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Des Kaisers Leibroß
Erst nach Zögern entschließe ich mich, nachstehende Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zu übergeben.
In einer Zeit, da flache Hirne entthronter Landesväter, Generäle, Diplomaten und Schlimmerer [die] Welt mit Erinnerungen an eine an und für sich peinliche Zeit langweilen, scheint es ein starkes Stück, das, was ein Pferd aus gleicher Epoche zu sagen weiß, hinzuzufügen; erneute Lektüre der mir anvertrauten Mitteilungen überzeugte mich aber stets mehr, es wohnten Libussas, der berühmten Schimmelstute Enthüllungen wesentlichere Wahrheiten bei, und sie seien dazu stellenweise viel amüsanter als selbst weit und breit geschätzte Memoiren aus unserem Jahrhundert.
Am ersten Januar 1921 empfing ich erstmals Herrn Anton W. Müller, der mir mitteilte, gleich, als des entthronten Kaiser Wilhelms II. Marstall aufgelöst wurde, habe er beschlossen, des Herrschers langjährig bevorzugtes Leibroß Libussa durch Kauf an sich zu bringen und keine Müh gescheut, durch gleiches Verfahren, das bei den Elberfelder klugen Pferden, dem Hund Rolf der Frau Möckel erfolgreich gewesen sei, und das er eingehend studiert habe, aus der Stute die fraglos wichtigen, hochoffiziösen und intimen Aufschlüsse aus Zeiten ihres Umgangs mit der Person seiner Majestät und anderer hochgestellter Personen herauszuziehen, die insbesondere von da ab orientieren könnten, wo die Bismarckschen Gedanken und Erinnerungen aufhören.
Er schilderte, wie über Erwarten schwer es war, Libussa, die ein außerordentliches Alter erreicht hatte, mit Anfangsgründen des Denk- und Sprachunterrichts noch bekannt zu machen, und wie es nur überirdischer Willenskraft und eisernem Fleiß gelang, des Pferdes Hemmungen mählich zu lockern, es denken, sich erinnern und auf bekannte Art durch Klopfen der Vorderhufe zögernd und schließlich flüssig sprechen zu machen.
Obwohl ich versicherte, es könnte, was er in schließlich methodischen Unterhaltungen mit Libussa zu Papier gebracht hatte, durch literarische Form auch verwöhnte Leser befriedigen, bestand er in beteuerter Überzeugung, es handle sich um einen unersetzlichen Zeitspiegel, ein Standard work der Epoche, darauf, es müsse ihm durch mich Schmiß und ebenbürtige Aufmachung in deutscher Sprache gegeben werden, die Dauer verspreche. Zugleich sei mein Name Gewähr für weiteste Verbreitung der sicher riesiges Aufsehen machenden Enthüllungen.
Umsonst wies ich darauf hin, gerade von mir Veröffentlichtes verfalle von vielen sonst lahmen Stellen raffinierter Sabotage seitens der Verleger, der Buchhändler, Parteipresse und des blöden Publikums; mit solchem Feuer bewies er die entgegengesetzte Behauptung meiner Popularität und täglich wachsenden Einflusses auf öffentliche Meinung, daß ich beschämt, und ich gestehe, geschmeichelt, dem Drängen nachgab, mit leichter Retouche über Libussas Aufzeichnungen fuhr und sie als Herausgeber mit meinem Namen decke.
Doch vergesse der Leser keinen Augenblick: ist das Folgende auch durch meines Menschenhirns Kontrolle gegangen, und zu perfekten Sätzen geworden, es sich durchaus als pferdhafte Mentalität äußert, und wolle daher manchem auf den nächsten Seiten Geäußertem gegenüber in anbetracht dieses Umstandes voll verständnisvoller Rücksicht sein.
Libussa begann am ersten Tag erreichter sprachlicher Fertigkeiten zu erzählen:
Im November 1897 wurde ich am Todestag Zar Alexanders III. in Rußland in kleinem Landgestüt eines Wolgadepartements geboren. Das europäische Publikum hat von meiner Jugend aus Tolstois Buch »Leinwandmesser«, in dem Leben von uns russischen Pferden naturgetreu und mit Talent in menschliche Horizonte übersetzt ist, die beste Vorstellung.
So recht die quikke Stute in der Art jener sprudelnden, vom Dichter in seiner Erzählung geschilderten war ich, kokett und auf fleckenloses weißes Fell stolzer als auf makellose Herkunft aus uraltem Vollblutstammbaum. In himmlischem Leben unter Altersgenossen, saftiger Grasnatur, verwöhnt und gehätschelt, hatte ich ein paar blöde, darum nicht minder süße Flirts. Träumte Traum wie Glas und hatte keine Ahnung, zu was Außerordentlichem mich Schicksal bestimmt hatte.
Im Bewußtsein leiblicher Reize war ich ohne Sorge, da ich erwartete, alles werde sich mit mir von selbst machen, und soll ich von einer Charaktereigenschaft sprechen, dann von meiner eigensinnigen Keuschheit. Ja, Herr, ich haßte, was nur von weitem nach Libertinage roch und weiß, es gab während meiner ersten Lebensjahre im Gestüt den einzigen drastischen Auftritt, als ein auch hochgezogener, prachtvoller schwarzer Hengst mit Augen wie von Delacroix, den ich gern sah, sich auf einem Morgenspaziergang so unerbietig nahte, daß mein kleines Herz und mein Gewissen in Aufruhr standen.
Beide Hinterhufe feuerte ich ihm so keß in die Flanken, daß sein Leben in Gefahr war; was mich angesichts der schnöden Tat keinen Augenblick berührte.
Ich weiß nicht, was Namenloses aus mir geworden wäre, hätte man mich nicht eines Tages in einen Eisenbahnwagen geladen und nach Moskau gefrachtet, wo ich mich bald in einer Box des kaiserlichen Marstalls fand.
Hier wars mit aller Freiheit brüsk vorbei. Ihnen ein Bild zu geben, vergleiche ich meinen neuen Zustand mit dem junger Mädchen in vornehmen europäischen Pensionaten. Von früh bis spät gab es Unterricht, Dressur auf Begriffe tadelloser Führung und peinlicher Etikette. Unbefangenheit, Nichtwissen oder Sotun, mit einem Wort, die ungezügelte Visionslust machte gesellschaftlicher Voreingenommenheit in Trense und Kandare Platz, und am Leitseil lernte ich, was schließlich sich schickte und nicht. Diese Zucht erstreckte sich bis auf meiner natürlichen Triebe Unterdrückung, wobei ich zugebe, manche Äußerlichkeit der jungen Stute war bisher nicht konvenabel gewesen; denn wir hatten schlechte Manieren, die mit denen der pubertätsreifen männlichen Jugend wetteiferten.
Damit wars gründlich aus. Deutsch und englisch trabte ich in Vollendung, galoppierte rechts und links auf Anhieb an und sprang so weit und zierlich gestreckt, daß es den Beschauern porzellanene Lust war. Hatte vorbildliche Kopf- und Rumpfhaltung. Kurz: wurde eines jeden Reiters würdiges Reitpferd.
So war äußerer Umschwung; der innere, das anstelle Mannigfaltigkeit des an keine Wirklichkeit gebundenen Einbildens und Vergrößerns, geordnetes Schauen und Einprägen konkreter und begrenzter Welt trat. Früher im Umgang mit triebhaften Kräften der Natur, nahm ich aus immer wechselnden Panoramen nur Schein der Oberfläche mit. Jetzt in stets gleiche Umgebung, die musterhafter Ordnung huldigte, gefesselt, malte sich ein Stall, eine Reitbahn und der von ihren Insassen gewollte Geist als Stil in meine Hirnrinde.
Langsam begriff ich, noch nicht unter richtigem Namen, jenes auf Erden überragende Prinzip, das später als »Politik« auch in meinem Leben die entscheidende Rolle spielte, und merkte, ohne sie geschah von keiner Seite der Menschen oder Mittiere bis in belanglose Kleinigkeiten das Geringste. Politik war auch unseres Stalls Angelpunkt. Keiner lebte eigner bunter, doch sehr präziser Erwartung der anderen, der er gefallen wollte, sollte und mußte! Hélas!
Diese Erkenntnis bedeutet für ein Pferd bei weitem mehr als für den Menschen, der nur von seinesgleichen abhängig, Herr der Welt ist, während wir, ich weiß nicht aus welchen Gründen, neben Abhängigkeit von unsereins, ihm noch auf Gnade und Ungnade geliefert sind.
Der Sattel wurde meiner Leibeigenschaft Zeichen. Als sich erste Männerschenkel um meine Hüften wölbten, war es nicht mit meiner geschlechtlichen, doch kreatürlichen Freiheit aus; ich begriff, daß Leben Demut und Gehorchen ist.
Pfeifender Hieb, mit Wollust auf ein Körperteil geknallt, für das mir bis dahin zärtlichste Berührung zu grob erschienen war, zertrümmerte Träume aristokratischer Jugend und entjungferte mich in einem Schrei, den ich nach innen drängte in brutalerem als erotischem Sinn.
Denken Sie, wie jäh meines Lebens Sinn geändert hatte: pure Romantik von jäher Zielstrebigkeit verdrängt! Mochte anfangs mancher von Nachbarn aufgefangene Klatsch an meinem Ohr verklingen, schließlich hörte ich aus Langerweile hin und erfuhr historische Umstände, in die ich geboren war.
Rußland, das unter des jetzigen Zaren Nikolaus II. liberalem Großvater Alexander II. scheinheiligen Anlauf zu gesetzgeberischer Verwaltung, an der Volk teilhaben sollte, genommen hatte, war unter Alexander III. in völlige Abhängigkeit von einem Selbstherrscher zurückgefallen, und es wurde erstes großes Ereignis, das im Stall mit Leidenschaft von Box zu Box bewiehert wurde, als Nikolaus Deputationen des Adels und der Landschaften erklärte, er halte am Prinzip der Selbstherrschaft wie sein hochseliger Vater felsenfest.
Mit Recht schlossen des kaiserlichen Marstalls Insassen, des Zaren autokratisches Bekenntnis werde in schärferer Zucht sich bis auf sie erstrecken, und ihre diversen Reiter aus kaiserlicher Umgebung würden bald hitzigere Mütchen an ihnen kühlen.
Diese Befürchtungen wurden aus Erzählungen des dritten Stallmeisters Wladimir Gregorowitsch wahrscheinlich, der einem Bekannten im Mittelgang mit Gesten beschrieb, wie noch am gleichen Tag der Erklärung des Zaren, einer seiner Freunde, der Polizeiinspektor Charka, zum erstenmal seit Jahren einer blonden Studentin, die wegen revolutionärer Umtriebe verdächtig war, in seiner Gegenwart den blanken Hintern bis in die Knie so lange vollgetrommelt habe, bis sie bewußtlos und blutend zu seiner weiteren Verfügung vom Stengel gestürzt sei.
Ich weiß, wie sich bei diesen Worten Fell auf meiner eigenen Kruppe in schmerzlichem Mitgefühl spannte, meine Nachbarn peinlich berührt bei Seite schielten und mühsam keuchten. Am auffallendsten aber war auf einen englischen Wallach der Eindruck gewesen, den seine Majestät mit Vorliebe ritt, und an dem ich bei steifer Hochnäsigkeit und dünkelhafter Unnahbarkeit bis jetzt kein Zeichen Teilnahme für das, was um ihn vorging, bemerkt hatte; dieser Snob bebte in langen Zuckungen überschlanker Flanken.
Nur schüchtern regte sich neben diesem jetzt wichtigsten Bedenken gang und gäber Hofklatsch, der mir bis dahin jeden Tag erzählt hatte, mit welchem neuen Liebhaber aus Lakaien und Kutschervolk, die erste Palastdame, Fürstin Dolgoruka, trotz vorgerückten Alters und der Spione, die des Synods Oberprokureur Pobjedonoszew, um sie hielt, sich belustigte, welcher Schreiber anonymer Skandalbriefe gefaßt, welche Verschwörung gegen das Leben des Zaren entdeckt sei, und wen die Majestäten beim letzten Abendkonzert ausgezeichnet hatten.
Es ist natürlich, durch so viel Gerücht gereizt, war ich gierig, die Urheber des Lebens um mich, den Zaren und die Zarewna, von Angesicht zu Angesicht zu sehen; ein Wunsch, der bald erfüllt wurde, als eines Morgens das Herrscherpaar höchstselbst zum Stall kam, ein neues Reitpferd für die Kaiserin zu finden.
An meine Box gelangt, machte man Halt, und ich hörte die stark nach Blumenrüchen duftende Alexandra Feodorowna, die Kaiserin, eine geborene Prinzessin Hessen, sagen: »Welch hübscher Schimmel! Ei!«
Ich wurde hervorgezogen, gesattelt und in Sonne zur offenen Reitbahn geführt, wo die Selbstherrscherin in Ulanenuniform auf mich aufsaß, und ich zu traben begann. Der Zar aber mitten im ovalen Raum, stand und schnalzte unter dem Spitzbart anfeuernd mit der Zunge. Ein dünnes, kleines, im Gesicht gepickeltes Kerlchen.
Leicht wog die Kaiserin und ritt schlecht. Ich vermutete, sie habe einen Schaden im Unterleib, da sie durch Verschieben des Gesäßes den Knicks im Trab in seinem Druck auf ihren Bauch jedesmal abschwächte. Ich begann zu bedauern, daß sie sich aus Repräsentationsrücksichten zum Reiten bewegen ließ und gab meinem Gang ein gefällig Gleitendes, das ihr zu behagen schien, doch des Kaisers Mißfallen erregte, der mir mit langer Peitsche um die Beine schmitzte und Flüche knallte. Unwillkürlich flog ich vor Schmerz hoch und setzte mich mit Ruck zum Boden nieder, wobei ich hörte, wie die Zarewna aufschrie und in Schenkeln zuckte. Arme kranke Frau!
Nach diesem mißglückten Anfang, der im Stall zu meinem Schaden besprochen wurde, schien es mit jeder Laufbahn vorbei. Acht Tage später aber wurde ich eines Morgens aufgezäumt, und während ich vor Glück kicherte, von neuem ihrer Majestät vorgeführt, die mir beim Aufsitz mit Klatschen am Hals bezeugte, sie habe meine Haltung vom letztenmal begriffen und richtig eingeschätzt.
Ich ward dieser Frau aus weiblichem Mitgefühl zugetan. Bald wußte ich, wie ich ihr jeweils meinen Rücken am besten bot, und fiel ich vom Trab in Galopp, vom Galopp in Trab und in Schritt, gab ich ihr durch Kontraktion meiner Rückenmuskeln Gelegenheit, allen Druck von Weichteilen auf Gesäßknochen und ihren Steiß zu verteilen. So konnte sie mich noch in ersten Monaten ihrer Schwangerschaft mit dem Zarewitsch reiten.
Das war, nehme ich alles in allem, meines Lebens harmlos glücklichste Zeit; die Reiterin die sympathischste, die ich gehabt habe. Meine Stellung als Leibpferd gab mir Rang und Atmosphäre, blieb ich mit der Monarchin allein, war unter Geschlechtsgenossinnen, die sich begriffen, sublim. Aus ihren Seufzern entnahm ich indes, auch diese Frau auf Menschheitsgipfeln war nicht glücklich, und das gab mir in eigenen Lebens Peinlichkeiten Halt.
Als sie einmal auf weitem Ausritt Gefolge hinter sich gelassen hatten, kamen die Majestäten auf des Nadelgelds der Kaiserin Verwendung zu sprechen und Nikolaus behauptete, sie verschwende es sinnlos. Erregung stieg, ein Wort gab das schärfere andere, und endlich ließ der Selbstherrscher, seiner Frau zuzurufen, sich hinreißen: »Komm nur nach Haus du Aas! Ich werde dir gehörig in den Bauch treten!«
In den kaiserlichen Bauch, der den werdenden Thronfolger trug! Mir schwand viel Illusion fürs Leben. Wie mir im Sinn unserer tief getroffenen weiblichen Würde mit ihr zu Mut war!
Der Gipfel in gleicher Hinsicht ragt in dieselbe Zeit:
Den drei Beschälern des kaiserlichen Marstalls wurden die durch sie zu deckenden Stuten bestimmt. Ich liebte keinen, hatte für Pjotr ein Faible, Puschkin war mir gleichgültig, und ich haßte mit allen Trieben den alternden Falben Muschik. Am Vorabend des Springtags raste ich in Hoffnungen und Ängsten junger weiblicher Kreatur, triefte Schweiß, als man mich am Morgen zum Akt zog.
In die betreffende Box gekommen, erbleichte ich, soweit mein schneeiges Weiß es erlaubte, als ich mich Muschik, gebäumt in allen Feuern seines Geschlechts gegenübersah.
Ich machte schlapp. Was mir wie anderen verkauften Bräuten nichts half. Überwältigt, wurde ich riesig geschändet. Doch verhielt ich das Innerste in Abscheukrämpfen und blieb güst.
Ich habe nie gefohlt und bereue es nicht. Noch dreimal warf man mich dem geilen Muschik hin, andre Hengste mußten sich an mir versuchen, doch fest stand mein schon entschlossener Wille, keine neue leidende Kreatur in diese Welt zu setzen, und ich blieb unfruchtbar.
Die Zarin, im Kampf schwerer Verantwortung zwischen den nach menschenwürdigem Dasein heulenden verfolgten Untertanen und einem sich immer autokratischer führenden Herrscher, der Todes- und Verbannungsurteile, Zigarette im Maul, Walzerchen pfeifend zu tausenden mit roter Tinte und Schnörkeln zeichnete, geriet, dem Chaos um sie nicht annähernd gewachsen, in Abhängigkeit von einem Mystizismus, den ihr die Diener der orthodoxen Kirche in stets stärkeren Dosen reichten, und von dem auch ich mein Teil bekam.
Ich spürte, wie sie sich anfangs mit Kraft gegen die lähmende Hypnose wehrte, doch ich gestehe: was man schließlich bot, war so betäubend, daß aller Widerstand brach. Wieviel Ritte in Waldklöster, in denen sich Wunder auf Wunder vor unseren Augen begab, Potemkinwunder wie ich später begriff, fanden statt! Schwerkranke Kinder, die auf Anhauch der Herrscherin genasen, Tote, die aufstanden, als sie die kaiserliche Hand auf sich fühlten, Lahme, Taube, Blinde endlich, die mit Alexandra Fedorownas Urin benetzt, niesten und sich wie Frischlinge geheilt tummelten. Hundert Beweise fast göttlicher Allmacht, die sie im Glauben an ihre Unfehlbarkeit stärkten.
Ich selbst, trotz Argwohns gegen Aberglauben der Menschen, geriet in Augenblicken außer mich, trug sich inmitten fackelnder Beleuchtung, klagender Chöre, donnernder Orgeln, Ächzens und Stöhnens das Unfaßbare zu. Dann standen beim belfernden Atem halluzinierter Menschen, zu der Zarin an meinen Flanken schütternden Schenkeln meine Nüstern wie aufgerissenes Brautbett dem Wunder offen, und sie und ich zuckten in Schauern frommer Bewußtlosigkeit.
Selbst als christkatholisches Menschenkind würde ich das metaphysische Element nicht stärker gespürt haben, das alle Vernunft in Rußland erschlug und sich zu endgiltiger Verblödung der Jugend bereits der Schulen bemächtigt hatte.
Fern vom Wunder, hätte ich im Besitz meines heutigen Sprachvermögens manchen Zweifel äußern können, so aber war ich nicht fähig, dem aberwitzigen Schwatz der Fürstin Dolgoruka auf Morgenritten zu widersprechen, die durch Erzählungen von Träumen, die sie hinsichtlich der Zarin überirdischer Bedeutung gehabt haben wollte, die Herrscherin in noch höhere Extasen der Selbstvergottung setzte und sie einmal zu wirklichem Schaum am Maul brachte. Hoch auf aber bäumte ich unter der kaiserlichen Reiterin, als endlich die Fürstin überzeugen wollte, in anbetracht dessen, was ich, Libussa, an Metaphysischem mitangesehn, in wie engen Kontakt ich mit geheimen Wundern der griechischen Kirche gekommen sei, solle man ernstlich bedenken, ob es kein Mittel gäbe, mich durch Taufe in der Gläubigen Gemeinschaft aufzunehmen. So viehisch und aller Dressur zum Trotz benahm ich mich da minutenlang, daß die Monarchin atemlos froh war, heiler Haut von meinem Rücken zu kommen und mir für einige Zeit den Laufpaß gab.
Das hätte gefehlt! Haben wir Haustiere schon keinen Rest äußerer Freiheit mehr, wird man uns unser süßes seelisches Chaos nie entreißen und durch Zwänge ersetzen können! Mit einem Schlag war ich von mystischem Spuk befreit, und Freiheitsdrang erster Jugend besaß mich wieder. Ich rauchte vor Aufruhr, sah aus wie ein flammendes Fanal, und des russischen Volks Schicksal, das mir so lange fremd gewesen war, griff mit scharfen Krallen bis in mein Herz.
Schaudernd hörte ich von der Einführung der Inquisition und Folter unter Leitung des heiligen Synods und, welchen Martern die ersten von fanatischer Geistlichkeit erwischten Opfern anheimfielen! Während meine Stallgenossen gleich dem gesamten Menschenvolk um sie her sich immer mehr in sich selbst duckten, breitete in meiner Seele weiter und heiterer Entschlossenheit sich aus, aus dieser, als einziger Scheiterhaufen pestenden russischen Luft zu entkommen oder mir den Schädel am erstbesten harten Gegenstand zu zerschmettern.
So viel Haß und Verachtung gelang, in meine Blicke auch für die Kaiserin zu stellen, daß sie mir ein anderes Reittier vorzog, und ich im Stall ein Weilchen Ferien hatte, in dem sich das Erlebte verdichtete und mir für alle Zukunft die kritischste und melancholischste Einstellung gab.
Über meinen ferneren Aufenthalt in Rußland füge ich nichts hinzu. Was ich in anderen Ländern später von meiner Heimat, Tolstoi und allen unter seiner geistigen Führung unternommenen Versuchen der Aufklärung erfuhr, konnte mir für Osteuropas Zukunft keine Hoffnung geben, da ich zu scharf mit eigenen Augen gesehen hatte, wie weit über das für Pferde erträgliche Maß dieses Teils der Menschheit seelische Umnachtung in Jahrhunderten schon unheilbar fortgeschritten war.
Kurz: anläßlich offiziellen Besuchs des Prinzen Eduard von Wales mit großem Gefolge am russischen Hof, wurde ich in Moskau auf glänzender Parade des Gardekorps von dem illustren Gast geritten, und ihm auf sein Lob hin vom Selbstherrscher der Reußen zum Geschenk gemacht.
Mit dieser Stunde trat so krasse Änderung meiner Horizonte ein, daß ich bisherige Erfahrung als für Gegenwart ungültig vergessen durfte und wirklich wie ein Frischgeborenes in neue Welt sprang.
Natürlich weiß ich nicht, was Fachhistoriker und Politiker über den Prinzen, nachmaligen König Eduard VII. von Großbritannien und Irland, Kaiser von Indien der Nachwelt überliefert haben; darf aber behaupten, Ungeniertheit, in der er mit mir als der qualité négligeable eines Schimmels verkehrte, war nicht zu übertreffen, und vieles, was ich zu berichten weiß, muß neu und unvergleichlich intim sein.
War er mit einem Wort ein Mensch sans gêne, wuchs seine Ungebundenheit, mit dem Tier allein, oft ins Monumentale. Nach Jahren eisernen Zwangs traute ich meinen Sinnen nicht, als ich bei ihm in eine Welt des Vorbehaltlosen ohne Gleichen traf. Nicht von Empfängen in St. James und Windsor, ritt der Prinz bei höfischen Anlässen dort wie in Petersburg und Moskau repräsentierend auf, spreche ich, und nicht von seinem Londoner Privatleben, obwohl ich als Reitpferd eines Mitglieds der society oder des erstbesten businessman der City kein nonchalanteres Leben geführt hätte. Wichtig ist, ihn auf mannigfaltigen Reisen, in Paris vor allem zu kennen, sein späteres Verhalten in europäischer Welt und englischer Politik mit Sicherheit zu beurteilen.
Sagte ich, er war Lebemann, träfe ich nicht mehr von ihm, als beschriebe ich Lord Brummel oder irgendeinen berühmten Dandy. Er war mehr, weil für einen Fat das Dandytum Selbstzweck ist, bei ihm nur eins der Mittel war, sich den Fürsten in ihm, der zu sicher beglaubigt war, in gehöriger Distanz zu halten. Den er nicht wie Nikolaus auf alle Weise sublimierte und feierte, über den er sich von früh bis spät graziös lustig machte, und den er – ich beteure es – zu Stunden glühend haßte.
Vom Schicksal zum Herrschen bestellt, wehrte sich diese besondere Natur gegen Zwang, der ohne seinen Willen auf ihn ausgeübt wurde; gleichgültig war ihm, daß diese Vergewaltigung ihn nicht zum Fabrikarbeiter und Sklaven, doch zum Kaiser und König großer Länder bestimmt hatte. Alle Dinge sind ja, wie moderne Wissenschaft beweist, relativ, und Aussicht, sich nicht wie der simple Engländer seinen Beruf, Meinung und sein Milieu selbst suchen zu dürfen, sondern unbedingt und unter allen Umständen Herrscher und isoliert sein zu müssen, brachte diesen flotten Menschen außer sich, wie mich einst Aussicht, gegen meinen Willen von Muschik geschwängert zu werden.
Während in Rußland gepeinigte Masse sich gegen das vergewaltigende Herrscherpaar gewehrt hatte, stand hier ein Einzelner, der nichts als Ruh und Freiheit eines good fellow man wollte, gegen ein ganzes Volk, das ihn im wesentlichen bevormundete, und für nichts als seiner Welfenfürsten vorbildliche Anpassung an konstitutionelle Königspflichten Verständnis hatte: Honny soit, qui mal y pense!
Kein Mensch seiner Umgebung, kein Unionist, aber auch der ausgelassenste Radikale nicht, begriff ihn ganz, und nahm man seine zur Schau getragene Widerhaarigkeit ernst, dann nur soweit, daß man in ihm die glänzende Kopie von Shakespeares Prinzen Heinz erblickte, der auch im gegebenen Moment sich zum besonnensten Regenten gewandelt hatte, ein Vergleich, der Eduarden besonders in Harnisch brachte, weil er ihn wieder in bekanntes Klischee drückte, dessen kleinste Nüance jedem Briten feststand, während er nichts als originaler gentleman sein wollte.
Ich war das einzige Lebewesen, das die tolle Tragik, in die der Prinz verwebt stand, begriff. Denn kein Ereignis seines Lebens hat zu meiner Annahme in Widerspruch gestanden, er tat, was er konnte, seine Landsleute schon als Kronprinz von der Unmöglichkeit zu überzeugen, den ihm gebührenden repräsentativen Platz je ausfüllen zu können, indem er ihnen ein hübsches Schnippchen, das Europa den Atem raubte, nach dem anderen schlug.
Von innen nach außen will ich ihn zu beschreiben suchen: Wie roch er gut, saß er morgens in Herrgottsfrühe auf, und mit ihm kam unbeschreiblicher Duft von Haut und Wäsche her. Keinen Augenblick zweifle ich, auch die russische Kaiserin war sorgfältig wie er gewaschen und an allen schwer zugänglichen Körperteilen gepflegt; aber es ist wie bei Pferden des Menschen Temperament, das seinen Geruch wie Eduards süß natürlich oder trotz aller Parfüms muffig wie bei Alexandra Feodorowna macht.
Und wie mollert war seine Bewegung! Nicht mit Fäusten und Absätzen hing er in mir, sondern schwebte trotz gewisser Beleibtheit auf mir und segelte leicht gegen schwersten Wind. Freilich verstehe ich nicht viel vom menschlichen Anzug, aber mir schien er stets der strahlendste Kavalier. Ohne im Sinn Epsoms oder Hyde Parks korrekt zu sein, war Wäsche, Schuh, Kravatte, Kostüm an ihm nicht nur unnachahmlich geschnitten, genäht und gebügelt, sondern wurde auch einzig getragen. Ich begreife, die Art, wie er das Einglas einklemmte, den Hut schief in den Nacken setzte, konnte ein Weib berauschen. Wie er Ringe trug, Geste winkte, sonores Lachen lachte, sich schnaubte, spuckte – all das war ohne Übertreibung zum Entzücken gar!
Während in der Zarin Umgebung kein Mensch aufgetaucht war, der sich durch eines Hofamts Würde, hohe Abstammung und Gesinnung nicht legitimierte, verkehrte frei der Prinz mit aller Welt und sprach besonders auf Ritten Bekannte aus allen Kreisen, Lebemänner, Sport- und Kaufleute, Schauspieler und Künstler an. Schwatzte Blaues vom Himmel in einem Ton herunter, der an Respektlosigkeit vor der Menschheit heiligsten Gütern nicht zu übertreffen war.
Seine Lieblinge im Theater waren neben dem Ballet Dumas und Sardou. Sonst in der Literatur Voltaire. Ein toller Kerl, nach dem, was ich von ihm mit anhören mußte. Es war da ein reicher Nichtsnutz, Sir Francis Beer, der auch eine Vorliebe für diesen Schriftsteller hatte, und mit dem Eduard auf stundenlangen Ritten die große Parkstraße nach Hampton Court hinaus plauderte. Wie er die königliche Regierung Frankreichs seiner Zeit, den Hof, Minister, große Herren und Damen, öffentliche Einrichtungen, Kriege, Gesetze und vor allem die Pfaffen immer wieder angeulkt und in Augen noch des letzten Untertans lächerlich gemacht hatte, bis alle für die Guillotine reif waren, das wurde vom Prinzen in Einzelheiten mit einem Schwung erzählt, daß man glauben mußte, er sei gegen diese Gewalten der stürmischste Rebell. In solchem Zusammenhang sprach er auch von Louis XVI. und Marie Antoinettes Enthauptung wie vom gelungensten Witz der Weltgeschichte und häufte mit Wollust krasse Farben.
Volk nannte er: diesen Trottelhaufen! Und fügte hinzu »Wüßten die Armen, wie auch hier von Tories und Whigs seit ewig mit ihnen verfahren wird! Aber sie wollen nichts wissen; brauchten nur Voltaire und nichts als den zu lesen, den ›Mann mit vierzig Talern‹ etwa, sich in allen Listen, Lügen und Griffen der herrschenden Kasten bis zum Weltuntergang auszukennen.« Und zum Schluß aller gesellschaftlichen Greuel und Verworfenheiten, die er an Hand Voltairescher Schriften entlarvt hatte, rief er mit einer Stimme, in der der gehabte tiefe Genuß nachklang: »Und Fußball, Cricket, Polo, Golf und Tennis wurde ihnen nur eingebläut, damit sie allen anderen Sinn der Welt vergessen. That's wonderful indeed!«
In Paris, in den Champs Elysées, hatte er ein wenig hinter Bäume von der Straße gerückt, die lauschigste Junggesellenwohnung. Natürlich habe ich ihre köstliche Bequemlichkeit so wenig mit Augen gesehen wie das, was in ihr vorging. Durch Jones, den Trainer und den Kammerdiener Alphonse aber, die abends im Stall, den ich mit einem Reit- und zwei Wagenpferden teilte, kaustisch den Tag abrechneten, blieb ich über Vorgefallenes auf dem Laufenden.
Und aus dem von den mit allen Wassern Gewaschenen Erzähltem merkte ich, trotz seiner vollendeten Haltung würde ich meinen Herrn nicht, wie ichs glühend wünschte, lieben können, weil meine früher erwähnte Eigenschaft ängstlicher Keuschheit es seinen Manövern des abgefeimten Wüstlings gegenüber einfach nicht litt.
Seiner zahllosen Liebschaften Register aufzuzählen, versuche ich nicht, sondern begnüge mich mit des Außerordentlichen Erwähnung. Durch die verglaste Stalltür sah ich junge Mädchen, Frauen aller Gesellschaftsklassen und Rassen einzeln und zu Paaren Stufen zum Parterre errötend aufwärtstreten, und ein wenig zerzaust, doch heiter und froh wieder herabkommen. Keine aber versäumte der Prinz, selbst zur Tür zu bringen, und ich sah das unnachahmliche Lächeln in seinen Mundwinkeln.
Jones leitete des Fürsten Liebreiz und üppige Galanterie von seiner koburgischen Abstammung her. Ich aber, die andere Koburger kannte, fand das meiste höchstpersönlich, zumal fast keine der weiblichen Kömmlinge erfuhr, mit wem sie ein zärtliches Verhältnis hatte.
Sondern, das war sein Trumpf: Als gutaussehender Engländer ließ er sich in Konkurrenz mit anscheinend Bessergestellten inkognito lieben. Denn obwohl in ganz großer Mittel Besitz, kam er bei riesigen Spielverlusten immer häufiger in Bredouille, und es gab Tage, an denen er, nicht aus Mangel an Kredit, doch aus Scham und Bequemlichkeit ein paar hundert Franken von Jones leihen mußte.
Aus dem früher Erzählten begreift man, wie trotz der Situation Bedenklichkeit ihn gerade das reizen mußte: Der Erbe einer der stolzesten Throne Europas wie der erstbeste Sohn beliebiger Bürgerfamilie in der Klemme! Je weniger er sich seiner oft mehr als kritischen Lage Regelung zutraute, umsomehr faszinierte sie ihn, und umso eigensinniger ließ er sie bis zur Katastrophe dauern.
Mehrmals, mein Herr, und das wird Sie überraschen, habe ich den Gerichtsvollzieher ins Parterre und eines Morgens mit meinem Herrn zu uns in den Stall treten sehn, wo der Bote des Gerichts mir und meinen Gefährten die gewappelte Marke auf die Kinnkette klebte, wozu unser Eigentümer wie ein Junge lachte und immer wieder rief: »That's wonderful indeed!« Als der Beamte fort war, schrie er Alphonse zu, der schnöde grinste: »So weit muß es kommen, daß ich selbst wie ein wirklicher Wertgegenstand gepfändet werde!«
Welch tragische Ironie! Der Prinz von Wales schien sich selbst kein solcher!
Sie erinnern sich, wie durch die europäische Presse von Zeit zu Zeit die Nachricht ging, ein gewisser Jemand sei in kriminellem Fall in flagranti, in üblen Häusern, beim Falschspiel, Handgemenge, auf einer Razzia ertappt, und habe sich bei Feststellung seiner Personalien als Eduard, Prinz von Großbritannien und Irland, legitimiert.
Das mag für unbeteiligte Zeitungsleser pikant gewesen sein, für uns, die mit und von ihm lebten, bedeuteten die sich wirklich ereignenden Vorfälle jedesmal ein Unmaß Angst und Scham.
Entwaffnend blieb seines Standpunkts naive Beständigkeit: Wegen des bißchens Zufalls fürstlicher Geburt nichts Allzumenschliches zu versäumen! Und wie ein anderer es für seines Lebens Gipfel hält, bei Gelegenheit als Graf oder Prinz genommen zu werden, blendete ihn die Vorstellung, richtiger Strolch, Vagabund oder Zuhälter scheinen zu können, bis zur Unzurechnungsfähigkeit; hinter welchem Wunsch bestimmt die tiefere Sehnsucht schmachtete, dem »Menschen an sich« täuschend zu gleichen.
Politischer Sinn war ihm damals fremd: Und nur der Gedanke, wie er durch die unerwartetste Blume im Knopfloch, einen zum Cutaway statt des korrekten Cylinders getragenen weichen grünen Hut mit Feder die fashionable Welt verblüffen, aus Laune eine anscheinend eherne mondaine Giltigkeit erschüttern könnte, bewegte ihn. Er begriff die innerste Pflicht gegen sich, Abstand zwischen seinem offiziellen englischen und persönlich menschlichen Sein auf solche Spannung zu bringen, daß er höher als sonst Berufene aus ihr federn und beweglich sein konnte.
Nach jeder besonders schlimmen Nacht ließ er mit Tagesanbruch satteln, und im Galopp gings in Landschaft hinaus, wo sie am herrlichsten prangte. Wo an einer Seinekrümmung aus Nacht und Nebeln das Bois de Boulogne sich prachtvoll keusch entschleierte, hielt er, ein Reiterstandbild und erfrischte sich urtief am Anblick natürlicher Jungfräulichkeit. Dies Bedürfnis innerlicher Reinigung war es, das mich trotz seiner zur Schau getragenen Schamlosigkeit immer wieder für ihn einnahm, bis er sich mir gegenüber so weit vergaß, daß alles Außerordentlichen unbeschadet, das ich mit ihm noch durchzumachen hatte, ein innerstes Band schon zerriß.
Eines Balkanfürstentums blendend schöne, jungverheiratete Kronprinzessin in tollem Blond der Haare – ich weiß, was sich schickt, und nenne keinen Namen – war in Paris wie ein Komet aufgetaucht, und von ähnlichen Trieben wie mein Herr besessen, hatte sie den in einer Gesellschaft getroffen, wo für sie beide ein Verdacht, sie könnten sich dort befinden, shoking war. In des Engländers Wohnung, der ihr gefiel, hatte sie für nächsten Tag ein Stelldichein angenommen. Dort ergab sich sofort das gegenseitige Erkennen.
Beide über der Lage Unvergleichlichkeit beglückt, hatten aus Impuls getan, als wüßten sie trotzdem nichts von ihren Wirklichkeiten, und spielten weiter die gierige Abenteuerin und ihren zufälligen Aushälter. Da ihnen für ihr Entzücken und plötzlich neue Glücksfülle die Wohnung aber zu eng schien, wurde ich flink für die Prinzessin, mein Boxnachbar für den Prinzen fertig gemacht, und, von Feuern unserer Reiter gespornt, sprengten wir an staunenden Fußgängern vorbei am hellichten Tag wilde Jagd durchs Bois über den Fluß weit in dichtere Wälder, wo wir in Einöden verschwanden.
An gestrüppumwachsener Lichtung gabs in grünen Kulissen jähen Halt. Es flog vom Sattel der Prinz und holte die Frau, die schon entgegenjauchzte, von mir zur Erde nieder. Nicht einmal, uns festzubinden nahm man Zeit, sondern – nie wurde so schmählich mit meiner Scham gespielt – gleich ging in einem Katarakt erlauchter Frauenwäsche das Ganze in Entfesselung vor sich. Nicht nur im leiblichen, in geistigem Veitstanz entspreizte sich völlig das distinguierte Paar und entkochte in Tat und Wort so glühende Ressentiments, feierte so holde Revolte, daß ich in Zukunft keiner Beherrschung mehr traute, doch den Menschen als das bestverlarvte immer glühende Raubtier sah.
Außer nach Trouville, Deauville, St. Sebastien, wo er die Mode startete, das Herrenhemd vorn von oben bis unten durchzuschneiden und zu knöpfen, um, war man frisiert, es nicht über den festgelegten Scheitel zu stülpen, kam ich mit ihm nach Homburg, Baden-Baden und Marienbad in Böhmen, seinem Sommerlieblingsaufenthalt.
Überall blieb seine freie Art die gleiche. Frauen schwärmte er und der Natur bewegte Buntheit an, pflegte die eigene heikle Person und wußte allmählich, trotz fürstlichen Bluts und königlicher Auspizien war er quelquun. Koschere Küche aß er, weil sie ihm besser als europäische bekam und zog den Umgang guterzogener Juden dem seiner Rasse im Instinkt vor, auch die hätten, über den angeborenen Juden hinaus sich als Menschen zu beweisen, nicht kleinere Vorurteile der Mitbürger als er, Prinz von Wales, zu überwinden gehabt.
In seine Rede wimmelte er hebräische Brocken. Parierte ich nicht, bekam ich eins ins Ponem oder auf den Tochus, und als ich ihm einst durch stundenlanges Traben in böhmischen Wäldern besondere Freude gemacht hatte, ließ er mir zum Lohn eine gehäufte Platte Schalet reichen, die ich entrüstet zurückwies.
Noch immer galt ihm die politische Tatsache nichts, Sensation war der albernste Bubenstreich. Als der Königin Viktoria kritischer Zustand im Sommer 1900 die britische Regierung, ihn mit Kurieren in Marienbad zu überschütten, zwang, hörte er kaum die dringendsten Botschaften, sondern bewirtete die Lords abwechselnd mit koscheren Gerichten und gepfefferten jüdischen Witzen, die die einen weniger als die anderen vertrugen, worüber sich Eduard königlich amüsierte.
Nach seiner Mutter Tod bestieg er im Januar 1901, ohne mit der Wimper zu zucken, die Throne von Großbritannien und Indien, gewillt, der Majestät Bürde nicht schwerer als die des Kronprinzen auf sich lasten zu lassen, auch weiter mehr Freund der Sirs Cassel und Speyer, als Eduard der Siebente und repräsentierende Affiche zu sein.
Nicht der Purpur, den er trug, doch reifendes Alter ließ ihn auf zu reichliche Liebesfreuden und ein wenig auch schon auf die der Tafel verzichten, und oft hörte ich ihn jetzt den neben ihn Reitenden fragen: »Was wird weiter?« Womit er sagen wollte, er suchte neuen Anlaß, der lohnte, sich auf persönliche Art in die Welt zu hängen. Und alle Antwort pries ihm Politik, die einzige politische Sorge um Großbritannien; aber es schien, der König sah zu ihr immer nur Beziehungen von Amts-, nicht eigenen Bedürfnisses wegen.
Da kam Wilhelm II., deutscher Kaiser 1902 zum Besuch seines königlichen Oheims nach London. Was vorher zwischen den Monarchen vorgefallen war, bin ich nicht unterrichtet. Ich sah den Hohenzoller erst am vierten Tag seines Aufenthalts in einer maikäferbraunen Reitjoppe, die gewiß nicht hervorragend geschnitten, doch nicht beleidigend war. Aber schon hörte ich Eduard zu dem neben ihm haltenden Lord Sandone sagen: »Sehen Sie den Sack, den jener trägt! Bei welchem Schuster hat der Mensch den bauen lassen!«
Am nächsten Morgen erfuhr ich, zum Abendbrot im engsten Familienkreis sei der Kaiser in einem Kostüm erschienen, das den König von England jäh habe erblassen und vor Erbitterung schwindeln lassen, weil er nicht durchschaut habe, ob sein Neffe das aus stupider Ahnungslosigkeit oder um ihn, den vorbildlichen élégant, anzuöden, trug: zu weißen Schuhen und Beinkleidern den Smoking mit roter Kravatte!
Der nicht Unterrichtete begreift nicht, wie eine Äußerlichkeit solche in Zukunft wahrhaft furchtbare Wirkung auf meinen Herrn haben konnte. Aber war der König sonst vorurteilsfrei, vertrug er keinen unkorrekt angezogenen Menschen. Wohl durfte man im Kleid des Berufs ärmlich und abgerissen sein, wie man gezwungen war; doch gab es für jeden Stand und jede Stunde des Tags die aus Gründen richtige Tracht, die zeigte, der Träger stand zur Situation, in der er sie trug, in bewußtem Verhältnis.
Die Tournüre aber, in der der Kaiser aufgetreten war, bewies dem König und ersten gentleman seines Reichs so arrogantes désinteressement an allem Menschlichen, das nicht Soldatentum hieß, so militärische Preußenhochnäsigkeit, geistigen Uniformismus und bornierte Ahnungslosigkeit des Herzens, daß seines Wesens empfindliche Saite tief und für immer verletzt war, und er, wie ich später von ihm gehört habe, vor dem Hohenzoller körperlichen Abscheu wie vor einem Orang-Utang nicht mehr los wurde.
Noch eine Reihe Taktlosigkeiten hatte sich Wilhelm in London nach der Meinung meines Herrn zu schulden kommen lassen: daß er dem König sein Bild in Kürassieruniform in ein Hufeisen gerahmt geschenkt hatte, »als sei ich Stallknecht oder Kutscher«, sagte Eduard; daß er einen seiner Prinzen-Söhne, ihm die gefalteten Hände als Steigbügel beim Aufsteigen unterzuhalten, veranlaßte, sich von anwesenden deutschen Prinzessinnen die Hand hatte küssen lassen und unter den Dienern des Schlosses eine Broschüre verteilt hatte, die in englischer Sprache solche Einzelzüge aus dem Leben des Kaisers mitteilte:
Kaiser und Leiermann.
Einst machte der Kaiser in Begleitung eines Adjutanten eine Spazierfahrt im Schlitten. Es war bitter kalt, und das Gefährt glitt rasch über den knirschenden Schnee weg. Da wurde Se. Majestät auf einen Leiermann aufmerksam, der, vor Kälte zitternd, seinem Instrument Töne entlockte, die nicht gerade sehr anmutig klangen, weshalb die Vorübergehenden auch wenig Neigung verspürten, dem Spielmeister eine Gabe zu reichen. Mitleidig schaute der Kaiser auf den Armen und gab dem Kutscher ein Zeichen zum Halten. Alsdann beauftragte er den Adjutanten, dem Mann ein Almosen zu reichen. Der Offizier zog die Börse, fand aber, daß er kein kleines Geld bei sich hatte. »Ei, so geben Sie ihm großes«, sagte der Monarch, »damit der arme Kerl nicht so lange im Frost zu stehen braucht.« Der Adjutant gab dem Leiermann ein Zehnmarkstück, wofür dieser mit Tränen in den Augen dankte.
Nach Wilhelms II. Abreise schäumte Eduard in einem Ekel, den ich vorher auch vor scheußlichsten Abnormitäten bei ihm nicht gesehen hatte.
Plötzlich interessierten ihn ›Daily Mail‹ und ›Times‹ des Herrn Harmsworth, den er später zum Lord Northcliffe machte, die eine scharfe deutschfeindliche Politik wegen des beabsichtigten deutschen Flottenbaus in die öffentliche englische Meinung trugen. Er schüttelte Chamberlain, der auf deutsche Vorwürfe über Grausamkeiten der Engländer gegen die Buren brüsk geantwortet hatte, sie reichten nicht an das heran, was 1870 die Deutschen verbrochen hätten, bemerkenswert öffentlich die Hand.
Am 1. Mai 1903 ging er mit mir zum erstenmal als König wieder nach Paris, freundlich vom Präsidenten Loubet und der Bevölkerung empfangen, obwohl Frankreich den Engländern seine politische Niederlage von Faschoda nicht vergessen hatte.
Hatte ich geglaubt, er werde stürmisch alter Freuden Stätte, galante Freundinnen aufsuchen, den Mai, wo Paris mit silbernem Licht die Sinne kitzelt, zum Wonnemonat machen, wurde ich enttäuscht. Nichts als ein flüchtig-elegantes Ding mit einer Minderjährigen geschah.
Nur ein Mann wurde dort sein unzertrennlicher Gefährte: Delcassé, des Auswärtigen französischer Minister, der ursprünglich kein Feind Deutschlands, Eduards stürmender Werbung und leidenschaftlicher Beteuerung von des deutschen Kaisers grotesker europäischer Gefährlichkeit, für die der König hundert phantastische Beweise anführte, auf die Dauer nicht widerstand.
Ich fand, meines Herrn reicher Erlebnistrieb, der früher Mannigfaltigstes geschätzt und gekostet hatte, stellte sich wie auf fixe Idee einseitig auf Wilhelms II. Verächtlichmachung ein, und sprudelte Anekdoten aus des Hohenzollern täglichem Leben, die brühwarm zu erfahren, er Späher am preußischen Hof hielt. Wie der Kaiser ihn nachzuahmen, einen ganzen Schwarm glatzköpfiger Berliner Israeliten auf seine Nordlandsfahrt geladen, aber den jüdischen Witz vom hungernden Hahn und der Henne, mit dem er ihnen habe gefallen wollen, und den er sorgfältig studiert hatte, so jämmerlich verpatzt hätte, daß sogar der aufwartende, blöde Stewart verlegen grinsen mußte. Wie er sich einerseits als preußischen Feudaladels Standesgenossen und primus inter pares aufspiele und gleichzeitig Schiebern und Kapitalpiraten wie Cecil Rhodes, Morgan und Vanderbilt zu Füßen liege.
Vor allem erregte ihm des Kaisers stets stärker bekräftigte Überzeugung von der Fürsten göttlicher Sendung und der Hohenzollern vorweg Erbrechen, diese schwärmerisch feudale germanische Anschauung, die Wilhelm beim sonntäglichen Gottesdienst auf der Hohenzollern als Prediger vor Juden und Christen zum Besten gab, indem er Preußen mit Israel als Gottes auserwähltem Volk verglich unter Anlehnung an den Text etwa: »Solange Moses seine Hände im Gebet emporhielt, siegte Israel, ließ er sie aber sinken, siegte Amalek«; und es wuchs gegen »Moses«, wie er fortan seinen Neffen nannte, eine Leidenschaft des Hasses in ihm, die ich arme Kreatur in manch sausendem Peitschenhieb aus erster Hand spürte, und die im Grad ihres Feuers meiner einstigen Herrin Alexandra Feodorownas Besessenheit nicht nachstand.
»Moses« tat dies und sagte das, ward seiner täglichen Ergüsse Kehrreim, und er ging endlich so weit, zu behaupten, des Kaisers Mutter, seine Schwester, müsse unbedingt Frucht eines Fehltritts der Queen Viktoria mit ihrem meist in Eau de Cologne besoffenem Kammerdiener Brown sein, dessen Mentalität der Kaiser so geerbt hätte.
Ich selbst war von so fieberhafter Geflissentlichkeit berührt, alle Pein der Welt, Schuld an jedem Unglück und aller Abscheulichkeit einem Menschen zuzuschieben. Ich wußte vor, jedes Gespräch, das von Porterbier, einer Kravatte, eines Mädchens Strumpfband oder Shakespeares Päderastie anfänglich gehandelt hatte, vom König wie von einem Maniakalischen unbedingt auf Wilhelm II. zugesteuert wurde und ihn belastete. Das erzeugte in mir schließlich den Zustand der Besessenheit. War auch nicht von ihm die Rede, sah und hörte ich nur des Hohenzollern martialische Erscheinung. Ein Menetekel wuchs er, wo ich stand und trabte, starrte gepanzert aus Hintergründen und war mit aufgewichstem Schnurrbart an den flammenden Himmel gerändert. Schließlich schlief ich nicht mehr, mein Stuhl versagte, und eine gespenstische Kugel würgte mich im Schlund.
Seelische Reaktion blieb nicht aus. Alles in mir bäumte gegen solche Entstellung des Weltbilds. Früher, als mein König Starrheit des durch Geburt aufgezwungenen Schicksals in bunte Mannigfaltigkeit lächelnd zerspellt hatte, liebte ich ihn aus angeführten Gründen nicht, doch bewunderte ihn sehr. Jetzt, da er unzählige, blitzende Fazetten des Alls zu einem schwarzen Schatten mischte, verabscheute ich ihn, und begann das Opfer seiner Rankünen zu bedauern und endlich zu schätzen.
Mochte schwarzer Smoking mit roter Kravatte zu weißen Schuhen und Beinkleidern auch die ärgste menschliche Gemeinheit sein – kein Grund, den Träger nicht nur mit fanatischem Haß, doch schließlich das ganze von ihm beherrschte deutsche Volk, das nicht dafür konnte, als Ausschuß der Welt zu betrachten.
Ich wurde mager, grämte mich. Ich bin nicht, wie Menschen sagen, ethisch veranlagt, doch habe ich gemerkt, Haß und Bosheit um mich laden Luft mit Giften, die ich nicht vertrage, und die an mir zehren. Ich kann keine mit den vergewaltigenden Willen anderer Kreatur geschwängerte Atmosphäre atmen, die, voreingenommen, für mich erledigt ist.
Ich fiel vom Knochen. Mein an mich gewöhnter Eduard ließ den Tierarzt kommen, der die brutalen Mätzchen, die an Tieren als Heilkunst gelten, bei mir versuchte. Der Erfolg war katastrophal, ich hielt mich kaum auf Beinen und sah meinen erschreckten Herrn mit erloschenen Lichtern an. Hätte ich mich wie heute ausdrücken können, dem König wäre von mir rechtzeitig warnender Bescheid gestoßen worden, der Europas spätere Katastrophen in etwa verhindert hätte.
Man sah, Besonderes mußte mit mir versucht werden, und der König berief die erste Autorität für Frauen- und Nervenkrankheiten, die mich gewissenhaft auf meiner Organe und Reflexe Funktion untersuchte und feststellte: Hysterie! Den Knödel im Schlund aber als den echten Globus hystericus bewies. Liege- und Mastkur empfahl der Arzt, Arsenik und Biocitin dazu; die monatelang mit Klystieren angewandt, meinen Zustand besserten.
Sicher aber waren es nicht die gebrauchten Heilmittel, die mich herstellten, sondern des Hohenzollern Alb, der von mir wich, da ich ihn nicht mehr erwähnen hörte. Welt um mich schien wieder reich, und in mir regten sich vergessene zarte Komplexe wieder, die in des englischen Monarchen zynischer Gesellschaft verkümmert waren.
Als ich gesund war, ritt er mich noch einigemal, doch war unser langjähriges Verhältnis zu Ende, und der feinnervige Reiter merkte, wir stimmten in nichts mehr überein. Auch zeigte ich das offen bei Gelegenheit, war gereizt, parierte nicht und wurde ein schlechtes Reitpferd wie in letzter Zeit des Diensts bei der russischen Kaiserin.
Ob nur meine verschlechterte Qualität als Reittier oder Ahnung der in mir wirkenden Vorgänge Eduard veranlaßte – eines Tags, im Sommer 1904 erfuhr ich in Kiel, ich bliebe, Andenken und Geschenk des englischen Königs an seinen Neffen, dessen Eigentum. Ein Danaergeschenk, das mit der Verlegung des Schwergewichts der englischen Flotte aus dem Mittelmeer in die Nordsee, den Kanal und der Stapellegung des ersten englischen Dreadnoughts von siebzehntausend Tonnen zum gleichen Zeitpunkt verbunden war.
Bevor ich mich meines neuen Besitzers erlauchter Person zuwende, teile ich zum besseren Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge Eduards VII. weitere Schritte von 1905 bis 1907, über die ich mir aus Gesprächen maßgebender Personen nachhinein Rechenschaft gab, zur Einkreisung des von ihm Gehaßten und seines Volks mit:
Frankreich, durch Rußlands Niederlage im japanischen Krieg 1904 seines stärksten europäischen Rückhalts beraubt, schloß auf Eduards Drängen mit England über Ägypten und Marokko Vertrag, in dem man sich in geheimen Artikeln freie Hand in den betreffenden Ländern gab. Diesem Vertrag trat Spanien, das man in Tanger wirtschaften ließ, und dessen König Alfons XII. der englische Souverän mit seiner Nichte Viktoria Eugenie vermählt hatte, bei. Mit Portugal und Belgien, von der Koburger Mischpoche regiert, wurde freundschaftliche Verabredung getroffen, und Eduards Schwiegersohn, Haakon, in Norwegen auf den Thron gesetzt.
1905 wurde das japanisch-englische Bündnis auf ein Jahrzehnt verlängert, und es fehlte zu Deutschlands völliger Umzingelung, nachdem der unermüdliche Welfe noch Viktor Emanuel zu Rom in seinem Sinn verführt hatte, nur Rußland, das, nachdem es durch die japanische Niederlage auf weitere ostasiatische Eroberungen verzichtet hatte, sich dem alten Interesse für Konstantinopel und dem Balkan wieder zuwandte, wo ihm nicht England, doch Österreich und Deutschland im Weg waren. 1908 besuchte Eduard den Zaren in Reval und betonte emphatisch in Toasten das englisch-russische Einvernehmen, womit, was er an jener denkwürdigen Abendgesellschaft 1902 in London begonnen hatte, erreicht war.
Auch über innere deutsche Zusammenhänge war ich dank Eduard VII. und seinen langen Auseinandersetzungen darüber unterrichtet, sah, wie seit dem Sieg von 1871 über Frankreich die deutschen Sozialistenführer aus Respekt vor der von Bismarcks Faust umklammerter allmächtiger Staatsmacht versuchten, aller revolutionären Bewegung Europas andere Ziele zu geben, nämlich auch die Macht innerhalb, nicht wie bisher außerhalb bestehender Staatsordnung zu erobern, die sich in der von Bismarck geschaffenen zentralistischen Form als rocher de bronze stabiliert hatte; das heißt, man hatte in Deutschland in allen Sparten politischen, wirtschaftlichen und geistigen Lebens begonnen, Macht zu zentralisieren, und jeder rebellische Versuch des Einzelnen, der nicht von der Spitze einer Pyramide den Massen befohlen war, stieß auch bei radikalsten Sozialdemokraten auf erbitterten Widerstand, wie man die Attentate auf des alten Kaiser Wilhelms Person allseitig verwünscht hatte, und der ungenierte politische Meuchelmord in Deutschland später erst gesellschaftsfähig wurde.
Deutsche Gewißheit hieß: Es gibt nur Massen zu welchen Zwecken immer Geführter und geborene Führer; und Wilhelms II. absolute Gewißheit seines Gottesgnadentums entsprach genau so Instinkten adeliger und bürgerlicher Patrioten wie Karl Marx's Behauptung, ohne seinen Wink aus London dürfe nicht das geringste Revolutionäre geschehen, schon lange das Credo deutscher Proletarier gewesen war.
Es ist dies, wie ich später feststellte, der tiefgewurzelte Glaube des deutschen Volks: Revolution sei Umsturz auf Kommando, Parademarsch mit Augen links zu markierten Freiheitszielen; und aus solcher Gewißheit war auch die Kieler Ordre des Kaisers etwa, die im Ausland böses Blut machte und Englands König zur Raserei brachte, nichts aus dem deutschen System Herausfallendes, Wilhelm II. Belastendes, sondern nur Symptom:
»Seine Majestät der Kaiser haben befohlen, daß das Hurrarufen innerhalb des einzelnen Schiffs absolut gleichmäßig unter Hochnehmen der Mützen zu erfolgen habe. Beim Paradieren und Hurrarufen ist daher nach folgendem Befehl zu verfahren:
»Es sind Posten mit Winkelflaggen auf beiden Brückennocken, auf der Hütte, am Bug, am Heck und sonst geeigneten Stellen des Schiffs aufzustellen.«
»Auf das Kommando: ›Drei Hurras für die allergnädigste Person Seiner Majestät!‹ werden die Flaggen hochgenommen. Gleichzeitig verläßt die rechte Hand der paradierenden Leute das Geländer und fliegt an den Mützenrand.«
»Auf das erste Kommando »Hurra!« gehn die Winkelflaggen nieder, das Hurra wird wiederholt, während die Mützen durch Strecken des rechten Arms unter einem Winkel von fünfundvierzig Grad kurz hochgenommen und, sobald das Hurra verklungen ist, unter Krümmung des Arms vor die Mitte des Oberkörpers genommen werden. Gleichzeitig gehn die Winkelflaggen wieder hoch.«
»Beim zweiten und dritten Hurra wird dementsprechend verfahren, nur werden die Mützen nach dem dritten Hurra nicht wieder vor die Mitte des Oberkörpers genommen, sondern kurz aufgesetzt, worauf die rechte Hand wieder auf ihren Platz am Geländer geht.«
»Bei der bevorstehenden Anwesenheit Seiner Majestät des Kaisers zur Rekruten Vereidigung ist bereits nach diesen Bestimmungen zu verfahren.«
Hätte Eduard mit mir das Auspeitschen langer Ketten Russen, Männer und Frauen auf ihre blanken Hinterteile, deren Mittelpunkte in einer Wagerechten strickt zusammenfallen, und zu denen die gebeugten Rücken in einem Winkel von sogar neunzig Grad stehen mußten, als gang und gäbe mitangesehn, der Lederpeitschen rhythmisches Niedersausen auf zuckende Menschenhaut in Viervierteltakt mitangehört, wären ihm solche Dinge bei Völkern östlicherer Breitengrade nicht gar so gräßlich und verhängnisvoll auf die englischen Nerven gefallen.
Hatte Abstand, den er zu seinem königlichen Amt wollte, Eduard schon in jungen Jahren geführt, empfand Wilhelm als des Herrn auserwähltes Rüstzeug an das Königstum von Gottes Gnaden gleich begeisterte Hingabe. Und wie sein Onkel lauer Christ gewesen war, betonte mit Inbrunst ferventes Protestantentum der Hohenzoller, das für ihn militant geblieben war, und das er sich bis an Zähne bewaffnet und zu Land und Wasser auf gepanzerter Hut vorstellte.
Vor wem? Das war klar: Vor jedem, der das Gottgewollte, mächtige Preußendeutschland in seinen vom Kaiser als vom Himmel erleuchteten Haupt gewiesenen Zielen aufhalten wollte, wie auch Fürst Bismarck, bis dahin allmächtig, ins Dunkel hatte verschwinden müssen, als er es wagte, eine a priori überirdische Gültigkeit kaiserlicher Einfälle zu bezweifeln und der Verfassung Anerkennung auch durch des Reichs höchste Spitze zu fordern.
Ich aber spürte nach erstem Beisammensein mit dem Monarchen, einem Frühritt in den herbstlichen Tiergarten, der Mann wußte sich vom Morgen zum Abend in unmittelbarem Rapport mit Gott auch von klügsten Menschen unbelehrbar, weil unfehlbar, und wer ihn einmal unter seinem schöngesträubten Schnurrbart raunzen hörte, begriff, dem Mund entkam nichts menschlich Beiläufiges, sondern erzene Wahrheiten entschmetterten. Noch als ich das Deutsche nicht fließend verstand, packten mich seine im Takt geschnarrten Wortkatarakte, in dem Vokal auf Vokal knallte, bis ins schlotternde Mark.
Ich beugte mich tief. Denn je weniger die skeptische Kreatur an des Menschen geistige Unfehlbarkeit glaubt, umsomehr ist sie, das sich transzendent in ihm Ankündigende zu grüßen gläubig geneigt, und niemand, der Wilhelms Majestät gekannt hat, wird leugnen, daß mystische Wucht aus seinem Blick und Haltung sich allemal kund tat.
Man begreift nun ohne weiteres, wie gleichgültig ihm im Gegensatz zum englischen König Wirkung war, die er, trat er als schlichter Mensch auf, hervorrief. Wie er zwar sein Kleid des Herrschers, obersten Kriegsherrn und Bischofs als geheiligtes Ornat empfand, es ihn aber kalt ließ, ob er als Zivilist in weißen, roten oder schwarzen Hosen zum Smoking herkam, gemäß seiner Anrede an die zu vereidigenden Rekruten: »Ihr tragt des Kaisers Rock und seid dadurch gewöhnlichen Menschen vorgezogen!«
Höhere Gewißheit, ihm stehe zur Abwehr nach außen ein erprobtes unüberwindliches Heer zur Seite, noch aber fehle die ebenbürtige Flotte, und nie werde England dem Bau einer solchen zusehen, machte ihn jeder freundlichen Politik diesem Land gegenüber von vornherein abgeneigt, und ich glaube, behaupten zu dürfen, wiesen auch deutsche Stimmen dringend auf ein Bündnis mit England, sah der Kaiser seines Oheims persönliche Abneigung gegen ihn nicht ungern, weil sie ihm erlaubte, dem von oben eingeblasenen Rat der schleunigst zu schaffenden deutschen Riesenflotte zu folgen.
Es versteht sich, daß nach ersten sichtbaren Erfolgen englischer Einkreisungspolitik ein Einlenken und Anlehnungsbedürfnis Deutschlands an einen starken Bundesgenossen, Amerika etwa, sich logisch ergab, und doch ist es verfehlt, dem Kaiser, Schlüssen so einfacher Vernunft nicht gefolgt zu sein, vorzuwerfen, nachdem man wußte, er wollte durchaus nicht vernünftig, sondern in allem, was er tat, Visionen und himmlischen Gesichten unmittelbar verhaftet sein, die niemand außer ihm durchschaute.
Ich selbst der ihm innewohnenden höheren Gnade ein für allemal gewiß, habe mir nie Kritik an ihm erlaubt, sondern das war mein besonderes Glück, daß ich das Seltsamste von ihm her Erlebte als entzückenden Ausgleich zu einer von vernünftigen Zwängen gefesselten modernen Welt empfand.
Was verschlugs in so viel irdischer Gemessenheit, trat statt eines beschränkten, pflichtbewußten feudalen Souveräns im Plüsch-Stil Wilhelms I. etwa, einmal ein Universalmensch, Verwandlungskünstler, neuer Gulliver in des Kaisers Person auf eigener Spur einher? Der in romantischem Pomp als Cäsar, Commis voyageur, Jäger, Nordland- und Kreuzfahrer, Sportsmann, Lotse, Kunstsachverständiger und Erzengel schablonierter augenblicklicher Wirklichkeit nicht nur den höchsteigenen Sinn entgegensetzte, doch die nach Zwang gedachte und klischierte Historie bei jeder Gelegenheit in bunten Freisinn wieder auflöste und in ihr Fäden fand, die über Goten, Römer, Griechen, Juden hinaus noch Adams und Evas Liebesleben im Paradies für ihn als eine preußische und Hohenzollernsche, von Gott betreute, Angelegenheit entlarvte. Wie er mit herrlicher Überzeugung Deutschlands versammelten Professoren und Lehrern in bezug auf die Erziehung der Jugend zurief: »Bisher hat unser Weg von den Thermopylen über Cannä nach Roßbach und Vionville geführt. Ich führe die Jugend von Sedan und Gravelotte über Leuthen und Roßbach zurück nach Mantinäa und den Thermopylen.«
Niemand außer ihm brauchte mitzuwissen, was um des zwanzigsten Jahrhunderts Wende Preußens Jugend bei den Thermopylen zu tun hatte. Just das alleinige Kennen solches, fern von Alltagsvernunft liegenden Zwecks, machte für mich des Kaisers grandiose Einzigkeit in strahlendem Gottesgnadentum aus.
Einer der schärfsten Widersprüche menschlicher Natur wird für mich die Kluft zwischen ihren heiligsten Vorsätzen und ihren Taten bleiben. Während auf der Basis des Christentums Europa des Schwachen Beistand seit Jahrhunderten predigt, mißhandelt und beraubt es ihn mit Ausdauer, wo es kann.
Darum empfand ich es im Gegensatz zu Wilhelms II. Nörglern gerade als seiner religiösen Neigung strickten Schluß, er fühlte sich nicht nur im täglichen Sein, doch in Politik als irdischen Lebens höchstem Gleichnis, mehr zu Schwachen als Überlegenen gezogen, schnitt den selbstsicheren Engländer, Russen, Franzosen, und stellte sich starr vor das wankende Österreich, die schwankende Pforte und das englischen und französischen Flottenangriffen widerstandslos preisgegebene Italien.
Wie er besonders den durch Familienkrisen zusammengebrochenen Greis und Kaiser Franz Josef durch bundesbrüderlichen Trost und soldatischen Zuspruch immerwieder von krassem Verfall aufrichtete, war für mich seiner unvoreingenommenen Nächstenliebe Beweis. Denn er mußte gewiß sein, dieser als Sinnbild seiner in Grund und Boden verkrachten Staaten ohnmächtige Habsburger würde ihm nie Beistand lohnen können. Keinmal hat Wilhelm II. den Starken gestützt, sich und sein Volk ihm durch Liebenswürdigkeit empfohlen, kein Beispiel einer an die Adresse wirklicher Macht gewandten Höflichkeit erinnere ich mich, so sehr blieb er von Gewißheit durchblutet, er sei der von Gott auf Erden bestellte Hort der völlig Hilflosen.
Bis in seine nächste Umgebung ließ er von so christlicher Praxis nicht ab, rief nie eine starke Natur in seine Nähe, überzeugt, die helfe sich auch ohne ihn am inoffiziellen Ort weiter. Bismarck, ich versichere es, mußte nicht nur, weil er des Herrschers himmlische Sendung nicht unbedingt geglaubt hatte, Platz mit Minderbegabten tauschen, sondern der neue König von Preußen erkannte besser als Vorfahren, der eiserne Kanzler brauchte kein noch so hohes Amt als Relief, doch könnte privatim als knorrige Eiche im Sachsenwald weiterwurzeln.
So war er, mit allen Gnaden des Himmels geschmückt, in einem in neueren Zeiten nicht gekanntem Maß und gegen die preußische und die Reichsverfassung entscheidender Lenker seines Volks mit felsenfestem Glauben, ginge es dennoch in Deutschland schief, läge nicht sein Versagen, doch des lieben Gottes flüchtiges Versehen, vor, das der schon andern Tags wieder ausgleichen würde. Also drohe in keinem Fall Gefahr.
Damit blieb er Spitzfindigkeiten, umständlichen Überlegungen von vornherein entzogen, und jähe Plötzlichkeit vielmehr war seiner unmittelbaren Erleuchtung Ausdruck. Begründeten Erwägungen von Fachleuten durfte er spontanes Besserwissen entgegensetzen, historische Erfahrung galt vor seinen Visionen nichts. Was man bei Kreaturen ohne Gottesgnadentum Frechheit und Vorwitz genannt hätte, war Blitz und himmlische Helligkeit bei ihm, mit der er in alle Gebiete deutschen Lebens hinableuchtete. Kein Ding gab es, um das er sich, berufen, nicht kümmerte. Nicht minder prompt entschied er über Kunstwerke, wie technische und wissenschaftliche Errungenschaften, und seine Entscheide, waren sie im Augenblick dunkel, hatten die vorausschauende Gnade künftiger Geltung.
So erinnere ich mich, wie noch bei meiner Ankunft in Berlin das Erstaunen aller Welt darüber kraß war, daß der Kaiser im Dezember 1901 bei Vollendung der Siegesallee den versammelten Künstlern und riesiger Menschenmenge folgendes frappante Glaubensbekenntnis in Sachen der Kunst abgelegt hatte:
»Mit Stolz und Freude erfüllt mich der Gedanke, daß Berlin vor der ganzen Welt mit einer Künstlerschaft dasteht, die so Großartiges auszuführen vermochte! Es zeigt das, daß die Berliner Bildhauerei auf einer Höhe steht, wie es wohl kaum in der Renaissance schöner hätte sein können! Das kann ich Ihnen jetzt schon mitteilen, meine Herrn, der Eindruck, den die Siegesallee auf Fremde macht, ist ein überwältigender; überall macht sich bemerkbar ein ungeheuerer Respekt für die deutsche Bildhauerei! Möge sie auf dieser Höhe stehen bleiben, und mögen auch meinen Enkeln und Urenkeln, wenn sie mir dereinst erstehen werden, stets die gleichen Meister zur Seite stehen!«
Da soll zwar im ersten Augenblick, es reichten Begas und Eberlein an Michelangelo und Donatello nicht heran, die öffentliche deutsche Meinung gewesen sein. Daß aber kein allgemeines Veto gegen des Kaisers Proklamation schallte, bewies, die Deutschen in großer Mehrzahl anerkannten wie ich, es seien auch die Gescheitesten unter ihnen für die Kaiserliche Voraussicht in dieser Frage einfach nicht reif.
Und diese Haltung ihm gegenüber änderte ich jahraus, jahrein so wenig, daß ich auch in seiner Laufbahn kritischstem Moment, als am 28. Oktober 1908 die halbamtliche Norddeutsche Allgemeine Zeitung über eine Veröffentlichung des Londoner Daily Telegraph, des Kaiser Unterredung mit einem Engländer betreffend, berichtete, die ihm die schwerste Einbuße königlichen Ansehens bis tief in Reihen fanatischer Anhänger kostete, nicht wankte, weil seine Superiorität für mich noch immer und in jedem Fall feststand.
Zudem wußte ich aus persönlicher Kenntnis, auch dieser schrecklichste Schlag, des Kaisers Zerwürfnis mit dem eignen Volk, nachdem er mit aller Welt schon überworfen war, ging wieder von Eduard VII. aus, der mit ihm und kurz vor seinem Tod das an dem Hohenzoller gewollte niederträchtige Werk vollendete.
Nach diesem Bericht hatte im angeführten Gespräch der Kaiser behauptet, der englischen Presse ständige Angriffe auf ihn sähe er endlich als persönliche Beleidigung. Beweisen wollte er, wie er Beziehungen zu England stets gepflegt hatte, sogar während des Kriegs mit den Buren, in dem er zwar Ohm Krüger das bekannte hilfeversprechende Telegramm gesandt hatte, aber, als die Burenbeauftragten Europas Intervention wirklich wollten und in Frankreich stürmisch gefeiert wurden, er ihren Empfang sowohl wie Rußlands und Frankreichs offizielles Ersuchen an Deutschland, England aufzufordern, die Burenrepubliken in Ruh zu lassen und es damit zu demütigen, abgelehnt hatte. Im Gegenteil habe er persönlich einen Feldzugsplan gegen die Buren entworfen und das von seinem Generalstab geprüfte Schriftstück nach London gesandt, wo es in Archiven läge. Dieser Plan aber sei im großen und ganzen der gleiche gewesen, mit dem Lord Roberts die Buren zur Strecke gebracht hätte.
Selbst in diesem Fall konnte ich mich der vernichtenden Kritik fast des gesamten deutschen Volkes mit bestem Willen nicht fügen: Der Kaiser habe Frankreichs und Rußlands vertrauliche Anerbietungen nicht nur schnöde an England verraten, sondern unter Bruch seiner Neutralität dem Engländer auch noch den Kriegsplan gemacht! Und gerade der allgemeine empörte Einwurf, was Wilhelm sich bei diesen Widersprüchen gedacht habe, kam für mich nicht in Frage.
Denn darauf lief es ja, wie ich gezeigt habe, gerade hinaus: Nach seiner besonderen Art hatte der Kaiser in großen historischen Momenten nicht zu denken!
Auch ferner hat mich menschliche Beeinflussung in meiner Zustimmung nicht wankend gemacht.
Da geschah es, daß eines Tags aus einem Transport rassiger Braunen, die der Zar für seines sechsten Brandenburgischen Kürassierregiments erste Schwadron als Geschenk bestimmt hatte, der schönste für den kaiserlichen Marstall in Berlin gefordert und neben mich einquartiert wurde.
Man kann sich denken, was das zwischen »Potemkin« und mir für Geschwätz und Austauschungen alter Erinnerungen gab! Wochen hindurch erlebten wir Mütterchen Rußland, gleiche Jugend, Wonnen, Enttäuschungen des Lebens wieder. Nicht anders war es ihm als mir ergangen, auch er hatte Angehörigen des Zarenhauses als Reittier gedient, in Moskau und Petersburg Erlebtes ihn jedoch aus seiner störrigeren Natur nicht melancholisch, sondern rebellisch gemacht. Hätte ihm jemand in seine kommunistischen Urteile und Ziele schauen können, er wäre statt nach Berlin, nach Sibirien oder glatt an den Galgen gekommen.
Er wars, der meine Ergebung in mein Schicksal nicht nur sondern in das der von Menschen gelenkten Welt gehässig verlachte, behauptete, stünde alsbald nicht Kreatur gegen die von einer irrsinnig gewordenen Menschheitselite gebrauchten Methoden auf, verrecke chaotisch das bewohnte All.
Und an tausend Beispielen bewies er, wie das heilige Rußland voran nur zuckende Beute zweier Erzschelme, des Mönchs Grigori Rasputin und Protopopoffs war, die es aus einem Grund, daß Rußland dem Zaren, der Zar der Zarewna, die aber ihnen beiden blind zu allem mit ihr körperlich und geistig Gewolltem gehorchte, erdrosselten, indem sie Vernunft erschlugen und an ihre Stelle mannigfaltigen, angeblich von Gott befohlenen mystischen Blödsinn setzten.
Zuverlässig wisse er durch Berichte von der Kaiserin erster Kammerfrau, aus zwei täglich auf den nackten Bauch der Zarin geschlagenen, noch brodelnden Spiegeleiern, je nachdem sie den Nabel der Dulderin freiließen, ganz oder teilweise bedeckten, sage Rasputin, was Rußland jeweils für innere oder äußere Politik gebrauche, voraus, und Nikolaus baue trotz aller Warnungen trotzig auf diese Orakel, glaube sich durch sie von Gott erleuchtet, eigenen Zutuns zur Weltgeschichte enthoben.
Die letzte Mitteilung traf mich tief. Verriet sich wirklich Gott aus Eiern so auf russisch und anders auf deutsch dem deutschen Kaiser – denn ich sah doch, der Hohenzoller floh England, russische Politik aber ging nach Worten meines Kameraden unter Iswolski, Ssasonow und Beneckendorf schon ganz in Englands Schlepptau – mußte sich über kurz oder lang aus solchem Mißverständnis ein Kataklisma türmen, das uns alle, Wilhelm und Nikolaus voraus, verschlang.
Dazu sah ich, wie nach Eduards VII. Tod, der der maßlos übersinnlichen Gier sämtlicher europäischer Souveräne aus seiner realen Begabung ein Paroli geboten hatte, Europa, aus seiner Herrscher Beispiel, alles Verhältnis zur Wirklichkeit verloren hatte, daß gerade im Zeitalter exakter Wissenschaften nur Volk nach Formeln und Kommando am Schnürchen ging, alles Entscheidende aber aus hellseherischer Offenbarung und einem bejahenden Zustand des Gemüts der Mächtigen geschah, die das besessene allerhöchste Vorbild nachahmten, Mystik aus Spiegeleiern, Bierschaum, Fischeingeweiden in dem Sinn erkannten. »Daß es nie und nimmermehr geschehe, daß sich zwischen Uns und Unseren Herrgott im Himmel ein Menschenwort, beschriebenes Blatt gleichsam als zweite Vorsehung dränge, sondern daß die göttliche, aller irdischen Pflichten entbundene Macht des Königtums allein rede!«
Wies ich Potemkins so radikale Dogmen weit von mir: Verflucht, daß in jedem Land verfassungsmäßig die Macht den ausgesuchten Trotteln gehört, und es durch des Menschengeschlechts geistige Faulheit auch in Zukunft ausgeschlossen ist, es käme je die Gesamtheit der zu eigener Verantwortung Gewillten ans Ruder, verwarf ich auch seine strikte Voraussage, in Rußland wenigstens werde es bald gewaltig tagen, als Utopie.
Doch berührten mich jetzt des Kaisers bald folgende Worte, die er hoch auf mir zur Seite der Kaiserin auf Potemkin riesiger Zuhörerschaft zurief: »Es schleicht ein Geist des Ungehorsams durchs Land! Ich lasse mich durch ihn nicht beirren! Im Gegenteil Brandenburger! Zu Großem sind wir noch bestimmt und herrlichen Tagen führe ich euch entgegen! Wißt, daß ich meine ganze Stellung als eine vom Himmel mir gesetzte auffasse, und daß ich im Auftrag eines Höheren berufen bin!«
Ich erschrak bis ins Mark, als nach dieser Anrede Potemkin sich unter der Kaiserin bäumte, krümmte, streckte, würgte, schlang und jäh vor aller Welt seinen unverdauten Mageninhalt zur Erde kippte.
Dieser Eindruck in Verbindung mit dem daraufhin geprägtem und von den Stallmeistern in bedenklichen Situationen oft angewandtem Wort: »Man hat schon Pferde kotzen sehen!« ließ mich nicht mehr los und begann, meine reine Heiterkeit zu trüben.
Auch Franz Josef, den ich in Berlin und Wien sah, glotzte so glasig verklärt in die mit politischen Miasmen geschwängerte Luft, schien für sich und die Seinen mit einem katholisch apostolischen Gott auf so gutem Fuß zu stehen, daß es mir manchmal zu viel der allseitigen Gottseligkeit Unruhen gegenüber war, von denen Potemkin die elementarste Witterung zu haben, beschwor.
Immerhin merkte ich an Wilhelm II. seit jenem 17. November 1908 einen Umschwung, an dem ihn Fürst Bülow als Reichskanzler offiziell vor die Entscheidung gestellt hatte, entweder endlich im Sinn der Verfassung oder glücklicher im Bund mit dem Himmel zu regieren.
Für mich wurde dabei klar, aus seiner Natur mußte der Kaiser, um besser hinter des Himmlischen Winke zu kommen, Hemmungen in der Leitung zwischen ihm und Oben annehmen und forträumen wollen. Da über der Verbindung Dichte von Gott zu ihm kein Zweifel aufkommen durfte, mußte es für ihn im Technischen hapern, an dessen Unvollkommenheit er sich ohne weiteres mannhaft Schuld gab.
Ich hörte, wie er auf unvergeßlichem Spazierritt seiner Frau erstmals die Absicht gestand, die in seiner Erziehung vernachlässigte »metaphysische Empirie«, das, was man von der Mechanik der Transzendenz kennen mußte, durch das Studium der Schriften Fichtes, Schellings und Hegels hinzugewinnen zu wollen. Und wie auch mit Hinblick auf die Belehrung, die er sich leichter beim Oberhofprediger Dryander holen könnte, die Kaiserin warnte, der Kaiser bestand darauf, an Quellen zurück zu müssen, und während sie leise weinte, beteuerte er, er sei gewiß, nichts wesentlich Neues erfahren zu können, doch wollte er, seinen Tadlern den letzten Vorwand zu nehmen, göttlicher Gnade in ihm die wissenschaftlich theologische Grundlage geben.
Wer anders als ich spürte seines Unternehmens erste Folgen? War es nicht auf endlosen Durchquerungen des Grunewalds morgens im Zwielicht zwischen sechs und acht, daß er in Selbstgesprächen Gelerntes in seines Wesens Gründe zu führen suchte? Kreatürliches Mitleid mit diesem durch Kämpfe schon zermürbten Mann trieb mich, einer meinem Charakter fremden Materie gespannteste Aufmerksamkeit zu schenken, an einem Lehrgang teilzunehmen, der mich aufs neue Kraft meiner Nerven und Lenden kostete.
Die ganze Hypothese höherer Physik ging ich mit ihm durch, erfuhr, die Körper sind im Weltraum selbstleuchtend und ziehen in dem Maß des Lichts positive Materie an, wie sie die negative abstoßen und umgekehrt. Ich lernte mit ihm, das Oxygene spiele bei der Irritabilität bedeutende Rolle, und in des Lebens sämtliche Funktionen müsse Kontinuität gebracht werden; wußte schließlich, alle diese Funktionen seien nur Zweige einer und derselben Kraft, und das Naturprinzip, das wir als Ursache des Lebens annehmen müssen, träte in ihnen nur als in seinen einzelnen Erscheinungen hervor. Ich sah Wilhelm nach Erkenntnis dieses aufatmen und wieder sicher und bewußter werden. Nach kurzer Pause aber stürzte er sich tiefer in der Physiktheologie Probleme und kam über die Offenbarung »göttlicher Allgenugsamkeit« endlich zur Seele Gottes selbst.
Indem er dabei von Schellings Grundsatz als von einem »unvordenklichen Sein Gottes«, was nichts als die Spinozasche Substanz ist, ausging, definierte er den Höchsten richtig als absolut transzendent oder als »einen für sich seienden« Gott. Das aber war für dessen enge Verbindung mit dem deutschen Kaiser kein Beweis, sondern das Gegenteil davon, und so warf sich der Hohenzoller blitzschnell um so brünstiger auf den Hegelschen, der, als »Geist an sich« gedacht, in aller Natur als eigentliches Subjekt, vornehmlich also auch als Menschengeist vorkam, und um so gewaltiger in dem von ihm Besessenen wirkte, je bedeutender das irdisch menschliche Subjekt war.
So beruhigend dieser letzten Spekulation Ergebnis für Wilhelm II. war, denn in welches Subjekt konnte sich mehr göttlicher Geist als in das des deutschen Kaisers und Königs von Preußen inkarnieren, so fest bin ich von dem Riß überzeugt, der nach diesen Offenbarungen in des Kaisers Seele klaffte. Denn wie auch des Hegelschen Gottes Gewißheit sich in ihn gesenkt hatte und endlich als Fels in ihm ragte, das Wissen um einen, mindestens in der Vorstellung großer Leserkreise dazu noch vorhandenen Schellingschen Gotts, von Wolffschen, Kantischen, Fichteschen und Feuerbachschen Gottformen abgesehen, hatte ihm für mein Gefühl die zyklopische Geschlossenheit, die er früher, auf den nicht näher definierten Gott gestützt, besaß, genommen.
Und wußte er nun genaueres von der Liebestätigkeit, dem Verstandes- und Beredungsglauben, der Buße, Wiedergeburt, Zurechnung, dem ethischen Naturzustand, dem Phlogiston und der Körperleitungskraft, für meine im Leid um ihn geschärften Nerven entbehrten seine tönenden Worte letzter Durchschlagskraft und forderten Kritik heraus.
Dieser meiner Gewißheit schienen auch Augusta Viktorias Blicke recht zu geben, die tränenfeucht mit gemischtem Ausdruck schwärmerischer Liebe und weiblicher Verzweiflung an dem Gatten hingen.
Man begreift, wie unerträglich für mich in so schwere seelische Pein Potemkins radikaler Angriff fiel: Ist irgendwo und wann eine andere höhere Säugergattung auf den Einfall gekommen, ein noch so ausgewähltes Exemplar der Rasse zum alleinigen Herrn über folgenschwere Entschlüsse für alle zu machen? Ist es nicht unerhört und in einem Maß fahrlässig, für das uns übrigen Warmblütern der Begriff fehlt, besonders, da aus Erfahrung feststeht, diesen Auserwählten mangeln meist des Durchschnitts Eigenschaften? Das ist – er zeterte vor Wut und schwitzender Erregung – da fehlt der Ausdruck!
Mir fiel er ein: »Meschugge«, hätte Eduard VII. gesagt.
Es hieß, der Kaiser probe morgens am Spiegel seines stahlblauen Auges faszinierenden Hohenzollernblick, der ihm früher ohne weiteres beliebig oft zur Verfügung gestanden hatte; das heißt, mit gewolltem Ruck warf er des Antlitzes Fassade und ein stechendes Basiliskenauge gegen den Anzuredenden. An ein dutzendmal habe man ihn die Geste prüfen sehen, bis präziser Eindruck erreicht war.
Mochte das wahr oder Märchen sein, für mich blieb es Beweis, weite Kreise gaben meinen Befürchtungen recht umsomehr, seit der Kaiser aus Rache für den Schritt vom November 1908 den Fürsten Bülow nach Scheitern der Erbanfallsteuer schlicht entlassen hatte, aber wußte, der war, weil er für sein Gesetz keine Mehrheit gefunden hatte, als erster Kanzler auf Grund eines parlamentarischen nicht mehr monarchischen Prinzips gegangen, dem er vielmehr mit solchem Abgang den Dolch in die Flanke stieß, als er vom Publikum jubelnd begrüßt, ein Triumphator, Berlin verließ.
War Wilhelm II. früher unbelehrbar und keinem Einfluß zugänglich gewesen, hing er jetzt wie die russischen Souveräne nicht nur vom Klatsch der Priester-, Hof- und Militärkamarilla, sondern von Einflüsterungen der Kriegsindustriellen und des jüdischen Großkapitals ab; stürzte sich mit Eifer auf tausend Zeitungsausschnitte, die man ihm zum ersten Frühstück servierte. Und nicht die Kreuzzeitung, die Berliner Börsenblätter mit ihrem Kurszettel und talmudischen Geschwätz wurden ihm tägliches Orakel.
Potemkin erzählte von Tränenströmen, die die Kaiserin, war sie mit ihm allein, vergoß und suchte mich gewaltiger zu überreden, Wahnsinn sei, statt das eigene Leben mit kommendem großen Umsturz in Einklang zu bringen, sich mit Herz und Huf einem Mann zu widmen, der längst nur eine einzige Katastrophe sei. Mache ich nicht schnell das innere Kehrt, zerschelle ich fürchterlich mit übrigen Trümmern.
Nun, ich war alt genug dazu; und nützte meines Lebens Rest zu sonst nichts mehr, wollte ich mir zu diesem alternden Mann die kleine unbedingte Treue leisten.
So gut wie Potemkin sah ich, Inschriften, die der Kaiser nun in erzene Tafeln meißeln ließ: »Hier erlegte Allerhöchst Seine Majestät am 2. Dezember Seine fünfzigtausendste Kreatur, einen weißen Fasanenhahn«, dienten zu nichts, als des Herrschers aufsteigende Zweifel an dieser allerhöchsten Majestät zu betäuben, wie auch Alfanzereien und immer gesteigertes Glanzverlangen nur Ausgleich deutlicher Ahnung war, Hoffen der Jugend drohe schrecklich zu zerbrechen.
Hier unterbrach Libussa das bisher zusammenhängend Vorgetragene, und war durch Herrn Müller zum Weitersprechen nicht zu bewegen. Als dieser mehrere Tage nacheinander in sie drang, mit dem Bericht der durch den Weltkrieg eingetretenen Katastrophe ihre Mitteilungen zu krönen, schüttelte sie immer wieder den Kopf und sah ihn mit traurigen Augen an.
Nachdem Herr M. sie einen vollen Monat in Ruh gelassen hatte, fand er Libussa beim Wiedersehen in so kläglichem Zustand, daß er begriff, gelänge nicht, sie schnell zum reden zu bringen, sie ihre Geheimnisse mit ins Grab nehmen würde. Es mochte aber die Stute ihres Gasts Gedanken erraten haben, denn plötzlich erklärte sie, Scham hielte sie ab, weiteres, das in erster Linie sie selbst und dann erst Wilhelm II. betreffe, hinzuzufügen, und nur Herrn Ms. dringender Hinweis, durch das schon Erzählte gehöre sie zu den großen historischen Figuren aus wichtiger Epoche deutscher Geschichte, und es interessiere auch ihr eigenes Schicksal Deutsche bedeutend, bezwang Libussas Widerstand, und in rührenden, bescheidenen Tönen fügte sie hinzu:
Als ich im Lauf letzter Monate vor dem Weltkrieg mir nicht mehr verhehlen konnte, alles von Eduard VII. Vorausgesagte, Gedrohte und mir bis in letzte Kalküle Bekannte werde durch des Kaisers Haltung grauenhafte Wirklichkeit, ich durch Potemkins Einwand, dem ich mein Wissen um die englischen Pläne mitgeteilt hatte, ich dürfe unter solchen Umständen mit innerer Umkehr nicht zögern – als ich in Qualen der Hoffnung und besserer Einsicht schwankte – ward mir in meines Lebens höchstem Augenblick erschütternd klar: was ich so trotzig als Treue zum deutschen Kaiser in mir behauptet hatte, war schrankenlose Liebe und Leidenschaft weiblicher Kreatur zu dem von guten Geistern schon verlassenen angebeteten Mann. Hier sehe ich Sie, Herr, erschüttert. Ich wußte nur zu gut, warum ich schweigen wollte. Doch da ich auf Ihr Geheiß gesprochen habe, lassen Sie mich sagen, diese Bestürzung sollte für Sie nicht gar so groß sein, wie sie scheint.
Hält es der Mensch nicht für natürlich, denen, die durch vertrauten Umgang seine Lieblinge, seis Vogel, Pferd, Hund oder Katze unter den Tieren geworden sind, eine oft geradezu närrische Liebe über das Grab hinaus zu schenken? Und war doch fast in keinem Fall so eng an das Seelenleben dessen, dem seine Zärtlichkeit galt, wie ich angeschlossen, die meinem König und Herrn mit vielen Fäden schon verhaftet war, ehe sie ihn sah. Und ich, die andere als bloß bürgerliche, historische und transzendente Schicksale, mit ihm oft körperlich zusammengewachsen, litt, ich sollte, ausdrücklich befragt, kein Recht und nicht die Pflicht haben, auch tiefste Zusammenhänge mit ihm zu gestehn?
Erst als gerührter Zustimmung Herr Müller nickte, fuhr sie fort:
Vielleicht aber werden, da nicht mehr der geringste Zweifel ist, sie stammen von einer durch Mitleiden befugten Seite, meine Mitteilungen um so wertvoller. Was ferner aller Welt nur Grund boshaften Vergnügens war, das Grinsen über des Kaisers stets mehr entgleisende Proklamationen, ehe der Funke ins Pulverfaß fiel, wurde für mich wie sonst nur noch für seine Frau Ursache stets hellerer Verzweiflung.
Begriff ich freilich das Aufsehen so plausibler Urteile von ihm über Kunst und Künstler nicht: »Der Sudermann hat umgesattelt! ›Strandkinder‹ bezeichnen eine neue Epoche seiner nunmehr idealistischen Richtung. Uns, dem deutschen Volk, sind die großen Ideale zu dauernden Gütern geworden, während sie den anderen Völkern mehr oder weniger verloren gegangen sind!« oder die hämische Kritik darüber, daß er Künste aus starrem Schlaf der Unkultur weckte, indem er aus stumpfsinnigen Ruinen zum Beispiel die Hohkönigsburg im Elsaß mit Butzenscheiben, Zinnen und Wetterfahnen zu einer nagelneuen weithinblitzenden Angelegenheit machte, mußte mir der trostlose Eindruck seiner politischen Anreden, die er letzthin mit kurzer, energischer Geste der geballten Faust wie mit einem Hieb nach unten begleitete und besonders das wachsende Fiasko seiner Taten, hinter denen kein geschlossenes Gottesbewußtsein mehr stand, umso einleuchtender sein.
Agadir, das deutsch-französische Marokkoabkommen, mit dem der türkisch-italienische Krieg in Tripolis zusammenhing, waren auf des grauenhaften Pessimisten Bethmann Hollwegs Verführungen hin nur Etappen auf dem Weg zu den Kriegserklärungen von 1914, von denen Wilhelm II. mit Recht – ich bezeuge es – hat erklären dürfen:
»Die ganze Politik der letzten Wochen vor dem Kriegsausbruch hat Bethmann Hollweg und Jagow allein gemacht. Ich wußte nichts mehr davon. Denn sie haben mich durchaus gegen meinen Willen nach Norwegen geschickt. Ich wollte die Reise nicht machen, da die Gespanntheit der Lage nach Franz Ferdinands Ermordung auf der Hand lag. Der Reichskanzler erklärte indessen: ›Majestät müssen die Reise antreten, um den Frieden zu bewahren. Wenn Majestät hierbleiben, gibt es Krieg und die Welt wird Ew. Majestät die Schuld daran zuschieben‹. Daraufhin bin ich abgereist und habe während der ganzen Zeit meiner Abwesenheit von meiner Regierung keine Nachricht mehr über die Vorgänge erhalten. Nur aus norwegischen Zeitungen erfuhr ich, was in der Welt geschah, so auch von dem Fortgang der russischen Mobilmachungsvorbereitungen. Als ich vom Auslaufen der englischen Flotte hörte, bin ich auf eigene Faust zurückgekehrt. Beinahe hätten sie mich abgefangen.«
Denn als er, der Zar, Franz Josef und Georg von England, als alle Souveräne, durch ihre Götter endlich aufs Laufende gebracht, einander zu telegraphieren begannen, war es zu spät. Schon hatten die kriegsdurstigen Generalstäbe Armeen gegeneinander in Marsch geschraubt, der Stein war im Rollen, und das größte Verhängnis letzter Jahrhunderte ging seinen Lauf.
Nach steigenden Erregungen vorausgegangener Wochen und Monate tat mir Entscheidung wohl. Denn nicht mehr schwebte ich in tausend besonderen Ängsten um den, den ich liebte, politisches und religiöses Chaos war von mir gefallen, und mit aller Weiblichkeit hatte ich nur noch naive Angst um des Herrn und Gebieters jetzt bedrohtes Leben. Bald aber sah ich mich vor allen Weibern gebenedeit, weil, wo sie mit Einschluß der Kaiserin zu Haus blieben, ich mit ins Feld ging, ihm noch in Augenblicken höchster Gefahr als einzig Lebendiges nahzusein.
Da fand ich beim Abschied Potemkins Hohn, für sentimentale Neigung werde mir nun verdienter schlimmer Lohn nur bodenlos lächerlich, und auf seine Erwähnung des Kugelregens, der mich erwartete, konnte ich in großer Haltung und Überlegenheit betonen, nichts sonst wünschte ich als den, und meines ausgedienten Lebens letzte Lust werde sein, im dichtesten just für den angebeteten Mann zu zerstäuben.
Ja, Herr, in des Weltkriegs ersten Wochen wurde meine jahrelang von widerstreitenden Dämonen gerittene Seele wieder einfach, heiter und frei, unteilbar großem Sein verhaftet und so, daß Ton und Farbe der Welt unmittelbar und rein in ihr wiederstrahlten. Ich ritt an der Spitze von Regimentern und Brigaden, flog wie lachender Pfeil Paraden auf und ab, badete in Ekstasen der Hurras und spiegelte mich im Blitzen züngelnder Degen. Mich umrauschte der meinem Kaiser zugedonnerte Beifall ganzer Armeen und, zwischen seinen Schenkeln ihm hingegeben, zerriß Freude über den für ihn steigenden Jubel begeisterter Soldaten mein Herz.
Jetzt war Lebens Einerlei und Zeit, Befürchtungen und Melancholien nachzuhängen, vorbei. Jetzt war Tag und Nacht, Natur, Kultur, Haß und Liebe atemlos und von Gebrüll, Granatenkrach und Telegrammen zerstampft. Es gab keinen Anfang und Ende, kein Begreifen und Mißverstehn, doch helle Witterung und von praller Kraft geschwellte Triebe. Heissasa!
In die kämpfende Mannschaft war nicht nur der formidabelste Drang gefahren, sondern alles Sein spielte sich im Krieg auf neuer Ebene ab, die ihrerseits mit riesiger Brisanz an ein Ziel sauste, daß Kreatur das berauschende Bewußtsein hatte, Boden, Luft und Himmel rasten der eigenen besessenen Gewalt überstürzter voran, und des Friedens sämtliche Voraussetzungen, in einen festen Punkt verankert, waren dahin.
Da nahm auch von mir unerhörtestes Hoffen Besitz. Unmögliches begriff ich möglich und harrte seiner im Transzustand. Meinem Ideal feuerte ich die heißesten Blicke zu, gab mich dem inneren Taumel hin und fühlte in Stunden, da der Weltkern glühend rotierte, zwischen Mensch und Tier die Grenzen verwischt.
Bis in der Atome Winkel war ich mit blutrotem Glück durchnäßt und durchdampft. Saß der Geliebte mir helmbebuscht und beschärpt auf, zerschmolz ich bei Tubenstößen und kriegerischer Brunst mit ihm in ein Denkmal hehrsten Preußen- und Deutschentums und spürte uns aus Bronze in Ewigkeit gegossen.
Was war noch Vergangenheit, Mütterchen Rußland, König Eduard, Potemkin! Wie wenig bedeutete das alles vor solcher Apotheose, die sich von Sieg zu Sieg mit Fanfaren golden erhöhte?
Erst 1917, bei einem Besuch der Kaiserin im Hauptquartier erwachte ich durch Potemkins in mein verklärtes Glück gezischte Anmerkungen aus Verzauberung. In anbetracht der wirklich glänzenden Aufmachung und des kaiserlichen Standorts ausgesuchtem Komfort hatte er mit widerwärtigem Blick ebenjenen Kugelregen erwähnt, auf den ich mich beim Abschied von Berlin versteift hatte, und von dem an diesem Ort des Wiedersehens, hundert Kilometer hinter Schlachtfeldern, allerdings nichts zu merken war.
Hatte mich diese Gewißheit im ersten Augenblick nicht angefochten, stand nach Potemkins Abreise fest, ich hätte erst des Kriegs erhöhte Glücksfülle, nicht aber seine Katastrophen und Paniken an der Front, was Potemkin mit einem Wort als »Kugelregen« bezeichnet hatte, erlebt, und irre Angst vor solchen drohenden Möglichkeiten, bald aber nur noch unstillbarer Wunsch nach dieser Notwendigkeit hielt mich gepackt.
Denn, als risse man vor meines Lebens Schlußakt den Vorhang auf, begriff ich, der Krieg, einmal beendet, schleudere mich aus paradiesisch erhöhtem Sein für immer in Abgründe zurück, in dem es nichts mehr von meinem Kaiser Wilhelm und unseren himmlischen Gemeinsamkeiten großer Zeit gäbe.
Wünschte ich ihm langes Leben – für mich gab es als strahlendes Ende meines dramatisch gestarteten und entwickelten Seins nur noch seligen Tod unter ihm im Kugelregen – und wie tragisch ich auch für mich und die Welt sein damit vielleicht verbundenes Hinscheiden wußte, nur noch der Traum besaß mich, es fände sich im Prasseln stählerner Projektile das winzige Spitzchen, das auch mich durchbohrte.
Man spürt, in welchen Fiebern ich den Moment erwartete, der mich endlich dem ersten Gefecht wirklich aussetzte. Stets fürchtete ich, das Schlachten, das drei Jahr dauerte, werde, ehe ich an letzte seelige Bestimmung gelangt sei, enden.
Der Herrscher, der sich bedeutend teilnehmend in einem Radius bis zu fünfzig Kilometern hinter den Fronten unaufhörlich hin und her bewegte, manchmal auf zwanzig Kilometer impulsiv an die Feuerlinie vorstoßend, war aus Rücksicht auf seines zahlreichen und anspruchsvollen Gefolges Verpflegung trotzdem gezwungen, Verbindung zu den Küchenwagen, die ihrer Schwere wegen nicht überallhin folgen konnten, nicht ganz zu verlieren.
Eines Morgens aber – o dieser Morgen! – als hätte er meinem sprühenden Drang nicht länger widerstanden – von einer Höhe sahen wir die Wolkenbälle unaufhörlich platzender Granaten – gab Wilhelm II. mir plötzlich Sporen, und wie von entbundenen Gasen gesprengt und geschleudert, fegte ich Irrwisch vorbeiwehende Abhänge hinunter. Und obwohl und wie kraß mir gleich seine bremsende Faust ins Maul griff, als sausenden Ball schraubten mich übermächtige Impulse eigener Geschwindigkeit voraus, vorwärts den Explosionen zu, und alle Rufe und bittenden Haltschreie meines sich überkreischenden Reiters verhallten an meinen ganz verbohrten Ohren.
Da hätte sich mir die eigene Ekstase herrlich erfüllt, wäre nicht ein verfolgender Reiter mir schneidig vorgesprengt und in die Trensen gefallen, der mich, während wütend der Kaiser seinen Reitstock an mir in Stücke hieb, aus aller Gefahr in sichere Hintergründe riß, in die ich mit gleichem Augenblick wie ein Stück Lumpen für immer verschwand.
In meinen rapiden Verfall, Zustände lethargischer Auflösung, die ich in den Berliner Ställen bewußtlos verbrachte, fiel noch als schwacher, versöhnender Lichtstrahl die Nachricht, der deutsche Kaiser, der auch meinen Nachfolger nie in vorderste Treffen geführt hatte, verschmähte ihn, wie er mich verschmäht hätte, in dem einzigen noch folgenden historischen Augenblick, der mich Erlittenes hätte vergessen machen können: als ihn im Spätherbst 1918 an der holländischen Grenze sein entsetzliches Loos ereilte, sprengte Wilhelm II. nicht wie Napoleon I. nach Waterloo, besiegt, doch irdischer und überirdischer Zukunft gewiß, in stolzer Haltung nach Holland hinein, sondern verbarg sich flüchtend, gebrochen und völlig ausgelöscht, in Polster einer sechszylindrigen Maschine.
»Hier bin ich fertig!« hatte mit Ruck Libussa als mit letzten Worten gerufen.
Wie sehr sie es aber war, wußte sie selbst und damals auch Herr Müller nicht. Erst in den Schluß vorliegender Arbeit hinein brachte er mir die Nachricht ihres großen stolzen Todes.