Mark Twain
Eine skurrile Autobiografie
Mark Twain

Mark Twain

Eine skurrile Autobiografie

Übersetzung © 2005 Winfried Heppner

Nachdem zwei oder drei Personen mir bei verschiedenen Gelegenheiten anvertraut haben, dass sie, genügend Muße vorausgesetzt, meine Autobiografie lesen würden, wenn ich denn eine schriebe, so gebe ich diesem wilden öffentlichen Bedürfnis nach und lege hiermit meine Geschichte vor:

Unser Geschlecht ist alt und vornehm und reicht weit in die Vergangenheit zurück. Der erste urkundlich erwähnte Twain war ein Freund der Familie namens Higgins. Das war im elften Jahrhundert, als unsere Leute in Aberdeen in der englischen Grafschaft Cork lebten. Aus welchem Grund unsere lange Ahnenreihe seither den Namen der mütterlichen Linie trägt (mit Ausnahme der Fälle, wenn sich hin und wieder einer aus Spaß genötigt sah, ein Pseudonym anzuwenden, um eine Dummheit zu vermeiden) und nicht den Namen Higgins, ist ein Rätsel, das zu lösen keiner von uns je so recht in Angriff nehmen wollte. Es ist so eine Art dunkles, aber hübsches Geheimnis und wir lassen es dabei. Alle alten Familien machen das so.

Arthour Twain hatte zur Zeit von William Rufus auf der Landstraße einen gewissen Ruf als Selbstständiger. Mit etwa dreißig Jahren begab er sich zu einem dieser schönen alten englischen Urlaubsorte namens Newgate, um sich da um irgendetwas zu kümmern und kehrte nie zurück. Während seines Aufenthalts starb er plötzlich.

Augustus Twain scheint um das Jahr 1160 herum für eine gewisse Aufregung gesorgt zu haben. Er hatte nur Unsinn im Kopf und griff immer wieder zu seinem alten Säbel, schliff ihn, suchte sich in dunkler Nacht einen geeigneten Ort und steckte den Säbel dann in vorbeikommende Leute, um zu sehen, wie sie sprangen. Er war der geborene Komödiant. Aber er trieb es dann doch zu weit; und als man ihn das erste Mal dabei erwischte, wie er sozusagen als Aufreißer hervortrat, machten ihn die Behörden ein Körperteil kürzer, pflanzten dieses auf einen hübschen, gut sichtbaren Platz am Temple Bar, von wo aus es Leute betrachten und sich amüsieren konnte. Nirgendwo ist er je wieder so lange und mit solcher Begeisterung hängen geblieben.

Die nächsten zweihundert Jahre weist der Stammbaum der Familie eine Folge von Soldaten auf – edle, hochgemute Männer, die immer mit einem Lied auf den Lippen in die Schlacht zogen; und zwar direkt hinter der Armee und, wenn diese umkehrte, direkt davor.

Dies widerlegt auf schlagende Weise das Bonmot des alten, toten Foissart, der behauptet hatte, der Stammbaum unserer Familie sei der einzige mit nur einem Ast, der noch dazu im rechten Winkel herauswachse und sommers wie winters Früchte trägt.

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UNSER STAMM-BAUM

Im frühen fünfzehnten Jahrhundert finden wir Beau Twain, genannt »der Gelehrte«. Er hatte eine wunder-, wunderschöne Handschrift. Und er konnte jedermanns Handschrift derart perfekt nachahmen, dass sich nicht wenige darüber buchstäblich totgelacht haben. Sein Talent bereitete ihm unendlich viel Spaß. Nach einer gewissen Zeit verdingte er sich jedoch in einem Steinbruch, und die harte körperliche Arbeit machte seine Hand unbrauchbar. Dennoch, er hatte jedesmal Freude an seiner Betätigung im Geschäft mit Steinen, die sich – mit geringfügigen Unterbrechungen – über zweiundvierzig Jahre erstreckte. Erst der Tod nahm ihm den Meißel aus der Hand. Über all die Jahre bot er derart überzeugende Leistungen, dass ihm die Regierung schon einen neuen Vertrag gab, kaum dass der alte eine Woche abgelaufen war. Man konnte sich einfach hundertprozentig auf ihn verlassen. Auch bei seinen Künstlerkollegen war er äußerst beliebt, war er doch ein herausragendes Mitglied ihrer wohltätigen Geheimgesellschaft namens »Die Knastbrüder«. Er trug sein Haar immer kurz, hatte ein Faible für gestreifte Kleidung und sein Tod wurde von seiten der Regierung tief betrauert, war er doch ein schwerer Verlust für das Land, denn er war so zuverlässig gewesen.

Ein paar Jahre später hören wir von dem berühmten John Morgan Twain. Er kam 1492 mit Kolumbus hierher, und zwar als Passagier. Er scheint ein knorriger, unangenehmer Patron gewesen zu sein. Während der gesamten Überfahrt beschwerte er sich über das Essen und er drohte ständig damit, an Land zu gehen, wenn sich daran nichts ändern sollte. Er wollte stets frische Alsen. Kaum ein Tag verging, ohne dass er über das Deck stolzierte, die Nase in den Himmel reckte und über den Kommandanten schimpfte. Er glaube nicht, dass Kolumbus wisse, wo er eigentlich hin wolle und dass er dort auch noch nie gewesen sei. Der denkwürdige Ruf »Land in Sicht« sorgte bei allen an Bord für größte Aufregung, außer bei ihm. Er starrte eine Weile durch ein Stück angerußtes Glas auf die dünne Küstenlinie, die sich in der Ferne aus dem Wasser hob und sagte dann: »Land! Blödsinn, – das ist ein Floß«.

Als dieser fragwürdige Passagier an Bord des Schiffes kam, brachte er nichts mit als eine alte Zeitung, darin ein Taschentuch, auf dem »B.G.« eingestickt war, eine Baumwollsocke mit den Initialen »L.W.C.«, eine Wollsocke mit den Initialen »D.F.« und ein Nachthemd mit den Initialen »O.M.R.« Trotzdem war er während der Seereise immer besorgt um seinen »Koffer«, und er veranstaltete darüber ein größeres Getue als alle Passagiere zusammen.

Wenn das Schiff »über den Bug kippte« und man dagegensteuern musste, ging er los und schaffte seinen »Koffer« weiter nach achtern, um zu sehen, was passierte. Wenn das Schiff »über das Heck kippte« schlug er Kolumbus vor, geeignete Männer damit zu beauftragen »doch das Gepäck umzulagern«. Kam ein Sturm auf, so wurde er geknebelt, denn sein Gejammer wegen des »Koffers« machte es für die Männer unmöglich, die Befehle zu hören. Der Mann scheint nicht wegen irgendwelcher größerer Untaten in Schwierigkeiten gekommen zu sein, aber das Logbuch hält als »eigenartigen Umstand« fest, dass er, obwohl er sein Gepäck lediglich in eine Zeitung eingewickelt an Bord gebracht hatte, das Schiff mit vier Koffern, einer Luxus-Truhe und mehreren Körben Champagner verließ. Als er aber zurückkam und in dreistem, anmaßendem Ton reklamierte, dass ihm einige seiner Dinge abgingen und er jetzt die Gepäckstücke der anderen Passagiere durchsuchen werde, da war das Maß voll und sie warfen ihn über Bord. Man wartete lange und neugierig darauf, dass er wieder auftauchen würde, aber nicht eine einzige Luftblase stieg aus der abebbenden See herauf. Während nun alle damit beschäftigt waren, über die Reling zu starren und das Interesse an der Aktion augenblicklich wuchs, stellte man verblüfft fest, dass das Schiff davontrieb und die Ankerkette lose vom Bug hing. Im vergilbten alten Logbuch des Schiffs lesen wir die kuriose Eintragung:

»Nach einer geraumen Zeit gewahrte man, dass selbiger unangenehmer Passagier untergetaucht war, sich des Ankers bemächtigt und ihn den vermaledeiten Wilden unter Deck verkauft hatte, indem selbiger behauptete, er habe ihn gefunden – selbige Drecksau!«

Dennoch: Dieser Vorfahre verfügte über gute und edle Instinkte, und nicht ohne Stolz möchten wir anmerken, dass er der erste Weiße war, der Interesse daran zeigte, unsere Indianer auf eine höhere Stufe zu stellen und zu zivilisieren. Er errichtete ein geräumiges Gefängnis, stellte einen Galgen auf, und bis zu seinem Tode stellte er immer wieder mit Befriedigung fest, dass seine Anstrengungen mehr zu ihrer Zurückhaltung und Höherstellung beigetragen hätten, als die jedes anderen Reformers, der sich mit ihnen geplagt hätte. An dieser Stelle wird die Chronik weniger deutlich und redselig und bricht abrupt mit der Feststellung ab, dass der alte Seemann sehen wollte, wie sein Galgen bei der Hinrichtung des ersten Weißen in Amerika funktionierte, er dabei aber solch schwere Verletzungen erlitt, dass er daran starb.

Der Urenkel des »Reformers« stand im Jahre sechzehnhundertnochwas auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Unsere Annalen kennen ihn unter dem Namen »der alte Admiral«, obwohl er in der Geschichte unter anderen Titeln firmiert. Er führte lange Zeit das Kommando über eine Flotte wendiger, gut bewaffneter und bemannter Schiffe und leistete wertvolle Dienste bei der Jagd auf Handelsschiffe. Schiffe, die er verfolgte und auf die er sein Adlerauge gerichtet hielt, kamen auf dem Ozean immer sehr flott voran. Wenn aber ein Schiff trotz all seiner Anstrengungen herumtrödelte, wuchs seine Unzufriedenheit bis er nicht mehr an sich halten konnte – und dann schleppte er das Schiff in seine Heimat, bewachte es dort gut und erwartete eigentlich, dass die Besitzer es abholen würden, aber das passierte nie. Er bemühte sich sogar darum, die Besatzung des Schiffes vor Müßiggang zu bewahren und ihr die Langeweile zu vertreiben, indem er sie veranlasste, gesundheitsfördernde sportliche Aktivitäten auszuüben und ein Bad zu nehmen. Er nannte das »über die Planke gehen«. Allen Schülern gefiel das. Jedenfalls hat sich hinterher nie einer darüber beklagt. Wenn nun die eigentlichen Besitzer der Schiffe diese nicht rechtzeitig abholen kamen, so zündete er sie an, damit sie wenigstens ihre Versicherungsleistungen bekamen. Schließlich aber wurde der Lebensfaden dieses noblen Seemanns in der Fülle seiner Jahre und auf dem Höhepunkt seines Ruhms abgeschnitten. Seine arme, gebrochene Witwe sollte bis zu ihrem eigenen Tode glauben, dass man ihren Mann hätte wiederbeleben können, wäre der Faden fünfzehn Minuten eher abgeschnitten worden.

Charles Henry Twain lebte im späten siebzehnten Jahrhundert und war ein eifriger und ausgezeichneter Missionar. Er bekehrte sechzehntausend Südseeinsulaner und brachte ihnen bei, dass eine Halskette aus Hundezähnen und eine Brille nicht als angemessene Kleidung für den Besuch eines Gottesdienstes ausreichten. Seine armen Schäfchen liebten ihn von ganzem Herzen, und nach seiner Totenfeier standen sie alle zusammen auf (und verließen das Restaurant) und sagten zueinander mit Tränen in den Augen, dass er ein guter und zarter Missionar gewesen sei und sie gern noch mehr von ihm gehabt hätten.

PAH-GO-TO-WAH-WAH-PUKKETEKEEWIS (Großer Jäger mit Schweinsauge) TWAIN war die Zierde der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts und unterstützte aus vollem herzen General Braddock in seinem Kampf gegen den Unterdrücker Washington. Es war dieser Vorfahre, der aus seinem Versteck hinter einem Baum aus siebzehnmal auf Washington schoss. Soweit ist diese wundervolle romantische Erzählung aus den Lesebüchern korrekt; aber wenn es dann in der Erzählung weiter heißt, dass der überwältigte Wilde feierlich verkündet habe, dass der Große Geist diesen Mann für eine große Aufgabe ausgewählt habe, dann verdreht sie doch die historischen Tatsachen. In Wirklichkeit hat er nämlich Folgendes gesagt:

»Das hat doch gar kein’ (hick!), gar kein’ Schinn. Der Mann is ja so besoff’n, dass er nich’ ma’ still stehen kann, damit ihn einer trifft. Ich (hick!) kanns mir doch gar nich leis’en, noch mehr Munision für den zu verschwen’.«

Deshalb hat er nach dem siebzehnten Schuss aufgehört, und das war doch eine recht pragmatische Lösung, noch dazu eine, die sich uns auf Grund der beredten, überzeugenden Aura von Wahrscheinlichkeit aufdrängt, die sie umgibt.

Mir hat diese Lesebuchgeschichte immer gefallen, aber ich hatte immer ein gewisses Unbehagen dabei, dass jeder Indianer bei Braddocks Niederlage, der ein paar Mal (und aus zwei Mal wird in der Geschichte schnell siebzehn Mal) auf einen Soldaten geschossen und ihn nicht getroffen hat, zu dem Schluss gekommen sein musste, der Große Geist habe diesen Soldaten für eine besondere Mission auserwählt; und so hatte ich irgendwie den Verdacht, dass der einzige Grund, warum man sich an den Fall Washingtons erinnert und an den der anderen Soldaten nicht, der ist, dass sich bei ihm die Prophezeihung erfüllte und bei den anderen nicht. kein Buch auf der Welt wäre dick genug, um all die Prophezeihungen aufzunehmen, die Indianer und andere unberechtigte Personen gemacht haben; aber die Aufzeichnungen über jene Prophezeihungen, die in Erfüllung gegangen sind, könnte man bequem in seiner Manteltasche herumtragen.

Ich möchte an dieser Stelle nur nebenbei erwähnen, dass gewisse Vorfahren meiner selbst in der Geschichte unter ihren Pseudonymen dermaßen bekannt geworden sind, dass ich es gar nicht für notwendig halte, mich bei ihnen aufzuhalten oder sie auch nur in chronologischer Reihenfolge aufzulisten. Dazu ließen sich zählen RICHARD BRINSLEY TWAIN, alias Guy Fawkes; JOHN WENTWORTH TWAIN, alias Sixteen-String Jack; WILLIAM HOGARTH TWAIN, alias Jack Sheppard; ANANIAS TWAIN, alias Baron Münchhausen; JOHN GEORGE TWAIN, alias Captain Kydd; und dann wären da noch George Francis Train, Tom Pepper, Nebukadnezar and Baalams Esel – sie alle gehören zwar zu unserer Familie, jedoch zu einem von der edlen Hauptlinie etwas weiter entfernten Zweig, oder, um genau zu sein, einem Seitenzweig, dessen Mitglieder sich vom altehrwürdigen Stamm hauptsächlich dadurch unterscheiden, dass sie sich, um den Grad an trauriger Berühmtheit zu erlangen, nach dem wir uns schon immer verzehrt haben, lieber nur ins Gefängis werfen anstatt sich gleich aufhängen ließen.

Wenn man seine Autobiografie schreibt, dann ist es unangemessen, seine Ahnenreihe zu nahe an seine eigene Zeit heran zu verfolgen – man ist auf der sicheren Seite, wenn man nur andeutungsweise von seinem Urgroßvater spricht und dann gleich zu sich selber springt, was ich jetzt tun werde.

Ich kam ohne Zähne auf die Welt – und da hatte Richard III. mir gegenüber einen Vorteil; aber ich kam ohne Buckel auf die Welt, und da habe ich nun einen Vorteil ihm gegenüber. Meine Eltern waren weder besonders arm noch besonders ehrlich.

Da kommt mir allerdings ein Gedanke. Meine eigene Geschichte wäre im Vergleich zu meinen Ahnen wohl so fade, dass ich sie klugerweise ungeschrieben lasse, bis man mich aufhängt. Wenn einige der anderen Biografien, die ich gelesen habe, mit der Ahnenreihe an dem Punkt aufgehört hätten, an dem sich in ein solches Ereignis eingestellt hätte, dann wäre der lesenden Öffentlichkeit viel erspart geblieben. Meinen Sie nicht?