Stendhal
Die Truhe
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Die Truhe

Eines schönen Maienmorgens im Jahre 1827 ritt Don Blas Bustos y Mosquera, der Polizeimeister von Granada, mit einem Gefolge von dreizehn Reitern ins Dorf Alcolote. Es liegt eine Wegstunde von der Stadt. Bei seinem Anblick rannten die Bauern in ihre Häuser und verriegelten die Türen. Voll Schaudern lugten die Weiber aus den Fensterecken nach dem schrecklichen Manne. Die Vorsehung hatte seine Grausamkeit gestraft und seiner Gestalt den Ausdruck seiner Seele aufgedrückt. Er war sechs Fuß lang, schwarz und gräßlich mager, vom Scheitel bis zur Sohle Polizeimeister; der Bischof und der Gouverneur zitterten vor ihm.

Während des Volkskrieges gegen Napoleon, in jenen Guerillakämpfen, die den Spanier des neunzehnten Jahrhunderts vor der Nachwelt dem Franzosen gleichwertig machen, war Don Blas ein berühmter Bandenführer. An Tagen, da seine Schar nicht wenigstens einen Franzosen zur Strecke brachte, schlief er in keinem Bett; das hatte er geschworen.

Nach Ferdinands Rückkehr (1814) kam er auf die Galeeren von Ceuta. Acht Jahre ertrug er entsetzliches Elend. Man hatte ihn beschuldigt, er wäre in seiner Jugend Kapuziner gewesen und dem Kloster entsprungen. Schließlich ward er begnadigt; niemand erfuhr, warum. Nie spricht er ein Wort. Seine Schweigsamkeit ist allbekannt. Ehedem rühmte man seinen scharfen Witz. Keinen Gefangenen ließ er henken, ehe er ihm ein drastisches Wort zugerufen hatte. Seine gräßlichen Scherze erzählten sich beide Heere.

Don Blas ritt im Schritt durch die Dorfstraße, mit seinen Luchsaugen links und rechts die Häuser musternd. Als er vor die Kirche kam, läutete es zur Messe. Er flog aus dem Sattel; absitzen konnte man das nicht nennen. Vor dem Altar sank er in die Knie. Vier seiner Gendarmen taten dasselbe; dann blickten sie ihm in die Augen. Von Andacht sahen sie nichts darin. Sein finsterer Blick starrte auf einen jungen Herrn von fast vornehmem Aussehen, der unweit von ihm im Gebet versunken war.

›Ein Mann der Gesellschaft – und ich kenne ihn nicht?‹ dachte Don Blas. ›Den habe ich in Granada niemals gesehen. Also verbirgt er sich.‹

Er wandte sich einem seiner Leute zu und gab den Befehl, den jungen Menschen beim Austritt aus der Kirche zu verhaften.

Nach dem Ite, missa verließ er selber rasch das Gotteshaus und begab sich in den Saal des Wirtshauses von Alcolote.

Alsbald brachte man den jungen Mann, der offenbar nicht wußte, was ihm geschah.

»Euer Name?«

»Don Fernando della Cueva.«

Des Polizeimeisters üble Laune nahm zu, als er, jetzt aus der Nähe, sah, daß Don Fernando ein hübsches Gesicht hatte. Er war blond, und trotz der schlimmen Lage wahrte er seine sanfte Miene.

Nachdenklich betrachtete Don Blas den jungen Mann.

»Was habt Ihr unter den Cortes getrieben?« fragte er nach einer Weile.

»Im Jahre achtzehnhundertdreiundzwanzig war ich auf der Schule zu Sevilla. Damals war ich fünfzehn, heute bin ich neunzehn Jahre alt.«

»Wovon lebt Ihr?«

»Mein Vater, Brigadekommandeur im Heere des Don Carlos Cuarto – Gott segne das Andenken des guten Königs! – hat mir ein kleines Gut hier in der Nähe hinterlassen. Es bringt mir tausend Taler im Jahre. Ich bewirtschafte es eigenhändig mit drei Knechten ...«

»Die Euch zweifellos sehr treu sind!« unterbrach ihn Don Blas, bitter lächelnd. »Ein guter Fang!«

»Ins Gefängnis!« befahl er. »Doch ohne Aufsehen!«

Den Verhafteten seinen Leuten überlassend, ging er und setzte sich an den Frühstückstisch.

›Ein halbes Jahr Gefängnis‹, dachte er bei sich, ›das ist die richtige Quittung auf so gesunde Farbe, so frisches Wesen, so unverschämte Zufriedenheit!‹ Im Augenblick, wo der Küchenjunge das Mahl brachte, hob der Reiter, der an der Tür des Gastzimmers Wache stand, seinen Karabiner, einen alten Mann zu bedrohen, der mit herein wollte.

Der Polizeimeister sprang auf. Hinter dem Greise sah er ein junges Mädchen, bei deren Anblick Don Fernando vergessen war.

»Nicht gerade nett, mich beim Essen zu stören«, sagte er zu dem Alten. »Doch tretet ein; sagt, was Ihr wollt!« Während er dies sagte, starrte er die Begleiterin an. Es dünkte ihn, auf ihrer Stirn und aus ihren Augen leuchte die himmlische Unschuld der Madonna auf den Bildern der alten Italiener.

Was der Alte vortrug, hörte er nicht. Daß er essen wollte, hatte er vergessen. Immerfort schaute er auf das Mädchen.

Endlich erwachte er aus seinem Traumzustande. Zum dritten oder vierten Male wiederholte der Alte, warum Don Fernando della Cueva, seit langem der Bräutigam seiner Tochter, freigelassen werden müsse.

Bei dem Worte Bräutigam schoß ein derart grimmiger Blitz aus dem Auge des Schreckensmannes, daß das Mädchen und sogar der Vater zusammenfuhren.

»Wir haben immer in der Furcht Gottes gelebt«, begann der Alte von neuem. »Wir sind gute Christen. Meine Familie ist alt, aber ich bin arm, und Don Fernando ist eine gute Partie für meine Tochter. Ines heißt sie. Ich habe nie ein Amt gehabt, weder zur Franzosenzeit noch vorher oder nachher.«

Don Blas verharrte in düsterem Schweigen.

Der alte Mann fuhr fort: »Ich gehöre zum Uradel des Königreichs Granada – und vor der Revolution hätte ich einem unverschämten Mönche, der mir nicht Rede und Antwort zollt, die Ohren abgehauen.«

Dem Greise standen Tränen in den Augen. Vor Furcht zog Ines einen Rosenkranz aus ihrem Busen, der am Gewand der Madonna del Pilar geweiht war, und ihre niedlichen Hände umkrampften das Kreuz. Auf diese Hände starrte Don Blas; und dann umschlangen seine Augen die ganze Gestalt der schönen, schon etwas üppigen Jungfrau.

›Ihr Gesicht könnte regelmäßiger sein‹, dachte er; ›aber ihre Anmut ist überirdisch.‹

»Ihr seid Don Jaimo Arregui?« fragte er endlich.

»So heiße ich.«

»Siebzig alt?«

»Neunundsechzig.«

»Ich bin also beim Richtigen«, sagte Don Blas, und sein faltenreiches Gesicht hellte sich sichtlich auf. »Euch suchte ich schon lange. Unser Herr und König hat allergnädigst geruht, Euch ein Jahresgeld von dreihundert Talern auszusetzen. Zwei Jahresraten dieses Ehrensolds sind fällig. Ich habe sie in meinem Hause zu Granada. Morgen mittag werde ich sie Euch bei mir einhändigen. Zugleich werde ich Euch die Beweise zeigen, daß ich Altkastilianer und reicher Grundbesitzer bin, guter Christ wie Ihr, und daß ich niemals die Kutte getragen habe. Damitist Eure Beleidigung von vorhin hinfällig.«

Der alte Edelmann getraute sich nicht, der Zusammenkunft auszuweichen. Er war Witwer und Ines sein einziges Kind. Ehe er nach Granada aufbrach, vertraute er seine Tochter dem Pfarrer an, und er traf Anordnungen, als ob er nimmer wiederkehre.

Der Polizeimeister empfing ihn in Gala, ein Großordensband unter dem Rock. Er benahm sich wie ein urbaner alter Offizier, der Gutes stiften will. Er lächelte, bei jedem Anlaß und auch ohne Anlaß.

Wenn er es hätte wagen können, so hätte Don Jaimo die sechshundert Taler, die ihm Don Blas zahlte, ausgeschlagen. Er mußte mit ihm essen; auch das war nicht auszuschlagen. Und nach dem Mahle gab ihm der furchtbare Mann alle seine Papiere zu lesen, vom Taufzeugnis an bis zu einer Urkunde, die seine Freilassung von der Galeere erklärte und es bestätigte, daß Don Blas niemals Mönch gewesen war.

Don Jaimo war nach wie vor auf irgendwelchen schlimmen Scherz gefaßt.

Da hob Don Blas an:

»Ihr seht, ich bin zweiundvierzig Jahre alt, habe eine ehrenhafte Stelle mit einem Gehalt von dreitausend Talern. Auf der Bank von Neapel habe ich eine Rente von tausend Dukaten ... Ich bitte um die Hand Eurer Tochter.« Don jaimo ward leichenblaß. Eine Weile herrschte Stille.

Don Blas begann zuerst wieder zu sprechen: »Eines darf ich Euch nicht verhehlen. Don Fernando della Cueva ist in eine schlimme Sache verwickelt. Er steht längst auf der Fahndungsliste. Es droht ihm die Garrötte, mindestens die Galeere. Ich war acht Jahre auf den Galeeren. Ihr könnt mir glauben: ein übler Aufenthalt!« Er rückte dem Alten näher und flüsterte ihm ins Ohr: »In spätestens drei Wochen bekomme ich vom Justizministerium den Befehl, Don Fernando aus dem Gefängnis von Alcolote nach dem hiesigen zu bringen. Ich werde dafür sorgen, daß der Befehl am Spätabend dort eintrifft. Will Don Fernando die Nacht benutzen, zu entkommen, so will ich in Rücksicht auf Eure echte Freundschaft zu ihm ein Auge zudrücken. Er kann auf ein, zwei Jahre verschwinden; sagen wir, nach Majorca in Australien. Inzwischen wird man ihn vergessen.« Der greise Edelmann gab keine Antwort. Er war zusammengebrochen; mit Mühe und Not kam er in sein Dorf zurück.

»Das ist also das Blutgeld für Don Fernando, meinen Freund, den Bräutigam meiner Ines!«

Im Hause des Pfarrers nahm er sein Kind in die Arme. »Der Mönch begehrt dich zum Weibe!«

Ines trocknete sehr bald ihre Tränen und bat, den Rat des Pfarrers, der in der Kirche war, im Beichtstuhle einholen zu dürfen.

Bei aller Gefühllosigkeit seines Alters und seines Standes weinte der Priester. Sie müsse sich entschließen, riet er, entweder zur sofortigen Flucht oder zur Heirat mit Don Blas. Im ersten Falle solle der Vater versuchen, Gibraltar zu erreichen, und von da England.

»Und wovon leben wir dort?« fragte Ines.

»Ihr müßtet Haus und Hof verkaufen.«

»Wer sollte das kaufen?«

»Ich habe mir dreihundert Taler gespart«, sagte der Pfarrer; »die gebe ich Euch gern, wenn Ihr nicht glaubt, Euer Glück zu machen, indem Ihr Don Blas heiratet.«

Vierzehn Tage später stand die Polizei von Granada in Parade um die Kirche San Dominico. Es ist so dunkel darin, daß man am hellen Mittag nicht sieht, wohin man den Fuß setzt. Kein Mensch außer den Geladenen wagte sich an diesem Tage hinein.

In einer Seitenkapelle brannten Hunderte von Kerzen. Der Lichterschein brach eine Feuerbahn durch das Kirchendunkel, und schon am Portal sah man auf den Altarstufen einen Mann knien, der alle andern um Kopflänge überragte. Sein Haupt war fromm geneigt, seine schlanken Arme kreuzten sich über der Brust. Er erhob sich; man sah die Orden unter dem Rocke. Er reichte einem jungen Weibe die Hand. Behend und jugendlich, in seltsamem Gegensatz zu des Mannes steifer Würde, schritt sie ihm zur Seite. Tränen schimmerten in den Augen der jungen Gattin, aber in ihrem Antlitz überwog engelhafte Sanftmut allen Kummer, und das Volk staunte, als sie vor der Kirche in die Hochzeitskutsche stieg.

Unstreitig war Don Blas fortan milder als zuvor. Die Hinrichtungen verminderten sich. Statt die Verurteilten von hinten zu erschießen, ließ er sie bloß henken. Manchmal erlaubte er ihnen sogar, vor dem letzten Gange ihre Angehörigen zu umarmen.

Eines Tages sprach er zu seiner Frau, die er unsinnig liebte: »Ich bin eifersüchtig auf die Sancha.«

Sancha war die Milchschwester und Freundin von Ines. Sie hatte als Zofe seiner Tochter bei Don Jaimo gewohnt und war in gleicher Eigenschaft in den Palazzo des Don Blas gekommen.

»Wenn ich nicht bei dir bin«, sagte er, »so bist du allein mit Sancha und redest immer mit ihr. Sie ist fröhlich und macht dich guter Dinge. Ich bin ein alter Soldat und habe einen ernsten Beruf. Ich weiß, ich bin kein heiterer Mensch. Deine Sancha mit ihrem ewigen Lachen macht mich in deinen Augen zum alten Griesgram. Hier hast du den Schlüssel zum Geldschrank! Gib ihr so viel Geld, wie du willst! Meinetwegen alles, was drin ist. Sie soll fort. Sie muß fort. Ich will sie nicht mehr sehen.«

Als Don Blas abends aus dem Dienst heimkam, war das erste Wesen, dem er begegnete, Sancha; sie tat wie sonst ihre Arbeit. Er trat an sie heran. Sie schaute auf und sah ihn mit jenem spanischen Blick an, in dem sich so seltsam Furcht, Mut und Haß mischen. Don Blas lachte auf.

»Liebe Sancha«, sagte er, »hat Frau Ines dir gesagt, daß ich dir sechshundert Taler Rente aussetzen will?«

»Ich nehme nur von meiner Herrin Geschenke«, erwiderte sie, ihn noch immer fest anschauend. Don Blas trat in das Zimmer seiner Frau.

»Wieviel Gefangene hast du zur Zeit im Gefängnisse zur Torre Vieja?« fragte sie.

»In den Kellern zweiunddreißig, und zweihundertundsechzig, glaube ich,in den oberen Stockwerken. Warum?«

»Gib ihnen die Freiheit!« sagte Ines. »Und ich trenne mich von der einzigen Freundin, die ich auf Gottes Erde habe.«

»Das geht über meine Macht!«

Den ganzen Abend sprach er kein Wort mehr. Ines arbeitete bei ihrer Lampe; sie sah, wie er im Wechsel rot und blaß wurde. Sie legte ihre Stickerei hin und begann ihren Rosenkranz zu beten.

Am nächsten Tage das nämliche Schweigen.

In der Nacht darauf brach in der Torre Vieja Feuer aus. Zwei Gefangene kamen um; alle übrigen entkamen trotz der Wachsamkeit des Kerkermeisters und seiner Gesellen.

Zwischen Ines und ihrem Manne fiel kein Wort darüber; aber als er andern Tags nach Hause kam, war Sancha fort. Er warf sich Ines in die Arme.

Anderthalb Jahre war es her, daß es in der Torre Vieja gebrannt hatte, als vor der elendesten Herberge des Dorfes La Zuia ein staubbedeckter Reiter absaß. Der Ort liegt eine Wegstunde südlich von Granada, während Alcolote nördlich liegt. Granada ist sozusagen eine zauberische Oase inmitten der ausgedörrten andalusischen Hochebene. Seiner Tracht nach mußte man den Fremden für einen Katalonier halten, und sein in Majorca ausgestellter Paß war auch visiert in Barcelona, wo er gelandet war. Der Herbergswirt war arm. Als er dem Reisenden den Paß zurückgab, der auf den Namen Don Pablo Rodil lautete, sagte er mit einem scharfen Blick auf den Katalonier:

»Gnädiger Herr, ich werde Eure Exzellenz aufmerksam machen im Falle, daß die Polizei von Granada sich nach Eurer Exzellenz erkundigt.«

Der Fremde sagte, er wolle die schöne Gegend ansehen; er ging eine Stunde vor Sonnenaufgang fort und kam erst um Mittag zurück, während der ärgsten Hitze, wo jedermann bei Tisch sitzt oder Siesta hält.

Don Fernando war in Granada gewesen. Mehrere Stunden hatte er auf einem Hügel, wo junge Korkeichen standen, gesessen und nach dem Inquisitionspalast geschaut, in dem Don Blas und Ines ihre Wohnung hatten. Er vermochte den Blick nicht wegzuwenden von den alten schwarzen Mauern, die das Häusergewirr der Stadt riesenhaft überragten.

Als er Majorca verließ, hatte Fernando sich geschworen, nie Granada zu betreten. Aber eines Tages packte ihn die Sehnsucht allzu stark. Er begab sich in das Gäßchen am Inquisitionspalast und ging unter einem Vorwand, der ihm zu reden und zu verweilen gestattete, in den Laden eines Handwerkers. »Jawohl, dort oben«, sagte der Meister, »sind die Fenster vom Schlafzimmer der Donna Ines.« Er wies nach dem sehr hohen zweiten Stock.

Um die Siesta machte sich Don Fernando auf den Rückweg nach La Zuia. Die Furien der Eifersucht peitschten ihn. Am liebsten hätte er Ines erdolcht und dann sich selber umgebracht.

›Ich bin ein Feigling‹, warf er sich vor, ›ein Schwächling, während sie die Kraft hat, ihn zu lieben, weil sie wähnt, es wäre ihre Pflicht!‹

An einer Straßenecke begegnete er Sancha.

»Freundin!« rief er sie an, tat aber so, als spräche er nicht mit ihr. »Ich heiße Don Pablo Rodil. Ich wohne in La Zuia, im ›Engel‹ Kannst du morgen beim Abendläuten an der Großen Kirche sein?«

»Ich werde dasein«, entgegnete Sancha, ohne ihn anzublicken.

Am folgenden Abend sah Don Fernando Sancha kommen. Ohne ein Wort zu sagen, ging er nach seiner Herberge, und ohne daß es jemand sah, trat auch sie dort ein.

Fernando schloß seine Tür.

»Nun?« fragte er, Tränen im Auge.

»Ich bin nicht mehr bei ihr im Dienst«, antwortete Sancha. »Vor anderthalb Jahren hat sie mich weggeschickt, ohne Anlaß, ohne Erklärung. Ich bin überzeugt: Sie liebt Don Blas.«

»Sie liebt Don Blas?« schrie Don Fernando, sich die Tränen abwischend. »Auch das noch!«

»Ich habe mich ihr zu Füßen geworfen und sie bei allen Heiligen gebeten, mir den Grund ihrer Ungnade zu sagen. Kalt hat sie mir zur Antwort gegeben: ›Mein Mann will es!‹ Kein Wort mehr. Ihr wißt, sie war schon immer sehr fromm. Jetzt ist ihr Leben ein endloses Gebet.«

Um der herrschenden Partei zu gefallen, hatte Don Blas es zuwege gebracht, daß ein Teil des Inquisitionspalastes, in dem er seine Wohnung hatte, den Klarissinnen eingeräumt worden war. Die Nonnen hatten sich darinnen breitgemacht und sich auch eine Kirche eingerichtet. Donna Ines war fast immer bei ihnen. Sowie Don Blas aus dem Hause war, fand man sie nur kniend am Altar der ewigen Anbetung. »Sie liebt ihn?« wiederholte Don Fernando. »Dieses Scheusal?«

»Am Tage, bevor ich entlassen ward, sagte Donna Ines zu mir...«

»Ist sie froher Laune?« unterbrach er sie.

»Das nicht. Aber sie lebt in gleichmäßiger sanfter Stimmung, ganz anders als damals, als Ihr sie kanntet. Von ihrem früheren Frohsinn, ihrer Tollheit, wie der Pfarrer es nannte, hat sie nichts mehr.«

»Die Treulose, Ehrlose, Schamlose!« Fernando raste durch die Stube. »So hält sie ihren Schwur! Das ist ihre Liebe! Nicht einmal traurig ist sie, während ich...«

»Wie ich Eurer Gnaden bereits gesagt habe«, begann Sancha abermals, »am Tage, bevor ich entlassen ward, sprach Donna Ines mit mir in Güte und Freundschaft, wie einst in Alcolote. Und andern Tags sagte sie bloß: ›Mein Mann will es!‹ Weiter nichts. Dabei gab sie mir eine Urkunde, die mir die schöne Rente von hundert Talern sichert.«

»Zeig mir das Schriftstück!«

Er küßte den Namenszug der Geliebten.

»Hat sie je von mir gesprochen?«

»Niemals. Sogar der alte Don Jaimo hat ihr in meiner Gegenwart einmal vorgeworfen, daß sie einen so lieben Nachbar ganz und gar vergessen könne. Sie ward bleich, entgegnete aber nichts. Sie geleitete ihren Vater zur Tür und eilte dann in die Kapelle, wo sie sich einschloß.«

»Ich bin der größte Narr!« rief Don Fernando. »Hassen werde ich sie immerdar. Sprechen wir nicht mehr von ihr. Ein Glück, daß ich wieder nach Granada gekommen bin, und vor allem, daß ich dich getroffen habe. Und du, Sancha, was treibst du?«

»Ich habe in Albaracen, eine halbe Stunde vor Granada, einen Kramladen...« Und im Flüstertone setzte sie hinzu: »Ich handle da mit schönen englischen Waren, die mir die Schmuggler aus den Alpujarras bringen. Mein Lager ist mehr als dreitausend Taler wert. Ich bin zufrieden.« »Du hast also einen Banditen der Alpujarras zum Liebsten ... Wir werden uns kaum wiedersehen. Hier nimm meine Uhr zum Andenken an mich!«

Als Sancha gehen wollte, hielt er sie zurück.

»Was meinst du?« fragte er. »Soll ich sie aufsuchen?«

»Sie würde vor Euch fliehen«, erwiderte Sancha, »und wenn sie sich aus dem Fenster stürzen müßte. Seid auf der Hut! Allezeit streifen Aufpasser um ihr Haus. Wie Ihr Euch auch verkleidet, man wird Euch erwischen.«

Fernando schämte sich seiner Schwäche und sagte nichts mehr, entschlossen, sich am kommenden Tage wieder nach Australien einzuschiffen.

Acht Tage darauf fügte es der Zufall, daß Don Fernando durch Albaracen kam. Briganten hatten den Generalkapitän O'Donnell gefangen und ihn eine Stunde lang bäuchlings in den Sumpf gehalten. Don Fernando erblickte Sancha, die voll Geschäftseifer durchs Dorf lief.

»Hier habe ich keine Zeit, mit Euch zu reden!« rief sie ihm zu. »Kommt zu mir!«

Ihr Laden war geschlossen. Sie selber war dabei, englische Waren in eine Truhe aus schwarzem Eichenholz zu stopfen.

»Wahrscheinlich werden wir heute nacht angegriffen«, sagte sie zu Don Fernando. »Meinem Laden droht Beschlagnahme. Ich komme eben aus Granada. Donna Ines, die immer gütige, hat mir erlaubt, meine kostbarsten Waren in ihrem Schlafzimmer unterzubringen. Sollte Don Blas die Truhe bemerken, so wird Donna Ines eine Ausrede finden.«

Sie fuhr fort, ihre Schale und Schleier eiligst einzupacken. Don Fernando sah zu. Plötzlich stürzte er sich auf die Truhe, warf heraus, was drinnen war, und legte sich dafür hinein.

»Bist du verrückt geworden?« fragte Sancha.

»Hier sind fünfzig Dukaten! Der Teufel soll mich holen, wenn ich diese Truhe verlasse, ehe sie im Inquisitionspalast zu Granada steht! Ich muß Ines sehen.«

Was die erschrockene Sancha auch einwenden mochte, Don Fernando blieb taub dagegen.

Sie sprach noch, als Zanga, ein Lastträger, Sanchas Vetter, ins Haus trat. Er sollte die Truhe auf seinem Maultiere nach Granada schaffen. Als Don Fernando seine Schritte hörte, machte er den Deckel zu, und Sancha schloß mit einem Seufzer die Truhe ab. Sie offenzulassen wäre unklug gewesen.

Also zog Don Fernando an einem Sommertage um elf Uhr in seiner Truhe in Granada ein. Er war dem Ersticken nahe. Im Inquisitionspalast angekommen, trug Zanga seine Last Treppen hinauf. Es kam Don Fernando vor, als sei es im zweiten Stock, wo die Truhe hingestellt ward. Er hörte, wie sich der Träger entfernte und die Tür ins Schloß fiel. Dann war kein Laut mehr zu hören.

Er versuchte mit seinem Dolche den Riegel des Truheschlosses zurückzuschieben. Es gelang ihm. Zu seiner grenzenlosen Freude sah er sich im Schlafgemach der Geliebten. Er bemerkte Frauenkleider und neben dem Bett das Kruzifix, das Ines schon in ihrer Kammer zu Alcolote gehabt hatte. Einmal, nach einem Zwist, hatte sie ihn in ihr Gemach geführt und ihn auf dieses Kruzifix ewige Liebe schwören lassen.

Der Raum war sehr dunkel und die Hitze darin gewaltig. Die Läden waren geschlossen, und die türkischen Musselinvorhänge zugezogen. Die tiefe Stille ward nur unterbrochen durch das leise Plätschern eines kleinen Springbrunnens in der Ecke. Ein dünner Wasserstrahl fiel aus ein paar Fuß Höhe in eine Muschel aus schwarzem Marmor zurück. Vor diesem schwachen Geräusch erbebte Don Fernando, er, der in seinem Leben hundert Proben tollkühner Tapferkeit abgelegt hatte. Von dem vollkommenen Glück, das er sich in Majorca immer von neuem erträumt hatte, nachgrübelnd, wie er je einmal in das Schlafgemach der Ersehnten gelangen könne, davon empfand er nicht das geringste. Seine Verbannung, die Trennung von den Seinen, sein ganzes Unglück, seine leidenschaftliche Liebe, alles das, was ihn halb wahnsinnig gemacht, überwältigte ihn in diesem Augenblicke, und ein einziger Gedanke entwuchs diesem Wirrwarr seiner Gefühle: die Furcht, Ines zu mißfallen, die scheu und keusch in seiner Erinnerung lebte.

Er war einer Ohnmacht nahe, als die Klosteruhr zwei schlug und er leichte Tritte die steinerne Treppe heraufkommen hörte. Sie kamen an die Tür. Don Fernando kannte den Schritt. Es war Ines. Rasch verbarg er sich in der Truhe; er hatte nicht den Mut, dem ersten Ausbruche der Entrüstung eines pflichtgetreuen Weibes standzuhalten.

Ines legte sich auf ihr Bett, und bald merkte Don Fernando an ihren gleichmäßigen Atemzügen, daß sie eingeschlafen war. Erst jetzt wagte er sich an das Bett und erblickte sie, der seit Jahr und Tag alle seine Gedanken galten.

Er erschrak vor der Schläferin, die ahnungslos in seiner Gewalt war, und seine sonderbare Furcht verstärkte sich, als er wahrnahm, daß ihre Gesichtszüge in den zwei Jahren der Trennung einen ihm fremden Ausdruck kalter Würde angenommen hatten. Ein reizvoller Gegensatz zu dieser Strenge lag in der leichten Unordnung ihres Sommerkleides. Und allmählich füllte sich sein Herz mit dem Glücke des Wiedersehens.

Wenn Ines ihn erblickt, so ist ihr erster Gedanke die Flucht. Das wußte er. Deshalb schloß er die Tür ab und steckte den Schlüssel ein.

Endlich kam der Augenblick, der seine Zukunft entscheiden sollte. Ines regte sich. Offenbar erwachte sie. Einer plötzlichen Eingebung zufolge kniete Don Fernando vor dem Kruzifix nieder. Ines schlug ihre schlaftrunkenen Augen auf, und es war ihr: der Geliebte wäre hunderttausend Meilen fern gestorben und seine Gestalt da am Kruzifix sei eine Vision. Sie richtete sich auf und faltete die Hände, erstarrt auf dem Bettrande sitzend. »Lieber, armer Fernando!« flüsterte sie in tiefster Erregung.

Ebenso erregt machte Don Fernando, der noch immer vor dem Kruzifix kniete, eine Bewegung, um Ines besser zu sehen. Jetzt erwachte sie völlig, begriff die Wahrheit und sprang auf.

»Welche Verwegenheit!« rief sie. »Verlaßt mich, Don Fernando!«

Sie flüchtete in die entfernteste Ecke des Gemaches, wo der Springbrunnen plätscherte.

»Kommt mir nicht zu nahe! Kommt mir nicht zu nahe! Entfernt Euch unverzüglich!«

In ihren Augen leuchtete die reinste Tugend.

»Ines, ich gehe nicht eher«, erwiderte Don Fernando, »als bis du mich angehört hast. Ich habe dich in den zwei Jahren nicht vergessen können. Tag und Nacht hatte ich dein Bild vor Augen. Vor diesem Kruzifix hast du mir geschworen, ewig die Meine zu sein.«

Voll Zorn rief sie: »Geht oder ich rufe die Leute – und wir sind beide des Todes.«

Sie stürzte zum Klingelzuge, aber Don Fernando war rascher. Er fing sie auf und schloß sie in seine Arme. Ines verlor ihre Kraft. Aber er, zitternd und bebend mehr als sie, vergaß Leidenschaft und Wollust und dachte nur noch an die Pflicht. ›Eben habe ich wie ein Feind an ihr gehandelt!‹

Seine Besonnenheit kehrte voll zurück.

»Soll meine unsterbliche Seele ganz verderben?« rief Ines. »Eines sollst du wissen, Fernando! Dich allein liebe ich und keinen ändern. In dem entsetzlichen Leben, das ich seit meiner Heirat führe, habe ich in allen Augenblicken deiner gedacht. Eine große Sünde! Alles habe ich getan, dich zu vergessen. Nichts half. Erschrick nicht, wie gottlos ich bin! Das heilige Kruzifix da, es war oft für mich nicht mehr das Bild unseres Heilands, sondern nur noch das Wahrzeichen des Eides, den ich dir in meiner Kammer zu Alcolote geschworen habe. Ach, Fernando, wir sind Verdammte, unrettbar Verdammte ...«

In aufflammender Leidenschaft rief sie: »Fernando, seien wir wenigstens glücklich die kurze Frist, die wir noch leben dürfen!«

Alle seine Furcht war dahin; er begann sich glücklich zu fühlen.

»Du verzeihst mir? Du liebst mich noch?« rief er aus.

Rasch flohen die Stunden dahin. Schon neigte sich der Tag. Don Fernando erzählte von der plötzlichen Eingebung angesichts der Truhe. Da schreckte ein lautes Geräusch vor der Tür die beiden aus ihrer Glückseligkeit. Es war Don Blas, der seine Frau zum Abendspaziergang abholen wollte.

»Sage ihm«, flüsterte Don Fernando der Geliebten zu, »die große Hitze habe dich müd und matt gemacht! Ich verberge mich in meiner Truhe. Hier ist der Schlüssel zur Tür! Tu so, als bekämst du sie nicht gleich auf. Dreh den Schlüssel verkehrt herum! öffne erst, wenn du das Truhenschloß zuschnappen hörst!«

Alles ging nach Wunsch. Don Blas glaubte seiner Frau, daß sie von der Hitze ermattet sei. Er entschuldigte sich, daß er sie geweckt habe. Er nahm sie in seine Arme und trug sie auf das Bett. Er wurde zärtlich und liebkoste sie. Da fiel sein Blick auf die Truhe.

»Was ist das?« fragte er mißtrauisch.

»In meinem Hause?« wiederholte er ein halbes dutzendmal, während Ines ihm Sanchas Befürchtungen und die Geschichte von der Truhe erzählte.

»Gib mir den Schlüssel!« befahl er barsch.

»Ich wollte ihn nicht nehmen«, antwortete Ines. »Einer deiner Leute hätte ihn finden können. Offenbar war es Sancha recht, daß ich den Schlüssel nicht nahm.«

»Großartig! Aber ich habe in meinem Waffenschranke Dietriche genug, um alle Schlösser der Welt zu öffnen.«

Mit diesen Worten ging er an einen Wandschrank und warf sich alsbald mit einem Bund englischer Nachschlüssel an die Truhe. Ines schlug die Fenstervorhänge auf und die Läden zurück. An die Brüstung gelehnt, erwartete sie den Augenblick, wo ihr Mann den Geliebten entdeckte, bereit, sich aus dem Fenster zu stürzen.

Der Haß machte Don Fernando kaltblütig. Er schob die Dolchspitze hinter den Riegel des alten Truhenschlosses, so daß Don Blas seine Nachschlüssel alle nacheinander vergeblich probierte.

»Sonderbar!« sagte er und erhob sich. »Das erstemal, daß die Nachschlüssel versagen. Unser Abendgang, liebe Ines, verzögert sich leider ein wenig. Selbst dir zur Seite würde ich den Gedanken an diese vermaledeite Truhe nicht los. Weiß der Teufel, was für staatsgefährliche Papiere darinstecken. Wer sagt mir, ob während meiner Abwesenheit nicht mein Feind, der Bischof, hier Haussuchung hält, einen erschwindelten Befehl Seiner Majestät in den Händen. Ich gehe in die Kanzlei und bin gleich wieder da, mit jemandem, der mehr Geschick haben wird als ich.«

Ines schloß rasch die Tür hinter ihm ab. Don Fernando forderte sie zur gemeinsamen Flucht auf. Vergebens.

»Du kennst den furchtbaren Mann nicht«, sagte sie. »In ein paar Minuten steht er in Verbindung mit seinen Agenten in einem Kreise von drei Wegstunden rund um Granada. Wir kommen nicht durch. Ach, daß ich nicht mit dir in England leben kann! Ich sage dir, dies Riesenhaus wird tagtäglich bis in alle Winkel durchsucht. Trotzdem will ich versuchen, dich zu verbergen. Aber sei vorsichtig! Ich würde dich nicht überleben.« Ein starker Schlag an die Tür unterbrach ihr Gespräch. Fernando stellte sich, den Dolch bereit, dahinter. Es war Sancha.

Rasch wurde sie über die Lage verständigt; »Gnädige Frau, Ihr laßt eines außer acht! Wenn Ihr Don Fernando anderswo versteckt, dann findet Don Blas die Truhe leer. Was könnten wir rasch hineintun? Da fällt mir ein, in meiner Aufregung habe ich eine gute Nachricht vergessen. Die ganze Stadt ist in Aufruhr und Don Blas stark in Anspruch genommen. Don Pedro Ramos, Abgeordneter der Cortes, ist im Kaffeehause am Hauptplatze von einem royalistischen Freiwilligen beschimpft worden, worauf er ihn erdolcht hat. Eben habe ich Don Blas mitten unter seinen Polizisten an der Puerta del Sol gesehen. Verstecken Sie Don Fernando einstweilen! Ich will Zanga aufsuchen. Er soll die Truhe fortschaffen, nachdem sich Don Fernando wieder hineingelegt hat. Hoffentlich haben wir Zeit genug. Schaffen wir die Truhe zunächst in ein andres Zimmer. Falls Don Blas vor mir wiederkommt, macht ihm weis, ich hätte die Truhe abholen lassen. Dann gewinnen wir Zeit. Kommt er hinter die Geschichte, so erdolcht er uns alle miteinander.«

Sie schleppten die Truhe in ein Kämmerlein.

Von neuem erzählten sich die Liebenden ihre Erlebnisse in den letzten zwei Jahren. »Mir ahnt«, sagte Ines, »daß wir beide nicht mehr lange leben. Don Blas ist Fanatiker. Er wird herausbekommen, daß du bei mir warst, und mich morden ... Was harrt meiner im Jenseits?«

Versonnen gab sie sich nach einer Weile selber die Antwort.

»Ewige Strafe!«

Sie warf sich Don Fernando an die Brust, »Und doch bin ich das glücklichste Weib auf Erden!« jubelte sie. »Du wirst Mittel und Wege finden, daß wir uns wiedersehen. Gib mir durch Sancha Kunde! Du weißt, deine treue Sklavin heißt Ines.«

Zanga kam erst in der Nacht und buckelte die Truhe auf, in die sich Don Fernando wieder gelegt hatte. Auf der Straße hielten ihn wiederholt die Polizeipatrouillen an, die nach Don Pedro Ramos fahndeten, aber Zanga kam stets durch, da er sagte, die Truhe gehöre dem Polizeimeister.

In einer einsamen Gasse, die am Friedhof hinführte, ward er abermals angehalten. Der von einer niedrigen Mauer vom Wege getrennte Gottesacker lag zwölf bis fünfzehn Fuß tiefer. Auf diese Mauer setzte Zanga die Truhe, während er von den Polizisten ausgefragt wurde.

In der Eile, die die Angst vor der Rückkehr des Don Blas gebot, hatte Zanga die Truhe so gepackt, daß Don Fernando in eine Lage mit dem Kopf nach unten geraten war. Der Schmerz, den ihm dies verursachte, ward durch die Dauer unerträglich. Wie er nun merkte, daß die Truhe nicht mehr getragen wurde, sondern abgesetzt war, verlor er die Geduld. Er horchte. Er ertrug den Schmerz nicht länger.

Ringsum herrschte tiefe Stille. (Die Patrouille hatte sich entfernt.) Nach seiner Berechnung mußte es neun Uhr sein, also dunkel. ›Ein paar Dukaten‹, dachte er, ›werden mir Zangas Verschwiegenheit sichern.‹ Also klopfte Don Fernando leise an den Deckel und sagte: »Dreh den Kasten anders herum! Ich stehe auf dem Kopf und bin schon halb wahnsinnig vor Schmerz!«

Zanga, dem es in Dunkel und Einsamkeit und an einer Kirchhofsmauer sowieso nicht geheuer zumute war, erschrak über die geheimnisvolle Stimme, die er deutlich dicht neben sich hörte, ohne den Sprecher zu sehen. Er wähnte, ein Gespenst rede, und so rannte er spornstreichs davon. Die Truhe blieb auf der Mauer stehen.

Als Don Fernando keine Antwort vernahm, merkte er, daß man ihn im Stiche gelassen hatte. Mochte geschehen, was geschehen wollte. Er entschloß sich, die Truhe zu öffnen. Aber da er sich dabei jäh bewegte, geriet die Truhe ins Schwanken, und Truhe samt Insasse stürzte in die Tiefe.

Durch den Sturz betäubt, kam Don Fernando erst nach einigen Minuten zur Besinnung. Er sah die Sterne über seinem Haupte. Das Schloß war beim Aufschlag der Truhe aufgesprungen. Er selber lag auf der aufgeworfenen Erde eines frischen Grabes. Der Gedanke an Ines und die Gefahr, in der sie schwebte, gab ihm seine Kräfte wieder.

Er war arg zerschunden und blutete, aber er erhob sich, und er konnte gehen. Nicht ohne Anstrengung kletterte er zur Straße hinauf und humpelte nach Sanchas Haus.

Als sie ihn so blutig sah, glaubte sie, er wäre dem Polizeimeister in die Hände gefallen. Wie er ihr seine Erlebnisse berichtet hatte, lachte sie. »Ihr habt uns schön in die Patsche gebracht«, sagte sie.

Um jeden Preis mußte noch in der Nacht die Truhe aus dem Friedhof geschafft werden.

»Donna Ines und ich sind des Todes«, erklärte Sancha, »wenn dem Don Blas morgen gemeldet wird, daß dies verfluchte Ding gefunden worden ist.«

»Und auch noch blutbefleckt!« meinte Don Fernando.

Zanga war der einzige, den man damit betrauen konnte. Während sie von ihm redeten, klopfte es an die Tür.

»Brauchst mir nichts zu erzählen«, rief ihm Sancha entgegen. »Ich weiß alles. Du hast meine Truhe im Stich gelassen. Sie ist in den Gottesacker hinabgefallen mit all meinem kostbaren Kram. Ich bin ruiniert. Du kannst dir wohl denken, daß dich der Polizeimeister noch heute nacht verhören wird.«

»Dann bin ich verloren!« jammerte Zanga.

»Wenn du sagen kannst, du hättest die Truhe aus seinem Hause hierher zu mir geschleppt, dann kann er dir kein Haar krümmen.«

Zanga ärgerte sich, daß er die Waren seiner Base hatte fahrenlassen, aber vor dem Gespenst hatte er eine Höllenangst und noch mehr vor Don Blas, mit dem kein Mensch etwas zu tun haben wollte. Alles das verwirrte ihn dermaßen, daß er die einfachsten Dinge nicht mehr begriff. Sancha hatte große Mühe, ihm beizubringen, was er auf der Polizei auszusagen habe, um niemanden bloßzustellen.

Don Fernando kam hinzu.

»Da hast du zwei Dukaten. Aber wenn du nicht wörtlich aussagst, was Sancha dir beigebracht hat, machst du mit diesem Dolche Bekanntschaft.«

»Wer seid Ihr, Herr?«

»Ein unglücklicher Negro, den die royalistischen Freiwilligen verfolgen.«

Zanga war keines Wortes mächtig und gänzlich erledigt, als zwei Polizisten erschienen, deren einer ihn ergriff und vor den Polizeimeister beachte. Der andere teilte der Sancha mit, man wünsche sie im Inquisitionspalast. Es klang nicht schlimm.

Sancha scherzte mit ihm und lud ihn zu einem Glase allerbesten Rancio ein. Sie wollte Näheres aus ihm herauskriegen, um Fernando, der aus einem Versteck ihr Gespräch hören konnte, Weisungen zu verschaffen.

Der Polizist erzählte, Zanga sei, als er vor dem Gespenst ausgerissen war, totenbleich in eine Kneipe gekommen, wo er alles berichtet habe. Zufällig saß einer der Polizisten in diesem Wirtshause, der auf der Suche nach einem Liberalen war, der einen Royalisten getötet hatte. Der Polizist lief sofort weg, um das Vernommene dienstlich zu melden.

»Unser Polizeimeister ist kein Dummer. Sofort sagte er, daß die Stimme, die Zanga im Friedhofe gehört hatte, die des Negro gewesen sei, der sich dort versteckt hätte. Ich ward ausgeschickt, die Truhe zu holen. Sie war offen und voller Blut. Als Don Blas sie sah, machte er verdutzte Augen und sandte auch gleich hierher ... Jetzt müssen wir aber gehen!«

Unterwegs sagte sich Sancha: ›Ines und ich sind des Todes. Don Blas hat die Truhe wiedererkannt, und er weiß nun, daß sich ein Fremder in sein Haus eingeschlichen hat.‹

Die Nacht war stockdunkel. Im Moment hatte Sancha den Einfall zu entfliehen. ›Nein‹, sagte sie sich; ›es wäre ehrlos, Ines zu verlassen, die so unerfahren ist und nicht wissen wird, was sie aussagen soll.‹

Zu ihrem Erstaunen ward Sancha im Inquisitionspalast in den zweiten Stock geführt, und gar in das Schlafzimmer der Donna Ines. Sie ahnte Schlimmes.

Das Gemach war hell erleuchtet. Donna Ines saß am Tisch; neben ihr, mit stechendem Auge, stand Don Blas. Vor beiden die Truhe, offen, blutbespritzt.

Als Sancha eintrat, verhörte der Polizeimeister gerade den Lastträger, den er bei ihrem Anblick sofort abführen ließ.

›Ob er uns verraten hat?‹ dachte Sancha. ›Hat er begriffen, was ich ihm eingeschärft habe? Hat er sich danach gerichtet? Weiß er, daß unser aller Leben davon abhängt?‹

Sie schaute ihre Herrin an. Aus deren Augen las sie Ruhe und Entschlossenheit. Sancha staunte. ›Was macht diese scheue Frau so mutig?‹ fragte sie sich.

Schon bei den ersten Antworten, die Sancha dem Polizeimeister auf seine Fragen gab, nahm sie wahr, daß Don Blas, der sich sonst so sehr beherrschte, wie besessen war. »Die Sache ist klar«, sagte er laut zu sich selber.

Offenbar verstand Donna Ines den Sinn dieser Worte ebensogut wie Sancha, denn jene sagte in gleichgültigem Tone: »Die vielen Kerzen hier machen furchtbar heiß.« Damit trat sie an das Fenster.

Sancha wußte, was diese Bewegung bedeutete. Sofort heuchelte sie einen Nervenniederbruch.

»Ihr wollt mich töten«, schrie sie, »weil ich einen Liberalen gerettet habe!«

Krampfhaft ergriff sie Donna Ines am Handgelenk. Und wie wirr stammelte sie: »Wißt Ihr, der Mann, der ins Zimmer gestürzt kam, gerade als Zanga die Truhe mit meinen englischen Waren zu Euch brachte, der blutende Mann, mit dem Dolch in der Hand. Er rief uns zu: ›Ich habe einen Royallsten getötet! Man verfolgt mich! Wenn Ihr mich nicht rettet, morden sie mich! Donna Ines, seht das Blut auf meiner Hand! Jetzt wollen sie mich morden!‹«

»Weiter!« sagte Don Blas in kaltem Tone.

Ruhiger fuhr Sancha fort: »Der fremde Mann sagte, der Prior der Mönche des Sankt Hieronymus wäre sein Oheim. Wenn er das Kloster erreichen könne, sei er gerettet. Da erblickt er die Truhe, die ich eben auspackte. Im Nu wirft er alles heraus, was noch darin ist, und legt sich hinein. ›Schließ zu! Schafft mich ins Kloster!‹ schreit er mir zu, indem er mir ein paar Dukaten zuwirft... Hier ist das Schandgeld!«

»Genug der Komödie!« rief Don Blas.

Sancha fuhr unerschrocken fort: »Ich hatte furchtbare Angst, er könne mich erstechen, wenn ich ihm nicht zu Willen wäre. In der Hand hatte er immer noch den Dolch voll vom Blut des Royalisten. So ließ ich Zanga kommen. Der nahm die Truhe und schleppte sie nach dem Kloster...«

»Kein Wort mehr – oder du bist des Todes!« sagte Don Blas, erratend, daß Sancha nur Zeit gewinnen wollte.

Auf seinen Wink ward Zanga wieder hereingeführt.

Sancha sah, daß der sonst kaltblütige Don Blas maßlos erregt war. Zwei Jahre lang hatte er seine Frau für treu gehalten. Jetzt zweifelte er an ihr.

Als Zanga von zwei Polizisten hereingeführt wurde, stürzte sich Don Blas auf ihn, packte sein Handgelenk und schüttelte ihn auf das derbste.

›Das ist der entscheidende Augenblick!‹ sagte sich Sancha voll Schreck. ›An Zangas Aussage hängt das Leben von Ines und mir. Er ist mir ergeben, aber heute, wo ihn das Gespenst und Fernandos Dolch um den Verstand gebracht haben, weiß der Teufel, was er reden wird.‹

Zanga stierte den Polizeimeister irren Auges an und brachte kein Sterbenswort heraus.

›Jetzt wird er ihn schwören lassen‹, dachte Sancha. ›Er ist fromm. Er wird nicht wagen zu lügen ...‹

Aber Don Blas, der gewohnt war, vom Richterstuhle die Zeugen zu vernehmen, dachte nicht daran, Zanga zu vereidigen, den Sanchas unheimliche Augen und seine eigene schreckliche Angst endlich aufrüttelten.

Mit einem Male begann er zu sprechen und ziemlich vernünftig zu erzählen. Kurz nachdem er die Truhe in den Palast des Polizeimeisters geschafft habe, sei er von Sancha zurückgerufen worden, um die Truhe wieder wegzutragen. Da sei sie ihm viel schwerer vorgekommen, und als er vor Erschöpfung nicht weiterkonnte, am Gottesacker, da habe er die Last auf die Mauer gestellt. Und als da ihm eine jammernde Stimme etwas zuflüsterte, wäre er ausgerissen ...

Sichtlich bedrückt stellte Don Blas Frage auf Frage. Spät in der Nacht brach er das Verhör ab, um es am ändern Morgen fortzusetzen, wie er sagte.

Sancha bat um Erlaubnis, in der kleinen Kammer neben dem Schlafgemach der Donna Ines, wo sie ehedem geschlafen hatte, den Rest der Nacht verbleiben zu dürfen. Don Blas überhörte ihre Worte und ging weg.

Wie er fort war, besprachen sich die beiden Frauen.

»Don Fernando ist gerettet, doch Euer und mein Leben, gnädige Frau, hängen an einem Faden. Don Blas hat Verdacht geschöpft. Morgen früh wird er Zanga einschüchtern und ihn durch einen Mönch, der sein Beichtvater ist und ihn völlig beherrscht, zum Reden bringen. Mein Märchen hat nur die erste Gefahr abwenden können.«

»So fliehe ohne Verzug, liebe Sancha!« erwiderte Ines, sanftmütig wie immer und scheinbar nicht im geringsten bewegt von dem Geschick, das ihr nahe bevorstand. »Laß mich allein sterben! Ich sterbe glücklich. Ich nehme Fernandos Anblick mit. Daß ich ihn nach zwei Jahren Trennung wiedergesehen habe, dafür ist der Tod kein zu hoher Preis. Ich befehle dir, mich sofort zu verlassen. Geh hinab in den großen Hof! Dort versteckst du dich nahe beim Tore. In der Morgenfrühe gelingt dir sicherlich die Flucht. Um eines bitte ich dich. Bringe dies Diamantenkreuz Don Fernando! Und sag ihm: Sterbend segne ich seinen Entschluß, wieder nach Majorca zu fahren.«

Bei Tagesanbruch, als das Mettglöckchen läutete, weckte Donna Ines ihren Gatten, ihm zu sagen, sie gehe zur Frühmesse bei den Klarissinnen. Obgleich die Kirche im Hause war, ließ Don Blas, der kein Wort sagte, sie von vier seiner Leute begleiten.

In der Kirche kniete Donna Ines dicht am Gitter nieder, hinter dem die Nonnen der Messe beiwohnen. Einen Augenblick danach sahen die vier Wächter, wie sich das Gitter auftat. Rasch trat Donna Ines in den jenseitigen Bezirk, worauf sich das Gitter wieder schloß. Den Wächtern rief sie zu, sie habe das heimliche Gelübde getan, Nonne zu werden und das Kloster nie wieder zu verlassen.

Don Blas forderte seine Ehefrau zurück, aber die Äbtissin hatte sich bereits mit dem Bischof verständigt, und der gab dem aufgebrachten Polizeimeister in Ruhe und Güte den Bescheid: »Ohne Zweifel hat die hochwohlgeborene Donna Ines Bustos y Mosquera nicht das Recht, sich dem Herrn zu weihen, wenn sie Eure rechtmäßige Gattin ist. Aber Donna Ines bezweifelt, daß ihre Ehe rechtsgültig geschlossen ist.«

Kurze Zeit darauf, noch während des Rechtsstreites der Eheleute, fand man Donna Ines tot in ihrem Bett, von mehreren Dolchstößen durchbohrt. Und zur Strafe für eine Verschwörung, die Don Blas angeblich entdeckt hatte, wurden der Bruder der Donna Ines sowie Don Fernando auf dem Richtplatze von Granada geköpft.