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Diese kleine Sammlung Märchen hat die Nachsicht des geneigten Lesers und Beurteilers hauptsächlich aus zwei Gründen zu beanspruchen. Erstlich, daß diese Spiele eines fesselfreien Scherzes in einer Zeit erscheinen, die für ihr Teil ernste und große Gegenstände zu bearbeiten hat, zweitens, daß sie einem, für manche Leser, wohl zu fessellosen Scherze sich hingeben. Was den ersten Grund betrifft, so kann vielleicht gerade der Gegensatz diesem Büchlein behilflich sein, und die »Gedankenmüden« der Zeit geben sich, eben weil ihr Tagewerk der Ernst ist, dem Scherze für ein Mußestündchen des Abends hin. Was aber den zweiten Grund betrifft, so sei es erlaubt, hierüber einige Worte zu sagen.
Wenn wir der Entwicklungsgeschichte dieser Gattung der Poesie, nämlich des Märchens, folgen, so gewahren wir, daß gerade die Zeiten der Produktion die günstigsten waren, die ihr die meisten Freiheiten gewährten. Das Märchen ist eine ungemein geschmeidige Dichtungsform; sie kann dienen, den einfachen Sinn des Kindes zu erquicken, sie kann aber auch dienen, den feinsten Schmelz über die Produkte der Zivilisation zu bringen. Wir sehen sie überall angewendet, wo keine andere Dichtungsart mehr hinreicht. Mit Bewunderung sehen wir sie in der Hand des Politikers zu einer so haarscharfen und vergifteten Waffe werden, daß ganze Reiche und Staatssysteme den Stich empfinden; wir sehen aber auch mit nicht geringerer Bewunderung diese selbe – anscheinend so harmlose – Dichtungsart der Schönheit und dem Reiz noch einen, und zwar den vollendeten krönenden Schmuck hinzufügen. –
Wir Deutschen haben von jeher das Märchen liebgehabt, allein wir haben vorzüglich nur immer eine Richtung desselben gepflegt, es ist dies das einfache Naturmärchen, wie es in den Sammlungen der Gebrüder Grimm zu finden ist. Es ist nicht zu leugnen, daß ein tiefer und gleichsam unerforschlicher Bronnen in diesen Naturmärchen enthalten, und es daher allen Völkern und allen Zeiten wert bleiben wird. Allein man würde dieser lieblichen Tochter der Mutter Poesie sehr unrecht tun, wenn man ihr zumuten wollte, immer nur in diesem Gewande zu erscheinen. Sie hat deren eine Menge. An dieses Naturmärchen anbauend haben Tieck und Brentano schon verfeinerte, kultiviertere Märchen gegeben, der erstere mischte in den Volkston, den er beizubehalten strebte, die mittelalterlichen Klänge der Andacht, des Geheimnisvollen, der Sage; der zweite tat das rein Skurrile und Phantastische hinzu. Tiecks Märchen sind von einer großen Schönheit; einige derselben werden in einer unvergänglichen Jugend leben; so z.B. der blonde Eckbert u. a. Von dem Naturmärchen sich völlig lossagend, gab Hoffmann seine Phantasiegebilde, indem er in das Gebiet des Märchens das Gespenstische und Nächtliche hineinmischte. Neuerdings haben wir von dem Deutschdänen Andersen Märchen erhalten, die sich einen Ruf erworben und gleichsam als Mustermärchen angepriesen worden sind. Sie haben als Grundton das »Kindlich-Tändelnde« und gefallen sich in einer etwas faden und läppischen Unschuldswelt. Ihre edlen Züge haben sie in einem schalkhaften Humor und in der leichten Skizzierung und Zierlichkeit der Bilder. Allein dem gesunden Sinne des Kindes behagen sie nicht, und das wahrhaft Kindliche geht ihnen ab. Wenn wir nun diese Folge der Verwandlung des Märchens betrachten, so bemerken wir, daß zwei wesentliche Formen fehlen und beharrlich wegbleiben, es sind dies »das politischsatirische« und das »frivol-witzige« Märchen. Beide Gattungen kultivierte das achtzehnte Jahrhundert, und mit großem Glück. In der ersteren war bekanntlich Swift hervorragend, in der zweiten Voltaire, Diderot, Hamilton, Crebillon und noch manche andere. Es ist die Frage, ob wir Deutschen, bei unserem jetzigen politischen Aufleben, nicht einen Swift erhalten werden; ebenso könnte es sein, daß, wenn die Prüderie, die auf unserer schöngeistigen Literatur wie ein Alp bis jetzt gelegen, zu weichen beginnt, wir auch das frivolwitzige Märchen bekommen. Zu wünschen wäre es. Allein, wie gesagt, der Alp muß erst vollkommen weichen. Man wird sich darüber verständigen müssen, was wahre Sittlichkeit, und was nur deren Scheinbild ist. Wir haben in neuerer Zeit Romane erscheinen sehen, die das Wort vermeiden, aber die Sache geben, und die Sache um so stärker geben, je sorgfältiger sie das anstößige Wort zu vermeiden verstanden. Ist damit der echten, wahren Sittlichkeit gedient, oder ist nur der Heuchelei, der Prüderie Vorschub getan? Und bis zum Vermeiden des Worts kann es eben auch nur eine Zensur bringen. Die Poesie ist allmächtig, sie fordert gebieterisch die Freiheit, die ihr zukommt. So fordert sie denn auch die Freiheit, den sinnlichen Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern so zu schildern, wie die Natur ihn ihr vorbildet. Besteht aber die Poesie auf ihr gutes Recht, wenn sie ernsthaft spricht, so wird sie ebenfalls, und nicht minder darauf bestehn, wenn sie scherzt. – Sie wird immer das sagen wollen, was einen wahrhaften Scherz, nicht einen künstlichen, in sich birgt, und gerade wieder dieses sinnliche Verhältnis unter den Geschlechtern gibt wie dort zum Ernst, hier zum Scherz die willkommenste und ungesuchteste Gelegenheit. Man muß auf den »Nerv« des Lebens zu tasten verstehen: aus dieser Quelle und immer nur aus dieser sprudelt die ewige Jugend dem Leben, also auch dem Abbild des Lebens, der Poesie.
Wenn wir auf diese Sätze – als auf dem Fundament unserer Ästhetik – beharren, so kommt es uns nur zu, mit denen uns zu verständigen, die die konventionellen Anstandsformen nicht beleidigt wissen wollen. Diesen rufen wir nun eben zu: »Gerade diese konventionellen Anstandsformen müssen erweitert werden!« So wie sie bis jetzt sind, schnüren sie der Poesie den Hals zu. Wenn die echte, wahre Sitte nur nicht beleidigt wird, was kümmert es uns, ob die falsche Sitte, die prüde konventionelle Form, verletzt wird. Im Interesse der Poesie, des wahren, freien Scherzes treten wir in die Schranken. Hätte ein Goethe die römischen Elegien, hätte ein Ariost seine Märchen, ein Boccaz seine Novellen dichten dürfen, wenn jene konventionellen Anstandsformen nicht zum Segen der Poesie und der Menschheit immer und immer wieder über den Haufen geworfen würden, wenn sie sich zu unverschämt geltend machten? Und hat die wahre Sittlichkeit bei diesem Triumph der Poesie irgendwie gelitten? Gewiß nicht! – Seit einiger Zeit hört man mit bedenklicher Miene, wenn von einem neuen Buche die Rede ist: »Aber wird auch eine Mutter es ihrer Tochter in die Hand geben dürfen?« Es klingt fast, als wenn nur Mütter und Töchter in der Welt existierten. Gibt es nicht auch Männer, ihr Poeten? Und werdet ihr nicht endlich die Männer völlig von der Literatur wegscheuchen, wenn ihr bei diesen kläglichen, prüden und unwahren Darstellungen beharrt? Wehe der feigen Poesie, die sich des Anteils am Beifall der Männer begibt! Und dann sind ja auch Frauen da, edle Frauen, die, das Leben kennend, mit keuschem Sinn einem freien Scherze gern sich hingeben. Sind jene Männer, sind diese Frauen für euch außerhalb der Literatur? Dann seid ihr zu beklagen, und eure Bücher sind's noch mehr. Ihr werdet beide schnell vergessen sein. –
Was diese vorliegenden Märchen nun betrifft, so machen sie keine Ansprüche. Will man sie für frei spielende Geister der Muse gelten lassen, so wird man ihnen ein Stündchen der Muße gern vergönnen. Sie dienen, ohne alle weitere Absicht, nur freier Heiterkeit. Bekannte Märchenkörper sind hier und da genommen, aber ihnen besondere Kleidchen umgehängt; die meisten Produktionen sind jedoch als eigne Erfindungen zu betrachten.