Er fängt schon wieder mit seinem Geschwätz an, dachte Siebold. Das Kind in seinen Armen regte sich; er fühlte die Glieder, die kleine Brust, die engen Lenden geschmiegt an seinen Leib, und es war ihm zum Schaudern neu. Keines der eigenen war so dicht an ihm gewesen, in Krankheit nicht, in Zärtlichkeit nicht, keines hatte so elfenhaft, so hingeschwunden an ihm geruht. In seiner Kehle war es wund; er war so außer seinem Kreis, daß er wie in Behexung durch ein aufgesperrtes Tor ging, wie taub und blind hinter Jost über Treppen und abermals Treppen, höher, immer höher, an Türen vorbei, höher und immer höher, als sei es ein Turm, und endlich beklommen um sich blickte, als sie in ein dumpfiges Gemach gekommen waren und Jost einen Kerzenstumpf anzündete.
Zwei Kinder lagen schlafend auf einer Matratze. Daneben stand ein Bett ohne Überzug, bloß Decke und Strohsack im Gestell. Die Fenster waren unverhängt. Man sah Schlote gleich kolossalen Fingern aufragen, mit Blitzableitern wie schwarze Strahlen. An den kahlgrauen Wänden hingen gedruckte Bilder aus Zeitschriften, Berge, Schlösser, Feldherren, Fürsten; auf dem Boden lag eine verbogene Kindertrompete, auf dem Tisch ein Ranft altbackenes Brot, eine angebissene Rübe und eine Schachtel mit Lottonummern.
Wie komm ich daher, dachte Siebold, und wie komm ich wieder fort? Jost hatte ihm das Kind abgenommen. Er entkleidete es. Er war behutsam mit Rücksicht auf die Schlafenden. Er flüsterte: »Der Doktor hat versprochen, morgen früh seinen Kollegen von der Bezirkskrankenkasse zu schicken. Wenn's nur wahr ist. Ich soll einstweilen kalte Umschläge machen. Gewiß, gewiß. Soll geschehen. Im Krug ist Wasser. Gewiß, gewiß, soll geschehen, du davongelaufene kleine Seele. Und das Blut abwaschen, den Dreck abwaschen. Soll geschehen, soll alles geschehen.«
Die Worte wurden im Hauch hervorgestoßen, entlockt vom Irrsinn der Sorge. Dabei manipulierte er, warf Kleidchen, Schuhe, Strümpfe, Unterröckchen, Hemd beiseite, holte den Krug, riß einen vom Gebrauch schwarz gewordenen Fetzen vorn Nagel, immer an Siebold vorübertrippelnd, der sogleich die Geldscheine auf den Tisch gelegt hatte und dann nutzlos stehenblieb. Die Kammer mußte auf der einen Seite eine sehr dünne, bloß gegipste Wand haben, denn aus dem danebenbefindlichen Raum war ununterbrochen ein schmerzliches Ächzen zu hören, welchem Siebold furchtsam und erregt lauschte, während Jost den Körper des Kindes mit allerbedächtigster Zartheit in die rauhe Wolldecke hüllte, das angenäßte Tuch über die Stirn breitete und darnach mit gefalteten Händen vor der Bettstatt niederkniete.
Bei dem Anblick des nackten Kinderkörpers war es Siebold durch den Sinn gegangen: ein Fisch; und es war eine eigene, frierende, bettelnde Wollust dabei gewesen. Die Vorstellung des weißen, zuckenden Fischleibes, dessen verglaste Augen im letzten Brechen nach dem heimischen Element lechzen, hatte Ähnlichkeit mit dem Emporlodern eines Lichtes in einer Grube.
Er horchte auf das Ächzen hinter der Wand, das sich aus raschen Zuflüssen der Qual verstärkte.
Jost sprach: »Es ist nur ein weniges. Geringen Platz braucht die kleine Seele in der großen Welt. Wen hast du denn inkommodiert? Wem Luft und Wasser und Speise weggenommen? Wer hat dich bemerkt? Wem fehlt sein Teil, wenn du unter ihnen herumgehst mit deinen zierlichen Füßchen? Sie können dich in die Ecken stoßen, das ist ihnen erlaubt. Sie können sagen: Marsch, aus den Augen, Kreatur! Jawohl, das ist ihnen erlaubt. Aber dein Leben ist ein ebensolches Leben wie das von jedem von ihnen; dein Blut ein ebensolches Blut. Sie geben dir nichts, du nimmst ihnen nichts. Du willst bloß da sein, ganz bescheiden da sein.«
Siebold hatte gehen wollen, aber Art und Rede des Menschen machten ihn unschlüssig. Da war etwas, daß man aufmerken mußte. Auch das schreckliche Ächzen hinter der Wand hielt ihn fest. So setzte er sich auf einen Stuhl neben dem Tisch, ohne Willen. Alles gestaltete sich mehr wie ein geballter Vorgang im Fieber, an dem er mit einem entlegenen und bisher unbekannten Stück seines Wesens Teil hatte.
»Da faßt man hin und nennt's bei Namen«, fuhr Jost fort, »und das, was man nicht nennen und nicht fassen kann, rinnt aus. Das Köstliche rinnt und rinnt. Hunderttausend Jahre vielleicht waren nötig, daß es hat entstehen können. Ur-Ur-Urväter haben Ur-Ur- Urenkeln Tröpfchen um Tröpfchen, Fäserchen um Fäserchen übermacht, haben geschaffen und gebaut, gepflügt und geerntet, gedarbt und gewirkt, einer am andern, von Mutters und von Vaters Seite bis ins hundertste Glied zurück, daß es hat werden können, das Fünkchen in der Brust. Auf einmal kommt was dahergerollt, ein Rad, kommt gerollt und gerollt, weil ein Laffe mit einem Monokel im Gesicht zu seinen Dämchen und Spießgesellen will, und die Brust soll zerdrückt sein, das Herzlein zerschmettert, das Fünkchen ausgelöscht? Ist denn das möglich? Darf das zugelassen werden? Kann man das aushalten?«
Ein Aufkreischen drang durch die Wand, und Jost nickte. »So ist es«, sagte er. »Zwei Fingerbreit Mauer dazwischen. Drüben will eins zum Leben, hüben will eins zum Tod. Und sie fassen's nicht. Keiner faßt's, das eine nicht, das andere nicht. Die Vierzehnjährige gebiert, die Achtjährige will schon wieder heim in den Schoß der mächtigen Mutter. Hören Sie, hören Sie?«
Er wandte Siebold das Gesicht zu. Zum erstenmal redete er ihn an. Beide lauschten. Das tierhafte Röcheln des in Wehen sich windenden Weibes war nicht mehr zu mißkennen, der inbrünstige, gewürgte, rasende Schrei auf einem Folterbrett. Die zwei schlafenden Kinder regten sich; Jost trat zu ihnen und beschwichtigte sie.
Er geriet nun in eine fahrige, kummervolle Geschäftigkeit. Lief hin und her, stieß eine Lade zu, rührte Gegenstände an, aber bei einem neuerlichen Schrei blieb er stehen und sagte: »Hören Sie, Mann? Begreifen Sie, was wir tun? Begreifen Sie, was gelitten wird auf der Erde immerzu? Was die unerbittliche Natur uns leiden macht und dann der Mensch? Was die Dämonen uns leiden machen und die Träume? Was das Fleisch uns leiden macht und der Geist? Während wir im Wirtshaus sitzen, wird gelitten. Während wir Akten vollschreiben, wird gelitten. Während wir unsere Notdurft stillen und unsere Geilheit letzen, wird gelitten. Überall, oben und unten, bei den Herren und bei den Knechten, in der Finsternis und im Licht, überall wird gelitten. Begreifen Sie, was wir treiben allesamt? Was wir wert sind allesamt? Begreifen Sie?«
Er sprach mit geweiteten Augen, in denen es phosphoreszierte, mit hackenden Zähnen und schlaffen, schaufelnden Lippen und bohrte die Fäuste in die Taschen des blut- und kotbesudelten Mäntelchens. »Und wenn es schon geschieht, und das Rad zerquetscht das lebendige Herz, warum kommt dann der Laffe mit dem Monokel nicht und leckt mit seiner Zunge das Blut von den Pflastersteinen weg? Soll es hineindorren in die Steine, hinüberdorren ins Jenseits? Warum kommt er nicht und ruft: ich, ich, ich –? Und wenn es schon geschieht und das Kind drüben muß in seinem frühen Jammer Mutter werden, warum kommt der Lump nicht, der es geschwängert hat, warum kommt die Bestie nicht und fällt auf die Erde vor Schreck und Angst und Mitleid, weil er sehen kann, wie das Dingelchen sich krümmt und wie es seufzt und wimmert, warum kommt er nicht und ruft: ich, ich, ich –? Warum sprechen sie nicht: Verzeiht, wir haben nicht gewußt, was wir tun –? Was ist das für eine Ordnung in der Welt, daß sie sich verstecken dürfen und sich anstellen, als wüßten sie von nichts? O Menschen, Menschen, Menschen! Sie wissen nicht, was sie tun, das ist es. So soll ihnen auch nicht verziehen werden. Nein und abernein, verziehen nicht. Komm her, du Laffe, und drück deine Lasterlippen auf die Steine; komm her, du Bestie, und vernimm und schau. Wer da handelt, muß auch wissen. Ums Wissen geht's. Nichts da, die Verantwortung abwälzen. Nichts da, sich auf Gesetze und Vorschriften ausreden. Blind magst du sein, du Menschenhund, du Menschenfloh, du Menschennichts, aber wissen sollst du, wissen, was du tust, und niederstürzen und mitwimmern und rufen, daß es an die Enden der Welt schallt: ich, ich, ich!«
Das Licht auf dem Kerzenstumpf flackerte nur noch ganz trüb, so daß bloß der nächste Umkreis auf dem Tisch matte Helligkeit erhielt. Die Schlote vor den Fenstern türmten sich um so strenger in den Wolkenhimmel. Es entstand Stille von einer Eindringlichkeit, die jede Fiber spannte. Eine lautlose, unendlich verschuldete Wachsamkeit war in Ohr und Hirn.
Es saß hier nicht mehr der Rechnungsrat in der Steuerverwaltung mit Namen so und so. Es saß hier einer, der keinen Namen mehr hatte und dessen stählerne Hüllen abzuschmelzen begannen. Es war nicht mehr das Mansardenloch eines Ausgestoßenen; nicht mehr der Tisch mit der qualmenden Kerze; es war ein Raum unter den Sternen. Es floß nicht mehr Zeit; Zeit war dahin. Erde war dahin.
Und wie sich nun der Mensch ohne Namen aus dem Zusammenhang gehoben sah, rührten ihn von unten her Hände an. Hände von Vergangenen, Hände von Gerichteten. Sie strebten verlangend zu ihm empor; Hände eines Knaben; Hände eines Greises; Hände eines Mädchens; Hände von Männern. Die einen waren gefaltet, die andern wie in der Abwehr; die einen flehten, die andern drohten; die einen beteuerten, die andern waren gerungen.
Zuerst fragte sich der so Bedrängte, was sie von ihm begehrten; doch wie der Umriß nahm auch ihre stumme Sprache an Verständlichkeit zu, und wie sie von schattenhafter Verwesung sich in Körperhaftigkeit wandelten, wurde die Forderung so klar, Klage, Vorwurf, Anspruch und Gericht so unzweifelhaft wie Schall und Fall von Worten. Bangten sie nach Dingen, die sie hatten verlassen müssen? Wollten sie eine Schuld bezahlen, die unberichtigt geblieben war? Gewährten sie eine Liebkosung, die sie verweigert hatten? Gaben sie ein Versprechen? Erbaten sie ein Geschenk? Leisteten sie einen Schwur? Wiesen sie einen Weg? Winkten sie einem Freund? Schrieben sie, gruben sie, ruhten sie, hasteten sie? Alles dies und vieles noch. Hände sind Geschöpfe und spiegeln jegliches Sein.
Die Paare vermehrten sich, und zu den vergangenen gesellten sich die gegenwärtigen, die er gesehen und doch nicht gesehen im Ablauf der Tage, die zu ihm gesprochen, ohne daß er es vernommen, die geplagten, die beladenen. Wirrsal und Gewühl, Fülle der Gesichte. Hart, dürr und vergilbt die einen, unschuldig und feingliedrig die andern; diese mit dicken Adern und geschwellten Muskeln, jene zag und zitternd; krank und müde die, voll Nerv und Entschluß die andern. Schwielige, blasse, rosige, geballte, geflachte, behaarte, glatte, kleine und große, näher, immer näher, beredter, immer beredter, und der, dessen Name aufgehört hatte zu sein, spürte, daß sie nicht ablassen würden, ehe er selbst nicht aufgehört hatte zu sein. So mußte er um Gnade bitten, um eine Frist, um ein Bedenken; erschüttert an den Rand der Stunde und des wachen Wissens gerückt ward er inne, daß nach solcher Vision der Mensch, mit zerspaltener Brust, dem irdischenTag verloren war.
Auf einmal war ein Leuchten in der Stube. Von wo es kam, war noch nicht zu unterscheiden. Jost stammelte und reckte die Arme in die Richtung der Bettstatt. Das Kind erhob sich langsam. Es schälte sich aus der Decke und trat nackt und aufrecht vor die Männer. Um seine Lippen hing ein Lächeln. Die weiße Haut erglühte von inwendig. Was sie erglühen machte, war das Herz, und die Schauenden gewahrten bald nur noch das Herz: einen funkelnden, pulsenden Rubin, in die Dunkelheit gelagert wie eine Figur auf einem gemalten Kirchenfenster.
Jost brach in die Knie. Mit den Händen tastete er rückwärts, als suche er alle die vielen Hände dort zum Schutz. »O Kind!« rief er schluchzend. »O Mensch! Wohin gehst du mit dem Flammenjuwel in deiner Brust? Sag es nur, sag es uns, sag es aller Menschheit, daß der rote, heiße Kern nur einmal da ist, die leuchtende Frucht nur einmal reif wird. Für einen nur ein einziges Mal. Sag es, was es heißt: ein einziges Mal. Sie wissen nicht, was es bedeutet: ein einziges Mal! Sprich, du Gotteswesen! Sprich, süßer Geist!«
Aber das Kind lächelte bloß. Lächelte und verging.
Zum hohen Gebieter, vor den ewigen Thron, trat Michael, der Erzengel, in den Morgen der rauschenden Sphären und sprach:
»Ich habe die Seele des Gleichgültigen gewonnen, Herr.«