Quilibet fortunae suae faber est.
Alter Schulspruch
Es war in einer Gesellschaft lustiger Männer ein Streit über den altlateinischen Satz ausgebrochen, daß jeder Mensch der Schmied seines Schicksals sei. Einige behaupteten, der Satz wäre echt römisch, und stehe gewiß in diesem oder jenem Werke dieses oder jenes Klassikers; andere sagten, er sei ein neues Machwerk, und schleppe sich erst seit kurzer Zeit durch unsere lateinischen Schulbücher. Aber wie es geht, von diesem rein historischen Standpunkte, über den sie sich nicht einigen konnten, spielte sich der Streit auf den philosophischen über und entbrannte nun auf das heftigste über die Frage, ob es auch wahr sei, was der Satz enthalte. Man führte nun nicht mehr bloß die Historie in das Feld, sondern suchte der Sache auch a priori beizukommen, indem man die Psychologie, die Logik und Metaphysik aufbot. Man redete über Zusammenhang der Dinge, sittliche Weltordnung, Emanzipation vom Zufalle, Freiheit des Willens, und war auf dem Wege, ins Endlose zu geraten, als plötzlich ein Schalk, der bisher geschwiegen hatte, eine Geschichte zu erzählen anfing, worauf es nach und nach stille ward; denn beide Parteien horchten hin, in der Hoffnung, Gründe für ihre Behauptung aus der Geschichte ziehen zu können. Allein der Mann zog seine Geschichte gerade bis zu dem Punkte, wo sie sich spalten mußte, um der einen oder der andern Partei zu dienen – dann brach er ab und sagte, daß er den Rest morgen erzählen wolle, wenn sie etwa wieder zusammen kämen. Sofort erhob sich ein Lärm über Willkür und Täuschung, und man verlangte, daß er fortfahre. Aber da er hartnäckig bei seinem Ausspruche blieb, so vertagten sie listig den Streit, weil jeder begierig war, wie es nun weiter gehen werde, und weil jeder heimlich hoffte, ihm würden die Hilfstruppen aus der Sache zuwachsen.
Allein da nun die vierundzwanzig Stunden vorüber gegangen waren, da sich die Gesellschaft versammelt, und der Mann seine Geschichte beendet hatte, so waren sie so ins Weite verschlagen, daß sie nun über ihren anfänglichen Satz gar nicht mehr stritten, sondern ihn alle plagten, ob die Geschichte wahr sei, wo sie sich zugetragen, wie die Personen geheißen haben, und wären beinahe in den neuen Streit geraten, ob die Geschichte aus innern Gründen wahr sein könne oder nicht. Der Mann aber lächelte verschmitzt, drehte seinen Ring auf dem Finger, und sagte kein Wort mehr. Die Klügern unter uns merkten, daß er uns am Narrenseile geführt, die andern aber haderten auf dem neuen Wege weiter, auf den er sie gelockt hatte.
Da ich aber nun die Geschichte gerne wieder erzählen möchte, der Mann jedoch, wie ich oben sagte, ein Schalk ist, so weiß ich in der Tat nicht, ob er sie gelesen, ob sie ihm jemand erzählt, oder ob sie sich gar an ihm selber zugetragen habe. Letzteres wäre nicht ganz unwahrscheinlich, da man sich aus seinem früheren Leben noch ganz andere abenteuerliche Sachen erzählt. Jedenfalls aber hat er sich die üblen Folgen, die etwa aus meiner Plauderhaftigkeit entstehen sollten, selber zuzuschreiben, warum hat er uns nicht aufgetragen, dieselbe geheim zu halten.
Es waren zwei Männer. Mein Vormann hat sie Erwin und Leander genannt. Beide waren sehr reich, hatten aber in ihrer frühesten Jugend das Unglück gehabt, ihre Eltern zu verlieren, und jeder stand dann unter einem tyrannischen Vormunde. Gleiche Schicksale, gleiche Jahre, und vielleicht auch ein Zug des Herzens hatte sie schon frühe zusammengeführt. Sie betrieben auf dem mauerschwarzen Kollegium dieselben Studien, nämlich die Anfangsgründe alter Sprachen, und naschten zu Hause miteinander dieselbe Lektüre, nämlich nicht etwa Kinderbücher, sondern nur alte Klassiker. Sie hatten auch nie Kinderkleider gehabt, sondern, selbst da sie noch ganz klein waren, schon nach dem Schnitte der Vormünder, und auf das Wachsen berechnet, daher immer zu groß – jeder hatte einen sauersehenden Diener, und in jedem der zwei blühenden Kindergesichter war die traurige Miene und der liebeleere Blick von Waisenknaben bemerkbar.
Nach und nach wurden sie in die Welt und das Leben eingeführt, das heißt, sie kannten die Gesetze der Spartaner, beteten die Stoiker an, ahmten beide nach und waren außer sich über das Bekannte jenes Weibes. »Es schmerzt nicht.« Leander kam wohl zu besonderen Zeiten, damit er, wie der Vormund sagte, Manieren lerne, in diese oder jene Familie, die einst mit seinem nun verwaiseten Hause verbunden gewesen war, aber er lernte dort nichts, weil er bloß schwieg, in einen Winkel gedrängt wurde, und bei der ersten Gelegenheit fort ging. Um Erwin aber, dessen Güter lauter Raubritterruinen in den fernen Waldbergen waren, kümmerte sich kein Mensch und kein Hund. Wenn er mit seinem Diener zur Schule ging, so geschah es zuweilen, daß eine Mädchengestalt etwa über seinen Weg trat, oder in einem Wagen vorbei fuhr; allein er machte sich nie davon eine deutliche Vorstellung, was das sei, und wie sie sich von ihm unterscheide.
Nicht weit von der Stadt war ein verrufener Winkel, »die Gänseweide« geheißen, dort rangen sie, warfen den Diskus, und fochten mit Schild und kurzem Schwerte. Weit von ihrer Wohnung, wo der Fluß zwischen düstern Föhren stagnierte, schwammen sie, und sprangen über ausgetrocknete Lehmgruben.
Als sie Jünglinge geworden, schlossen sie einen Freundschaftsbund, wie etwa zwei gefeierte Namen des Altertums, und damals hatten sie auch verabredet, im strengsten Sinne des Wortes, wie das klassische Sprichwort sagt, die Schmiede ihres Schicksals zu werden, nämlich sich von allem unabhängig zu machen, was zufällig sei, damit geschehen könne, was auf Erden möglich, ohne ihr inneres Glück zu berühren. Von diesem Tage an aßen sie nur mehr eine vegetabilische Brühe, annähernd die schwarze Suppe Lakedämons, schliefen auf bloßem Stroh, und verbannten alle Geräte, außer einem Tische und einer Bank. Ihre Zeit und ihre Mitwelt ging neben ihnen her, als sei sie vor tausend Jahren gewesen.
Daß ihr äußeres Benehmen auf diese Weise ungeschlacht und eckig, ja unheimlich und lächerlich zugleich werden mußte, ist begreiflich, nur sie ahnten nichts davon. Bloß darin mochte sich ein dunkles Gefühl davon aussprechen, daß sie, je mehr sie heran wuchsen, desto mehr die Gesellschaft flohen, namentlich die gesellige, von Männern und Frauen gemischte; nur mit dem einen oder dem andern verwitterten und bemoosten Repetenten der Schule pflogen sie Umgang und lernten von ihm Kneipenton, was sie für moderne Welt hielten, im Gegensatze zu der alten klassischen. Damen und Mädchen gossen ihnen Blei in die Glieder, so daß die Füße in dem Boden und die Hände in den Rocktaschen wurzeln mußten. Sie erlangten die Beweglichkeit erst wieder, wenn sich der Zauber dieser Klapperschlangen entfernt hatte.
Nur Leander hatte schon einmal mit einer geredet, er war damals achtzehn Jahre alt, sie fünfzehn und wunderschön. Er mußte zum neuen Jahre Glück wünschen gehen, und traf unselige Weise nur Mutter und Tochter zu Hause, und zwar zum Ausgehen angezogen. Noch dazu wurde die Mutter abgerufen und sagte im Weggehen: »So reden Sie doch mit Elmiren, Herr Baron!« Damals nun hatte er gefragt: »Diese Webe an Ihrem Gewande ging gewiß aus Ihrer und Ihrer Mutter kunstreicher Webehand im Frauengemache hervor.« Elmire wurde bloß im ganzen Gesicht blutrot, und hatte ihm aber gar nichts geantwortet. Seit der Zeit beging er lieber die schreiendste Unart, als daß er sich wieder einer solchen Lage ausgesetzt hätte. Erwin hatte solches nie zu erdulden gehabt; denn er war in seinem Leben noch nie auf dem glatten Boden eines Versuches gestanden.
Eine Stellung hatten sie trotz alle dem, in welcher sie jedes Auge mit Vergnügen anschaute, nämlich, wenn sie zu Pferde saßen – reiten hatten sie bei dem ersten Meister gelernt – da reichte kein Jüngling an diese zwei kraftvollen schönen Göttergestalten. In der Tat hatten sie durch ihre Übungen eine Gesundheit erlangt, daß ein eiserner Turm auf sie fallen konnte, ohne ihnen etwas anzuhaben, und eine tigerartige Kraft und Geschmeidigkeit, die nur in Wüsten vorkommt; leider trat sie bloß bei ihrem einsamen Laufen und Springen hervor, nie aber im geselligen Verkehre. Auch war ihrem Erscheinen ein Umstand im Wege, den ich zum Schaden meiner Helden noch anführen muß. Sie gingen nämlich, wie einst als Knaben in Männerkleidern, so jetzt als Jünglinge in Greisengewändern, und noch dazu fast im Schnitte des vorigen Jahrhunderts. Sie ließen, oder vielmehr ihre Bedienten – sonst fast Todfeinde, in diesem einen Punkte aber wunderbar gleich – ließen bei demselben uralten Schneider arbeiten, und zwar so, wie es in ihrer Jugendzeit schön gewesen wäre. Sie trotzten mit der Garderobe ihrer jungen Herren der Macht des neuen Jahrhunderts. Nur die jungen Herren wußten es nicht, da sie zu Hause keinen Spiegel hatten, und auf der Gasse nur andere, nicht sich sahen. Bloß in dem einen Stücke gingen sie mit der Mode, daß sie sich allen Bart wachsen ließen, aber doch wieder mit der Ausnahme, daß sie vorhatten, ihn mit der Schere nach altgriechischer Art zusammen zu stutzen, wenn er nur erst groß genug sein werde.
Ob sie in dieser Lage glücklich waren?
Ich glaube beinahe: sehr; denn ihr Leben machte ihnen Freude, ein anderes kannten sie nicht. Ihr reiner sprossender Körper gab ihnen Gefühle von Behagen und Wohlsein, wie sie andere gar nicht zu ahnen vermögen, und eine Heiterkeit trat hervor, die in der Tat durch keinen Unfall zu trüben war, nachdem sie nur einmal jene Zeit überwunden hatten, wo aus den Augen eines Kindes, wenn man es für glücklich halten soll, noch die empfangene Mutterliebe heraus schauen muß. Ihr Geist war auch glücklich, denn sie hatten sehr viel gelernt und erfreuten sich gegenseitig des Besitzes. Alte Geschichte und Literatur, dafür gar keine neue, Mathematik in allen Zweigen, dann die Realwissenschaften – alles das hatten sie sich nach und nach meistens gegenseitig beigebracht, und zwar in einer Vollendung, wie selten junge Leute – es war eine andere Art Rennbahn gewesen, und in diesen Übungen erfreute sich ihr Geist. Von Gefühlen schwärmender Sehnsucht, von namenlosen Hinausahnungen, von Schmachten, von Trieben des Herzens, von süßem Schmerz, und so weiter, war gar nichts da; außer einigem Übermaß klassischer Begeisterung waren sie in diesen Dingen so roh wie die Irokesen.
Wenn es mit ihnen so fort geht, so haben sie das Rätsel gelöset, das sie sich aufgegeben, nämlich jetzt waren sie die Schmiede ihres Schicksals, und zwar eines ganz und gar glücklichen; denn wenn auch von dem einen oder anderen Vormunde mit Schmerzensrufen und Lamentierungen die Nachricht einging, wie dort der Hagel wieder ein Feld in den Grund geschlagen, hier eine Scheuer abgebrannt und dort ein Knecht ein Schlingel gewesen sei, so war ihnen das bloß komisch; denn sie hatten für ihre künftigen Bedürfnisse so lächerlich zu viel, daß eher eine Verlegenheit daraus entstanden wäre, was sie mit dem Überschusse tun sollten, als daß sie sich hätten kränken können, wenn etwas verloren ging.
So lebten sie mehrere Jahre, waren meistens beisammen, und trugen sich mit Vorstellungen, wie sie erst, wenn sie in den Besitz ihres Vermögens kämen, eine recht eigentliche eiserne Unabhängigkeit gründen wollten, die sie zum Herrn der ganzen Welt machte.
Der erste, welcher von diesem ZusammenlebenAbschied nehmen mußte, war Leander, der etwas älter war. Es erschien ein junger Mensch, und mit dem mußte er seine Reise durch Europa antreten, daß er Weltbildung bekomme. Der Vormund selbst hatte ihn abgeholt, und nun ging Erwin allein in den Räumen der Musenstadt herum. Aber auch seine Zeit dauerte nicht mehr lange; denn er wurde, da sein Vormund plötzlich starb, mündig erklärt und in die Verwaltung seiner Güter eingesetzt. Man hatte absichtlich keinen Briefwechsel verabredet, weil diese Trennung die erste Probe ihrer Grundsätze sein sollte. Erwin ging in das Gebirge, und auf der dreißig Meilen langen Straße lief das Gerücht hinter ihm her von dem Manne, welcher lauter Gemüse gegessen habe. Sein Plan ging noch viel weiter, als der Leanders. Nicht Europa, das er fast verachtete, wollte er besuchen, sondern um seine menschliche Kraft an der großen aufrecht stehenden Natur zu üben, statt sie an Afterverhältnissen herabzubringen, beschloß er nach Texas zu gehen, dort an der Grenze der Wilden eine Niederlassung zu gründen mit dem Keime antiker Kraft und Gesetze, der sich durch die ganze Republik verbreiten, dereinst wachsen und etwa einen Staat von spartanischem Erze, athenischer Schönheit und römischer Tüchtigkeit erzeugen, der dereinst seiner geographischen Lage nach der erste der Welt werden würde. Vorher wollte er die Verwaltung seiner europäischen Güter auf einen Fuß nach seiner eigenen Einsicht bringen, welche auf mathematischer Basis ruhte, so daß nach seiner Abreise ruhig das Gesetz fortwirke, und ihm dorthin die Zuflüsse sende, die er zu seinen Zwecken brauchte. Erreiche er dieselben wegen äußerer Zufälle nicht, so seien sie doch moralisch da, und erreicht; das Wollen ist das Himmelreich der Menschen, das Vollbringen das der Götter.
Alle Diener und Müßiggänger, alle Schmarotzer und Freunde des Hauses, alle Beamte, große und kleine, waren in ihrem Herzen unsäglich erleichtert, als sie den Tod des unerträglichen tyrannischen Vormundes erfuhren und die Ankunft des schwachen Narren, ihres neuen jungen Herrn, erwarteten. Der Verwalter konnte sein Erstaunen drei Tage und drei Nächte nicht verwinden über die unsägliche Albernheit seines neuen Gebieters, wie er ihn verwirrt und ehrerbietig vor seiner eigenen Tochter, der törichten Rose, stehen sah, wie er lauter Kräutersuppe aß, stets zu Fuße ging und auf einem Bund Stroh schlafe. Aber ehe zwei Jahre ins Land gingen, sagte man sich unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit ins Ohr, welch unendlich fürchterlicher Tyrann jetzt da sei: Zwei Jahre nicht zornig und zwei Jahre unerbittlich.
Erwin ließ sich, als er einen Tag zu Hause gewesen, sofort alle Papiere, die sich auf den Komplex seiner Güter und auf einzelnes bezogen, vorlegen, und las darin über anderthalb Jahre, dann schrieb er ein halbes Jahr, und legte endlich dem Verwalter den Entwurf für die Zukunft vor. Dieser sagte, er sei unausführlich. Erwin erwiderte nichts, aber in zwei Jahren war der Entwurf ausgeführt und im Gange, er hatte nur zu diesem Behufe zwei Dritteile seiner Leute entlassen. Keine Gesellschaft, kein Gastmahl, kein Tropfen Wein, als lauter verkäuflicher, keine Kutsche, kein Pferd daran, einen groben grauen Rock, tagsüber stets am Schreibtische, und von Boten und Beauftragten umringt, abends allein im Garten, Klettern, Laufen, Steine werfen, über Holzböcke springen, dabei immer ernsthaft bleiben – es ging über menschliche Begriffe! – und so jung, und so geizig und so unerhört hartnäckig; um kein Jota durfte von seinen Anordnungen abgegangen werden. Und als nach fünf Jahren alles in seinem ordentlichen Gange war, sahen sie ihn in dem grauen Rocke, mit einem Ränzlein auf dem Rücken, und einem Knotenstocke in der Hand fortgehen und nicht wiederkommen.
Er aber war auf dem Wege nach Havre, um von dort New-Orleans zu gewinnen. Ein Oberverwalter war bestellt, alle Korrespondenzpunkte bestimmt, und alles in absoluter Festigkeit und Gewißheit. Seinen Freund hoffte er in Paris zu finden, wo er sich, wie er gehört, schon seit einem Jahre aufgehalten, und er hoffte ihn vielleicht zur Teilnahme oder Nachfolge zu bewegen. Aber auf seiner fünften Nachtstation hatte er das Unglück zu erfahren, daß sich Leander auf das Schmählichste geändert. Er fand nämlich dort auf der Post einen Brief seines Verwalters, und darinnen eingeschlossen einen von Leander, der ihn zu Gaste auf seine Hochzeit bat. »Ich habe dich«, hieß es unter anderm darin, »du geliebter alter Freund und Genosse meiner Jugendträume, nicht vergessen, und immer nicht vergessen können. Erinnerst du dich noch an das kindische Versprechen des Nichtkorrespondierens – nun ich muß es doch brechen, um zu sehen, wie es mit dir ist, da du gar nichts hören läßt. Auf alle deine Schlösser habe ich zugleich Abschriften dieses Briefes gesendet, und hoffe dich gewiß bei mir zu sehen, wenn du nicht etwa indessen, weiß Gott wo, in Europa herum vagierest. Wir hätten dich trotz der Unpäßlichkeit meiner Eveline und der Abneigung ihrer Mutter vor Reisen auf einem deiner Nester überfallen, wenn wir nur gewußt hätten, wo. Alle Nachrichten der Reisenden stimmten darin überein, daß auf keinem deiner Güter eine Herrschaft wohne. Bist du etwa in süßen Banden? wie!? und halten dich diese in der Stadt? ich hoffe, daß ein deiniger Lehnsmann, dem dieser Zettel in die Hände gerät, so viel Vernunft haben wird, ihn dir zu übermachen. Ich sehne mich im Ernste nach dir, die holdesten liebsten Fäden meines Herzens und meiner Kinderspiele laufen in dir zusammen. Eveline ist zu begierig auf dich. Komme, komme, und komme, du bist der Willkommenste auf Schloß Turun.«
Erwin war zu einer Säule erstarrt. Das erste Mal in seinem Leben half ihm die Stoa nichts. Er suchte vergeblich, zu machen, daß dieser Schmerz und dieser Verdruß nichts sei – er war immer wieder da, und so sehr er bisher und so glücklich er an seinem Schicksale geschmiedet hatte: dieser Klumpen Eisen war einmal absolut nicht zu schweißen, ja er wurde sogar, wie gerade starke Menschen, wenn sie einmal aus dem Geleise sind, nervös, und ärgerte sich über Dinge, über die sich niemand zu ärgern hat: über die gläsernen Salzfässer, über den kleinen Wirt, und über seinen Ärger. Turun lag nur eine Weile von dem Städtchen, übermorgen war Hochzeit, ganze Wagen voll Gäste waren schon durchpassiert, mit der lieblichen Morgenröte war auch die Stoa beinahe wieder gekommen, aber doch nicht ganz; denn statt seine Reise gelassen fortzusetzen, wie Zeno getan hätte, dachte Erwin: »Dies eine Mal kann ich ja von meinem Vorhaben so weit abgehen, daß ich es um zwei Tage verzögere; denn diese zwei Tage kann ich ja im Gehen einbringen – ich will hinüber und dem einstigen Freund mit meiner ruhigen Gegenwart beschämen, und etwa retten, was noch zu retten ist.«
Ach, der Arme! den süßen Zug, der ihn heimlich zu dem ehemaligen Lieblinge zog, wagte er nicht, sich einzugestehen. Und so ging er gegen Abend auf Schloß Turun hinüber. Das Ränzlein hatte er bei dem Wirte gelassen, mit dem Bedeuten, daß er es übermorgen abholen werde.
Er war nicht ganz zufrieden mit sich, und sein Herz war auf dem ganzen Wege unruhig. Dieses erste Mal hatte er seinem Zwecke zuwider dem Zufalle nachgegeben, aber es soll gewiß auch das letzte Mal sein.
Drüben war alles vollgestopft mit Gästen. Man geriet durch den neuen Ankömmling in eine zweifache Verlegenheit: erstens, was man denn aus seinem einfachen grauen Rocke machen sollte, der so unsäglich hochzeitswidrig war, und zweitens, wohin man ihn einquartieren werde; denn von allen Geladenen waren entweder Entschuldigungen oder Annahmen eingegangen, und jeder Raum und jedes Räumchen des Schlosses war vergeben, bis auf eines, wohin man aber unmöglich einen Menschen stecken konnte, ohne sich der größten Verantwortung auszusetzen. Nur Leander in seinem wahrhaft stürmischen Entzücken, daß er den Mann wieder habe, den er am meisten auf dieser Welt liebte, machte sich aus beiden Verlegenheiten nichts. Über das erste, worauf sich jedoch die Blicke aller Arten andern richteten, glitt sein Auge ohne Bewußtsein hinaus; über das zweite, als es ihm der Haushofmeister zugeflüstert hatte, lachte er bloß und sagte: »Dieser Mann, Erwin, trägt Bedenken, dich in eine Stube zu weisen, worin Gespenster sind. Du mußt nämlich wissen, daß mein Haus nicht bloß von außen das ganze weitläufige Ansehen eines alten Feudalschlosses hat, sondern daß es auch noch seinen Geist auf unsere ungläubige Zeit herüber gerettet. In dem Zimmer, wo du heute schlafen sollst, geht zu Zeiten unsere weiße Frau herum, eine Dame des Hauses aus dem elften Jahrhundert. Sie ist aber nicht etwa eine Verbrecherin, sondern bloß eine Schutzfrau, die nur zur Warnung erscheint. Heute, meine ich, wird sie wohl ruhig in der Gruft bleiben; denn wenn sie gegen Evelinen etwas hätte, so hätte sie mit zarter Weise doch viel früher erscheinen sollen – außer sie dehnt etwa ihre Sorgfalt für mich auch auf dich, meinen Freund, aus, wenn du vielleicht auf bösen Wegen wandelst.«
Erwin, der keine anderen, als klassische Gespenster kannte, fürchtete keine mittelalterlichen, und beruhigte den Haushofmeister, der nun sofort befahl, daß man das rote Eckzimmer lüfte, daß man weiche Dunen in das Bett lege, Teppiche breite, den Kamin heize und Wein und kalten Braten auf den Tisch stelle. Alles müsse noch bei Tageshelle fertig sein.
Leander nahm nun den Freund, indessen man sein Zimmer bereitete, mit sich in sein eigenes Gemach, das einzige, das ihm heute zu freier Schaltung übrig geblieben war, und bewillkommte ihn dort wieder und wieder, so daß es dem Andern fast süß und lieb ins Herz geflossen wäre, wenn er nicht den freien, schönen, verweichlichten Mann vor sich hätte stehen gesehen, der einst sein starker, edler Freund gewesen. Ob der Mann aber nicht auch in dem fein rasierten Angesichte und dem modernen Fracke noch edel und stark geblieben sein könne, davon ahnte Erwin in seiner Einseitigkeit nichts, Leander aber durchblickte den armen Freund gar wohl.
»Wir wollen heute und morgen«, sagte er, .»einmal das reine Beisammensein genießen und von nichts anderem reden, was es trüben könnte. Ich fürchte, du bist auf einer weiten Reise.«
»Ja, nach Texas, wo ich bleiben will.«
»Da sei Gott vor, was willst du denn in dem verworrenen, unsicheren Lande? Davon müssen wir dich abbringen.«
»Das wird wohl nicht angehen«, sagte Erwin lächelnd.
»Nun, nun, es sei, wie es wollte«, versetzte Leander, »lassen wir das alles, wir wollen schon über dich gehen und dich heilen. Jetzt komme, damit wir nicht streiten, mit mir auf den Balkon, ich will dir meine Gäste aufführen, die unten im Park spazieren gehen, und dir auch die Stelle zeigen, wo sich der liebe Zufall ereignete, der mich mit Evelinen verbunden hat.«
»Lasse mich doch wenigstens aus deinem Munde nicht das Wort Zufall vernehmen«, entgegnete Erwin, »es ist, als sei es unmöglich, daß du es solltest aussprechen können.«
»Noch viel mehr«, sagte der andere, »ich will dich lehren, daß es einen Zufall gibt, und daß wir nur weise sind, wenn wir ihn beherrschen.«
Mit diesen Worten hatte er den Freund auf den Balkon hinausgeführt. Dort fuhr er fort: »Ja, wenn du nicht gar zu ungelehrig bist, so hoffe ich mit Zuversicht, daß ich bald so glücklich sein werde, bei dir einem gleichen Feste beizuwohnen, wie du heute bei mir.«
»Lasse doch um Himmelswillen die Weiber«, sagte Erwin und zuckte ordentlich weg, als hätte ihn schon eine dieser Schlangen bei der Hand.
Der andere aber fuhr hartnäckig fort. Entweder merkte er die Stimmung des Freundes nicht, oder wollte er sie nicht merken. »Da wäre die zarte Agnes Harrand, die dort neben dem Merkur steht, sie ist die schönste des Landes, und erst siebzehn Jahre alt. Oder jene rot gekleidete schlanke Figur neben der dicken Mutter, das ist die Gräfin Rosalie Steinheim, so gut und schön, wie eine Taube. Siehe da gerade über das Parterre geht eine Schmiedin ihres Schicksals, wie wir es einst waren. Unsere jungen Herren würden lieber ein glühendes Eisen anrühren, als diese Dame, so stolz ist sie. Sie bleibt unvermählt, weil sie keinem Zufalle, das heißt keinem Manne preis gegeben sein will. Es freit auch keiner mehr um sie. Der alte Mann, mit dem sie geht, ist ihr Vater, der Ritter Fargas, mein nächster Nachbar, sie heißt ebenfalls Rosalie, und wenn du reiten lernen willst, so nimm sie zum Stallmeister. Dort auf der Gartenbank sitzen gar drei auf einmal, doch nur die mittlere ist ausgezeichnet, die andern minder, aber jede trägt zwei Rittergüter in der Schürze. Sie sind die Baronessen Kralstein, Bertha, Emilie und Clarinda. Eine heißere Sonnenscheibe, als Emiliens schwarzaugige Blicke, gibt es nicht. Oder betrachte die, welche jetzt von Rosalie Fargas leichthin gegrüßt wird, sie ist viel gefeiert und einige sind über sie verrückt, sie ist die Gräfin Miris, eine einzige Erbin – und dann erst die, die wir nur von der Ferne sehen, oder erst die, so von den Gebüschen gedeckt sind, Johanna, Mathilde, Emerentia, Sibylla, Margaretha, Cajetana, und wie sie heißen mögen. Morgen wirst du sie alle neben alten Papas-, Mamas- und Onkelsgesichtern sitzen sehen, und kannst wählen. Dem Sohne deines Vaters und deinen ungeheuern Wäldern wird keine abgeschlagen. – Doch Scherz bei Seite, Erwin. Morgen wird Eveline kommen, und du wirst die ruhig schöne Tugend sehen aus klaren fleckenlosen, aufrichtigen Augen schauend, und ein solches Gut wünsche ich deinem Herzen, dem festesten und besten dieser Welt.«
Erwin aber bat mit düstern trüben Blicken, daß er ihn mit alle dem verschonen möge, daß man ihm lieber sein Zimmer anweise, und daß man ihm gestatte, für heute dort zurückgezogen bleiben zu dürfen. Wie er es morgen halten wolle, war ihm noch nicht recht klar, nur so viel ungefähr schwebte ihm vor: wenn nur diese Nacht überstanden sei, so werde er morgen bei der Zeremonie sein, und dann sogleich auf dem Wege nach Havre. Verstimmt, mürrisch und durchaus nicht mehr Herr seiner Stimmung, ließ er sich von Leander in das rote Gemach geleiten. Er schrieb alles dem Zufalle zu, dem er sich hingegeben, und dachte, es werde nicht eher gut, als bis er wieder auf der Straße nach Havre sei, niemanden Raum gebend und gehorchend, als sich selbst und seinen Entschlüssen. »Daher kommt alles«, dachte er, »daß ich das Ding da nicht gelassen habe, wie es ist, und ruhig meines Weges weiter gegangen bin. Nun habe ich Reue, ein Ding, das früher nie da war, und nun schmiede ich vergebens an meinen Gedanken, daß sie ruhig und ebenmäßig sein sollen, und sie fahren widerspenstig im Kopfe gegen einander.« Leander empfahl sich, der andere schloß hinter ihm seine Türe zu, und betrachtete sich trübselig die Behausung, in der er die Nacht zubringen sollte. Er war über sich ärgerlich, daß er nicht ruhig sei, daß so viele fremde Dinge kämen, und deshalb ging er an die Musterung des Zimmers, um sie abzuleiten. Es war nicht anders, als gewöhnliche Zimmer sind, nur da es in einem reichen Schlosse war, war es groß, ein reguläres Viereck und mit einem ungeheuren Kamine versehen, in welchem trotz des nicht kühlen Maiabends ungeschlachte Scheite loderten. Die Fenster gingen gegen Osten,an dem bereits, da die Sonne schon untergegangen, ein riesengroßer blutroter Vollmond stand, und matt durch die Gläser hereinschien. Erwin, dem die Hitze zuwider war, da er stets in ungeheizten Zimmern schlief, öffnete die Flügel des einen Fensters und sah nun, daß es das letzte einer langen Fronte sei, und daß daneben rechtwinklig eine andere noch längere Fronte wegspringe mit unzähligen riesenhaft wegstehenden Dachrinnen, welche große kupferne Rachen aufrissen. Darüber hinaus standen Wirtschaftsgebäude in allen Richtungen verschoben, und über sie blickten die Wipfel des Parkes herein, gegen den Vollmond emporstehend. Da er dieses betrachtet hatte, ging er an den Tisch, nahm sich Brot und Wasser und hielt Abendmahl. Der Braten und Wein blieb unangerührt stehen. Da es indessen ganz finster geworden, zündete er die auf dem Nachttische stehenden Kerzen an und bemerkte, daß ein modernes Buch da liege, welches etwa der Haushofmeister zur Zerstreuung des Gastes hergelegt. Damit keine Kohle auf den Teppich herausfalle, schürte er noch das Feuer in dem Kamine zurück, schob den Holzkorb ein wenig weiter hinweg, dann nahm er alle Dunen und anderes Zeug aus dem Bette bis auf den Strohsack und eine Decke, packte alles auf einen Kasten, dann legte er die Oberkleider ab, versuchte noch einmal die Güte des Türschlosses, da er große Summen im grauen Rock führte, und legte sich endlich auf sein Stroh nieder. Die durch das offene Fenster hereinströmende Mailuft tat ihm sehr wohl, da es ihm von dem unvernünftigen Heizen unerträglich warm schien. Eine Weile las er in dem Buche, es stand von nichts als lauter überschwenglicher Liebe in überschwenglichen Versen darinnen, dann legte er es weg, löschte die Lichter aus und starrte noch eine Zeit in die zusammensinkende Glut des Kamines, die um so düsterer rot war, als daneben das weiße Silber des Mondes in breiten Scheiben auf dem Fußboden lag. Dann mit einem flüchtigen Gedanken an die weiße Frau und mit verwirrten Träumen von Emilie, Emerentia, Cajetana entschlummerte er fest und ruhig.
Wie lange er mochte geschlafen haben, wußte er nicht, aber es durfte schon Mitternacht vorüber sein, da war es ihm, als streife ein eiskalter Hauch über sein Gesicht. – War es nun, daß er über die Sagen des Zimmers doch nicht ganz gleichgültig war, oder war es seine angewohnte Entschlossenheit, er weckte sich aus dem halb träumenden Zustande, in den ihn der Luftzug versetzt hatte, vollends auf, und öffnete seine Augen. Aber wer beschreibt sein Erstaunen, in das er geriet, als er die Veränderung erblickte, die in seinem Zimmer vorgegangen war: im Kamine, wo er nur ein Häufchen verglimmender Kohlen gelassen hatte, loderte nun ein helles Feuer, vor demselben, die Fußsohlen gegen die Wärme haltend, und ihm den Rücken zugekehrt, saß eine Gestalt, über und über mit weißem Zeuge, wie mit Nebelhüllen, angetan, vorne durch das Kaminfeuer blaß rosenrot angeleuchtet, hinten mit bleichen, fast blauen Scheine des Mondes belegt. Er getraute sich keinen Atemzug zu tun, so war er erschrocken. Er glaubte noch zu träumen und redete sich innerlich zu, zu erwachen, aber er antwortete sich, daß er ja wache; denn auf dem Tische stehen die Flaschen, und ganz deutlich die Teller mit den Speisen, da stehen neben ihm die zwei ausgelöschten Kerzen, da liegt das Buch, und dort auf dem Kasten das herausgeräumte Bettzeug, von dem Feuer sanft rot gesäumt – und es ist ja so heller Mondschein, daß man einen Strohhalm auf dem Zimmer liegen sähe. Die Gestalt saß unbeweglich in derselben Stellung dort. »Das ist meine rechte Hand«, sagte er sich, »das ist die linke, jetzt rühre ich den Daumen, jetzt den Fuß –« das alles sagte und tat er, um sich zu überzeugen, und um sich von jenem Zustande empor zu raffen, der sich bleischwer und alpartig auf ihn zu legen drohte und seine Sinne zu benebeln begann. Aber es half nichts, das Bild blieb unbeweglich dasselbe, und es war, als scheine der Mond nur immer greller darauf. Erwin war bis an die Wand gerückt, dort drückte er sich an, zog die Decke bis an die Augen, und über seine Glieder ging es fast wie ein Fieberfrost. Er schloß ein um das andere Mal die Augen, aber es half nichts, er mußte sie wieder öffnen, und sie saß immer wieder dort. Einmal nur hatte sie wie traumartig den Arm gehoben und ihn wie einen Bogen über das Haupt gehalten, wie etwa jemand im Schlafe einen Arm über den Kopf emporlangt. Dann aber hatte sie ihn wieder sinken lassen und war unbeweglich wie früher. Nur die Füße hielt sie nicht mehr gegen das Feuer, sondern auf den Teppich gestellt. Sie waren ebenfalls schneeweiß.
Wie lange die Erscheinung schon dauerte, konnte Erwin nicht ermessen; denn ihm war alles Zeitmaß verloren gegangen. Nur eine Tätigkeit war ihm geblieben, die der Augen. Unverwandt und bezaubert mußte er sie immer hin heften, und den drängenden Atem ließ er so leise strömen, daß er ihn selbst nicht einmal hören konnte. Bald war ihm, die Gestalt rege sich, bald, sie sei starr – endlich regte sie sich in der Tat. Unheimlich langsam, wie ein Totes oder Träumendes, richtete sie sich auf, wendete sich mechanisch um, schritt nebelhaft gleichmäßig gegen das Bett, beugte sich und legte sich hinein. Nur im Momente des Niederlegens hatte er ein kurzes leises Seufzen gehört, wie von menschlichen Lippen – dann aber folgte bald das regelmäßige tiefe Atmen eines ruhig Schlafenden.
So schmal sich nur immer ein ohnehin sehr schlanker Mann machen konnte, so schmal hatte er sich in dem Augenblicke gemacht, als sich die Erscheinung zum Niederlegen anschickte, wie ein Schilfrohr lag er an der Wand, und keine Fieber an ihm regte sich. Fast wollte ihn wieder die eisige Hand des Entsetzens packen, wenn er sich die seit achthundert Jahren modernde Schönheit bei sich im Bette dachte, aber da er das gesunde Atmen hörte, und da ihm war, als fließe sanfte Lebenswärme von der Gestalt zu ihm, so war nun sein Erstaunen noch größer, als früher sein Entsetzen gewesen war. Eine Zeit lang rührte er sich noch nicht, dann aber ganz behutsam und sachte, daß nichts knistere, drehte er den Kopf herum (er hatte nämlich früher das Gesicht gegen die Wand gekehrt) – aber er sah nichts, als seine weiße Wäsche, die über eine menschliche Gestalt gedeckt schien. Das halb weggewendete Angesicht der Gestalt konnte er nicht sehen, weil eine sehr große Krause einer Nachthaube davor empor stand. Daß es nur ein Weib sei, schloß er, aber sein Zustand war um nicht viel besser, als wenn es ein Gespenst gewesen wäre. Bloß des einen war er sicher, daß ihm das Weib nicht gegen seinen Willen den Hals umdrehen könne, das andere war alles ängstlich genug.
Wieder eine Weile war er ruhig – dann wagte er es, den Kopf auch ein wenig zu heben, um über die obere Kante der Krause auf das Gesicht niederblicken zu können. Auch diese Operation gelang. Halb schwebend hielt er so den Oberleib gehoben und sah auf die ruhigen schlummernden Züge einer jungen schönen Dame nieder. Ja sie war fast außerordentlich schön. Eine weiße sanfte Stirne, darunter die zwei großen geschlossenen Augenlider mit langen Wimpern, seine stolzen Wangen, vom Schlafe leicht gerötet. Seine Angst erreichte den höchsten Gipfel, aber gerade in ihr gab ihm der Himmel einen Gedanken ein, für den er ihm inbrünstig dankte, nämlich, sich leise emporzurichten, mit äußerster Vorsicht über sie hinaus zu steigen, seine Kleider zu nehmen und in den Garten zu entfliehen. »Wenn nur die Tür einmal offen ist«, dachte er, »zumachen wolle er sie dann gar nicht mehr.« Da das Atmen der Gestalt so sanft und gleichmäßig fort ging, machte er sich an sein Werk. Langsam und mit der gemessensten Behutsamkeit richtete er sich in die Lage empor, die er brauchte – schwebend prüfte er die Breite des Bettes – plötzlich geschah, da die Nacht doch kalt war, wieder durch das noch offene Fenster ein so eisiger Windzug, wie der, welcher ihn aufgeweckt haben mochte – die Gestalt mußte ihn auch verspürt haben; denn sie tat einen tiefen unterbrechenden Atemzug, und griff mit den Händen mechanisch nach der Decke, die sie über sich zog. Erwin war indessen, wie ein in die Luft geheftetes Marterbild, starr geblieben und gelobte sich innerlich heilig, wenn er je wieder in einem fremden Zimmer schlafe, stets das Bett von der Wand zu rücken, damit man an allen Seiten hinaus könne. Endlich atmete die Gestalt wieder gleichmäßig weiter, und er ging an die Fortsetzung seines Werkes. Aber ruhig muß ihr Schlaf nicht gewesen sein, oder dichtete es ihm seine Angst vor: jeden Augenblick regte sie sich, und jeden Augenblick mußte er inne halten.
Endlich war er so weit, daß nur noch das Aufstellen des einen Fußes auf die jenseitige Bettkante und der leichte Sprung nötig war, vor dem er sich, seiner Gelenkigkeit bewußt, gar nicht fürchtete. Aber eben, wie er so halb über sie gebeugt hing, wie einer, der die Schlafende entzückt bewundert, was aber bei ihm, weiß Gott, durchaus nicht der Fall war – eben in dem Augenblicke öffnete sie die Augen und starrte ihn, aber gleichsam mit erloschener Sehkraft an. In dieser Sekunde tat er das Törichteste, was er zu tun vermochte: er plumpte nämlich mit eins in seine vorige Lage zurück – im Momente belebten sich ihre Augen zum völligen Sehen, und mit dem Schrei: »Nichtswürdiger Mensch!« sprang sie aus dem Bette heraus, und »Rosa, Rosa?« rufend eilte sie gegen den Kamin – hier aber hielt sie plötzlich, wie von einem Schlage betäubt, an, tat einen gellenden Schrei, schlug ihre beiden Hände vor die Augen und stürzte auf die Knie nieder.
Erwin war eben so schnell aus dem Bette, warf seinen Rock über und wollte ihr beistehen. Aber er wußte nicht, wie es anzufangen sei, und sah bloß einen Augenblick hin, und da war es ihm, als zittere es innerhalb der weißen Hüllen heftig, wie wenn ein ganzer erschütterter Organismus bebt. In ungeschickter Güte nahm er sie bei dem Arme, aber sie riß ihn weg und rief leise: »Nur fort, fort!« Das war ihm das Liebste, er raffte alles, was sein war, zusammen, und näherte sich der Tür. Aber in dem Augenblicke fühlte er sich wieder ergriffen und hörte die Worte: »Verlassen Sie mich nicht – wie können Sie mich denn verlassen?« Diese Worte waren in jenem Tone gesagt, den man, wenn es erlaubt wäre, flüsterndes Schreien nennen könnte, und der Ton, ob er ihn gleich nie gehört hatte, kündete ihm ihre furchtbare Gemütsbewegung an. Die Seele hat einen Instinkt, die Leiden einer andern Seele zu fühlen – und dieser Instinkt gab ihm Geschicklichkeit zu handeln. Er wendete sich an der Türe um. »lch will Ihnen helfen«, sagte er, »ich will alles tun, was in der Kraft eines Menschen ist. Sie haben sich in dem Zimmer geirrt, ich will Sie auf das ihrige geleiten –« in dem Momente fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß er ja gestern den Nachtriegel vorgeschoben, er tat einen plötzlichen scheuen Blick auf die Tür – es war richtig – der Riegel steckte noch, wie er ihn vorgeschoben, – es war nun kein anderer Weg herein gewesen, als das offene Fenster. – Sie war angstvoll seinen Blicken gefolgt, und mit leisem Händeringen hatte sie die Worte geächzt: »Ach Gott! ach Gott!«
»Seien Sie ruhig, seien Sie ruhig!« sagte er.
»Ich kann nicht ruhig sein«, antwortete sie, »ich kann nicht ruhig sein – Mann! wer sind Sie denn?«
»Ich bin Erwin Alan, der Freund des Schloßherrn.«
»Ach es ist entsetzlich«, sagte sie, gleichsam, als hätte sie seine Worte ganz überhört, »es ist entsetzlich –« und händeringend ging sie im Zimmer herum. Dann, als wollte sie sich gewaltsam sammeln, setzte sie sich wieder auf den Stuhl, der noch vor dem Kamine stand, drückte ihr Gesicht verzweiflungsvoll in die Hände, und saß gebeugt da. Er stand neben ihr, aber da sich ihre Stellung Minute nach Minute nicht änderte, so nahm er sich wieder den Mut, sie anzureden. »Fassen Sie sich, fassen Sie sich.«
Sie sprang wieder auf, wollte vorwärts, wollte rückwärts, wußte selbst nicht, was sie wollte. Sie nahm ihn bei der Hand, und drückte sie so heftig, wie wenn man mit Angst etwas erflehen will, oder wie man einen Retter anfaßt. Er war auch ganz verloren, und wußte nicht was und wie; er nahm ihre andere Hand, er wäre bald vor ihr niedergekniet, wie man betet, aber dann erschien es ihm töricht – und er rief, fast so angstvoll geworden wie sie: »Ich will Ihnen ja helfen, aus Mitleid und Barmherzigkeit und Menschenliebe will ich Ihnen helfen, so sagen Sie nur, wie ich es kann?«
»Ach Gott, was werden Sie von mir denken, wenn ich es Ihnen sage – ich bin nun der Großmut eines Mannes verfallen – zum ersten Male meines Lebens bin ich abhängig – ich will keinen einzigen mehr verachten, o Gott, wenn du mir nur aus dieser Lage hilfst! – Aber Sie werden mich verraten, wenn ich es sage, und mich verlachen.«
»Aber nein – nein, so lange ein lebendiger Blutstropfen in mir ist, will ich Sie nicht verraten – so reden Sie nur.«
Sie schlug ihre Augen zweifelnd zu ihm auf, und sah die schönen, ehrlichen, von dem Monde beschienenen Züge.
»Hören Sie mich«, sagte sie leiser und gefaßter, »ich bin Rosalie Fargas. Kein Mensch weiß es, als mein Kammermädchen Rosa, daß ich im Vollmondscheine manchmal herumwandle. Ich weiß nicht, daß ich sonst ans dem Zimmer gegangen bin, aber heute – vielleicht sind breite Simse – Ihr offenes Fenster muß mich gelockt haben, da Ihr innerer Türriegel vor ist – und ach Gott, bei mir ist auch ein solcher von Innen vor.«
»Schläft Rosa in ihrem Zimmer?«
»Nein, daneben, aber die Tür zwischen beiden ist offen.« »Würden Sie auf dem Gange Ihre Zimmertür erkennen?«
»Ja.«
»So warten Sie ein wenig, ich will auf den Gang hinaustreten, und sehen, ob er frei ist, dann gehen Sie zu Ihrer Türe und klopfen leise, bis Sie Rosa hört und hineinläßt.«
»Ach da würde ich eher alle Schläfer dieses Schlosses mit meinem Pochen erwecken als Rosa; denn die schläft so fest, wie sonst kein Mensch, und auch, wenn sie erwachte, so würde sie, ehe sie öffnete, ein Gespräch anheben wollen, um sich zu überzeugen, daß ich es sei.«
»Sie haben Recht, es darf Sie kein Mensch erblicken, hier bleiben können Sie auch nicht, sonst vermißt Sie Rosa und macht Lärm; wo schläft denn Ihr Vater, ich will ihn wecken.«
»Ich weiß es nicht – aber es nützt auch nichts, weil Sie anklopfen müßten, und er von innen noch mehr Lärm machen würde.«
»Es nützt auch nichts – es nützt nichts«, sagte Erwin und sah sie ratlos an. Plötzlich aber rief er: »Ha, mir kommt ein Gedanke, der alles löset.« Hierbei war er an das Fenster gesprungen. Sie war ihm gefolgt. »Wo liegt Ihr Zimmer?«
»Es muß das über die Ecke hinüber sein, wo das Fenster offen ist; denn alle andern sind zu, wo wäre ich denn sonst heraus gekommen?«
»Ich springe hinüber«, sagte Erwin, »öffne leise Ihren Riegel und Sie gehen hinein.«
»Um Gotteswillen nein«, flüsterte sie bestürzt, »in diesem Abgrunde zerschmettern Sie sich – da kann ja kein Mensch hinüber.« Und in der Angst hatte sie ihn mit beiden Armen umschlungen, als springe er bereits hinaus.
»Ich kann es, ich kann es«, erwiderte er, »Ihnen zu Liebe kann ich es«, sagte er wiederholt, indem er die weichen Arme, von derlei er zum ersten Male in seinem Leben umschlungen war, aufzulösen strebte, und bemüht war, die sanfte Schulter, die er gefaßt, von sich wegzudrücken.
»Springen Sie nicht«, flehte sie, »ich stürbe, wenn Sie hinunter fielen.«
»Ich falle aber nicht hinunter«, sagte er, »ich falle nicht, lassen Sie mich doch, ich bin mehr geübt, als andere Männer, und kann viel, viel weiter springen, als dieser Raum beträgt.«
Zögernd versuchsweise ließ sie mit zurückgepreßtem Atem von ihm ab – in demselben Momente war seine dunkle Gestalt schon lautlos auf dem Fenstersimse, und im selben Momente auch schon nicht mehr, – mit einem schwachen Schrei war sie zurückgesunken, ihre Sinne flirrten, und sie kämpfte mit einer Ohnmacht, aber doch durch alles hindurch war sich ihre gespannte Seele bewußt geblieben, keinen schweren Fall gehört zu haben. Sie sprang wieder vor, und blickte hinaus, aber auch im andern Fenster war keine Gestalt mehr. Dafür hörte sie ganz leise draußen an dem Türschlosse die Klinke versuchen. Sie ging hin, öffnete den Riegel, und Erwin ging auf den Zehen herein.
»Gehen Sie nun schnell hinüber, die Tür steht offen«, sagte er, »nun ist alles gut.«
»Ewig, ewig dankbar«, flüsterte sie, indem sie auf das Innigste seine Hand nahm, »Sie verraten mich nicht.«
»Nein, nie«, antwortete er, und sie war hinaus.
Er schob, so leise, als es nur immer anging, seinen Riegel wieder vor. Dann ging er in die Mitte des Zimmers und atmete beruhigt auf. Drüben hörte er jetzt ein Fenster zumachen – und im Osten blühte ein schwaches, graues Licht auf, der Vorbote des bald kommenden Morgens. Er schloß nun auch sein Fenster und legte sich wieder nieder. Aber er konnte nicht schlafen, weil eine ganze Verwirrung in seinem Kopfe war. Nach einer Weile, da jeder Versuch einzuschlafen mißlungen war, zündete er sich die Kerzen an und nahm wieder das Liebesbuch, aber es war einmal zu toll, was drinnen stand. Er mußte es auch wieder weglegen. Später ging er an das Fenster, um zu sehen, ob das von Rosaliens Zimmer zu sei. Es war zu, und der Mond war jenseits der Dächer getreten, so daß jetzt alles vor ihm im Schatten lag, und nur der Kiesweg an den Ställen ein wenig beleuchtet schimmerte. Erst gegen Morgen, da es Aufstehens Zeit war, wäre er wieder eingeschlafen, wenn es nicht in den Gängen laut geworden und so hin und her gepoltert wäre, daß er endlich resigniert aufstand, sich ankleidete und zu Leander hinunterging. Dieser aber war bereits in dem Versammlungssaale, wo, wie ein Diener sagte, eben die Gesellschaft zum Frühstücke zusammenkomme. Erwin, einmal in dieses Haus gelangt, wollte nun mit seinem grauen Rocke trotzen und ging auch in den Saal, Leander trat augenblicklich auf ihn zu, führte ihn mit ausnehmender Auszeichnung gegen die Mitte des Saales hin und stellte ihn der ganzen Gesellschaft als Erwin Alan von Alansford, seinen ersten und teuersten Jugendfreund, vor, der, auf einer großen Fußreise begriffen, erst gestern in der Nachbarschaft seine Einladung zur Hochzeit nachgeschickt bekommen und ihm die Freude bereitet habe, ihn mit seiner Gegenwart zu überraschen. Bei einigen schwand, als der altbekannte Rittername genannt wurde, sogleich das Bedenken hinsichtlich des groben grauen Rockes weg, andere aber sahen nun gerade noch begieriger auf ihn hin, weil sich der Ruf des verrückten Güterherrn bereits bis zu ihren Ohren verbreitet hatte, und wieder andere hatten ein gemischtes Gefühl von Schadenfreude, weil sie doch die leise Verlegenheit gewahr wurden, die sich in Leanders Bewegungen zeigte.
Vorne am Fenster in einem tiefen breiten Rollsessel saß Rosalie Fargas und war heute besonders blaß.
Es erhoben sich Gespräche über dies und das. Man reichte Tee, Kaffee und anderes herum. Erwin ging zum Erstaunen aller zu einer Milchkanne hin, leerte sie beinahe ganz in ein Glas, tat etwas Wasser dazu und trank den Inhalt aus. Dann aß er ein Stück Milchbrot. In dem Augenblicke tat ein altes Damengesicht die unglückselige Frage: »Herr Baron, Sie haben ja im Zimmer der weißen Frau' geschlafen – ist sie Ihnen nicht erschienen?«
»Nein«, sagte Erwin kurz, ward aber rot.
»Das wäre mir an des Herrn Baron Stelle leid gewesen«, fragte ein alter Knasterbart, »ich war von jeher ein großer Liebhaber von Erscheinungen weißer Frauen.« Und belachte tüchtig seinen eigenen Witz.
»Ja wenn sie von Fleisch und Blut waren«, sagte ein anderer.
»Anderweitige, Herr Kamerad, gibt es ja nicht«, entgegnete der Knasterbart, »ich bin in aller Herren Ländern gewesen, und habe niemals derlei Schnarrwerk angetroffen.«
»Unbedingt sind diese Sachen doch nicht abzusprechen«, sagte ein Dritter.
Und ein Vierter leugnete, und ein Fünfter bejahte die Gespenster, und es entstand eine kurze Debatte über diesen Gegenstand, allein sie mußte aus dem Grunde hohl und unfruchtbar bleiben, weil kein einziger in der ganzen Gesellschaft war, dem je ein Gespenst erschienen wäre – sie lachten sich bereits gegenseitig aus, als mit großem Ernste und schüchtern sich der Haushofmeister geltend zu machen suchte und vortrat: »Wenn die gnädigen Herrschaften erlauben«, hub er an, »so könnte ich da Auskunft geben, ich habe ein Gespenst gesehen.«
»Ja das Weingespenst in der Flasche«, sagte der Knasterbart.
»Vergönnen, Herr Oberst«, erwiderte der Haushofmeister, »ein anderes Gespenst.«
»Nun also welches? wann?«
»Ich habe heute nacht die 'weiße Frau' des Hauses gesehen.«
»Die weiße Frau?!« riefen alle.
»Ja, heute um zwei Uhr nachts. Ich stand zeitlich auf, um die Teppiche im Speisesaale und dann die im Gartensalon legen zu lassen, wo das Vesperbrot sein wird – und da ging ich in den obern Gang, um Sebastian zu wecken – da sah ich mit diesen Augen – deutlich sah ich die 'weiße Frau' schweben. Sie kam aus des Herrn Baron Alan Zimmer und verschwand auf Nr. 23, wo Baronesse Fargas schliefen.«
Ein erschrocknes Schweigen herrschte nach diesen Worten im ganzen Saale. Manche Augen richteten sich auf Rosalien, die nun ihrerseits flammend rot im Sessel saß – hilflos gegen dieses zweideutige Schweigen.
In dem Augenblicke trat der Vater Rosaliens mit dem heitersten Gesichte ein und entschuldigte sich, daß er so spät erscheine, seit Jahren habe er nicht so gut und lange geschlafen.
»Das ist ein Glück für den«, flüsterte eine Stimme, »daß er so lange geschlafen.«
Rosalie wiegte sich vorne in ihrem Sessel, um gleichgültig zu scheinen. Leander schickte den Haushofmeister mit einem Geschäfte ab und verlangte den Rapport darüber nach einer halben Stunde im Schreibzimmer – einige machten sich mit Kaffeegeschirren zu tun, andere fragten nach dem Barorneterstande – die Damen bewunderten da ein Armband, dort ein Dosengemälde – der alte Fargas verlangte in seiner jovialen Weise eine oder etliche Flaschen in den blauen Gartenpavilion, es würden sich schon Gesellen zu ihm finden, die ein solches Frühstück jedem andern vorzögen – und so war das ganze Geistergespräch in andere gleichgültige Dinge übergegangen. Auch zerstreute sich die Gesellschaft bald, um die Zeit bis zur Vermählung durch Herumschlendern, Putzen, oder, wie der alte Ritter, durch Trinken hin zu bringen. Leander hatte seinen Staatswagen mit sechs milchweißen Pferden bespannen lassen, urn in eigener Person Evelinen entgegen zu fahren, die um zwei Uhr mit ihrer Begleitung in Schloß Turun eintreffen sollte. Manche andere Wagen hatten sich angeschlossen. Auch Reiter waren fortgesprengt, um der schönen neuen Herrin bei ihrem Einzuge das Geleite zu geben. Dennoch war es im Schlosse, als sei um keinen einzigen weniger; auf jeder Treppe, in jedem Gange, auf jedem Gartenplatze und in jedem Hofe begegnete Erwin Einzelnen und Gruppen. Die aus der nächsten Nachbarschaft kamen erst heute an, und die die älteren Gäste erzählten ihnen heimliche Geschichten.
Erwin ging in sein Zimmer, dann ging er in den Garten, dann besah er die Kirche des Schlosses, die schon prachtvoll dekoriert war, dann ging er wieder in sein Zimmer – und dann wieder durch die Gänge – eine unbestimmte Wut kochte in ihm. Man hatte, durch die feine Sitte höherer Stände geleitet und aus Hochachtung vor dem Wirte des Hauses, nicht mit dem leisesten Worte, nicht mit der mindesten beziehenden Miene mehr an die beim Frühstücke erzählte Geschichte erinnert, aber dafür wehte durch das ganze Schloß jenes feine, unsichtbare, ungreifbare Gift schnöder Meinung, das sich in naturrohe Herzen, wie Erwins, fürchterlicher einfrißt als Schwerter und Kanonen. Es wisperte hier – es fisperte dort – und nirgends war etwas. Und alle hatten sie lächelnde Gesichter, und alle waren sie ausnehmend höflich – und als gegen Mittag, da eben die größte Hitze über dem Schlosse stand, ein unsäglich freundlicher Herr die Mitteltreppe hinan stieg und im ganzen Gesichte über und über glänzend Erwin grüßte, so packte ihn dieser beim Kragen und schleuderte ihn die einigen Stufen abwärts, die er gekommen, daß ihm Hut und Stab entflogen – und da Erwin dies getan, so war ihm unendlich leichter, und er war zum ersten Male in diesem Schlosse von Grund aus mit sich zufrieden. Der Herr hatte unten Hut und Stock aufgerafft und nur noch gesagt: »Wir werden uns sehen, Herr Baron, wir werden uns sehen«, und dann war er verschwunden.
Erwin blieb auf der Treppe stehen. Von Rosalien wußte er gar nichts. Er suchte sie nicht, und fragen durfte er nicht. Hätte er aber gewußt, was sich kurz vorher mit ihr zugetragen und die Heiterkeit des Schlosses nicht wenig vermehrt hatte, er würde sich über seine Tat, sei's nun an einem Schuldigen oder Unschuldigen, noch weit mehr erfreut haben, als er ohnehin tat. Man hatte nämlich Rosalien im Garten im dicksten Gebüsche ihrem Vater an der Brust liegen gesehen, worauf der Ritter mit donnernder Stimme nach seinen Leuten und Pferden rief und zu satteln befahl; denn er wolle augenblicklich mit seiner Tochter nach Hause reiten. Dieses Aufsehen drückte der ganzen Geschichte erst die Krone auf.
Erwin stand noch auf der Treppe, als schon drei Herren zu ihm kamen und ihm eine Einladung auf Degen brachten, augenblicklich zu vollziehen auf dem Fasanenplatz hinter dem Fichtengehege des Parkes.
»Ich komme schon«, rief er mit leuchtenden Augen, »laßt nur Schwerter hinbringen, denn ich habe keines – ich kämpfe mit dir auch, und mit dir auch, und sagt nur dem Affen, das ist mir eben recht.«
Die andern verbeugten sich ruhig und bedauerten den Menschen, der sich so bloß gebe. Erwin aber begab sich sogleich auf den Weg zu dem Fasanenplatze, der ihm heute morgens bekannt geworden war. Seine Wanderung führte ihn an dem blauen Gartenpavillon vorüber, wo noch die Flaschen standen, an denen der alte Fargas gefrühstückt hatte. Erwin trat hinein, schenkte sich von dem Reste des Weines ein, und stürzte zwei Gläser hinunter. Dann begab er sich auf den Fasanenplatz. Die andern kamen auch, man maß die Degen und machte Stellung.
Die Sache war aber im Schlosse nicht geheim geblieben, man sprach von Beleidigung und Zweikampf, und eben da Rosalie schon zu Pferde saß, um ihre Schmach nach Hause zu flüchten, flüsterte ihr der Stallmeister ihres Vaters die ganze Geschichte zu – auch der Fasanenplatz war genannt worden. Ohne sich im geringsten zu bedenken, flog sie mit ihrem Fuchse durch das Bogengitter auf die Kieswege des Parkes hinaus, dem Fasanenplatze zu. Der Vater und der Reitknecht mit dem gesattelten Handpferde, das er hielt, folgten ihr. Da sie ankam und mit fliegendem Schleier auf den Sandplatz hervorlagte, traf sie den Mann, der ihr heute nacht so bedeutend geworden war, seinem Gegner gegenüber stehen und ein wenig veratmen. Er blutete aus der Wange, der andere am rechten Arme. Erwins Gesicht flammte fieberisch von dem genossenen ungewohnten Weine, und von dem eben so ungewohnten tiefen Zorne – die andern standen etwas verdutzt da: sie hatten nicht geahnt, was Erwin sei, nach den Verwundungen hatten sie den Kampf beenden wollen, aber er gab bloß zehn Sekunden Atmungsfrist, nahm den Degen, wie der andere, links, und verlangte Fortsetzung, bis einer tot sei. Wie er Rosalie vorsprengen, vom Pferde steigen und zwischen sie treten sah, wischte er sich mit seinem grauen Rockärmel das Blut von der Wange, als schäme er sich dessen, und sah auf sie hin. In dem nämlichen Augenblick stürzte auch Leander, der eben mit Evelinen auf Turun angelangt war, totenbleich herbei, indem nur er allein die Kampfkraft Erwins kannte und das Schrecklichste fürchtete. Auch andere, Männer und Frauen, waren herzugekommen, da sich die Sache mit furchtbarer Schnelligkeit verbreitet hatte.
»Erwin, Erwin«, rief Leander, »warum hast du mir das getan?«
»O, du weißt nicht, Leander«, erwiderte der andere, der vor der Menge vergebens mit seinem Zorne kämpfte, wie ein Knabe, der ihn nicht beschwichtigen kann, »du weißt nicht – mit Lächeln, mit Blicken und mit süßen Mienen – o da stechen sie – aber siehe, ein Helote führt das Schwert besser als diese.« – Dann gegen Rosalie gewendet, fuhr er fort: »Fräulein, es soll Sie kein Mensch mehr auf dieser Welt, so groß sie ist, beleidigen dürfen. Werden Sie mein Weib – ich habe Güter und Wälder, ich werde Ihnen alles geben, was Sie verlangen – aber wenn dann nur einer wagt, mit seiner kleinsten Faser zu zucken, so will ich nach ihrer lächerlichen Sitte Mann nach Mann mit ihnen kämpfen, bis keiner eine Faser hat, die er regen könnte.«
Tränen der Scham und Wut wären ihm bald hervorgebrochen, als er dieses gesagt, weil er den ganzen Kreis auf sich blicken und sich bestaunen fühlte. Rosalie stand glühend, betäubt und verwirrt da, eine solche Werbung mochte noch nicht vorgekommen sein.
Aber ihr Vater trat in diesem Momente hervor, und sagte ruhig, wie man es an dem heftigen Manne gar nicht gewohnt war: »Für die Ehre meiner Tochter bin ich da – laßt das jetzt weg – indessen seid bedankt, edler Mann-«
»Ich bitt' Euch, Freunde, Nachbarn«, fiel Leander ein, »tut mir die Liebe und Freundschaft, zerstört mir den schönsten Tag meines Lebens nicht- es kann nur ein leichtes Mißverständnis sein – es wird sich alles lösen. Lasset uns gegenseitig die Hände reichen und uns heiter zu dem bevorstehenden Feste rüsten. Erwin, komm, vergiß, was dir heute bei mir zugestoßen.«
»Halte Hochzeit, Leander«, entgegnete Erwin, »aber lasse mich fortziehen – ich kann nicht bleiben, weil mich deine Luft erstickt – ich will mit dem Fräulein auf Schloß Fargas; sie mag mich nun als Bräutigam annehmen, oder nicht, weil sie keinen Mann will, woran sie recht tut: so wird sie mich doch heute beherbergen, und dann, ehe ich nach Texas ziehe, soll noch jeder Rechenschaft geben, der sie zu beleidigen wagt.«
Und in seiner Verwirrung bestieg er das ledige Pferd, welches der Reitknecht hielt, und ritt davon. Draußen auf der Straße wartete er, bis der Ritter Fargas mit Rosalien und seinen Leuten kam, dann schloß er sich an und ritt von dem lärmenden Schlosse weg nach Fargas. –
Auf Turun war verstimmte Hochzeit gewesen. Auf Fargas kamen des andern Tags von allen männlichen Gästen des Festes Briefe an, in denen sich die Schreiber als Rächer anboten, wenn jemand etwas gegen Rosalien habe. Der Ritter danke kalt, und die Sache war aus.
Das Ränzchen wurde bei dem kleinen Wirte in zwei Tagen auch nicht geholt, dafür schrieb Erwin einen zornigen Brief an seinen Oberverwalter, worin die Worte standen: »Ich bin von dem Wege nach Havre durch Zufall abgewichen, habe gezankt, habe mich betrunken, duelliert und verlobt. Schicke Deine Briefe nach Schloß Fargas.«
Endlich wurde das Ränzchen doch geholt, aber die Reise nach Havre bis zum nächsten Frühling aufgeschoben. Nächsten Frühling aber war Erwin mit Rosalie vermählt. Auf seiner Hochzeit war Leander, und viele der damaligen Gäste gewesen. Erwin erzählte nun mit Erlaubnis seiner Gemahlin die Geschichte jener verhängnisvollen Nacht, und alles war weit fröhlicher und heiterer als damals.
Auf Erwins Schlössern war nun Wein und Braten, waren Wägen und Pferde daran, der spartanische Bart war von seinem Gesichte, Rosalie, die Unvermählbare, betete ihren Gatten an, dies alles hat der ganz kleine Zufall verschuldet, dem Erwin damals gestattet hatte, ein winziges Loch in sein System zu bohren – dies und noch etwas, flüsterten die bösen Zungen, daß nämlich Erwin ein ganz klein wenig unter dem Pantoffel stehe.
So endete die Geschichte der drei Schicksalsschmiede, sie sind sehr gute Freunde und schmieden bis auf den heutigen Tag, nur daß das Eisen, welches sie nehmen, nicht mehr so spröde ist, sondern sie lassen den Zufall gelten, aber sich nicht von ihm beherrschen.
Als Note muß zum Schlusse noch beigefügt werden, daß Erwin auf seinem Wohnschlosse zwar jedes Fensterchen vergittern ließ, daß sich aber nie mehr der Fall ereignete, daß Rosalie im Vollscheine ihr Bett verlassen hätte. Es mußte damals nur heimtückische Rache des Zufalls gewesen sein, dessen Reiche sie getrotzt hatte.