Friedrich Spielhagen
Frei geboren
Friedrich Spielhagen

Frei geboren

Roman

von

Friedrich Spielhagen

 

Vierzehnte Auflage

Leipzig.
Verlag von L. Staackmann.
1910.


Vorwort.

Ich kannte die Geschichte ihres Lebens nur in den großen Zügen. Und so – skizzenhaft umrissen – sollte sie eine Episode meines Romans »Opfer« bilden.

Ein Vorhaben, das ich gern fallen ließ, als ich in den Besitz der ausführlichen Schilderung ihrer Schicksale gelangte, die sie der treuen Pflegerin in die Feder diktiert hatte, und zu deren Herausgabe mir die Autorisation wurde.

Eines weiteren Kommentars bedürfen diese Bekenntnisse nicht.

Über die Ursache des Todes der merkwürdigen Frau sind wir nicht genauer unterrichtet und auf Vermutungen angewiesen.

Er erfolgte ungefähr einen Monat nach dem Schluß des Diktats, unmittelbar auf den Zusammenbruch des Bankhauses Bielefelder & Sohn, den, wie man sich erinnern wird, der famose Millionendiebstahl seines ersten Kassierers nicht sowohl einleitete als besiegelte.

Neben vielen andern ging dabei auch ihr Vermögen völlig verloren.

Ich weiß nicht, ob die Stolze, nachdem sie so lange Jahre hindurch die Wohlthäterin zahlloser Armer gewesen, es ertragen hätte, nun ihrerseits der Mildherzigkeit der privaten, wohl gar der öffentlichen Armenpflege anheimzufallen. Aber ich bin überzeugt: mit der Möglichkeit, weiter, wie bisher, in ihrer großherzigen, königlichen Weise helfen zu können, wäre der Dulderin der letzte karge Wert ihres Lebens entschwunden.

So mag es gar wohl sein, daß sie, wie sie frei geboren war, auch frei gestorben ist.

Fr. Sp.

1 Erstes Buch.

Vergangene Nacht war es, daß mir der Gedanke kam. Ich hatte gestern abend keine größere Dosis Morphium genommen, als mir Dr. S. erlaubt hat, wenn meine Schmerzen anfangen, unerträglich zu werden, will sagen: meine wahrlich erprobte Geduld zu erschöpfen. Er vertraut meiner Erfahrung und Ehrlichkeit völlig und hat mir längst überlassen zu bestimmen, wann der kritische Moment eintritt. So hatte ich geschlafen, die ersten Stunden gewiß ruhig; dann, als die Wirkung des Morphiums erschöpft war, von Träumen geängstigt. Ich kenne das: ängstliche Träume gehen fast immer dem Erwachen voraus; auch lege ich diesen Hirngespinsten sonst keinen Wert bei; sind sie doch für gewöhnlich nach dem Erwachen schnell wieder zerflattert! Heute nacht war das nicht der Fall. Dazu waren sie zu deutlich gewesen und zu qualvoll. Ich durchlebte die Episode meines Aufenthalts in Dr. Resbers Hause noch einmal in allen entscheidenden Scenen. Die Umgebung, die Zimmer, der kleine Garten – das Räumliche mit einem Worte zeigte sich nur in verschwimmenden Umrissen; auch spielte sich alles in einer magischen Dämmerung ab, die von Tag und Nacht gleich entfernt war, oder von beiden gleich viel hatte. An dieser Schattenhaftigkeit partizipierten auch in ihrer Gestalt er, seine Frau, die Tochter, das Dienstmädchen, alle erscheinenden personae dramatis, ich selbst eingeschlossen, die ich überhaupt mich nicht sah, nur fühlte; von der ich nur wußte, daß ich es war. 4 Das alles wäre nun ja nichts Besonderes gewesen und besonders Ängstliches. Das Ängstliche, ja Furchtbare bestand in etwas anderm; darin, daß die beiden Hauptpersonen: er und ich die Rollen ausgetauscht hatten: ich die Liebende, Verlangende, Verzweifelte; er der Ruhige, Ablehnende, in der Katastrophe klug sich Salvierende war. Rasend im Schmerz meiner unerwiederten Liebe, schluchzend, stöhnend, schreiend erwachte ich: meine gute Lent hatte Mühe, mich zu beruhigen. Es war drei Uhr. Ich wußte, daß ich nicht wieder einschlafen würde. Die Schmerzen waren erträglich. So hatte ich vollauf Zeit und Kraft, über den seltsamen Traum nachzudenken.

Das war so einfach nicht. Es dauerte eine geraume Weile, bis ich die Dinge, die der Traum, so zu sagen, auf den Kopf gestellt, wieder auf die Füße gebracht hatte. Und in dem Augenblicke, als ich Wirklichkeit und Traum reinlich geschieden zu haben glaubte, drohte eine viel ärgere Verwirrung hereinzubrechen. Wie nun, wenn der Traum nur in Tiefen der Seele hinabgestiegen wäre, dahin das wache Bewußtsein nicht reicht, und so mit mächtiger Hand die wahre Wirklichkeit ans Licht gehoben, ich trotzalledem Dr. Resber geliebt und nur aus Laune, Eigensinn ihn zurückgewiesen und damit mein Lebensglück verscherzt hätte? Konnte es der Fall sein? Wie selten sind wir uns über unser seelisches Verhältnis zu einer andern Person völlig klar! Wie oft muß nicht eine zeitweise Trennung oder der Tod uns darüber belehren, was wir in Wirklichkeit für sie empfinden, oder empfunden haben? Und wie schmerzlich dann die zu späte Einsicht, die vielleicht vor einem Unwiederruflichen, nicht wieder gut zu Machenden steht! Und wir verzweifelt eine Stunde der vergeudeten Zeit zurückwünschen; eine Minute nur, um sagen zu können: ich habe dich ja so sehr geliebt!

5 Wenn dem aber so ist, woher kommt es? Offenbar aus unserer Flüchtigkeit, Gedankenlosigkeit. Daher, daß wir die Sklaven des Augenblicks sind, die Knechte unsrer Launen, unsers körperlichen Befindens; von Eindrücken, denen wir keine Widerstandskraft entgegensetzen, so daß sie, die sonst federleicht sein würden, zentnerschwer wiegen. Und dann kommen Träume, die mit all dem Unfug reine Bahn machen, uns die Dinge zeigen, wie sie wirklich sind; einen Spiegel vorhalten: so siehst du in Wirklichkeit aus!

Ein beschämender Zustand und ein verzweifelter, weil aus ihm kein Entrinnen ist. Doch nur wäre, wenn wir in jedem Augenblicke unsre ganze Kraft beisammen hätten. Das ist wider die Natur. Auch Homer schläft zuweilen; selbst Schiller hat sicherlich seine schwachen Stunden gehabt, wenn er gleich einmal einem jungen Mädchen sagen konnte: man müsse so leben, als ob jeder Tag unser letzter sei.

Aber was der Augenblick in seiner Ohnmacht uns versagt, das kann, müßte für jeden Menschen, der etwas auf sich hält, die Folgezeit bringen: gewissenhaftes Nachdenken des Geschehenen, das sich fürder nicht durch die brutale Gewalt des Moments imponieren läßt; die Verdunkelungen entfernt, mit der sie das reale Bild unseres Lebens befleckte, undeutlich machte, entstellte. Es ist möglich, daß es durch diese Restauration nicht schöner wird. Gleichviel, ob schöner oder häßlicher: es wird, was sehr viel wichtiger, an Wahrheit gewinnen.

Und zwar müßte dieses Nachdenken schriftlich sein; man müßte die Resultate schwarz auf weiß haben. Damit, wenn man wieder einmal von einem Traum geängstigt wird, der uns vorgaukelt: wir hätten uns in einer wichtigen Periode unsres Lebens gröblich über uns selbst getäuscht und den verhängnisvollen Irrtum so weiter durch das Leben geschleppt, sofort 6 an einen höheren Richter appelliert werden kann: an unsre Aufzeichnungen, in denen von Seite so und so bis so und so die Sache dargestellt ist, wie wir sie im vollen Licht des Bewußtseins und der redlichsten Selbstprüfung gesehen haben.

Also was man eine Autobiographie nennt.

Die aufzusetzen Goethe irgendwo jeden, der das vierzigste Jahr zurückgelegt hat, dringend mahnt.

Um dann auf seine eigene als Nebentitel »Wahrheit und Dichtung« zu setzen!

Doch wohl, um damit auszudrücken: Wir mögen uns stellen, wie wir wollen: die Phantasie läßt sich nicht ausschalten, und die arge Schmeichlerin narrt selbst den Redlichsten.

Und es käme bestenfalls etwas zu stande, was wohl realer als ein Traum ist, aber darum auf unbedingte Glaubwürdigkeit noch längst keinen Anspruch machen kann.

Aber gerade auf die kommt es mir an: ein Zwitterding zwischen dem, was möglich gewesen wäre, und dem, was sich aus dem Brodel aller Möglichkeiten als Wirklichkeit niedergeschlagen, hätte für mich schlechterdings keinen Sinn.

Ich will mich ja keinem verehrlichen Publikum präsentieren, vor dem man doch, und wäre man noch so wenig eitel, unwillkürlich ein wenig Toilette macht und posiert; bei dem innigsten Bestreben, wahrhaftig zu sein, hier mit einem Worte zurückhält, das ein zartes Seelchen beleidigen könnte, dort einen Gedanken verschweigt, der, ausgesprochen, den Seelenfrieden vieler guten Leute und schlechten Musikanten allzu empfindlich stören würde. Und was dann dergleichen Vorsichten und Rücksichten weiter sind, die beobachten muß, wer sich einer großen und gemischten Gesellschaft gegenüber befindet.

Mein Publikum ist das denkbar kleinste. Es 7 besteht, wenn ich von mir, wie billig, absehe, aus meiner guten Lent, der ich dies alles in die Feder diktieren muß, und die ich auch wieder eigentlich nicht als Publikum rechnen kann, da sie mich bereits seit so vielen Jahren kennt, und wohl besser kennt, als ich mich selbst –

Bitte, liebe Lent, schreibe das nur ruhig hin! Erstens ist es wahr, und zweitens, wenn du von dem Papier auf und mich mit deinen klugen, treuen Augen anblickst, so verstößt das gegen die Abmachung, die wir vor einer Stunde getroffen haben, und stört mir die nachtwandlerische Sicherheit, die mir zu meinem Geschäft unbedingt nötig ist. – Wie weit waren wir? Richtig: ich mich selbst; und vielleicht meiner lieben Friederike. Vielleicht! ich werde es mir noch überlegen. Jedenfalls, kommen diese Blätter je in ihre reinen Hände, so lebe ich nicht mehr. Und zu der Liebe, die das himmlische Mädchen für die Lebende hatte, gesellt sich die Pietät für die Tote. Da darf ich dann vollends meiner Sache sicher sein.

Eine große Hilfe bei diesen Aufzeichnungen und eine wesentliche Erleichterung der Mühe, die ich meiner guten Lent mache – bitte, jedes Wort, wie es aus meinem Munde geht, wird niedergeschrieben! – verspreche ich mir von dem Tagebuche, das ich schon als junges Mädchen in dem Kloster begonnen, freilich nichts weniger als regelmäßig fortgeführt und an dem ich seit vielen Jahren keine Zeile mehr geschrieben habe. Ich werde die Blätter – ich wollte, es wären ihrer mehr – an den betreffenden Stellen einfügen, notabene: nicht ohne vorherige, sehr sorgsame Prüfung auf ihre Treue und Redlichkeit hin. Ich hoffe nach der Seite das beste. Ich war von jeher eine leidlich ehrliche Seele, die freilich eine bedenkliche Neigung hatte, mit andern streng ins Gericht zu gehen, aber sich selbst nicht schonte, wenn die Reihe an sie kam. –

8 So, liebe Lent, da wollen wir für heute aufhören. Morgen, denke ich, kommen wir zu der eigentlichen Geschichte, bei der wir mit dem Anfang anfangen werden. Das geschieht, soviel ich weiß, in jeder gewissenhaften Autobiographie, und ich glaube, mit Recht. Es ist nicht gleichgiltig, von wem wir abstammen. Im Gegenteil! Wer die Reihen seiner Ahnen väterlicher- und mütterlicherseits nur weit genug zurückverfolgen könnte, würde sicher finden, daß er in allen seinen physischen, Temperaments-, Charakter- und seelischen Eigenschaften gar nichts Eigenes hat, sondern schlechthin der glücklich-unglückliche Erbe seiner Vorfahren ist.


Da thut es mir dann um so mehr leid, daß ich von diesen meinen Vorfahren so sehr wenig weiß, trotzdem die Kesselbrooks notorisch eine adlige Familie sind, deren Stammbaum nach einigen bis in das vierzehnte, nach andern sogar bis in das zwölfte Jahrhundert sich verfolgen läßt. Ihre Heimat soll Westfalen, und sie sollen da einstmals reich begütert gewesen sein. Doch das ist lange her. Schon seit vier oder fünf Generationen mindestens ist bei ihnen von Gütern und obligaten Schlössern nicht mehr die Rede. Daran, daß W. ihre ursprüngliche Heimat, erinnert nur der Umstand, daß ein Clemens v. K. kurz nach dem 30jährigen Kriege der Gründer des Erziehunginstituts für adliche Fräulein bei der kleinen Stadt L. gewesen ist. Oder wohl nur Mitgründer, da für seine Familie kein anderer Vorteil aus der Gründung resultierte, als eine Freistelle. Und auch von diesem Recht scheint ein sehr bescheidener Gebrauch gemacht worden zu sein. Wenigstens ließ sich, als ich eintrat, feststellen, daß der Name Kesselbrook seit einem 9 Jahrhundert in den Klosterbüchern nicht figuriert hatte. Offenbar war die Sache in Vergessenheit geraten, bis mein Vater als Regimentskommandeur nach dem benachbarten M. kam und von seinem Jugendfreund, dem Rechtsanwalt Piper, den er dort wiederfand, und der von Berufs wegen oft in alten Akten zu stöbern hatte, auf die noch immer nicht verjährten Ansprüche hingewiesen wurde. Wofür ihm dann mein Vater aus guten Gründen sehr dankbar war.

Denn, wie schon angedeutet, wir K.'s gehörten längst zum armen Adel, und es hätte wohl noch übler um die Familie gestanden, wäre sie in ihrem Nachwuchs zahlreicher gewesen. Ja, es ist ein Wunder fast, daß sie sich bis zu meinem Vater und seinem Bruder im Mannstamm behauptet hat. Seltsamerweise brachte sie es kaum je über zwei, höchstens drei männliche Sprossen, die dann unweigerlich Offiziere wurden und sich in aller Herren Ländern mit den betreffenden Feinden herumschlugen, was dann nicht wenigen ihr junges Leben kostete, so daß die Familie mehr als einmal auf den zwei Augen des einzig noch überlebenden K. stand. So war es der Fall mit meinem Großvater, der General in preußischen Diensten und ein Liebling des Kronprinzen, späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. war, was nun nachträglich seinen beiden Söhnen in ihrem Avancement sehr zu statten kam, und noch mehr genützt haben würde, hätte sich nicht auch er zu der leidigen Gewohnheit der K.'s bekannt, im besten Mannesalter zu sterben.

So habe denn auch ich, als der Vater – kaum in der Mitte der vierzig – uns, meiner Schwester Lida und mir – sie elf-, ich zehnjährig – durch den Tod entrissen wurde, nur die Erinnerung an einen stattlich schönen Mann, wo er auch ging und stand, besonders aber, wenn er im Sattel war, wohin, wie er sagte, ein Soldat überhaupt von Rechts wegen 10 gehöre. Und daß es sein größter Kummer sei, mit dem schmalen Kesselbrook'schen Beutel Infanterist sein zu müssen, während er, ein geborener Kavalleriegeneral, es mit dem alten Ziethen und mit dem Feldmarschall Vorwärts selbst aufgenommen haben würde.

So hat er mehr als einmal zu mir gesprochen, wenn ich ihn, das neunjährige Ding, auf einem Pony, den er eigens für seinen Liebling angeschafft, bei einem Spazierritt begleiten durfte – zum Entsetzen der guten Spießbürger und ihrer Frauen und Töchter, die einmütig dafür hielten, daß es mit einem Kinde, dem man so früh solche Freiheiten gewähre, unbedingt ein schlechtes Ende nehmen müsse. Und ein Vater sich schämen solle, der, anstatt eine mütterliche Waise doppelt zu hüten, sie solchen Gefahren des Leibes und der Seele preisgebe.

An solchen Vorwürfen war eines wohl zweifellos richtig: der Vater verzog mich in jeder Weise. Verlangte ich ein Spielzeug – ich bekam es; gefiel mir eine Gouvernante nicht, wurde sie unbedingt weggeschickt. Meine Schwester Lida, trotzdem sie die ältere war, stand immer und überall in zweiter Linie. Dabei war sie nicht nur die ältere, sondern auch die weitaus hübschere, ja einfach ein bildschönes Kind, aus dem dann später auch ein bildschönes Mädchen wurde. Weiter sagten alle, daß sie unsrer verstorbenen Mutter mit jedem Tage ähnlicher werde. Ich kann das nicht beurteilen, denn, als uns die Mama genommen wurde, waren wir erst 4 und 3 Jahre alt; und außer ein paar schlechten Daguerreotypen und einem noch schlechteren Pastellbildchen, die wir von ihr haben, ist nichts vorhanden, wonach ich mir eine Vorstellung von ihrer Erscheinung machen könnte. Doch werden die Leute schon recht gehabt haben; und dann ist es eigentlich zu verwundern, daß ich und nicht Lida der Liebling des Vaters war.

11 Oder auch eigentlich nicht zu verwundern, wenn ich den Indiskretionen von Tante Anna trauen darf. Sie hat freilich den Papa nie leiden können; aber ihre kleinen grauen Augen sahen scharf, und sie deutete wiederholt mehr als an, daß die Ehe meiner Eltern ebenso kurz wie unglücklich gewesen sei. Vielleicht gerade nur, weil sie so kurz. Sind doch in so vielen Ehen die ersten Jahre, bevor die Differenzen der Temperamente und Charaktere sich einigermaßen ausgeglichen, das Bildungsniveau hinauf und hinab sich in etwas applaniert hat, die stürmischsten, leidvollsten. Möglicherweise ist der Grund auch ein anderer gewesen, der etwas weiter von dem allgemeinen Menschenlose abliegt. Mein Vater war nicht nur ein ungewöhnlich schöner, sondern auch bezaubernd liebenswürdiger Mann. Solchen Männern pflegen die Frauen, wie ihrer viele sind, auf halbem Wege entgegenzukommen. Und solche Männer pflegen nicht darauf zu warten, sondern gehen gern den ganzen Weg und auch wohl darüber hinaus. Ich würde es begreiflich finden, hätte mein Vater zu dieser gefährlichen Kategorie gehört; und da ist ja das Unglück bald fertig für eine Frau, die jung und unschuldig in die Ehe kommt und doch Augen hat, zu sehen. Ach, der vielen, vielen Evatöchter, die, erwachend, innewerden, daß ihr Paradies nichts war als ein kurzer schöner Traum! Arme Mutter, wenn es sich denn wirklich so verhalten hat! Schlimmer Vater, der du in dem Übermute deines Reichtums die kostbare Perle so wenig achtetest!

Doch das alles sind Vermutungen, aus denen sich sichre Schlüsse auf keine Weise ziehen lassen. Alles in allem möchte ich glauben, daß, wie Lida ganz das Kind unsrer Mutter, so ich das unsres Vaters war. Wie ich das verstehe, wird sich wohl aus dem Folgenden noch deutlicher ergeben.

12 Des Vaters oft gegen seine Freunde ausgesprochener Wunsch, nicht im Bette zu sterben, war in Erfüllung gegangen. Bei dem großen rheinischen Manöver vom Jahre 51 hatte er sich auf einem wilden Ritt über Gräben und Hecken weg das Genick gebrochen und war auf der Stelle tot gewesen. Daß er ein Testament hinterließ, war nicht eine Folge seiner Vorsicht: sein Freund, der Rechtsanwalt, dem ein plötzlicher Tod des Tollkühnen als etwas sehr wohl Mögliches erschienen sein mochte, hatte gleich nach dem Ableben der Mama darauf gedrungen, daß für uns nach dieser Seite gesorgt werden müsse. Das kleine zurückgelassene Vermögen stammte von der Mama; aber, da sich die Eltern bei der Verheiratung gegenseitig zu Universalerben eingesetzt, hatte der Vater darüber disponieren können. Auf den Rat des rechtsverständigen Freundes war dies in der Weise geschehen, daß auf Lidas Teil zwei Drittel des Ganzen kamen, während mir die Freistelle in dem Kloster – die ich auf alle Fälle mit dem zehnten Jahre antreten sollte – als Entschädigung für mein geringeres Erbe angerechnet wurde. Der Rechtsfreund sagte mir später, er habe dies Arrangement getroffen, weil er der Meinung gewesen, daß Lida bei ihrer auffallenden Schönheit bald genug einen Mann finden werde, falls das nötige Vermögen in Reserve stehe; ich dagegen möglicherweise für das spätere Leben auf meinen guten Kopf und meine Talente angewiesen sei und mir deshalb eine sorgfältige Bildung aneignen müsse, wie sie mir das durch seine Erziehungsresultate berühmte Kloster garantiere.

Ob diese Bestimmungen mit der Billigkeit und Gerechtigkeit völlig vereinbar sind, will ich dahingestellt sein lassen. So viel ist mir sicher, daß, als sie getroffen wurden, ich ein verzweifelt häßliches Ding gewesen sein muß. Der Rechtsfreund, als er mir 13 jene vertraulichen Mitteilungen machte, deutete sogar etwas derart an. Nicht ohne sogleich galant hinzuzufügen: es sei so schwer, vorauszusehen, wie sich neunjährige Kinder später entwickeln würden. Besonders Mädchen. Da könne man beinahe als Regel gelten lassen, daß sie die gewiegtesten Kenner Lügen straften und das Gegenteil der Prophezeiung eintrete.

Ich erwiderte lachend, ich wolle schon zufrieden sein, wenn in diesem Falle, wie in so vielen, die Wahrheit in der Mitte liege.

Doch hier habe ich einen Sprung von neun Jahren gemacht. Ich muß in der chronologischen Folge bleiben, wenn ich den Faden in der Hand behalten und das Gewebe meines Lebens, das ich schlichten will, nicht erst recht in Verwirrung bringen soll.

Also zurück zu meines ritterlichen Vaters allzufrühem Tod!

Und nun thue dich auf, du alte, mit dichtem Epheu übersponnene Klosterpforte, die du der Eingang zu einer Stätte warst, an der ich meine ganze eigentliche Jugend verbringen sollte, und an die ich noch jetzt mit tiefster Wehmut und innigster Dankbarkeit zurückdenke! Bin ich doch da – nicht auf Momente, sondern lange Zeit hindurch – so glücklich gewesen, wie ich meiner Natur nach wohl überhaupt werden kann. Ja, ich möchte sagen: ich bin vollkommen glücklich gewesen, und die kleinen und großen Leiden, an denen es gewiß nicht gefehlt hat, waren nichts als das Kupfer, mit dem man das Gold legiert, damit es den nötigen Widerstand leisten mag gegen die stumpfe Welt, durch deren rauhe Hände zu gehen, seine trübe Zukunft ist.


Schon mir die äußere Situation lebhaft in Erinnerung zu rufen, erfüllt mich mit Entzücken.

14 Ein paar tausend Schritte vor dem Südthore der alten Stadt gelegen auf der Höhe eines mählich ansteigenden Hügels, der auf der andern Seite jäh in das tiefe schmale Bett des Flüßchens abfiel, war das Kloster inmitten seines herrlichen Parkes mit den ehrwürdigen Bäumen und seinen wohlgepflegten Blumen- und Gemüsegärten ein Asyl der Ruhe und des Friedens, in das von der verworrenen Welt draußen kaum ein Ton drang. Selbst in der Stille der Sommernacht, wenn wir unsere Schlafstubenfenster offen hatten (gegen den Willen von chère Maman, die in diesem Punkte von der alten Schule war), gelegentlich nur das halb erstickte Bellen eines Hundes in einem der Dörfer der Nachbarschaft, oder das dumpfe Rollen eines Zuges auf der Zweigbahn, die in einem weiten Bogen um den Klosterberg herum unten durch das Thal von der Stadt nach der Hauptbahn lief. Und im Winter, wo wir manchmal im Schnee wie vergraben waren, das Krächzen der Krähen in den Wipfeln der Eichen im Park und das klägliche Geschrei der Käuzchen in dem Glockenturm der Klosterkapelle. Aber Krähen und Käuzchen gehörten doch auch zu unsrer Welt, wie die Finken, Meisen und Amseln, die im Frühjahr und Frühsommer mit ihrem Gesang das ganze grüne Revier erfüllten; und die Nachtigallen, die hier zahlreicher waren und voller, inniger schlugen, als ich es je wieder im Leben gehört. War aber der Park mit seinem tiefen Schatten, den sonnigen Grasplätzen, auf denen wir Haschens und Reifen spielten, in dessen breiten, sauberst gehaltenen Gängen wir Arm in Arm promenierten, ein lieblicher Aufenthalt, und so der Blumengarten, der daran stieß, mit seinen Hyazinthen, Levkojen, Rosen- und Resedabeeten, über denen sich die bunten Schmetterlinge wiegten – meine Schwärmerei blieb die Terrasse hinter dem Kloster, die, der Kante des Felsens aufgesetzt, unmittelbar über dem Flüßchen 15 zu hängen schien, das hundert Fuß tiefer in seinem schmalen Bett zwischen großen und kleinen weißgewaschenen Steinen plätschernd und murmelnd nach rechtshin die Ebene suchte. Das Wasser erschien beinahe braun und war doch so klar, daß man die Fischchen deutlich sah, die an tieferen Stellen, kaum sich regend, gegen den Strom standen; oder die Forellen, wenn sie unter einem Stein hervorschossen, um alsbald wieder in ihr Versteck zurückzuschlüpfen. Drüben, wenn auch hier und da die Felswand sichtbar wurde, stieg der Hang mähliger auf, das diesseitige Ufer um ein Bedeutendes überragend, und von unten bis zum obersten Rand dicht mit Busch und Baum bewachsen; die Bäume zumeist Tannen, aber dazwischen auch Buchen, deren helles Grün im Frühjahr sich gar herrlich von dem dunklen Grunde des Nadelholzes abhob.

Warum dieser Platz es mir so angethan, wüßte ich kaum zu sagen. Die breite Terrasse selbst war kahl und wohl ein wenig vernachlässigt; der Estrich des Fußbodens hatte große Lücken, die Stäbe des eisernen Geländers waren zum Teil verbogen, arg vom Rost benagt; dazu bot sie, nach Westen blickend, nur in den früheren Morgenstunden Schatten. Wenn die Sonne darüber hinter den Waldrand getaucht war, wehte es kühl durch die enge Schlucht, atmete es feucht von dem Wasser herauf, und uns dann da aufzuhalten, war streng verboten. Es war nur eine Stimme, die Terrasse sei dazu angethan, die Lebenslustigste melancholisch zu machen, und ganz unbegreiflich, wie gerade ich Gefallen daran finden könne. Ich solle doch nur sagen: welchen? Und was mir durch den Kopf gehe, wenn ich, auf das Geländer gestützt, stundenlang – vorausgesetzt, daß man mich gewähren lasse – hinab in das braune Wasser starre, das heute wie gestern sein eintöniges Lied murmele, 16 oder hinüber auf die grüne Wand, die doch ebenso das Bild der ödesten Monotonie sei?

Ich ließ sie reden und spotten. Für mich hatte das Lied des Wassers unzählige und immer andere Weisen; für mich war der Wald drüben nicht stumm. Er erzählte mir viele, viele Geschichten, die sich darin freilich alle glichen, daß sie keinen Anfang und auch kein Ende hatten.

Sie sagten: ich dichte in jenen Stunden und habe mein Pult voll von Poesieen. Sie irrten sich. Ich habe nie auch nur den Versuch gemacht, niederzuschreiben, was mir da durch den Kopf ging. Ich wußte, es würde ganz vergeblich sein: als wenn man die Wellen auseinanderhalten wollte, welche eine lebhafte Flut an den Strand treibt, oder die Wolken, die vor einem starken Winde her an dem Himmel dahinjagen. Wellen und Wolken – Phantasieen, wie sie ein junges Menschenhirn durchschweben; Ahnungen einer Zukunft mit ihren Möglichkeiten, aus denen niemals Wirklichkeiten werden; wallende, brauende Nebel, die Chaos bleiben und dahinschwinden ins Unendliche, aus dem sie heraufstiegen, es sei denn, daß ein Künstlergenie sie mit seiner Wunderhand ergreift und aus dem quirlenden Urstoff leuchtende Gebilde formt.

Aber diese himmlische Kraft war mir versagt. Was mir faßlich werden sollte, das mußte ich erleben. Und ein Thor, wer von dem Leben verlangt, was ihm einzig nur die Kunst gewähren kann! Das Leben kultiviert mit Vorliebe jenes bekannte fürchterlichste aller Genres; wird es interessant, ist es immer auf Kosten unsrer Nerven; und seine Tragik, wenn es so weit kommt, hat die schlimme Eigenschaft, uns zu zermalmen, ohne uns zu erheben.

Übrigens kamen mir verhältnismäßig selten jene versonnenen, träumerischen Stunden, in denen ich mich 17 aus der Schar der Gefährtinnen zu meinem Lieblingsplätzchen stahl, mit den Wassern, den Bäumen und Wolken geheime Zwiesprach zu pflegen; denn mit der Lebenslustigsten, die der Ort melancholisch machen könne, war niemand anderes als ich selbst gemeint. Ja, die intensivste Lebenslust, das Erbteil meines Vaters, pulste durch meine jungen Adern; blitzte mir – so sagten sie wenigstens – aus den grauen Augen, und suchte sich in tausend übermütigen Streichen Luft zu machen. Ich war in diesem Punkte so berüchtigt, daß man alles, was von der Sorte geleistet wurde, mir auf die Rechnung schrieb: Das hat gewiß wieder Antoinette angestellt! das kann nur Antoinette gethan haben! Und es blieb auf mir sitzen, war ich auch zufällig einmal unbeteiligt, weil ich die seltsame Neigung hatte, über das komische Quiproquo unbändig zu lachen, was natürlich als Eingeständnis der Schuld angesehen wurde. Auch kann mein Übermut, alles in alles, nur ein harmloser gewesen sein, und die Kosten meiner wilden Streiche muß ich, als Regel, getragen haben; es wäre sonst unmöglich gewesen, daß ich bei den älteren, gleichaltrigen und jüngeren Mitschülerinnen gleich beliebt war; bei den Lehrern und den »Schwestern« in gutem Ansehen stand, und selbst die gestrenge chère Maman, wenn sie mich offiziell hatte schelten müssen, mir privatim einen Kuß auf die Stirn drückte und, mir die Wangen streichelnd, lächelnd sagte: du mußt nun aber wirklich anfangen vernünftig zu werden, Antoinette!

Ach, die liebe, die gute chère Maman, die eigentlich, da sie ein altes Fräulein war, auf diesen Titel kein Anrecht hatte und uns allen doch die sorgsamste, beste, liebevollste Mutter war! Wie deutlich ich ihr bleiches Gesicht sehe, das immer noch die Spuren einstiger Schönheit zeigte und in dessen großen braunen Augen das Jugendfeuer nicht erloschen, nur seltsam 18 verklärt war! Unmöglich, in ihrer Gegenwart einen schlimmen Gedanken zu hegen, ein häßliches Wort über die Lippen zu bringen! Sie heiligte alles, was in ihre Nähe kam. Und wirkte einzig nur durch ihre unendliche, sich stets gleiche Güte; denn, was ich eben von ihrem Schelten sagte, so war es kein Eifern, kein Heftig- und Leidenschaftlichwerden, wie bei anderen, nur ein erhöhter Ernst im Ausdruck und im Ton der Stimme – so wenig scheinbar und doch von einer stillen Kraft, gegen die es keinen Widerstand gab.

Und dabei – eine seltenste Vereinigung – hielten ihre Weisheit und Klugheit mit ihrer Güte gleichen Schritt. Wie ihr Blick klar in die Seelen ihrer Zöglinge sah, und sie zum Guten und Schönen zu leiten und zu erheben wußte, hielt sie die ausgedehnte Klosterwirtschaft in musterhafter Ordnung. Das letztere allerdings mit Hilfe der Schwester-Schaffnerin Brigitta, einer höchst resoluten Dame in der Fülle ihrer Kraft mit klarsten graugrünen Augen, die durch die Wände sehen zu können schienen; derben Armen und Händen, die Mannesarbeit spielend verrichteten; einer schallenden Kommandostimme und einem mehr als angedeuteten Bärtchen auf der Oberlippe. Auch sie war trotz ihres barschen Wesens im Grunde eine gute Seele, und wenn sie ihr Lieblingssprichwort »Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen«, nicht nur gelegentlich herauspolterte, sondern thatsächlich in Ehren hielt, so hatte sie wahrlich dazu ihre gerechtesten Gründe.

Unterstand ihr doch, wie die Außenwirtschaft mit ihren Gärten und Gärtnern, der Molkerei, dem Geflügelhof mit den obligaten Mägden, so die häusliche Ökonomie, in der es für chère Maman, ein halbes Dutzend Schwestern und vierzig bis fünfzig Zöglinge 19 nach allen Seiten hin zu sorgen galt. Und wären wir Mädchen doch noch ungefähr gleichen Alters gewesen! Aber da waren alle Altersstufen vom zehnten bis zum achtzehnten Jahre vertreten. Wie verschieden da die Bedürfnisse, die Ansprüche! Daß trotzdem alles nach dem Schnürchen ging, ist, als ich später selbst einem großen Haushalt vorzustehen hatte, der Gegenstand meines Staunens gewesen. Damals nahm man es freilich als etwas Selbstverständliches hin. Werden wir uns doch fast immer erst nachträglich und zu spät bewußt, daß, was wir wie »Essen und Trinken frei« ansahen, etwas Außerordentliches war, für das sie, die es schufen, das Verdienst, das ihnen nicht angerechnet wurde, das Lob und den Dank, an die niemand dachte, mit in ihr stilles Grab nahmen!

Den Unterricht, mit dem es sehr ernst gehalten wurde, erteilten außer drei von den Schwestern, die als Gelehrte gelten konnten, und einigen jüngeren Lehrerinnen, die, ohne auf die Würde der Schwestern Anspruch zu haben, doch in der Anstalt wohnten, einige Herren von dem Gymnasium der nahe benachbarten Stadt. Ebendaher kamen der katholische und der evangelische Pfarrer, denen unsre Seelen in Sache der Religion anvertraut waren. Es scheint, daß, als nach dem schrecklichen Kriege das Kloster gestiftet wurde, man der Glaubenszänkereien herzlich müde gewesen ist, und die adligen Gründer sich gegenseitig ein Vertrauens- und Versöhnungszeichen geben wollten, als sie festsetzten, daß bei der Aufnahme auf das Glaubensbekenntnis keinerlei Rücksicht genommen werden solle. An dieser Satzung war treulich festgehalten worden, wie oft und wie sehr auch die Gesinnungen der Menschen seit jenen Tagen gewechselt haben mochten, und so waltete auch jetzt hinüber und herüber ein Geist der Duldsamkeit, gewiß nicht ohne Einwirkung 20 der herrlichen chère Maman, die besser als die meisten wußte, daß in dem Hause unsers Vaters viele Wohnungen sind.

Niemand kam diese Duldsamkeit mehr zu gute als mir, aus Gründen, von denen ich später zu sprechen haben werde.


Ich sagte, ich habe mich nie, wie sie es doch rings um mich her thaten, poetisch versucht. Und darüber freue ich mich noch heute. Nichts Kläglicheres als jene Verse, die sie sich gegenseitig in ihre Albums stifteten! Wie oft haben sie meinen Spott wachgerufen: Emilie, das hat Geibel schon mit etwas anderen Worten besser gesagt! – Anna, Goethe ist zwar sehr reich; doch auch die Reichsten darf man nicht so ungeniert bestehlen! –

Hielt ich mich aber auch von dieser Thorheit frei, ohne Tagebuch sollte ich denn doch nicht fortkommen.

Und wie ich jetzt die vergilbten Blätter wieder durchlese, freue ich mich darüber. Sie sind eine große Erleichterung für meine gute Lent, der ich das alles nicht erst in die Feder zu diktieren brauche; und die nun nichts zu thun hat, als sie an dieser Stelle einzuheften. Aber auch mir leisten sie die besten Dienste. Sie rufen mir das Bild des sechzehnjährigen Mädchens wieder viel lebhafter vor die Seele, als es die bloße Erinnerung vermöchte; und so werden sie mir auch für gewisse spätere Episoden die echten Farben auf die Palette bringen.

Die echten Farben! davon bin ich überzeugt. Und ich erinnere mich auch sehr wohl, daß ich mir, bevor ich die Feder zur ersten Seite und zum ersten Wort ansetzte, das heilige Versprechen gab, stets wahr 21 und ehrlich zu sein, im vollen und bewußten Gegensatz zu Adele, die in ihrem Tagebuch – ach! und nicht bloß da! – so greulich flunkerte. Ich glaube bestimmt: es war nur die Empörung über ihre Flunkerei, die mir die Feder in die Hand drückte. Wie könnte ich es anders erklären, daß die erste Eintragung unter dem Datum 24. Mai 1856 nichts enthält, als die Worte:

Nein! wie diese Adele lügen kann!

Es scheint, ich habe vier Wochen gebraucht, mich darüber auszuwundern; denn die nächste ist genau einen Monat später datiert. Inzwischen habe ich mir augenscheinlich klar gemacht, daß ein Tagebuch noch etwas mehr enthalten müsse, als einen Stoßseufzer und ein paar hundert leere goldgeränderte Blätter. Auch hat mich offenbar der Ehrgeiz erfaßt, das Versäumte nachzuholen und es Adelen wenigstens in der Fülle gleich zu thun. Denn jetzt geht es durch eine ganze Reihe von Seiten ununterbrochen munter weiter.

 
23. Juni.

Das heißt: eigentlich lügt sie nicht, wenn Professor Resber (wie immer) recht hat, der heute in der Stunde sagte: Eigentliche Lüge ist nur, wenn einer mit Bewußtsein die Unwahrheit spricht in der Absicht, sich irgend einen Vorteil zu sichern. Er gab da mehrere Beispiele: es will einer eine Beschämung oder Strafe von sich abwenden und dergleichen. Eine viel schlimmere Lüge sei die, welche darauf ausgeht: einem andern einen Schaden zu bereiten. Die erstere sei noch halb entschuldbar, da sie mit Notwehr identisch (heißt es so?) sei, oder doch sein könne; die zweite sei unter allen Umständen verwerflich und verächtlich.

Nein! dann lügt Adele nicht. Schaden will sie wahrhaftig keinem durch ihre Sentimentalitäten und 22 Großsprechereien; und worin der Vorteil für sie selbst besteht, wenn sie es wieder einmal so weit gebracht hat, daß wir sie gründlich auslachen, vermag ich auch nicht einzusehen.

Carola weinte heute so bitterlich, als wir alle ihre Schwester auslachten. Ich habe mich so geschämt! Natürlich hatte ich am lautesten gelacht.

 
24. Juni.

Ich liebe Carola. Die andern sagen: sie sei das richtige Gänschen von Buchenau. Das ist nicht wahr. Was sie sagt, ist niemals dumm. Viel Worte kann sie allerdings nicht machen. Aber ist das nötig? Ich rede zum Beispiel entschieden viel zu viel –

Und dann ist sie so sehr schön.

 
25. Juni.

Carola ist entschieden die schönste von uns allen. Das will etwas sagen. Es sind gewiß ein halbes Dutzend schöne Mädchen hier; aber keine kann sich mit ihr messen. Prof. Resber hat recht (wie immer). Er sagt: sie ist wie ein schönes Lied. Dann fügte er gleich hinzu: eines von Goethe, meine ich. Ich habe ihn gefragt: ob ich nicht Goethe lesen darf? Er schien sich einen Augenblick zu besinnen. Dann sagte er »später«.

 
29. Juni.

Prof. R. gefragt, warum ich so lange auf Goethe warten muß, für den er selbst doch so grenzenlos schwärmt? »Sie sind noch nicht goethereif.« – »Was heißt das »goethereif?« – »Das heißt: Goethe ist ein voller, schwerer Wein, den Kinder nicht trinken dürfen.« – »Aber ich bin doch kein Kind mehr, Herr Professor!« – »Gewiß nicht. Sie sind sogar über Ihre Jahre hinaus; aber doch 23 nicht so weit, Goethe zu verstehen. Und sich mit Unverstandenem belasten, sich mit Rätseln plagen – ist schon gar nicht Ihre Sache.«

Darin hat er wohl nicht recht gehabt. Ich plage mich mit so vielen Rätseln.

Zum Beispiel: warum man einen Menschen lieben muß, wenn er schön ist?

Und ihn nicht lieben kann, wenn er es nicht ist?

Professor R. ist nicht schön.

 
3. Juli.

Grete Wesselhöfft sagte heute: Carola sei eine Suse. Es fehlte nicht viel, so hätte ich ihr eine Ohrfeige gegeben. Ich klatsche und petze sonst wahrhaftig nicht; aber ich war so empört, daß ich es Professor R. sagen mußte, als wir ihn nach der Schule bis zur äußeren Parkpforte begleiteten und er mich, wie gewöhnlich, an seine Seite gerufen hatte. Er lachte und sagte: Grete ist ein Weltkind. Die schätzen nur die Schlangenklugen. Zu denen freilich gehört Carola nicht. Dafür ist sie denn, Gott sei Dank, keine Anempfinderin. wie ihre Schwester. – Was ist das: Anempfinderin? – Auch ein Goethe'sches Wort. Er hätte auch Nachempfinderin sagen können, insofern diesen Menschen, was sie empfinden sollen, immer erst ein andrer vorempfunden haben muß. Aber Anempfinderin ist doch besser. Das »An« drückt aus, daß, was sie empfinden, ihnen ursprünglich gar nicht eignet; sie es sich nur angeeignet haben. Wie einen fremden Besitz. Auf den sie dann auch mit Sicherheit gar nicht rechnen können. Der ihnen bei der ersten besten Gelegenheit wieder verloren geht. Übrigens sind die Anempfinderinnen und Anempfinder ein sehr zahlreiches Geschlecht. Es giebt so wenige, die aus sich selbst heraus frei und kraftvoll empfinden, 24 gerade so, wie sie selten sind, die aus sich selbst zu denken wagen. Sie gehören zu diesen wenigen. Ich fühlte, daß ich dunkelrot wurde, als er mir das sagte; aber, ich glaube, nicht, weil er es sagte, als weil er mich mit einem so sonderbaren Blick dabei ansah. Er hat ja auch in der Stunde, wenn er vorträgt und dabei in Feuer gerät, so glänzende Augen. Aber in dem Blick war noch etwas anderes. Ich weiß nicht, was.

 
6. Juli.

Ich weiß es nach zwei Tagen noch immer nicht.

 
9. Juli.

Und er sagt: ich sei nicht von denen, die sich mit Rätseln plagen!

 
10. Juli.

Ich habe es jetzt bei chère Maman durchgesetzt, daß ich mit Adele und Carola ein Zimmer bewohne, in dem wir auch schlafen. Um Adele war es mir wahrhaftig nicht zu thun; ich konnte Carola nur nicht ohne sie haben. Wie nur zwei Schwestern so verschieden sein können! Aber ich bin meiner Schwester auch nicht ähnlich, weder äußerlich, noch, glaube ich, innerlich. Wissen kann ich es nicht. Ich habe sie jetzt seit 6 Jahren nicht gesehen. Aus den paar Briefen, die sie mir geschrieben, kann ich nichts schließen. Höchstens, daß sie mit der Orthographie noch immer über den Fuß gespannt ist. Auch kommt es ihr nicht darauf an, »das« anstatt »daß« zu schreiben. Und umgekehrt. Aber Professor R. sagt: Goethe habe bis zu seinem Lebensende nicht orthographisch schreiben können.

Übrigens ist Professor R. seit unsrem Gespräch über »Anempfinden« u. s. w. recht sonderbar zu mir. Er hat mich seitdem nicht wieder an seine Seite gerufen, wohl aber Grete Wesselhöfft schon ein paarmal. Das Weltkind! Nun, wenn sie ihm lieber 25 ist, als ich – meinetwegen! Ich war schon nahe daran, für ihn zu schwärmen, wie die anderen alle. Jetzt habe ich mich schon wiederholt gefragt, ob er nicht auch so etwas von einem Anempfinder hat? ob wohl alles bei ihm echt ist?

Ich mache mir darüber bittere Vorwürfe; aber ich kann mir nicht helfen. Ich glaube nicht, daß ich boshaft bin; aber ich kann doch meine Augen nicht zumachen, wenn ich bei den Menschen etwas bemerke, was mir nicht gefällt. Aber daß ich das nicht für mich behalte, das ist dumm. Ich muß auch gegen Adele vorsichtiger sein und sie nicht so arg verspotten. Sie merkt freilich den ärgsten Spott nicht, oder doch kaum: sie ist zu eingenommen von sich. Aber Carola thut es weh. Und Carola weh thun! Pfui!

 
12. Juli.

Wir haben uns unsre Familienverhältnisse mitgeteilt: daß ich keine Verwandten habe außer dem Bruder meines Vaters, der in D. das Regiment kommandiert, und bei dem meine einzige Schwester seit dem Tode unsers Vaters ist. Sie sind Waisen, wie wir; Verwandte haben sie nur ganz entfernte, die sie nicht einmal kennen. Der Vater war auch Offizier; hat es aber nur bis zum Major gebracht. Daß er da schon den Abschied bekam, hat er nicht verwinden können. Er ist ein paar Jahre darauf gestorben; die Mutter, die ihn sehr geliebt hat, fast unmittelbar hinter ihm her. Ich möchte fast glauben, sie hat sich das Leben genommen. Jedenfalls eine traurige Geschichte. Vermögen haben sie gar nicht; und hätten sie nicht, wie ich, beide eine Freistelle hier, wüßten sie nicht wohin. Dabei sind die Reckebergs ein noch älteres Geschlecht, als selbst wir Kesselbrooks, und haben hier zu Lande und 26 am Rhein viele Schlösser gehabt, deren Ruinen noch heute bewundert werden. Ach, wie gut kann ich mir Carola denken, als ein solches Schloßfräulein: wie sie auf dem Söller steht und den Fluß hinauf- und hinabblickt, wo alle Städtchen und Dörfer den Reckebergs gehören; oder aus dem Schloßthor reitet auf einem weißen Zelter (ihr Vater hat ihn von dem Kreuzzuge mit Gottfried von Bouillon aus Palästina mitgebracht), den Falken auf der rechten Hand, neben sich den Pagen, der sie aus großen blauen Augen anschmachtet. Ich wollte, ich wäre der Page gewesen und hätte für sie sterben können in dem Kampfe mit dem jungen Raugraf, der die Jagdgesellschaft überfällt mit seinen Mannen, die fliehen, als der Graf von dem Pagen erschlagen ist. Braucht er dann, als er, an seinen frischen Wunden verblutend, in ihren Armen stirbt, ihr zu sagen, daß er sie immer geliebt habe?

 
An demselben Tage, abends.

Wenn ich mir diese Geschichte nicht anempfunden habe, weiß ich nicht, was Anempfinderei ist! (Siehe Uhland!)

 
15. Juli.

Die dumme Geschichte geht mir doch noch immer durch den Kopf. In den Pagen, der das Schloßfräulein liebt, habe ich mich so hineingedacht, daß ich manchmal meine, ich sei gar nicht ein Mädchen, sondern ein Knabe. Jedenfalls möchte ich, ich wäre einer. Ich könnte ja Carola nicht mehr lieben, als ich es jetzt schon thue; aber ich könnte später, wenn wir aus dem Kloster sind, und sie dann niemand hat, der sich ihrer annimmt, für sie sorgen, für sie arbeiten, sie beschützen. Wie herrlich wäre das! Jetzt – ach, wer doch ein Mann wäre! Nicht bloß um Carolas willen: auch 27 für mich selbst. Es ist doch schrecklich, daß wir Mädchen alle Augenblicke etwas nicht thun dürfen, was man doch den Knaben ohne weiteres verstattet. Professor R. sagt: seine Schüler in der Sekunda, die auch nicht älter sind, als ich, dürfen in Goethe lesen, soviel sie wollen. Warum kriegen wir in der Litteraturstunde nur immer kleine Bruchstücke aus Faust und Tasso und Iphigenie zu hören? Und so ist es in allem. Ich weiß. ich könnte ebenso gut Latein und Griechisch, Mathematik und all das lernen, wie die Knaben. Professor R. sagt das selbst. Und wenn ich ihm klage, zuckt er die Achseln und sagt: Ja, ja, liebe Antoinette, Sie haben recht. Es ist ein altes Lied. Schon Goethe läßt seine Iphigenie sagen: »Der Frauen Schicksal ist beklagenswert.« – Ich: Und das soll nie anders werden, Herr Professor? – Er will wieder die Achseln zucken. Dann aber flammt es in seinen Augen auf: Ja, ja, es wird anders werden. Die Sklaverei, in der man euch hält, wird ein Ende nehmen. Auch ihr werdet freie Menschen werden; eure Kräfte gebrauchen, euch ausleben dürfen; und nicht, wie Iphigenie ewig das Land der Griechen mit der Seele suchen.

Ich war so begeistert von dem, was er sagte, und wie er es sagte: daß ich nach seiner Hand griff und sie küssen wollte. Er zog sie mit einem Ruck aus meiner und sagte ärgerlich, ja wütend: Wenn Sie das noch einmal versuchen, sind wir auf ewig geschiedene Leute!

Ich mochte wohl sehr erschrocken und bestürzt ausgesehen haben, denn er sagte: Nun, nun! Sie brauchen das nicht tragisch zu nehmen. Es verstieß nur zu sehr gegen das, was ich das Ritterliche in mir nenne.

Ist es nicht schrecklich, daß ich, trotzdem mir noch 28 die Thränen in den Augen standen, beinahe laut aufgelacht hätte! Professor R. und ein Ritter! Die stelle ich mir anders vor. Wie meinen Vater. Das war ein Ritter!

 
20. Juli.

Während ich ein Mann sein möchte, schwärmt Adele für das »Ewig Weibliche«. Natürlich hat sie das nicht aus sich selbst. Es ist Schwester Ambrosias drittes Wort. Ich kann Schwester A. nicht leiden. Wir haben bei ihr Handarbeitsstunden! That speaks volumes! Aber sie ist auch eine Anempfinderin. Ich höre es förmlich, wie, was sie sagt, nicht aus ihr selbst kommt, sondern sie es Gott weiß wem nachplappert. Es hat alles so gar kein cachet. Für sie ist die »Häuslichkeit« Trumpf. – Liebe Kinder, ihr gehört ins Haus! Jetzt und in alle Zukunft. In der Häuslichkeit findet ihr euer Glück; draußen seid ihr verloren – So geht das endlos weiter. Ich muß es Adele lassen: ein bißchen höher will sie doch hinaus. Sie bleibt bei Schwester Ambrosias Häuslichkeit, meint aber: es komme ganz darauf an, wie die beschaffen sei. Darüber hat sie gestern Abend Carola und mir im Park, als wir, wie schon oft, uns von den andern entfernt hatten, ordentlich einen Vortrag gehalten: die Häuslichkeit müsse natürlich ein schönes großes Schloß sein mit prächtigen Gärten ringsum, in denen Springbrunnen plätscherten; und vielen Dienern in seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen; und Wagen und Pferden in den Remisen und Ställen – was sie alles ganz hübsch schilderte. Das kann sie; bloß daß ich glaube, sie hatte es irgendwo gelesen. Zuletzt stieg sie sogar auf die halbrunde steinerne Bank, die da vor dem Obelisk mit der Inschrift steht, die keiner mehr entziffern kann, und 29 nun kam die Hauptsache: wir sollten schwören, daß wir künftig in einem solchen Schlosse hausen wollten. Wir seien das unsern Ahnen schuldig, deren Andenken wir nur auf diese Weise ehren könnten. – Carola war ganz gerührt. Ich mußte natürlich wieder einmal lachen und sagte: Schön, Adele! nun sei auch noch so gut und sage uns, wie wir das anfangen sollen? Sie sprang von der Bank herunter und flüsterte mir ins Ohr (mit einem Blick auf Carola, die sich die Augen trocknete): Das sage ich dir später einmal.

Nun bin ich neugierig, was jetzt kommen wird.

 
21. Juli.

Adele ist wirklich eine gewöhnliche Seele. Als ich sie heute frage: Also wie? antwortet sie: das ist doch ganz einfach: wir müssen sehr, sehr reiche Männer heiraten. Natürlich von Adel, wie wir. – Ist das deine ganze Weisheit? – Was sonst? –

Ich ließ sie stehen. Ich war empört. Einen Mann heiraten, bloß, weil er sehr reich ist!

Was Liebe ist, scheint sie nicht zu wissen.

Als ob ich es wüßte!

Nur, was ich lieben soll, muß schön sein. Ich kann die Männer nicht schön finden. Außer Vater. Er war schön.

 
25. Juli.

Bin ich nicht doch eine Nach- oder Anempfinderin? Heut nacht im Traum war ich in dem schönen Schloß, von dem Adele am vorigen Sonnabend phantasiert hatte. Ich ging aus einem prachtvollen Saal in den andern: Marmorwände, goldne Tische, Spiegel von der Decke bis auf den Fußboden, wie ich es im Leben noch nie gesehen habe, so daß ich gar nicht weiß, woher mir das alles gekommen ist. Dann trat ich durch eine hohe Thür auf eine 30 große Terrasse, die mit einem rotseidenen Zeltdach überspannt war und auf deren Ballustrade große marmorne Vasen standen, aus denen herrliche Blumen aufschossen und herabhingen. Ich schritt an die Ballustrade heran. Da lag vor mir ein herrlicher Garten: Blumenbeete, Rasenplätze, Springbrunnen, Teiche, auf denen silberne Schwäne schwammen. Es war ganz übernatürlich schön. Ich rief ein paarmal Carola, weil ich wollte, daß sie auch all die Pracht sehen sollte. Aber sie kam nicht. Da hörte ich hinter mir ein Geräusch; das heißt: ein Geräusch hörte ich wohl nicht; ich wußte nur, daß jemand hinter mir herkam. Ich wandte mich. Da trat aus dem Saal ein Offizier, den ich erst für meinen Vater hielt. Als er näher kam, sah ich, es war nicht mein Vater; aber auch in seiner Weise schön mit einem so lieben Lächeln in den Augen, daß ich gar keine Furcht hatte und mich auch weiter nicht verwunderte, als hätte ich ihn schon Jahre lang gekannt, trotzdem ich ganz gut wußte: ich hatte ihn nie vorher gesehen. Er stellte sich mir auch nicht vor, wie es doch Offiziere thun (sie stellten sich mir schon vor, als ich neun Jahre war), sondern lehnte sich neben mir an die Ballustrade. – Ist das nicht schön? sagte ich. – Wunderschön, antwortete er, blickte dabei aber nicht in den Garten, sondern auf mich. – Das verdroß mich, und ich sagte: so etwas sieht man sich doch ordentlich an. – Ach, mein gnädiges Fräulein, das kenne ich schon lange. – Es gehört also Ihnen?– Nein, mein gnädiges Fräulein. – Mir auch nicht. – Das weiß ich. – Wie kommen wir dann beide hierher? – Im Traum, gnädiges Fräulein, wie sonst? – Das ist aber schade. – Jammerschade.

Wie er das sagte, zuckte es in seinem Gesicht, und während er mich immerfort ansah, liefen ihm 31 große Thränen aus den Augen. Da mußte ich auch weinen und bin vor Herzeleid aufgewacht, schluchzend, wenn ich auch die Thränen, die mir stromweis über die Backen liefen, nur geträumt hatte.


Hier findet sich eine Lücke von mehreren Monaten in meinem Tagebuch, und ich erinnere mich sehr genau, wie sie entstanden ist.

Mit mir war eine seltsame Veränderung vorgegangen. Aus dem übermütigen Mädchen, das zu jeder Extravaganz bereit war und ihre Zunge nicht im Zaume halten konnte, war eine scheue, schweigsame Träumerin geworden, die nur noch dann und wann in ihre früheren Gewohnheiten zurückfiel. Und die Ursache? Der seltsame, überaus lebhafte Traum hatte es mir angethan. Ich glaubte jetzt zu wissen, wovon ich vorher kaum eine dämmernde Ahnung gehabt, worüber ich so grausam gespottet; glaubte zu wissen, was Liebe sei: die Liebe des Mädchens, des Weibes zum Manne. Ich liebte meine Traumgestalt: den jungen, schönen Offizier, der mich so innig angeblickt und dann so bitterlich geweint hatte. Er war mir sogar ein paarmal im Traum erschienen, nicht so deutlich, wie das erste Mal; aber ich konnte nicht zweifeln, daß er es war. Ich schämte mich dieser Träume – besonders nachdem mich das Traumbild (oder ich das Traumbild) auf den Mund geküßt hatte, und mochte es meinem Tagebuch nicht anvertrauen, das ich von jetzt noch sorgsamer als vorher in mein Pult schloß. Was mich noch befangener machte, war, daß unter meiner Traumliebe die Liebe zu Carola offenbar gelitten hatte. Ja, ich fand sie nicht einmal mehr so schön; und wenn ich ihr auch noch immer bereitwillig ihre französischen und englischen Arbeiten korrigierte, hielt 32 ich nicht mehr, wie früher, für selbstverständlich: ein schönes Mädchen habe das Recht, so viele Fehler zu machen, wie sie wolle.

Auch Adele war in meiner Achtung nicht gestiegen, trotzdem Professor R. in der Selekta (zu der wir jetzt avanciert waren) ihre deutschen Aufsätze für die besten erklärt hatte. Eine oder die andere fasse wohl das Thema tiefer und wisse ihm originellere Seiten abzugewinnen; aber Adele übertreffe uns alle an Sprachgewandtheit und Formtalent, wenn auch ihr Stil überall auf sein Muster zurückweise. Da dies Muster aber Goethes Prosa seiner besten Zeit sei – das heiße: das beste Deutsch, das je geschrieben – habe er nicht den Mut, sie deswegen zu tadeln. Könne man ein Ganzes nicht werden – und wie wenige könnten das! – so sei das zweitbeste, sich an ein Ganzes anschließen.

Wir durften jetzt in der Selekta – an der auch sechs junge Mädchen aus der Stadt teilnahmen, so daß wir im ganzen zwölf waren – Goethe lesen; aber von dieser Erlaubnis, deren Erfüllung so lange mein sehnlicher Wunsch gewesen, hatte ich nicht viel. Professor R.'s Urteil über unsere Aufsätze hatte mir den größten Dichter so gründlich verleidet, daß ich Jahre gebraucht habe, bis ich den rechten Weg zu ihm fand. Wie denn der geistreiche Mann, der so hinreißend zu sprechen verstand, nicht weniger Unheil als Heil in unsern Köpfen anrichtete. Sein Geist war kein stetig leuchtendes Licht, sondern ein Flackerfeuer, das jetzt jäh aufflammte, dann wieder zusammensank und den, der ihm gefolgt war, im Dunkeln ließ, oder – noch schlimmer – durch zweifelhaften Schein täuschte und in die Irre führte. So hat er wohl sicher Adele auf dem Gewissen, die nur durch ihn und sein übertriebenes Lob, das von ihm gar nicht einmal ernstlich gemeint war, zu ihrer Goethe-Manie gekommen 33 ist, um sich jetzt in den Augen aller Vernünftigen lächerlich zu machen.

Doch das sind nachträgliche Einsichten, die das siebzehnjährige Mädchen nicht haben konnte. Aber ein dunkles Gefühl der Mängel, die diesem außerordentlichen Menschen anhafteten, war doch in mir aufgestiegen und trübte die reine Verehrung, mit der ich früher zu ihm aufgeschaut hatte. Und wie denn in jungen Seelen eine Empfindung niemals das rechte Maß hält, sondern nicht ruht, bis sie sich selbst zu ihrem Extrem gesteigert hat, verwandelte sich schnell genug die frühere Liebe in etwas, das, wenn es nicht Haß war, sich hinreichend gehässig darstellte. Wie ich ihm früher bei seinen kühnen Gedankenflügen willig und bewundernd folgte, wehrte ich mich jetzt trotzig gegen die Verlockung. Und dabei blieb es nicht: es wühlte und kochte in mir, ihm offen zu opponieren, manchmal leidenschaftlich, dann wieder – was ihn noch tiefer kränkte – mit kühler Ruhe und kaum, oder gar nicht verhüllter Ironie. Und eine unschöne Triumphesfreude verhüllte mich, wenn sich – zum Entsetzen der Mitschülerinnen – auswies, daß ich schlagfertiger war, als er; ihm Widersprüche, in die er sich verwickelt hatte, nachwies, den Mangel seiner Logik aufdeckte, und ihn zwang, ein Gefecht abzubrechen, in welchem er unzweifelhaft den kürzeren gezogen. Ich hatte mich dann zu schämen, wenn er das offen anerkannte, ohne sich das Weh, das er doch so tief empfand, merken zu lassen. Nur daß er in solchen Momenten, nachdem er eine kurze Minute, vor sich niederblickend, regungslos dagestanden, die großen Augen zu mir aufschlug mit einem Ausdruck, den ich mir erst deuten konnte, als es für mich und ihn zu spät war.

Ich habe hier lange Seiten meines Tagebuches inhaltlich zusammengefaßt, um schneller zu einer Episode zu gelangen, die, wie sie mir den ersten Einblick 34 in das wirkliche Leben bot, auch sonst in mehr als einer Beziehung meine Zukunft beeinflußt hat.

Man hatte eben in unserm Institut mit allerlei hübschen Scherzen und Gedichten (unter denen sich ein sehr schönes von Prof. R. befand) meinen siebzehnten Geburtstag gefeiert, als ich durch die Nachricht überrascht wurde, daß meine Schwester Lida in Begriff sei, sich zu verloben, und man hoffe, ich werde die Erlaubnis erhalten, bei der Feier gegenwärtig zu sein. Nun wurde freilich eine solche Erlaubnis nur in ganz außerordentlichen Fällen erteilt, und chère Maman, in so großer Gunst ich auch bei ihr stand, hatte anfangs entschieden Nein gesagt, ließ sich dann aber doch erbitten unter der Bedingung, daß ich von einer Vertrauensperson, die niemand geringeres als der Onkel oder die Tante selbst sein dürfe, abgeholt und ebenso wieder zurückeskortiert werde. Vielleicht hatte sie gehofft, die Betreffenden würden sich zu diesem Opfer nicht bereit finden; aber fast umgehend kam die Antwort: man habe das von vornherein für selbstverständlich gehalten, und so werde sich Tante Anna die Ehre geben, am nächsten Sonnabend chère Maman aufzuwarten, um aus ihren teuren Händen die liebe Nichte in Empfang zu nehmen.

Wirklich kam die Tante an dem festgesetzten Tage; blieb über Sonntag im Kloster; ließ sich die Einrichtungen zeigen; fand alles bewunderungswürdig; erklärte, daß mich und alle Mitzöglinge ein beneidenswertes Los getroffen; vergaß in ihrem Enthusiasmus über die »wahrhaft patriarchalische Gastlichkeit« beim Abschied den Leuten ein Trinkgeld zu geben; und am Montag Morgen saßen wir in einem Waggon zweiter Klasse der Zweigbahn, die uns in einer Stunde auf die Hauptbahn brachte. Am Abend waren wir zu D . . . f am Rhein.

Hier nun will ich wieder mein Tagebuch sprechen 35 lassen. Es bringt mir in seiner Naivetät das Bild jener Tage deutlicher zurück, als es die Erinnerung vermöchte.


 
D . . . f, 5. Okt.

Ich hatte mir die Reise – meine erste große – schöner und amüsanter gedacht. Daß sie nicht besser ausgefallen, ist wohl hauptsächlich Tantes Schuld, die nur für die kurze Strecke der Zweigbahn und die letzte Station vor D . . . f Billets zweiter Klasse genommen hatte, während wir die ganze übrige Zeit dritter fuhren. Als ich sie fragte, warum? erklärte sie: bei der Abfahrt und Ankunft werde man beobachtet; dem müsse man Rechnung tragen. Unterwegs kümmre sich kein Mensch um einen; und das schöne Geld für nichts und wieder nichts zum Fenster hinauswerfen, sei sündhaft. Ich kann nicht finden, daß es für nichts und wieder nichts ist, wenn man für etwas mehr bequeme Plätze in einem reinlichen Wagen hat, anstatt in einem Holzkasten mit zwanzig Menschen eingesperrt zu sein, die gräßlichen Tabak rauchen, sich unvernünftig laut unterhalten, von dem Kindergeschrei und anderen Unannehmlichkeiten gar nicht zu sprechen.

Ich fürchte, ich habe mir merken lassen, wie widerwärtig mir das alles war; aber Tante sah es nicht, oder wollte es nicht sehen. Als wir auf der letzten Station dann wieder umgestiegen waren, nahm sie den besseren Hut abermals aus der Schachtel, machte sich überhaupt sorgsam zurecht, und nestelte auch an mir herum, was ich mir nur höchst ungern gefallen ließ. Aber ich kann nun einmal alles Gethue und Gehabe und alle Heuchelei für den Tod nicht ausstehen. Darüber bin ich, 36 glaube ich, etwas ungezogen geworden, und Tante sagte: mein Kind, du bist eigensinniger, als ich mir gedacht hatte. Mag sein! Ich habe mir die Tante auch anders vorgestellt.

Übrigens war das Wetter wunderschön, und ich hatte durch das Fenster (von dem ich zwei Plätze entfernt saß) manchen hübschen Blick, wenn mir auch die Landschaft im ganzen etwas einförmig vorkam, und alles – Felder, Wiesen, Wälder, Dörfer, Städte – so schnell vorüberhuschte, daß nichts einen rechten Eindruck machte.

So viel von der Reise. Als wir in D . . . f ankamen, fing es schon an zu dunkeln, und auf dem Bahnhof brannten die Laternen. Der Onkel, meine Schwester und ihr Bräutigam empfingen uns; zwei Burschen bemächtigten sich unseres Gepäcks. Bei dem schönen Wetter gingen wir den Weg bis zur Wohnung, der kurz sein sollte, mir aber recht lang erschien und, wie ich nachträglich gefunden habe, auch so ist. Der Onkel führte die Tante und sprach manchmal über den Rücken gewandt zu uns, die wir hinterhertrotteten, Lida und ich, auch untergefaßt, Herr von Dillingen neben Lida (da sie noch nicht öffentlich verlobt sind, dürfen sie nicht Arm in Arm gehen). Die Promenade war wohl beleuchtet, aber doch nicht eben hell, so daß ich alle ordentlich erst zu sehen bekam, als wir im Hause angelangt waren und dann bei Tisch saßen. Lida ist wirklich sehr hübsch, aber mit Carola kann sie doch den Vergleich nicht aushalten. Ebensowenig wie der Onkel mit dem Papa, wie er noch so lebhaft in meiner Erinnerung steht, trotzdem er einen halben Kopf größer ist, und der am Kinn ausrasierte, kaum hier und da angegraute starke Bart ihn sehr gut kleidet. Herr v. Dillingen? Na, das ist denn so Geschmackssache. Mein 37 Geschmack wäre er nicht. Wenn man ihn in ein Dutzend Offiziere mischt, die in derselben Uniform stecken, fände ich ihn nicht heraus. Ich sollte meinen: auch Lida würde einige Mühe haben. Trotzdem sie noch gestern abend, als wir zu Bett gingen, behauptete, sie liebe ihn unaussprechlich! Das will bei Lida etwas sagen. Wenn sie ins Sprechen kommt, nimmt es so leicht kein Ende. Gestern abend habe ich das Ende nicht abgewartet. Ich schlief darüber ein.

 
9. Okt.

Drei Tage richtig herumgehetzt: Kirchen, Plätze, Anlage, Malerakademie – ich weiß nicht was alles gesehen. Totmüde von all dem Herumlaufen, bei dem doch eigentlich wenig herauskommt. Auch der Rhein, auf den ich mich wirklich gefreut, hat mir gar nicht imponiert. Sie sagen: hier in der Ebene zwischen den flachen Ufern präsentiere er sich freilich nicht besonders: Wir wollen eine Fahrt nach Koblenz machen, da würde ich schon anders urteilen. – Abwarten!

Die Sache, glaube ich, ist: mich interessieren eigentlich nur die Menschen. Es muß wohl so sein, sonst würde all das viele Neue, das ich zu sehen bekomme, einen lebhafteren Eindruck auf mich machen, was es doch gar nicht thut. Zum Erstaunen, merke ich, meiner Verwandten, die sich die größte Mühe geben, mich zu amüsieren. Aber heucheln kann ich nicht und thun, als ob ich entzückt sei, wenn ich es eben nicht bin. Heute fragte mich Lida: macht dir denn garnichts Spaß? Ich konnte doch nicht antworten: O, ja! ihr!

Spaß ist wohl nicht das rechte Wort. Ich beobachte sie aber und mache mir über ihr Wesen so meine Gedanken. Das unterhält mich. Onkel 38 Max – ich habe das aus einigen Bemerkungen der Offiziere geschlossen – soll ein sehr tüchtiger Soldat, aber kein angenehmer Vorgesetzter sein; der sehr anspruchsvoll im Dienst ist und leicht heftig werden kann. Das steht nun in einem komischen Gegensatz zu seinem Benehmen im Hause, wo er nicht den Mund aufzuthun wagt. Ganz gewiß nicht gegen Tante, die ihm schon ein paarmal in unser aller Gegenwart angefahren hat, daß mir heiß und kalt dabei wurde. »Max, schwätze doch nicht! – Max, das verstehst du nicht!« – Wie kann sich ein Mann so etwas gefallen lassen! Selbst wenn die Frau die klügere ist! Was mir noch gar nicht so sicher. Herr v. Ried meinte gestern: der Onkel wäre längst General; es läge nur an Tante, die hindere ihn in der Carriere. Weiß freilich nicht, wie das zu verstehen. Weiter fragen wollte ich natürlich nicht.

Ich schlafe mit Lida in einem großen Zimmer, aus dessen Fenstern man einen hübschen Blick in die Anlagen hat. In eines der Fenster hat man einen kleinen Schreibtisch für mich gerückt, um den ich speziell gebeten hatte. Da ich zwei Stunden früher aufstehe, als Lida, habe ich reichlich Zeit für mein Tagebuch, das ich hinterher in meinen Koffer schließe, zu dem ich den Schlüssel stets bei mir trage. Dem Schloß am Tischkasten traue ich nicht recht. Schon am zweiten Tage bemerkte ich, daß jemand sich mit ihm zu schaffen gemacht hatte. Das Dienstmädchen ist zu dumm; Lida thäte so etwas nicht; also – Gleichviel! Ich lasse jetzt den Kasten offen, thue aber nichts hinein, was nicht jeder sehen könnte. – Lida wacht auf. Schluß.

 
10. Okt.

39 Wir sind gestern vormittag in dem Atelier von Herrn v. Ried gewesen, der uns eingeladen hatte und mit einem sehr feinen Frühstück regalierte: Austern, Champagner – Herr v. R. soll sehr reich sein: aus einer Kölner Patrizierfamilie: der einzige Sohn. Früher Offizier. Hat den Abschied genommen aus Liebe zur Malerei und studiert hier auf der Akademie. Oder hat schon ausstudiert; jedenfalls ein eigenes Atelier. Und was für eines! So viele schöne Teppiche, Vorhänge, Heiligenschränke, alte Bilder, wunderliche Schnitzereien aus Elfenbein, Holz; kuriose Waffen aller Art u. s. w. – ich habe so etwas nicht für möglich gehalten. Furchtbar ermüdend. Dazwischen auf Staffeleien, in das möglichst beste Licht gerückt, seine eigenen Sachen: Landschaften, ein paar Köpfe und ein oder zwei große Bilder, auf denen allerlei, wie es im Atelier herumsteht und hängt, auf einem Tisch zusammengehäuft war, und das sie »Stillleben« nannten. Tante, Lida und Herr v. Dillingen, der auch von der Partie war – Onkel kam erst später – waren außer sich vor Entzücken. Ich konnte beim besten Willen nichts Besonderes daran finden und erklärte. wenn man mich fragte: ich verstände von der Kunst nichts. Als Herr v. R. und ich einen Augenblick allein standen, flüsterte er mir zu: Sie thuen sich schweres Unrecht, gnädiges Fräulein. Sie sind die einzige, die etwas von der Sache versteht. – Wie kommen Sie dazu? – Ganz einfach. Die andern fallen auf den Quark hinein, Sie nicht. Also verstehen Sie mehr davon; denn es ist wirklich alles nur Quark. – Ja, aber –

Weiter kam ich nicht. Es wurde zu Tisch gegangen, der in einer tiefen, als türkisches Zelt 40 drapierten Fensternische aufgestellt war, und bei dem ein Diener in Livrée servierte.

Auf der Promenade Herrn v. R. getroffen, der sich zu uns gesellte und eine Strecke mit uns ging. Ich fragte ihn, was ich ihn schon vorgestern hatte fragen wollen: weshalb er denn male, wenn er selbst von seinen Sachen nichts halte? Wir gingen hinter den andern, so daß sie nicht hören konnten, was wir sprachen. Er sagte: Ja, sehen Sie, gnädiges Fräulein, damit ist es so ein eigenes Ding. Etwas muß der Mensch doch sein. Ich habe es zuerst als Offizier versucht. Das war nichts. Es langweilte mich zu sehr. Ich nahm den Abschied und fing an zu malen, was mir von jeher besonderen Spaß gemacht hatte. Anfangs ging alles gut, und die Professoren munterten mich auf, fortzufahren. Plötzlich war es aus; ich kam nicht mehr von der Stelle. Ich sah es völlig klar; aber ein großer Künstler hatte ich ja auch nicht werden wollen. So pins'le ich denn weiter, wenn nicht zu andrer Leute, so doch zu meinem Vergnügen. Natürlich verkaufe ich nie etwas; aber dann und wann findet sich ein edler Mensch, der gutmütig genug ist, ein Bild von mir als Geschenk zu nehmen. Gnädigem Fräulein wage ich natürlich keines anzubieten. Aber wenn gnädiges Fräulein jemand wüßten, dem ich damit eine kleine Freude bereiten könnte – so ein Stillleben etwa –

Ich lachte und sagte: ich wolle darüber nachdenken.

Er lachte auch – sehr gutmütig – und empfahl sich dann, nachdem er noch ein paar Worte mit den andern gewechselt.

Lida neckt mich mit ihm: es sei ihm nur um 41 mich zu thun, wenn er uns in sein Atelier lade und auf der Straße anspreche. Überhaupt mache er mir ganz offenbar den Hof. Ich: Sprich doch nicht so dummes Zeug! – Sie: gar kein dummes Zeug. Heiraten wirst du doch auch einmal müssen; und Herr v. R. ist eine famose Partie. Ich heiratete ihn vom Fleck weg. – Ich denke, du liebst deinen Bräutigam unaussprechlich! – Na ja! bloß, daß wir beide nichts haben. Können wir uns doch nicht einmal öffentlich verloben, wenn Du uns nicht hilfst. – Wie soll ich das anstellen? – Hat Tante noch nicht mit dir gesprochen? – Nein, worüber? – Sie wird es dir schon selber sagen –

Nun bin ich aber wirklich neugierig.

 
12. Okt.

Also das ist es! Ich soll mein bischen Geld zu Lidas thun, weil sonst die Kaution nicht da ist, ohne die sie nicht heiraten, nicht einmal sich öffentlich verloben können! Herr v. D. habe noch ein Jahr zum Premier und zum Hauptmann wer weiß wie lange. Da wäre es nun so lieb von mir – Ich: Aber, Tante, das versteht sich doch von selbst. – Sie: Du bist ein gutes Kind. Wir haben nie daran gezweifelt. Aber du bist nicht großjährig und kannst ohne Deinen Vormund über dein Vermögen nicht disponieren. – Er wird gewiß nichts dagegen haben. – Leider doch. Onkel hat sich bereits an ihn gewandt; er hat es ihm rund abgeschlagen. – Was ist da zu machen, Tante? – Wenn du an ihn schriebst? – Herzlich gern; ich fürchte nur, es wird nichts helfen. Der Justizrat ist nicht so leicht zu bestimmen. – Es käme auf den Versuch an. – Gut! ich werde schreiben. –

Ich habe es gethan. Begierig, was er antworten 42 wird. Hoffentlich giebt er nach. Ich weiß, daß er mich gern hat, und ich etwas bei ihm gelte.

 
13. Okt.

Nachdem Tante mich in das Vertrauen gezogen, kommt auch Lida offen mit der Sprache heraus. Da erfährt man denn mehr, als man manchmal zu wissen wünscht. Z. B.: daß meine Einladung hierher eigentlich keinen andern Zweck gehabt habe. als durch mich auf den Justizrat zu wirken. Weiter: daß Tante, wenn sie wollte, ganz allein die Caution herleihen, wenigstens das Fehlende zuschießen könnte. Aber einen Teil ihres Vermögens hat sie in amerikanischen Papieren angelegt, die einen sehr hohen Zins geben; mit dem andern spekuliert sie an der Börse, worüber der Onkel sehr traurig sei, weil, wenn es bekannt würde, er sicher seinen blauen Brief habe. Aber er müsse hier, wie überall, Tante gehorchen. Sie sei furchtbar geizig, trotzdem sie ja keine Kinder haben, denen es am Ende später zu gute käme. Alle Welt spotte über ihren Geiz; nicht zum wenigsten die Offiziere, unter denen über dies Thema die tollsten Geschichten cirkulierten. Ich fragte Lida, weshalb denn Tante es so eilig habe, sie mit einem armen Offiziere zu verheiraten? – Das hänge so zusammen: der Onkel von Herrn v. Dillingen sei im Militärkabinett eine sehr große Person, die rechte Hand des Chefs, und in voraussichtlich kurzer Zeit dessen Nachfolger. Wenn nun Herr v. D. in die Familie heirate, werde General S. sicher den Onkel nicht fallen lassen, sondern ihm die Brigade geben, auf die er nun schon so lange wartet.

Lida sagte das und noch verschiedenes mit ihrer entsetzlichen Zungenfertigkeit, als ob es sich von selbst verstehe, während ich innerlich empört war 43 und Mühe hatte, nicht damit herauszuplatzen. Großer Gott, wie erbärmlich ist das alles! (Professor R. würde »ordinär« sagen.) Und Lida merkt von diesen Erbärmlichkeiten nichts; fühlt sich ganz wohl dabei, und lacht mich aus, wenn ich auch nur ein ernstes Gesicht dazu mache. Ich wollte zehnmal lieber tot sein, als in solchen Verhältnissen leben. –

Lidas Mitteilungen haben mir die Tante gründlich verleidet. Ich verstehe jetzt, warum wir dritte Klasse fahren mußten, und warum die Dienstmädchen nicht bei ihr aushalten. Auch die dumme gutmütige Doris, die uns bedient, will schon wieder fort. Sie bliebe ja gern, sagt sie; aber verhungern wolle der Mensch doch auch nicht, und bei der Kost, welche hier im Hause die Leute bekämen, müsse man verhungern! Und Professor R. sagte stets: das gemeinste aller Laster sei der Geiz. Ich habe es ihm aufs Wort geglaubt. Jetzt weiß ich, daß er recht hat.

Wäre ich nur erst wieder fort! Ich möchte ordentlich bös auf chère Maman sein, daß sie mir so lange Ferien gegeben hat, die ich doch nicht ohne Grund abbrechen kann. Den ich habe, darf ich ja nicht nennen. Prof. R. würde allerdings sagen: Wohl dürfen Sie es. »Wer in einer Lage ausharrt, die seiner unwürdig ist, begiebt sich seiner Würde und verdient seine Lage.« Das habe ich aus seinem Munde mehr als einmal gehört.

Dabei fällt mir ein: er sah meine Reise sehr ungern. Als ich ihn fragte, ob ich ihm einmal schreiben dürfe, antwortete er: Lieber nicht! Abstinence is easier than temperance. – Was hat er nur damit sagen wollen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er einmal wieder recht unfreundlich gegen mich war. Also: lieber nicht!

 
15. Okt.

44 Merkwürdig, daß ich aus dem Kloster so wenig höre! Heute das erste kurze Briefchen – von Schwester Ambrosia! Warum nicht von chère Maman, die mich nur bestens grüßen und mir sagen läßt: ich solle mich ja recht erholen und die Bücher für eine Weile Bücher sein lassen; dagegen aus dem ersten Stück wirklichen Lebens, das ich jetzt zu sehen bekomme, möglichst viel zu lernen suchen. Dann von Schwester Ambrosia noch einiges über das »ewig Weibliche«, dessen ich immer eingedenk sein müsse, wie ich denn auch nie vergessen dürfe, daß »die Mädchen ins Haus gehörten und nur in der Häuslichkeit ihr Glück finden könnten«. – Sehr schön, wenn auch nicht ganz neu.

Warum aber schreibt mir Carola nicht? Sie hatte es mir doch fest versprochen! Freilich, wenn ich ihr die Briefe diktieren könnte, wie die deutschen Aufsätze! Ich glaube, Professor R. weiß es, thut aber, als wüßte er es nicht. Er macht an sie gar keine Ansprüche. Einmal sagte er: Carola ist eine Blume. Blumen haben nichts zu thun, als schön zu sein und süß zu duften. Und ein anderes Mal, als ich besorgt war, was aus Carola werden solle, wenn sie nun das Kloster verlasse: Gott sänftigt den Wind für das geschorene Lamm. – Arme Carola!

 
17. Okt.

Der Justizrat hat geantwortet: er giebt seine Zustimmung, weil ich es wünsche! Das Kapital soll zurückgezahlt werden, sobald Herr v. D. Hauptmann erster Klasse wird, oder vorher, wenn er den Dienst quittiert. Die Zinsen sollen mir (oder ihm) alle Vierteljahre ausgezahlt werden.

Große Freude im Hause. Tante hat mich auf 45 beide Backen geküßt, Lida immer von neuem umarmt: ich sei ihre Retterin, und sie werde es mir ewig danken! – Und gleich hinterher: Na ja, du brauchst das Geld nicht. Du findest deinen Weg durch die Welt auch ohne das. – Tante sagte etwas Ähnliches; auch Onkel. Sonderbar, wofür sie mich alle eigentlich halten! Nun, ein geschorenes Lamm, wie Carola, bin ich allerdings nicht. Eher das Gegenteil.

P. S. Was ist das Gegenteil von einem geschorenen Lamm! – Wohl aufzuwerfende Frage?

 
18. Okt.

Übermorgen soll die öffentliche Verlobung sein. Große Gesellschaft. Ich soll mir dazu ein Kleid machen lassen; nichts Kostbares; nur was die Gelegenheit unbedingt erfordere! Ich habe unter dieser Bedingung eingewilligt. Tante will dafür sorgen, daß es noch fertig wird. Wozu man hier alles kommt! Es ist unglaublich.

 
23. Okt.

So! das wäre überstanden. Eigentlich war es ganz hübsch. Man war sehr vergnügt, und ich muß es Tante zugestehen: sie hatte es diesmal an nichts fehlen lassen. Ich hörte freilich mit meinen scharfen Ohren, wie einer der Offiziere zum andern sagte: Wette doch gewonnen! deutscher Sekt! – Und der andere: Schanderös! – Ich, ohne mich umzuwenden: Man kann auch bei deutschem Sekt vergnügt sein! – Verwunderung Herrn v. R.'s, mit dem ich gerade sprach, und, da er nichts gehört, nicht wußte, was ich damit sagen wollte. Ich habe sehr lachen müssen. Besonders, als ich mich nach einer halben Minute, wie zufällig, umdrehte, und der Platz hinter mir leer war.

46 Dafür haben dann die jüngeren Herren, wie es scheint: einstimmig, Lida anvertraut: Mit mir sei nicht gut Kirschen essen, und man müsse sich vor mir sehr – d. h. eigentlich haben sie »verteufelt« gesagt, – in acht nehmen. Im Kloster stehe ich auch in dem Ruf. Es muß doch wohl etwas daran sein. Aber ich sehe nicht ein, warum man zu den Dummheiten und Albernheiten, die man zu hören bekommt, schweigen, oder gar so thun soll, als gebe man den Leuten recht. Wenn das klug ist, so bin ich eben nicht klug; will es dann aber auch nicht sein.

Der einzige, der mir hier darin beistimmt, ist Herr v. R., trotzdem er am wenigsten Ursache dazu hätte, denn meistens ist, was er sagt, wenn nicht dumm und albern – obgleich es auch daran nicht fehlt – so doch kindisch, und ich schenke ihm wahrhaftig nichts. Er nimmt es mir durchaus nicht übel – im Gegenteil! er sagt: es sei eine rechte Erquickung für ihn. Sein größter Wunsch ist, mich malen zu dürfen. Er sei überzeugt: es würde ein gutes Bild. Das erste und letzte, das er je in seinem Leben gemalt habe, oder noch malen würde. – Warum wollen Sie denn aber gerade mich malen, Herr v. R.? – Lange Pause. – Nun? – Wenn ich es sage, lachen Sie mich entweder aus, oder werden ernstlich böse. – Immerhin! – Weil Sie das schönste Mädchen sind, das ich je gesehen habe. –

Natürlich habe ich ihn ausgelacht.

 
24. Okt.

Aber sehr genau angesehen in dem großen Trumeau im Salon habe ich mich daraufhin doch. Von Schönheit ist natürlich gar keine Rede. Das ist eine von Herrn v. R.'s Dummheiten. Meine Züge sind viel zu unregelmäßig; und wenn man 47 mich mit Carola, oder auch nur Lida vergleicht, müßte man mich positiv häßlich nennen, das einzig Erträgliche sind vielleicht meine Augen, wenigstens, glaube ich, was die Lebhaftigkeit und den Ausdruck betrifft. Schön sind sie darum sicher noch nicht: viel zu hell, so zwischen blau und grün und grau spielend, wahrscheinlich bald das eine oder das andre. Das einzig Passable ist wohl meine Gestalt, was ich gewiß dem frühen Reiten auf dem Pony verdanke, und hernach im Kloster unsern Turnübungen und dem Klettern auf die Bäume (wenn keine Schwester dabei war) und all meinen wilden Streichen. Ich tanze auch gut; das weiß ich selbst, ohne daß die Herren es mir zu sagen brauchen. Morgen soll ich mit Onkel und Lidas Bräutigam ausreiten. Man wird sehen, daß ich auch reiten kann.

Wie sagt doch Professor R., wenn eine von uns sich so recht aufgespielt hatte? Vanitas vanitatum! Eitelkeit der Eitelkeiten! Er würde es sicher sagen, wenn er dies lesen könnte! Punktum!

 
26. Okt.

Spazierritt mit Onkel, Dillingen und Herrn v. R., der, scheint es, überall dabei sein muß; sich übrigens auf seinem sehr schönen Pferde vortrefflich ausnahm. Ich im Anfang etwas unsicher; nach zehn Minuten, als ob ich seit Papas Tode jeden Tag zu Pferde gewesen wäre. Viele Komplimente von den Herren. Ich wußte es voraus: so etwas kann ich. Besonders enthusiastisch Dillingen, worüber sich Herr von R. ärgerte. Er sagt, D. mache mir den Hof. Drollig ist, daß Lida selbst es findet; aber gar nicht ärgerlich darüber ist, sondern sich tot lachen will. Sie passen vortrefflich zusammen. Ich weiß nicht, wer von ihnen das Leben am 48 leichtesten nimmt. Noch nie habe ich von ihr oder ihm ein Wort gehört, das einem Gedanken nur ähnlich gesehen hätte. Professor R., wenn er es hörte, würde außer sich sein. Er spricht so viel von Humor; und daß einer, der keinen Humor habe, ein Banause sei: (Auch ein Lieblingswort von ihm). Aber hat er selbst denn Humor? Ich sage: nicht die Spur. Er kann ja auch nicht richtig lachen. Nimmt alles feierlich. Ich lache gern (oft freilich nur in mich hinein), z. B. wenn Tante uns ein höchst mageres Mittagsessen als einen besonderen Genuß anpreist, und der gehorsame Onkel, der gern recht gut ißt, heimlich dazu Gesichter schneidet, aber nichts zu sagen wagt; oder die jungen Offiziere der »Chefeuse«, die sie nicht ausstehen können, die plumpsten Schmeicheleien sagen, und sie gnädig dazu lächelt, um, wenn sie fort sind, fürchterlich über sie herzuziehen.

Ich sehe immer mehr, wie wenig Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in der Welt ist; wie die Menschen fortwährend Komödie miteinander spielen.

P. S. Onkel wollte mir durchaus das Reitkostüm schenken trotz meines Sträubens; hat es sich aber offenbar von Tante ausreden lassen. Heute bringt sie selbst mir die Rechnung und schilt mich, daß ich mich in so große Kosten gestürzt habe. Und sie war zugegen, als Onkel mir sein »Geschenk« aufdrang! Natürlich that ich, als sei alles in bester Ordnung. Ich sagte nur so obenhin: Ach, Tante, dann fahren wir auch zurück dritte Klasse. So kommt ein Teil wieder herein.

Das war ich mir doch schuldig!

 
28. Okt.

Heute zeigte sie mir auf der Promenade eine feine, blasse, nicht hübsche Dame in Trauer, die 49 zwei kleine Kinder begleiteten. Ihr Gatte, ein Beamter (glaube ich) hat ein Liebesverhältnis mit der Frau eines Offiziers gehabt. Der Offizier kommt dahinter, fordert den Mann und streckt ihn mit dem ersten Schusse tot hin. Bei Tisch wurde über die Angelegenheit gesprochen; Onkel und Dillingen behaupteten, der Offizier habe gar nicht anders gekonnt. Mag sein; aber entsetzlich ist es doch. Wie mag es in dem Herzen der armen Frau aussehen, die ihren Mann sehr geliebt haben soll und ihn gewiß noch liebt, trotzdem er sie verraten! Und nun gar in dem der andern, die das ganze Unglück angerichtet hat! Es sind auch da kleine Kinder gewesen, die sie bei der Scheidung dem beleidigten Gatten überlassen mußte.

Ich weiß nicht, wer von den beiden Frauen mehr zu beklagen ist. Ich sollte meinen: die zweite, die zu allem übrigen nun auch vor der Welt die Schmach ihrer Treulosigkeit tragen muß und die Qual der Reue Tag und Nacht!

Wie sie das trägt, ich fasse es nicht.

Sie soll noch ganz jung und sehr schön sein.

Großer Gott, wie ist die Welt voll von schrecklichen Dingen!

Ich wollte, ich wäre wieder in meinem lieben Kloster über meinen Büchern. Da war es doch besser.

 
29. Okt.

Noch immer keinen Brief von Carola! Dafür einen zweiten von Schwester Ambrosia. Chère Maman geht es seit einiger Zeit nicht gut. Sie läßt mich grüßen, und ich solle auf der Rheinfahrt (ich hatte davon geschrieben) recht vergnügt sein.

Übermorgen wollen wir fort: auf der Eisenbahn (zweite, oder dritte Klasse?) bis Koblenz. Von 50 dort auf dem Dampfschiff stromabwärts bis Köln. Dann Eisenbahn hierher zurück. Von Köln will Onkel uns abholen. Auf der Reise selbst wird Dillingen unser Marschall sein. Lida schwimmt in Wonne über all die bevorstehenden Herrlichkeiten. Ich bliebe am liebsten hier. Noch lieber: ich dürfte nach Hause reisen.

Nach Hause! Ich habe ja kein anderes auf der weiten Welt!


Hier ist eine große Lücke im Tagebuch, in das ich den Reisebericht nachtragen wollte; dazu aber nicht gekommen bin, weil, was gleich nachher vor sich ging (eigentlich bereits am Schluß der Reise angefangen hatte), mein Interesse vollauf in Anspruch nahm. Jetzt den Bericht zu ergänzen, würde sich nicht verlohnen. Die Einzelheiten sind mir doch inzwischen aus dem Gedächtnis geschwunden, oder haben sich sehr verwischt. Ich habe nur die Erinnerung, daß ich, alles in allem, sehr enttäuscht war. Wäre nicht Freiligraths wundervolles Gedicht gewesen:

Ich schritt allein hinab den Rhein;
Am Hag die Rose blühte u. s. w.

das ich auswendig kannte und mir unterwegs immer wieder rezitierte, ich hätte nicht einmal den Strom und seine Ufer schön und poetisch finden können. Die Bilder wiederholen sich so oft, daß man zuletzt immer dasselbe zu sehen glaubt.

Dazu verdarb mir die Reisegesellschaft die Freude, die ich ohne sie vielleicht doch an der Natur gefunden hätte. Aber schon nach einem Tage konnte ich das läppische Betragen der Verlobten: ihr ewiges Sichanschmachten, das beständige Gekicher und Geflüster kaum noch ertragen; und gar die Tante wurde 51 mir geradezu widerwärtig, die in den Gasthöfen sich mit den Wirten und Kellnern um jeden Groschen stritt, dadurch die häßlichsten Scenen provozierte, und Dillingens schüchterne Einreden mit einem stereotypen: Ach was! hier kennt uns ja keiner! zum Schweigen brachte.

So atmete ich ordentlich auf, als sich in Bonn Herr v. R. zu uns gesellte. Ich hielt in meiner Unerfahrenheit das Zusammentreffen natürlich für einen Zufall, und er stellte es auch als solchen dar. In der Universitätsstadt hatte er einen befreundeten Kunstgelehrten aufgesucht, der für den Winter nach Italien ging und ihm einige Ankäufe besorgen sollte. Die bedeutungsvollen Blicke, die sich die andern zuwarfen, sind mir erst später klar geworden. Da wir, so wie so, in Köln das Dampfschiff verließen, wurde seine Einladung, die Stunden, bis der Onkel kommen würde, in seinem Stadthause zu verbringen, von Tante sofort angenommen, sehr gegen meinen Wunsch, die ich viel lieber den Dom gesehen hätte. Herr v. R. versicherte, dazu bleibe noch immer Zeit. So fuhren wir denn in seiner Equipage, die an der Landungsbrücke hielt, nach dem Hause, das, wie er uns während der Fahrt mitteilte, nur im Winter für wenige Monate von ihm bewohnt wurde und während der übrigen Zeit leer stand. Zufällig fänden wir es zu unsrem Empfange bereit, da er bereits seit einigen Tagen in der Stadt gewesen sei, um, bevor er dem Freunde die Aufträge erteile, daraufhin seine Sammlungen zu revidieren.

Das alles hörte sich so weit ganz glaublich an; ich wenigstens dachte mir dabei nichts Verfängliches. Auffallend war mir allerdings die Geschwindigkeit, mit der für uns ein üppiges Frühstück hergerichtet war, wobei, wie er lachend erklärte, gar nichts Wunderbares sei, da es ursprünglich einigen Freunden 52 gegolten habe, die in der letzten Minute abgesagt hätten.

In meiner Unschuld merkte ich noch immer nichts. Das Brautpaar war wieder einmal in sein mir unleidliches Kichern verfallen, während sie sich ihre verliebten Albernheiten in die Ohren tuschelten; ich verhielt mich schweigsam; so mußten Tante und Herr v. R. die Kosten der Unterhaltung tragen. Die sich wesentlich um den Glanz und Ruhm des alten Patriziergeschlechts drehte, dessen letzter Sprosse Herr v. R. war. Mir wollte scheinen, als ob unserm Gastgeber das Thema nicht eben behaglich sei. Er machte wiederholt den Versuch, ein anderes auf die Bahn zu bringen; aber Tante kam immer wieder darauf zurück, was mir Herrn v. R.'s wegen sehr peinlich wurde. Um so mehr, als sie nach einer Menge von Dingen und Umständen fragte, die ihr bei ihrem jahrelangen intimen Verkehr mit Herrn v. R. doch längst bekannt sein mußten. Daß dies Gespräch von ihr um meinethalben geführt wurde, ich erfahren sollte: wie die R.'s schon im Mittelalter die höchsten Ehrenstellen im Rat der Stadt bekleidet hätten und von Kaiser Maximilian in den Reichsfreiherrenstand erhoben wären, ohne von der Würde jemals Gebrauch zu machen, da sie sich als Kölner Patrizier vornehm genug glaubten; die Familie, d. h. jetzt Herr v. R., rheinauf-rheinab ausgedehnte Weinberge in der besten Lage besitze; ihr (oder ihm) ganze Straßen in der Stadt gehörten, von dem alten, weltberühmten Hause, in welchem wir uns befänden, und das allein den Wert einer Million repräsentiere, ganz zu schweigen – ich sage, daß dies alles nur für mich berechnet war, auf den Gedanken kam ich nicht. Mich dauerte nur Herr v. R., der immer verlegener wurde, je mehr ihm Tante mit ihren indiskreten Fragen zusetzte, bis ich zuletzt meinen Verdruß und meine Ungeduld nicht 53 länger verbergen konnte, was Herr v. R. kaum bemerkt hatte, als er Tante bat, die Tafel aufheben zu dürfen. Das geschah denn nun auch; aber meine Hoffnung, nun endlich fort und nach dem Dom zu kommen, ging doch nicht in Erfüllung, da Tante erklärte, sie könne unmöglich aus einem solchen Hause scheiden, ohne noch einige von seinen Herrlichkeiten, besonders die weltberühmte Gemäldegalerie, gesehen zu haben. Ich mußte mich natürlich fügen. Nun war das Haus in der That eine Sehenswürdigkeit: ein Gemach prächtiger als das andre, mit Kostbarkeiten aller Art, alten und neuen, angefüllt; aber ich verstand damals von Kunst, Kunsthandwerk und alledem schlechterdings nichts; und, hätte ich es gethan, ich war zu verstimmt, gerade jetzt an irgend etwas rechte Freude zu haben.

Auf dem Gange durch die Zimmer und Säle begleitete uns auch der alte Hauskastellan, der von den Dingen ein gut Teil mehr zu verstehen schien, als sein Herr. Bereits wiederholt war es vorgekommen, daß die andern mit dem alten gesprächigen Mann einen neuen Raum betreten hatten, während ich, lässig hinterherschlendernd, froh, für ein paar Minuten allein zu sein, zurückblieb, mir, solange man mich sehen konnte, den Anschein gebend, als könne ich mich von diesem oder jenem Gegenstande so schnell nicht losreißen.

Das war wieder einmal geschehen, als ich Herrn v. R. nach dem kleinen Gemach, in welchem ich mich gerade befand, eilig zurückkommen sah, während die Stimmen der andern schon aus einem ferneren Raum undeutlich herüberklangen.

Die Scene, die nun folgt, steht so deutlich vor meiner Seele, daß ich sie Zug für Zug und Wort für Wort wiedergeben kann.

Als Herr v. R. rasch durch die Thür trat, sah 54 er sehr erhitzt aus, und seine Augen hatten einen stieren Blick. Es war mir das über Tisch nicht aufgefallen, vermutlich, weil ich beinahe immer auf meinen Teller gesehen. Nun standen mir diese Augen und dieser Blick in widerwärtiger Erinnerung schon aus den Tagen meiner Kindheit, als ich sie bei den Gästen meines Vaters beobachtet hatte, die dann immer so häßlich laut waren und manchmal von einer Zudringlichkeit, die meinen kindischen Stolz beleidigte. Ich meinte jetzt, auch Herr v. R. habe zuviel von dem Champagner getrunken, mit dem bei dem Frühstück der Diener immer wieder die Gläser füllte. Ich hatte ihn eigentlich stets gern gemocht; nun schien es, als ob dies freundliche Gefühl in sein Gegenteil umschlagen wollte. Er mußte es wohl in meinem Gesicht gelesen haben, denn er blieb plötzlich ein paar Schritte von mir stehen und murmelte etwas, wovon ich nur die Worte: »Gnädiges Fräulein« und »überall gesucht« verstand.

Das letztere war ja nun offenbarer Unsinn. Noch nicht fünf Minuten konnten vergangen sein, seitdem ich hier hinter den anderen zurückgeblieben. Und wo sollte ich sein, wenn nicht hier!

Ich: Es scheint, die Besichtigung ist zu Ende; und wir wollen endlich nach dem Dom gehen.

Er: Ich bedauere schmerzlich, gnädiges Fräulein, Sie beim besten Willen so schlecht unterhalten zu haben.

Ich: Das habe ich nicht gesagt.

Er: Aber ich es Ihnen angesehen. Ach, mein gnädiges Fräulein –

Ich: Was?

Er: Wenn Sie mich so anblicken, bringe ich es schon gar nicht heraus.

Ich: Ich bin nicht neugierig, und – Tante ist gewiß schon ungeduldig.

55 Dabei wollte ich nach der Thür zugehen, durch die er gekommen war. Er vertrat mir den Weg, wobei er beide Hände wie bittend aufhob.

Ich (mit der Brüskerie des siebzehnjährigen Mädchens): Ja, was wollen Sie denn eigentlich von mir?

Er (stotternd): Ich, – ich – o, nichts – gar nichts. Das heißt eigentlich alles.

Ich (kalt): Alles – nichts? Ich glaube, Herr v. R. –

Er (sehr schnell, einen Schritt näher tretend, die Hände zusammenkrampfend): Ich bin nicht betrunken – bei Gott, ich bin es nicht. Oder ja: ich bin trunken, aber nicht von Wein. Ich bin trunken von Ihrer Schönheit, von dem Zauber, der Sie umgiebt. O, mein gnädiges Fräulein, wenn Sie wüßten, wie ich Sie liebe, wie ich Sie anbete vom ersten Augenblicke –

Der gute Mensch meinte es gewiß ernsthaft, sagte es aus seiner innersten Seele heraus. Aber sehr junge Mädchen sind oft seelenlose Undinen. Jedenfalls war ich damals eine. Mir kam das Ganze höchst albern, gründlich lächerlich vor, und ich hatte die Grausamkeit, laut aufzulachen.

Er that mir leid, als er plötzlich ebenso blaß wurde, wie er vorher rot gewesen war, und mit gesenkten Augen kaum hörbar sagte:

So nehmen Sie meine Liebe auf!

Und dabei rollten ihm zwei große Thränen über die Backen.

Es rührte mich nicht gerade; aber stimmte mich doch etwas milder. Ich meinte, ich müsse ihm ein paar gute Worte geben. So trat ich an ihn heran und sagte, beide Hände ausstreckend:

Lassen Sie es gut sein. Ich bin Ihnen deshalb nicht bös; seien Sie es mir auch nicht.

56 Er schluchzte krampfhaft und war, ehe ich es verhindern konnte, vor mir auf die Kniee gesunken, meine Hände, die er ergriffen hatte, mit Küssen bedeckend, wobei ich seine Thränen durch meine Finger rieseln fühlte. Dann war er emporgesprungen und davongestürzt.

Ich blieb noch eine Minute, um ruhig zu werden. Das Herz hatte mir doch zuletzt heftig geschlagen. Nun ging ich ihm langsam nach durch zwei Zimmer, bis ich in dem dritten die anderen fand.

Kein Zweifel: entweder hatte er ihnen alles gesagt, oder, was wahrscheinlicher: man hatte es ihm vom Gesicht abgelesen, das noch ganz verstört aussah, obgleich er sich offenbar die größte Mühe gab, unbefangen zu erscheinen. Es gelang ihm sogar besser, als den übrigen, die ganz sonderbar dreinblickten: Tante zornig, das Brautpaar höchst verlegen. Ich that, als sei nichts vorgefallen, und sagte: wir gingen nun wohl zum Dom.

Ehe Tante recht antworten konnte, brachte ihr der Diener eine Depesche vom Onkel: der Inspekteur habe sich plötzlich zu morgen angemeldet; er dürfe natürlich nicht von der Stelle und wünsche, daß wir noch heute nach Hause kämen.

Ursprünglich hatten wir in Köln bleiben und am Abend in das Theater gehen wollen. Daraus wurde nun nichts, vielmehr beschlossen, mit einem Zuge, der zwei Stunden später ging, die Rückfahrt nach D. anzutreten. Wir gingen nach dem nahegelegenen Hotel, wohin unsre Sachen geschickt waren. Herr v. R. begleitete uns, verabschiedete sich aber dann, da er noch bis morgen, vielleicht ein paar Tage länger in K. zu thun habe. Er wußte es so einzurichten, daß, während die andern bereits den Rücken gewandt hatten, um in das Hotel zu treten, er mir zuflüstern konnte: Habe ich gar keine Hoffnung? Ich schüttelte 57 als Antwort mit dem Kopfe. Er wollte nach meiner Hand greifen. Ich that, als bemerkte ich es nicht. Er verbeugte sich und ging. Als er ein paar Schritte gemacht hatte, sah ich, daß er sich halb nach mir umwandte, dann aber, als fände er nicht den Mut, seinen Weg hastig fortsetzte.

Wie sich wohl mein Leben gestaltet haben würde, wäre ich der Regung, die mir da plötzlich kam, gefolgt und hätte ihn zurückgerufen!

So hängt unser Schicksal oft an einem Atemzuge; an einem einzigen Wort, das nicht gesprochen wird, weil uns für den Moment die Kehle zugeschnürt ist!

Wirklich dauerte in diesem Falle die Regung bei mir nur einen Moment. Dann beherrschte mich ausschließlich ein Gefühl: das der Empörung. Zweifellos hätte dies alles nicht geschehen können ohne eine bestimmte Verabredung zwischen der Tante und Herrn v. R. Ich fand das unwürdig, beleidigend.

Zu einer Aussprache zwischen mir und der Tante kam es erst, als wir nach einer langen, öden Fahrt, während der kaum ein Wort gesprochen wurde, selbst das Getuschle und Gekicher des Brautpaars geschwiegen hatte, spät abends wieder zu Hause waren.

Die gnädige Frau läßt das gnädige Fräulein bitten, auf ein paar Augenblicke zu ihr zu kommen, meldete das neue Mädchen, als Lida und ich schon auf unserm Zimmer waren.

Wie soll das werden! jammerte Lida, als das Mädchen zur Thür hinaus war. Du sollst sehen, Tante macht dir eine schreckliche Scene.

Meinetwegen.

Du hast Mut, wie ein Löwe.

Gott sei Dank, daß ich kein Hasenfuß bin.

Damit ging ich hinab. Ich fand die Tante im Salon; der Onkel war bei ihr. Sie hatten 58 offenbar einen Streit gehabt. Die Tante hatte rote Flecke auf den Backen; der Onkel, der noch in voller Uniform war, sah sehr verdutzt aus; entfernte sich dann aber sogleich auf einen Wink der Tante, nachdem er mir mit leidlicher Haltung gute Nacht gewünscht.

Die Tante hatte sich gesetzt; so nahm ich ebenfalls Platz, trotzdem sie mich nicht dazu aufforderte.

Du wünschest, Tante?

Ich wünsche zu wissen, was es heute zwischen dir und Herrn v. R. gegeben hat.

Bin ich verpflichtet, es zu sagen?

Ich sollte meinen. Ich vertrete an dir, solange du in unserm Hause bist, Mutterstelle.

Heute habe ich nichts davon gemerkt. Im Gegenteil!

Darf ich um die Erklärung dieser höchst auffallenden, höchst unkindlichen Worte bitten?

Darf ich mir zuvor eine Frage erlauben: wußtest du, daß Herr v. R. mir einen Antrag machen würde?

Ich meine nur, fuhr ich fort, als sie nicht antwortete, sondern mich bloß weiter zornig anblickte, weil alles ganz wunderbar stimmte: Herrn v. R.'s Erscheinen am Dampfschiff in Bonn; die Equipage an der Landungsbrücke in Köln, – und so zählte ich der Reihe nach alle mir verdächtigen Umstände auf, als letzten meiner Trümpfe die Depesche des Onkels ausspielend, die der Tante in Herrn v. R.'s Haus geschickt wurde, während, wenn alles mit rechten Dingen zuging, der Onkel von unserm Verweilen dort gar nicht unterrichtet sein konnte.

Ich brachte das alles mit großer Sicherheit vor, ohne auch nur einmal zu stocken. Hatte ich mir doch auf der Heimfahrt, während ich schweigend in meiner Ecke lehnte, reiflich überlegen können, was ich sagen wollte, wenn die Tante, was ich bestimmt erwartete, mich zur Rede stellte.

59 Zu meiner Verwunderung blieb die Wirkung, die ich mir von einem so eklatanten Beweise meines Scharfsinns versprochen hatte, aus. Als ich zu Ende war, zuckte die Tante die Achseln und sagte mit einem überlegenen Lächeln, das mich sehr ärgerte:

So bist du also weniger einfältig, als ich geglaubt habe. Da wird es wohl am besten sein, daß ich ganz offen mit dir spreche. Ich sehe jetzt, ich hätte es früher thun sollen; aber ich denke, es ist noch nicht zu spät. Daß Herr v. R. sich für dich interessierte, hast, wie es scheint, nur du nicht bemerkt. Für uns – mich, den Onkel, deine Schwester – bestand darüber kein Zweifel. Es war ein offenes Geheimnis für alle, die in unser Haus kamen. Herr v. R. hat schon vor der Reise bei dem Onkel und mir um dich angehalten und mich speziell gebeten, seine Werbung bei dir zu befürworten. Das letztere lehnte ich ab: wie ich dich kenne, würdest du nein sagen, ohne jeden vernünftigen Grund aus bloßem Widerspruchsgeist, an dem du solches Gefallen findest, obgleich es dein schlimmster Feind ist. Er habe bessere Aussichten, wenn er sich direkt an dich wende. Dann ist allerdings zwischen uns verabredet worden, daß er uns in Bonn treffen, nach Köln begleiten solle, und das Übrige. Ich meinte, das prächtige Haus würde einen Eindruck auf dich machen und du so viel Verstand haben, dir zu sagen, es müsse sich doch wohl verlohnen, da Herrin zu sein. Ich sehe jetzt, ich habe dich übertaxiert, und dein Eigensinn hat dir einmal wieder einen bösen Streich gespielt. Aber, wie gesagt, ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, daß du schließlich Vernunft annimmst.

Und nun kam eine lange Auseinandersetzung des ungeheuren Glücks, das ich machen würde, wenn ich Herrn v. R.'s Werbung annähme. Wie ich dadurch in eine Position komme, um die mich das 60 verwöhnteste und stolzeste Mädchen beneiden müßte. Wie sie eine Zeit lang gehofft, Lida in dieser Position zu sehen, nur daß Herr v. R. unbegreiflicherweise gegen ihre Vorzüge taub und blind gewesen. Und die andere Seite der Medaille, wenn ich in meinem Eigensinn beharre: die Zukunft eines armen adligen Mädchens, das nicht, wie ein bürgerliches, jede beliebige Stellung annehmen dürfe, wolle sie nicht in eine ihrer und ihrer Familie unwürdige Lage kommen. Ob ich eine andre Aussicht habe, wenn nach einem Jahre mein Aufenthalt im Kloster zu Ende gehe? Sollte ich etwa an ihr Haus gedacht haben, in welchem ja allerdings nun, da Lida sich verheirate, Platz für mich sei, so müsse sie zu ihrem großen Bedauern sich dagegen verwahren. Unsre Charaktere seien viel zu verschieden, als daß sie sich auf ein friedliches erfreuliches Beisammensein, wie mit der guten Lida, Hoffnung machen dürfe.

Dann zum Schluß die fast feierlich gehaltene Beschwörung, eine Gelegenheit, meine Fortüne zu machen, wie sie mir so glänzend niemals wieder geboten werden würde, nicht von der Hand zu weisen.

Seltsam! Die lange Rede der Tante hatte mich doch in gewisser Weise bewegt. Nicht als ob sie mich umgestimmt und geneigt gemacht hätte, nun nachträglich ja, anstatt nein zu sagen! Aber ich meinte, ihr so etwas wie eine Abbitte schuldig zu sein, nachdem ich mich überzeugt, daß sie es in ihrer brutalen Weise gut mit mir gemeint habe. Auch daß sie mir für die Zukunft ihr Haus verschloß, hatte ich ihr nicht übel genommen: sie fühlte und dachte in dieser Beziehung genau so, wie ich. Wäre nur das unglückliche Wort ›Fortüne‹ nicht gewesen, das sie zu schlimmerletzt gebraucht! Es machte die ganze Wirkung ihrer Ermahnungen zu nichte. Ich mußte an einen Ausspruch Professor R.'s denken: Wenn der Deutsche lügen will, greift er aus einem Rest von Scham am 61 liebsten zu einem Fremdwort. Natürlich schüttete ich nun sofort das Kind mit dem Bade ans: alles, was die Tante da vorgebracht, war Lug und Trug. Fortune! jawohl! eine Glücksjägerin, wie sie selbst! Und ich war ihr für dasselbe häßliche Metier gerade gut genug!

Ich erhob mich, dankte ihr in trockenen Worten für die viele Mühe, die sie sich mit mir gebe. Und daß ich sehr müde sei und um die Erlaubnis bitte, zu Bett gehen zu dürfen.

Eine Schreckensnachricht, die am nächsten Morgen für mich eintraf, machte eine Fortsetzung des Gespräches vom vergangenen Abend unmöglich und zugleich meinem Aufenthalt bei den Verwandten ein unerwartetes jähes Ende.

Schwester Ambrosia schrieb: chère Maman sei schwer erkrankt und wünsche mich vor ihrem Ende, das Gott in seiner Gnade verhüten möge,. noch einmal zu sehen.

Ich war entschlossen, sofort abzureisen, und ließ mich nicht davon abhalten trotz Tantes Erklärung, mich dann entschieden nicht begleiten zu können, da sie dem Inspekteur während seiner Anwesenheit die schuldigen Honneurs machen müsse und zu übermorgen eine Gesellschaft eingeladen habe, die abzusagen absolut unmöglich sei. Ich durfte vermuten, daß diese Gesellschaft zur Feier meiner Verlobung mit Herrn v. R. geladen und Tante außer sich war, sich nun so unnötigerweise in Kosten gestürzt zu haben.

Bei diesem Gedanken mußte ich trotz meines Kummers heimlich lachen.

Es sollte mein letztes Lachen für lange Zeit sein.

Als ich im Kloster ankam, war chère Maman bereits seit vierundzwanzig Stunden tot. Ich durfte sie nur noch im Sarge sehen und ihr die weißen 62 kalten Hände küssen, die mir so oft liebend über den Scheitel gestrichen hatten.

Ja, sie hatte mich geliebt! In ihren letzten Stunden selbst hatte sie wiederholt nach mir gefragt, und ob ich noch immer nicht zurück sei? Und ich hatte sie geliebt! Erst jetzt sollte ich erfahren, wie sehr!


Es war der erste große Schmerz meines Lebens. Als der Vater starb, war ich zu jung gewesen, den Verlust voll zu empfinden.

Mit chère Mamans Tode war die halkyonische Zeit meines Klosterlebens unwiederbringlich dahin. Schwester Ambrosia war ihre Nachfolgerin geworden. Sie war die Älteste nach ihr; sonst berechtigte sie nichts zu dem verantwortlichen Amt, und ich begriff und begreife noch heute nicht, wie das Kuratorium es ihr anvertrauen konnte. Chère Maman war die Güte, aber auch die Klugheit selbst gewesen; in ihrer Jugend Hoffräulein in Weimar, geistig das Produkt der idealen Schiller-Goethe-Zeit, mit den beiden Heroen noch persönlich bekannt und befreundet. Schwester Ambrosia hatte eine dumpfe klösterliche Erziehung gehabt, Welt und Menschen niemals kennen gelernt. Man konnte sie keineswegs eigentlich schlecht nennen; aber sie war unglaublich beschränkt; und ich habe die Erfahrung gemacht: das letztere richtet ebensoviel Unheil an wie die Herzenstücke, und manchmal noch mehr.

Aber ich hatte nicht nur die beste Mutter; ich hatte auch die geliebteste Freundin verloren. Als ich zurückkam, fand ich Carola nicht mehr im Kloster. Erst jetzt erfuhr ich, was sich inzwischen ereignet.

Am Tage, nachdem ich abgereist, hatte Prinz Heinrich Falkenau anfragen lassen, ob er seiner Cousine Grete von Wesselhöfft die Grüße ihrer Eltern 63 persönlich überbringen dürfe. Liberal, wie sie immer war, hatte chère Maman dem jungen Mann die Erlaubnis erteilt, trotzdem, als Regel, der Besuch von Herren im Kloster für unstatthaft galt. Bei dieser Gelegenheit – die Einzelheiten habe ich nie erfahren – der Zufall hat sicher mit hineingespielt, – hatte der Prinz Carola gesehen und auch gesprochen; gewiß nur im Vorübergehen, und doch hatte es hingereicht, ihn mit einer rasenden Leidenschaft für das schöne Mädchen zu erfüllen. Anstatt weiter nach Paris zu gehen, was er ursprünglich gewollt, eilt er spornstreichs nach Falkenburg zu seinen Eltern zurück; erklärt, daß er ohne Carola nicht leben könne, und scheint keine Mühe gehabt zu haben, jene für seine Wünsche zu stimmen. Die Frau Mutter, eine schwache Dame, in ihren Ältesten vernarrt, sonst ganz unter dem Einfluß ihres Gemahls, eines Lebemannes, dessen Grundsatz war: après moi le déluge, und der jeden gern gewähren ließ, unter der Bedingung, daß man ihm seine Kreise nicht störe. Überdies waren arme Heiraten in der Familie nichts Seltenes; auch die Fürstin hatte als einzigen Brautschatz ihren uralten Namen. An dem fehlte es Carola nicht. Die edle Dame schreibt an chère Maman, unterrichtet sie von der Lage der Dinge; bittet sie, Carola zu sondieren, und, wenn das Resultat günstig, Fürsprecherin ihres Sohnes, des Prinzen, zu sein. Nun will das Glück, daß derselbe coup de foudre, der den Prinzen getroffen, auch unsre gute Carola nicht bloß gestreift hat – kein Wunder, in Anbetracht der in jeder Beziehung ausgezeichneten Persönlichkeit des jungen Fürstensohnes! Chère Maman, die hier für das liebe Kind sich eine Perspektive aufthun sieht, wie sie glänzender nicht gedacht werden kann, telegraphiert zurück: alles stehe aufs beste; die Frau Fürstin möge kommen und sich überzeugen, daß ihr Herr Sohn 64 eine bessere Wahl nicht habe treffen können. Die Fürstin kommt, ist, wie vorauszusehen und vorausgesehen, entzückt; setzt es bei chère Maman durch, daß ihr Carola sofort anvertraut wird; entführt sie – und, damit die Kleine sich nicht ängstige, auch Adele – zu sich nach Schloß Falkenburg, wo in der Stille die Verlobung gefeiert wird. Die Mädchen bleiben unter der Obhut der Fürstin. Der Prinz nimmt seine auf so seltsame Weise unterbrochene Reise nach Paris und weiter nach Spanien, Italien, Griechenland und dem Orient wieder auf. Wenn er nach einem halben Jahre zurückkehrt, soll die Vermählung stattfinden.

Daß ich von alle dem nichts erfahren, war chère Mamans Wille gewesen. Sie wußte, wie sehr ich an Carola hing und der doch unvermeidliche Verlust mich schmerzen würde. So wollte sie mir meine Reisefreude nicht gleich in den ersten Tagen trüben. In diesem Sinne hatte sie auch mit Carola gesprochen. Die Ausführung der Absicht, welche sie sicher gehabt, selbst später mich schonend von dem fait accompli zu unterrichten, hatten dann ihre Krankheit, schließlich ihr Tod vereitelt.

So war es nun Schwester Ambrosia, die mich von den Geschehnissen unterrichtete. In ihrer Weise, d. h. indem sie den Hauptaccent auf die glänzenden äußeren Verhältnisse legte, die hoffentlich Carola nicht übermütig machen, vielmehr in dem Streben bestärken würden, sich eine wahrhaft edle christliche Häuslichkeit zu schaffen und, von den kleinlichen Sorgen des Tages nicht belästigt, desto eifriger nach dem »Ewig Weiblichen« zu streben und in sich selbst zum vollendeten Ausdruck zu bringen.

Ich hörte das ruhig mit an; innerlich war ich empört. Bei unserm Urteil über ein Ereignis hängt so viel von der Darstellung ab, in der es uns 65 vermittelt wird. Sie ist wie ein Glas, das zwischen uns und das Objekt geschoben ist. Hier war es von der Art, daß ich alles verzerrt sah. Die weltliche Gesinnung, die in dem Hause meiner Tante stets den Ausschlag gab; das kaum verhüllte, oder ganz offene Gieren nach materiellen Vorteilen; der schamlose Mammonsdienst, der da getrieben wurde – wie verächtlich war mir das erschienen! mit welchem Abscheu hatte es mich erfüllt!

War, was hier geschehen, denn so viel besser? Hatte man meine süße Carola nicht verkauft, wie die argen Brüder den unschuldigen Joseph? Ob für so und so viele Silberlinge, oder für eine Fürstenkrone, blieb sich in meinen Augen gleich. Und das hatte chère Maman fertig gebracht, die für mich der Inbegriff höchsten Seelenadels und unsträflichen Wandels gewesen war!

Ich konnte es nicht fassen. Mir war, als wäre mir der Boden unter den Füßen fortgezogen, und ich hätte nichts, worauf ich stehen konnte.

Und doch etwas: mein Selbstgefühl, meinen Stolz.

Darauf steifte ich mich, hochmütige Pharisäerin, die ich war. Herr v. R. war kein Fürst; aber vielleicht ebenso reich und reicher, als es Carolas zukünftiger Gatte jemals sein würde, dessen Vater, wie Schwester Ambrosia mehr als angedeutet hatte, wenn er auch das Majorat nicht antasten durfte, über und über verschuldet sein sollte. Herr v. R. hatte zu meinen Füßen gelegen, und – ich habe ihn zurückgewiesen, rief ich triumphierend.

Warum?

Im Grunde fragte ich mich das ernstlich jetzt zum ersten Male. Hatte ich doch in jenem Augenblick nur aus einem dunklen Gefühl heraus, so zu sagen: instinktiv gehandelt.

66 Also warum?

Herr v. R. wäre Carola gewiß ein ebenso willkommener Freier gewesen. Er sah gut aus, hatte die besten Manieren, kleidete sich mit vollendeter Eleganz, war freundlich, gefällig, ein angenehmer, überall gern gesehener Gesellschafter, ein trefflicher Tänzer und Reiter.

Warum denn hatte ich ihn nicht lieben können? nie auch nur die Spur einer Neigung für ihn gefühlt?

Endlich brachte ich es heraus: er war kein Mann, wie ich mir einen Mann dachte, den ich lieben könnte und müßte. Einer, der einen starken Geist, einen unbeugsamen Willen hatte, den Ehrgeiz und die Fähigkeit, Großes zu leisten. Dessen Grundsatz war: mag's biegen oder brechen, ich führ' es durch. Der sich von keiner Omphale an den Spinnrocken schmeicheln ließ; auch, wo er liebte, Herrscher blieb.

Von alle dem hatte Herr v. R. nichts; war von allem das Gegenteil. Zum Offizier taugte er nicht, zum Maler ebensowenig. Hier und dort und überall Dilettant –

(Schreib' nur zu, liebe Lent! Natürlich habe ich damals nicht ganz so gedacht und mich ausgedrückt. Ich übersetze es eben in mein Denken und Sprechen von heute. Aber anders geht es doch nicht. Wo war ich stehen geblieben? Dilettant? gut!)

– in allen Dingen, nur nicht in raffiniertem Lebensgenuß. Wie unerhört üppig waren die beiden Gastmahle gewesen, die er uns gab! Er war in Luxus ertrunken. Sein Atelier! sein Stadthaus! Sammet und Seide die Portieren, die Fenstervorhänge, die Tapeten selbst! Die andern waren auch in sein Garderobezimmer getreten; ich warf nur einen flüchtigen Blick durch die halboffene Thür. Da stand ein großer Marmortisch mit zahllosen Bürsten und Kämmen von Elfenbein, goldenen, silbernen, krystallenen 67 Schalen, Büchsen, Flacons. Man war entzückt; ich sagte bei mir: Und das will ein Mann sein!

Zehn Minuten später machte mir der Mann seinen Antrag!

Und ich habe ihn zurückgewiesen! lautete immer wieder mein Triumphgesang.


Selbstgefühl ist gewiß ein gutes Ding und jedem aufs innigste zu wünschen. Aber auch, daß er damit, wie mit allem, Maß halte. Ich verstieg mich ins Maßlose. Meine Jugend und Unerfahrenheit; die Kränkungen, die ich im Hause der Tante erlitten hatte, oder doch erlitten zu haben glaubte; all das Schmerzliche, das bei meiner Rückkehr auf mich eingestürmt, würden genügende Entschuldigungen sein, wäre da nicht noch ein anderes Moment, das hier vollends den Ausschlag gab: der Einfluß, den Professor R. in diesem Stadium meines Lebens auf mich übte.

Mein früher so oft schwankendes Verhältnis zu dem merkwürdigen Mann schien sich aufs schönste für immer gefestigt zu haben. Indem er sich meiner, der jetzt ganz Verlassenen, so treulich annahm; mir sein volles Vertrauen zu schenken, sein tiefstes Innerstes erschließen zu wollen schien; mich in meinen Studien förderte, wie er nur immer konnte; mein Wissen täglich bereicherte, sah ich ihn bald in dem Licht eines liebenden Vaters, bald in dem eines gütigen älteren Bruders. Und war ihm um so dankbarer, als der Tod von chère Maman meine Lage im Kloster wesentlich zu meinen Ungunsten verändert hatte. Von ihrer Gunst getragen, hatte ich früher den Schwestern und den Mitschülerinnen gegenüber mich in einer Ausnahmestellung befunden, jenen fast eine Gleichgestellte, 68 für diese eine entschiedene Autorität. Ich mochte solche Bevorzugung wohl verdient haben: die Klasse, in der ich mich gerade befand, war stets die fleißigste, ordentlichste. Das galt im Kloster als ausgemacht. Davon war jetzt nicht mehr die Rede. Schwester Ambrosia war niemals meine besondere Freundin gewesen: sie fand das »ewig Weibliche« in meinem Wesen und Charakter zu wenig ausgesprochen; meinen Sinn für das Ideal der »schönen Häuslichkeit« beklagenswert stumpf. Da ich nur eben noch ein Jahr auf dem Kloster sein konnte, hielt sie es für die höchste Zeit, das von chère Mamans Nachsicht in meiner sittlichen Bildung Versäumte energisch nachzuholen.

Natürlich bewirkte sie das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigte. War ich den andern früher als Muster hingestellt, sollte ich jetzt als abschreckendes Beispiel dafür dienen, wohin Stolz, Hoffart, Eigendünkel den Menschen führen, der den Lockungen dieser Dämonen blindlings folge. Hatte ich sonst meine Schlafkameradinnen frei wählen dürfen, gab man mich nun mit solchen zusammen, die mir am wenigsten sympathisch waren; ja, das sonnige, nach dem Park blickende Zimmer, welches ich zuletzt mit Carola und Adele inne gehabt, mußte ich mit einem nach dem Hof gelegenen vertauschen, in das weder Sonne noch Mond schien. Ich rächte mich für diese und andere Demütigungen und Unbilden dadurch, daß ich, anstatt darüber zu klagen, that, als bemerkte ich sie nicht.

Und eben in diesem Trotz gegen ein etwas, das ich für ein schweres Unrecht hielt und das es in mancher Beziehung auch wohl war, unterstützte mich Professor R., wie er nur immer konnte, ohne sich je zu fragen, ob er den so schon allzu straff gezogenen Bogen nicht vollends überspanne, und er, der mit Gott und der Welt zerfallene Mann, wohl der rechte Mentor für ein siebzehnjähriges Mädchen sei. Den 69 Einfluß, den der dämonische Mensch täglich mehr auf mich gewann, konnte es nur verstärken, aber die Gefahr, die hier für mich lauerte, erhöhen, daß sich in unser Verhältnis eine Heimlichkeit eingeschlichen hatte, welche freilich durch die Lage der Dinge geboten war. Er durfte, wollte er meine Situation nicht noch verschlimmern, mich nicht mehr, wie sonst, öffentlich und vor der Klasse loben – er mußte es unter vier Augen thun; nicht mehr, wie unter chère Mamans Regime, Bücher, die ich lesen sollte, in Gegenwart der andern übergeben – er konnte sie mir nur noch verstohlen zustecken. Und manchmal welche Bücher! Es war gerade damals die Zeit von Schopenhauers Wiedererweckung zum Leben nach so langer todähnlicher Vergessenheit – er brachte mir die Parerga, in einzelne Bogen zerschnitten, damit ich sie leichter verbergen möchte. Ein andermal war es etwas von Feuerbach und dergleichen mehr. Wenn ich über die vielen lateinischen und griechischen Citate Klage führte, vertröstete er mich auf die Freiheit zu lernen und zu leben, die ja für mich kommen werde mit der Stunde, in der ich das Kloster verließe.

Der Plan für meine Zukunft – die nächste wenigstens – war zwischen uns bereits festgestellt. Ich sollte zu ihm ins Haus ziehen als Mitglied seiner nur aus der Frau und einer einzigen Tochter bestehenden Familie – seinetwegen Pensionärin, wenn ich denn durchaus nicht anders wolle. Dann werde er in Wirklichkeit und Wahrheit mein Lehrer werden, denn dies hier sei ja nur Spielerei und Sand in die Augen. Das nächste Ziel: ein Lehrerinexamen; doch das sei nur eine Etappe. Ein Weg, wie der meine, müsse nach größeren Dimensionen berechnet werden. Wohin er führe? Thor, der danach frage! Das liege auf den Knieen der Götter. Schließlich könne man aber auch die Götter zwingen.

70 Und das einem Mädchen von siebzehn Jahren!

Hier finden sich einige verstreute, undatierte Blätter aus meinem Tagebuche, die noch mehr solches Halbunsinns enthalten, von dem ich aber nicht zu sagen wüßte, was auf meine und was auf Professor R.'s Rechnung kommt:

 

Der Kampf mit den Göttern ist immer ein tragischer, der mit den Menschen meistens ein Froschmäusekrieg.

* * *

Calderon sagt: Das Leben ein Traum; Grillparzer: der Traum ein Leben. Wer von beiden hat recht? Ich glaube: der letztere. Mein jetziges Leben scheint allerdings nur ein Traum, und ein recht häßlicher dazu. Aber ich weiß, daß es eben nur ein Traum ist, aus dem es ein Erwachen zum wirklichen Leben giebt. Ach, leben! wirklich leben!

* * *

Heute nacht beinahe denselben Traum geträumt, wie vor einem Jahr. Bloß, daß ich nicht wieder durch die Prachtsäle irrte, sondern er und ich gleich an der Rampe der Terrasse standen, vor der sich der Garten breitete. Auch das Gespräch war ein anderes. Er fragte: weshalb ich Herrn v. R.'s Werbung zurückgewiesen? – Ich: Weil ich nur einen Mann lieben kann, der wirklich ein Mann ist. – Er (schwermütig lächelnd): Gnädiges Fräulein, das ist die Quadratur des Zirkels. – Darüber bin ich aufgewacht.

* * *

In Schillers Briefwechsel mit Goethe gefunden: »Der Dichter ist der wahre Mensch.« Professor R. gefragt: was er davon halte? – Er: 71 Eine Halbwahrheit, wie wir sie bei dem guten Schiller zu Hunderten finden. Der wahre Mensch müßte, wenn er zufällig ein Mann ist, doch zuerst in des Wortes vollster Bedeutung ein Mann sein. Ich kenne wenige Dichter, die es gewesen wären. Lessing – ja; aber der war auch nur ein halber Dichter. Äschylus und Sophokles freilich und Cervantes, die ganze Dichter und ganze Männer dazu waren. – Ich: Und Goethe? Schiller? – Er: Liebes Fräulein Antoinette, hier gerät meine Wahrheitsliebe mit meiner Pietät in Streit. Fragen Sie mich nicht weiter.

P. S. Er nennt mich jetzt immer, wenn wir allein sind, »Fräulein Antoinette«. Als ich ihn bat, das »Fräulein« wegzulassen, sagte er: Ich möchte am liebsten die Mädchen, wenn sie noch in der Wiege liegen, »Sie« und »Fräulein« nennen.

Scheint, daß auch dies zu seiner »Ritterlichkeit« gehört.

* * *

Brief von Lida. Die Hochzeit soll Anfang März sein. – Beneide sie nicht. – Ob ich dazu hinkomme? – Gott soll mich bewahren! – Skandalöser Auftritt, den Tante mit einem der Burschen gehabt, der nach ihrer Ansicht ein paar Groschen beim Einkauf von Eßwaren unterschlagen hat. Der Bursche hat sich beschwert, wobei noch verschiedenes Mißliebige zur Sprache gekommen. Onkels Stellung soll ganz erschüttert; seine Pensionierung nur noch eine Frage der nächsten Zeit sein. – Herr v. R. auf Reisen gegangen. Will »im Orient still seinem Kummer leben«. Ob dies »Stillleben« wohl besser ausfällt, als die in seinem Atelier? –

Übrigens verwechselt Lida noch immer hartnäckig »das« und »daß«. Hering schreibt sie mit einem h.

* * *

72 Seltsam, daß wir ältere Leute immer für älter halten, als sie wirklich sind. So habe ich Professor R. schon vor Jahren mindestens sechzig gegeben. Und nun ist er, wie er mir heute sagte, eben erst fünfzig geworden!

* * *

Warum er so selten mit mir über seine Frau und seine Tochter spricht, obgleich ich doch nun so bald in sein Haus soll! Heute war er etwas mitteilsamer. Er hat sich schon als Student verlobt. Sie mußten lange warten, bis sie sich heiraten konnten. Die Frau ist so alt, wie er; oder noch ein wenig älter – er ließ sich darüber nicht genau aus. Die Tochter so alt wie ich. Ob sie schön sei? Er lachte grimmig in seinen (immer etwas struppigen) Bart: Sehe ich so aus, als ob ich eine schöne Tochter haben könnte?

Professor R. ist nicht schön. Sie sagen: Schönheit spiele bei dem Manne gar keine Rolle. Ich weiß nicht. Der Mann in meinem Traum erschien mir außerordentlich schön. Ob ich den Traum wohl zum dritten Male träumen werde? Träume, die man dreimal träumt, sollen in Erfüllung gehen, sagt die alte Mutter von unsrer Gärtnersfrau.

* * *

Mit dem Worte »Liebe« scheint es mir zu sein, wie mit dem einen Sonntagsanzug, den die Gärtnersleute für ihre drei halberwachsenen Jungen haben, und in den jeder gesteckt wird, wenn er zum Kirchgang an der Reihe ist. Das Wort Liebe bleibt dasselbe, und jeder denkt sich etwas anderes darunter; der Anzug bleibt derselbe, und jedesmal steckt ein anderer Junge darin.

* * *

73 Die Liebe hat so viel und mehr Grade als das Thermometer.

* * *

Ich spreche von der Liebe, wie ein Blinder von der Farbe. Du weißt ja gar nicht, was Liebe ist, sagte Tante in jener abscheulichen Unterredung nach der Geschichte in Köln. Sehr gut! Wie konnte sie dann aber verlangen, daß ich Herrn v. R. lieben sollte? Oder sollte ich ihn nur heiraten? Pfui!

* * *

Wenn ich mir klar zu machen suche, was Liebe wohl ist, muß ich immer an Carola denken. War das nun Liebe und nicht innige Freundschaft, wie ich immer glaubte? Von der, sagt Professor R., giebt ein alter Schriftsteller (Sallustius?) die Erklärung: sie sei vorhanden, wenn die Betreffenden immer dasselbe wollten und dasselbe nicht wollten. Zwischen mir und Carola aber war es so: ich wollte etwas, oder wollte etwas nicht; und Carola that, was ich wollte; und, was ich nicht wollte, that sie nicht. Also keine Freundschaft; aber Liebe, die richtige Liebe ist doch wohl auch noch anders.

* * *

Die Liebe duldet alles, sie glaubet alles, heißt es in der Bibel. Dann bin ich wohl für sie verloren. Ich würde niemals alles dulden. Und alles glauben? Professor R. sagt: ich sei eine geborene Ungläubige. Er hat nicht immer recht. Ob in diesem Fall?

* * *

Mein Lieblingsplatz ist jetzt wieder die verfallene Terrasse hinter dem Hause. Ich fliehe dahin, so oft 74 ich entwischen kann. Jetzt im Hochsommer ist der Bach sehr klein: dünne braune Fäden schlängeln sich zwischen den Steinen hin, die viel größer und weißer erscheinen, als sonst wohl. Auch die Vögel in den Büschen und Bäumen der Felswand drüben sind stumm geworden. Es ist unsäglich traurig. Und bin da doch so gern! Seltsam! Ich liebe die Einsamkeit, und sehne mich so nach Menschen!

* * *

Carola schreibt in letzter Zeit öfter. Immer dasselbe: sie ist unsäglich glücklich. Wohl ihr! Menschen, die nur immer wollen, was andere wollen, scheinen es mit dem Glücklichsein leichter zu haben. Daß Adele sich so über das Glück ihrer Schwester freut, ist hübsch von ihr und würde noch hübscher sein, wenn es nicht wieder so eine Art von Anempfindung wäre. Die Schwester einer Prinzenbraut! Und es würde nicht lange dauern: einer Fürstin! Mit der Gesundheit Sr. Durchlaucht, des Herrn Vaters, stehe es gar nicht gut! Und eigentlich habe Carola alles ihr zu verdanken, die sie die Zage stets ermahnt, eingedenk zu sein des Ruhmes der Ahnen, und nur eine Verbindung einzugehen, die es ihr möglich mache, wie jene auf den Höhen der Menschheit zu wandeln! Daß sie selbst ihren Prinzipien treu bleiben werde, sei selbstverständlich. Schließlich feierliche Ermahnung an mich, des Schwures zu gedenken, den ich an jenem Abend im Park vor dem Obelisk unter der großen Buche in ihre Hand geleistet. – Ich! einen Schwur! und in ihre Hand! Es ist zum Lachen. Zu Carolas Hochzeit erwartet man mich bestimmt. Die Frau Fürstin wird deshalb selbst an Schwester Ambrosia schreiben. – Werde Carola bitten, ihr das auszureden.


75 Die Fürstin hatte doch geschrieben, um so mehr hoffend, daß meiner Reise nach Falkenburg nichts im Wege stehe, als sie von ihrer geliebten Schwiegertochter und deren ihr so sehr sympathischen Schwester höre, daß mit dem September – die Hochzeit solle am 25. gefeiert werden – meine Klosterzeit zu Ende sei. Sie hoffe weiter, ich werde während der Reise des jungen Paares auf Schloß Falkenburg ihr lieber Gast sein und, wenn es nach ihr gehe, bleiben, bis meine Zukunft nach des Himmels Ratschluß sich anderweitig entschieden habe. Die Reisekosten und überhaupt das Ökonomische dürfe mir keine Sorge machen: sie betrachte die beste Freundin ihrer Schwiegertochter als ihr eigenes Kind.

Schwester Ambrosia las mir diesen Brief mit großer Genugthuung, ja, mit einer gewissen salbungsvollen Rührung vor. Die Gunst, welche die vornehme Dame mir erwies, hatte ihr augenscheinlich höchlichst imponiert. Und dann: es war ein Ehrenpunkt des Klosters, ihren ärmeren Zöglingen den Schritt ins Leben zu erleichtern, soweit das möglich war. Hier wurde mir dieser Schritt so leicht gemacht: der vorläufig unbegrenzte Aufenthalt in einer fürstlichen Häuslichkeit unter so liebreichen Bedingungen – was konnte ich mir Besseres wünschen! In einem so hoch begnadeten Hause, oder nirgends müsse das »ewig Weibliche« seine schönsten Triumphe feiern!

Hier umarmte mich – zum ersten und zum letzten Mal – Schwester Ambrosia mit obligaten pathetischen Küssen auf meine beiden Backen.

Und nun das Staunen, das Entsetzen, schließlich der Zorn, als ich mit voller Ruhe – ich hatte mich auf diesen Moment so lange vorbereitet – erklärte: es könne aus dem allen schlechterdings nichts werden, da ich entschlossen sei, nach dem Verlassen des 76 Klosters mich im Hause des Professors R. auf das Lehrerinexamen vorzubereiten, überhaupt den Studien zu leben; meine beiden Vormünder: mein Onkel, der Oberst in D., und der Rechtsanwalt P. seien durch den Professor von dem Plane in Kenntnis gesetzt und mit ihm einverstanden.

Schwester Ambrosia – aber weshalb mich bei der Schilderung einer halb widerwärtigen, halb lächerlichen Scene länger aufhalten! Zuletzt ließ sie sich zu dem jetzt in heller Wut hervorgesprudelten Ausruf hinreißen: da sei es mir am Ende lieber, wenn ich sofort eine Stätte meide, die, wie ich ihr keinen Segen gebracht, auch so augenscheinlich mir nicht zum Segen gereicht habe.

Ich erwiderte: In dem gastlichen Hause des Herrn Professors sei zu meiner Aufnahme alles bereit, und ich verzichte gern auf mein Recht, vierzehn Tage länger an einem Orte zu bleiben, den mir gewisse Personen aus einem Paradiese zur Hölle gemacht hätten.

Noch am Abend desselben Tages hatte ich das Kloster verlassen und war in das Haus des Mannes übergesiedelt, in welchem ich meinen besten, ja einzigen Freund auf der Welt sah, und in dessen Hände ich deshalb getrost meine Zukunft legen dürfe.


Obgleich die Entfernung unsers Klosters von der Stadt nur ein paar tausend Schritte betrug, waren wir doch sehr selten und immer nur auf kürzeste Zeit dort hingekommen. Welchen Reiz hätte es auch für uns gehabt, aus unsrer lustigen, baumumrauschten, blumendurchdufteten Höhe in das verräucherte dumpfe Nest hinabzusteigen! So, wie es da war, mochte es Hunderte von Jahren hinter seinen Mauern 77 gelegen haben, von denen noch hier und da ansehnliche, mit Epheu und anderem Schlingkraut übersponnene Reste standen; auch wohl ein halbverfallener Turm mit Schießscharten und Spuren einer krenelierten Brüstung um das stumpfe Dach, an welchem die Hälfte der Ziegel fehlte. Bis dann endlich sich ein paar Fabriken aufgethan hatten, deren hohe Schornsteine ihm auch nicht zur Zierde gereichten (abgesehen von dem übelriechenden Qualm, der bei gewissen Windrichtungen die engen Gassen füllte); und die Zweigbahn fertig geworden war, die das Städtchen mit der großen Route verband, und deren dumpfes Rollen in Sommernächten, wenn wir bei offenem Fenster schliefen, meine Phantasie in die unbekannte Ferne gelockt hatte. Interessanter war für mich, daß in jüngster Zeit ein Bataillon desselben Regiments, dessen Oberst mein Vater gewesen, hierher verlegt war.

So machte denn der Ort, als ich ihn die ersten Male in Begleitung der Frau Professor oder ihrer Tochter durchwanderte, den trübseligsten Eindruck, der sich erst allmählich abschwächte. Besonders seitdem sich der Professor ins Mittel gelegt und mich auf so manche versteckte malerische Partie hingewiesen hatte; das reizvolle Portal einer uralten, lindenumgebenen Kirche; ein Giebelhaus aus dem 14. Jahrhundert mit überkragenden Stockwerken und zierlichen Holzschnitzereien; durch ein Spitzbogenthor der Blick in einen stillen Hof, aus dessen Pflaster das Gras in langen Büscheln wuchs, und der von ehrwürdigen Baulichkeiten einer längst verschollenen Zeit umgeben war. Auch sein Gymnasium, das er sein Fegefeuer nannte, zeigte er mir: ein ehemaliges Cistercienserkloster mit langen gewölbten Korridoren und großen, ebenfalls gewölbten Schulzimmern, von dessen Wänden aus den ellendicken Mauern hier und da die Nässe sickerte.

78 Doch die Stadt selbst hätte noch trister sein mögen, wäre nur unser Heim freundlicher gewesen. Das Haus hatte über dem Erdgeschoß nur ein Stockwerk, welches wir bewohnten. Es war ein sehr alter Kasten, längst zum Abbruch reif; auf unbegreifliche Weise verbaut: ein paar Zimmerchen nach vorn, ein paar nach hinten, dazwischen ein Flur, dessen Weite und Breite mit den winzigen Dimensionen der andern Räume in einem lächerlichen Mißverhältnisse stand. Mein kleines Zimmer lag nach hinten. Aus dem einzigen Fenster hatte ich den Blick auf drei oder vier Nachbarhöfchen und ein dürftiges Plätzchen, das wohl ein Garten sein sollte, was allerdings nur aus ein paar verkümmerten Obstbäumen zu schließen war, zwischen deren Stämmchen Leinen hinüber- und herüberliefen, an welchen beständig, auch wenn es regnete und schneite, Wäsche flatterte. Eine zarte Rücksicht für mich hatte bei der Wahl des Zimmers den Ausschlag gegeben. Ich sollte ungestört studieren dürfen, und das hätte allerdings schwer gehalten in einem der vorderen Räume, da die Gasse, in der das Haus lag, sehr eng war, und auf dem miserablen Pflaster die zwischen einer der Fabriken und dem nahegelegenen Bahnhof hin und her rumpelnden Lastwagen einen fürchterlichen Lärm verursachten. »Woran gewöhnt sich nicht der Mensch!« erwiderte der Professor achselzuckend, als ich mich in den ersten Tagen wunderte, daß er sein Arbeitszimmer nach der Gasse habe. Erst später erfuhr ich, daß er bis dahin das jetzt mir zugewiesene inne gehabt hatte.

Ich weiß nicht warum, aber ich hatte mir, bevor ich sie jetzt zum ersten Mal zu sehen bekam, nie eine Vorstellung von seiner Frau zu machen gesucht. Und das war gut; es hätte sonst sicher eine peinliche Enttäuschung gegeben. Eine kleine dürftige Dame, deren Gesichtchen niemals auch nur hübsch gewesen sein 79 konnte. Ein ausdrucksloser Mund, dem die meisten Vorderzähne fehlten, was ihre leise, zitternde Sprache vollends undeutlich, oft unverständlich machte; ein Köpfchen mit spärlichem schmutzig gelben Haar, das einst vielleicht blond war; die Lider der kleinen wasserblauen zwinkernden Augen stets gerötet, wie die Spitze des unbedeutenden Näschens. Die Tochter so sehr das Ebenbild der Mutter, daß selbst ihre siebzehn Jahre nicht viel daran veränderten. Beide in mir unerklärlicher Weise verschüchtert, ein wenig sehr beschränkt, wie mir schien, und, was ich nach den ersten vierundzwanzig Stunden heraus hatte: die Herzensgüte selbst – soweit sehr beschränkte Menschen herzensgut sein können.

Die beiden Frauen besorgten die Hauswirtschaft ohne jegliche Hilfe als der einer alten derben Person, die jeden Morgen auf eine Stunde kam und die ganz grobe Arbeit verrichtete. So sah ich denn die beiden niemals ruhen: immer kommend, gehend, kochend, scheuernd, waschend, nähend, flickend, strickend, staubwischend. Trotz dieser unermüdlichen Geschäftigkeit herrschte keine erfreuliche Ordnung in der Wohnung, nicht einmal die obligatorische Sauberkeit. Mir war das unerklärlich, bis ich bemerkte, daß beide an hochgradiger Kurzsichtigkeit litten. Die fast immer halb, oft ganz vergebene Liebesmühe, die sie sich infolgedessen gaben, hatte gewiß ihre komischen Seiten, über die mich zu amüsieren ich jugendlich frevelhaft genug war. Bis ich schaudernd die tiefe Tragik erkannte, in deren leidvollem Bann das Leben dieser Unglücklichen lag.

Doch das war mir für später vorbehalten. Für den Augenblick übersah ich und mißachtete ich das Unerfreuliche, Unzulängliche, Unschickliche, ja Würdelose von so ziemlich allem, was mich umgab in dem brennenden Eifer, mit dem ich mich in meine Studien 80 geworfen hatte. Den Plan dazu hatte der Professor mit großer Sorgfalt entworfen – ein geistvoller Plan, der nur an dem Übelstande litt, auf einer so breiten Basis angelegt zu sein, daß auch eine größere Kraft als die meine nicht bis zur Spitze der Pyramide hätte gelangen können. Wie er sich selbst nicht Ruh und Rast gönnte, keine schroffste Höhe des Wissens als für sich unerreichbar betrachtete, verlangte, beanspruchte er das auch von mir und für mich. Die ich immer seine Lieblingsschülerin gewesen sei, in der er von Anfang an ahnungsvoll sein besseres Selbst gesehen habe; und von der er jetzt wisse, daß der Himmel sie ihm gesandt, ihm den völlig verlorenen Glauben an den Wert des Lebens zurückzugeben. Wie auch hätte er diesen Glauben nicht verlieren sollen? Er, der Sohn des armen Flickschneiders, der sich durch das Gymnasium und die Universität habe durchhungern müssen, um dann, anstatt an einer Hochschule zu docieren, lange Jahre adlige Bürschchen zum Fähnrichexamen zu drillen, und jetzt seit einem halben Menschenalter fast in derselben Klasse dasselbe Stroh zu dreschen. Wer darüber den Verstand nicht verliere, habe eben keinen zu verlieren. Auch hätte er sich schon längst eine Kugel vor den Kopf geschossen, wären da nicht seine Herren Vorgesetzten vom Direktor zum Schulrat und noch höher hinaus, denen er den Gefallen nicht thun wolle, sich bekreuzigen zu dürfen: Haben wir nicht immer gesagt, daß dies sein Ende sein werde? Des Freigeistes, der an nichts glaubte, dem nichts heilig war! Sie lügen, die Schelme. Sie zum Beispiel, Fräulein Antoinette, sind mir heilig. Und jeder Mensch ist es, der nichts anderes sein will, als ein Mensch. Es giebt auch nichts, das sonst heilig wäre: nicht auf Erden, und nicht auf den andern zahllosen Planeten, wenn es da, wie doch kein 81 Zweifel, Milliarden und aber Milliarden von Menschen oder menschenähnlichen Geschöpfen herumwimmeln.

Und nun eine ergreifende Schilderung des qualvollen Kampfes, durch den er sich aus dem Wust atavistischen Aberglaubens zur Freiheit emporgerungen; und wie er sich demütig vor mir beuge, die keine Sklavenketten abzuschütteln brauche, sondern als ein freier Mensch geboren sei.

Ich hätte mich nachträglich nicht wundern dürfen, wären der eben erst Achtzehnjährigen diese und ähnliche Reden zu Kopf gestiegen. Es war nicht der Fall. Die Schwierigkeiten, die ich bei Lösung meiner lateinischen, besonders aber der mathematischen Aufgaben mühsam zu überwinden hatte, bewiesen mir, daß meine Fassungsgabe nichts weniger als phänomenal sei, wie der Professor sie nannte. Und wenn ich auch die trübe Quelle, aus der seine Übertreibungen flossen, vor der Hand nicht ahnte, für bare Münze nahm ich sie in keinem Fall. Nur daß ich ein freigeborener Mensch sei, ließ ich allenfalls gelten. Auf dem Kloster hatte ich alles Kirchliche: Beichte, Kommunion, Predigt über mich ergehen lassen, als etwas Unvermeidliches, an dem ich keinen innerlichen Anteil nahm. Lange bevor ich in Kant die Klarlegung der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises für das Dasein Gottes fand, hatte ich meine Mitschülerinnen durch die Frage entsetzt: Ihr sprecht immer von Gott. Woher wißt ihr denn, daß einer existiert? Und ich hatte den ungeheuren Gedanken der Unendlichkeit des Universums mir noch keineswegs ganz zu eigen gemacht, als ich bereits in Christus einen höchst edlen, in vieler Hinsicht vorbildlichen Menschen sah, den ich bewunderte und liebte, dessen Leidensgeschichte und tragischer Tod mich tief rührten, ohne in ihm den Heiland der Welt anbeten zu können, die er so heillos verlassen, wie er sie gefunden.

82 Doch über das Thema werde ich an andern Orten noch mehr zu reden haben.

Da der Professor tagsüber mit den Stunden im Gymnasium und seinen eigenen Arbeiten vollauf beschäftigt war, fielen die Lektionen, die er mir gab, auf den Abend, wo denn die beiden Frauen in irgend einem Hinterstübchen verschwanden. Und Lektionen im eigentlichen Sinne waren es weniger als ein Durchsprechen der Aufgaben, die ich am andern Morgen zu bearbeiten hatte, und Exkurse über alles Mögliche, in denen er sich erging, während er mir in seinem Arbeitszimmer – es war um diese Zeit todstill auf der Gasse – an dem mit sorgfältig geschichteten Büchern und Papieren bedeckten runden Tische gegenübersaß, oder in der Erregung mit langen Schritten in dem kleinen Raum auf- und abschritt. Da war es denn ein Genuß, ihn zu hören. Er verstand wundervoll zu reden: mit einem Schwung der Phantasie, die ihn, wie auf einem Zaubermantel, in alle Höhen und durch alle Weiten trug mit einer Sicherheit des Ausdrucks. der, ohne je nach einem Worte zu suchen, immer leicht den rechten fand, ja, solche, welche die Sache in ein neues, nie vorher von mir geahntes Licht zu rücken schienen.

Aber seltsam! Nur so lange dieser Feuerstrom über der atemlos Lauschenden dahinbrauste, hielt der Zauber an, war ich ganz im Bann seines Dämons. Fand ich mich wieder in meinem Zimmerchen, mir selbst zurückgegeben, und hatte ein paar Minuten so dagestanden, die Hände gegen die klopfenden Schläfen gepreßt, war der Zauber gewichen, der Bann gelöst. Die alte Oppositionslust, mit der ich ihn im Kloster oft so gequält, erwachte wieder. Seiner Rede nachdenkend, fand ich diese Behauptung gewagt, jene Folgerung aus einem an und für sich richtigen Satz mindestens sehr anfechtbar, wenn nicht entschieden 83 falsch; und der ganze stolze Bau, den er da vor meinen geblendeten Augen hingezaubert, wollte in Trümmer gehen; drohte, wie eine Wüstenspiegelung, in ein Nichts zu zerfließen. Ich war über mich selbst erstaunt, daß ich mich so hatte düpieren lassen; nahm mir fest vor, bei nächster Gelegenheit vorsichtiger und ehrlicher zu sein; mit meinen Zweifeln nicht zurückzuhalten und – ließ es beim alten. Nicht aus Feigheit. Es fehlte der Anreiz von früher: mein Licht vor meinen Mitschülerinnen leuchten zu lassen. Und dann: ich war ihm so großen Dank schuldig! Opferte er mir doch so viele, ihm kostbare Stunden! Und er hatte mir noch andere Opfer gebracht. Das erfuhr ich von einem seiner Kollegen, dem einzigen, mit dem er verkehrte: einem Dr. S., der schon im Kloster unser Mathematiklehrer gewesen und mich jetzt weiter in dieser Wissenschaft unterrichtete, die dem Professor, wie er selbst sagte, ein Buch mit sieben Siegeln war. Gleich nach meinem Abgang hatte Schwester Ambrosia ihm gekündigt und damit dem von seinem Gymnasium dürftig Besoldeten seine ergiebigste Nebeneinnahme abgeschnitten. Daß dies ein Akt kleinlichster Rache war, lag auf der Hand: der Mann, der sich meiner, des verirrten Lammes, so großmütig angenommen, sollte empfindlich bestraft werden. Schwester Ambrosia hatte sich nicht entblödet, gegen Dr. S. sich dieser Niedertracht offen zu rühmen.

Der Professor war wütend, als ich ihm sagte, was ich da zu meinem Schrecken gehört. Dr. S. sei ein Klatschweib, dem er sein Haus verbieten werde. Ich eine Närrin, daß ich solche Bagatelle tragisch nehme. Was ihm wohl an ein paar Groschen mehr oder weniger liege! Vielmehr: je weniger einem von dem schnöden Metall durch die Finger laufe, desto reiner bliebe die Hand, bliebe das Herz, bliebe der Sinn; desto größere Anwartschaft habe man auf die Meisterschaft 84 in der stoischen Philosophie, der einzigen, die sich vor der praktischen Vernunft rechtfertigen lasse, möge Kant sagen. was er wolle.

Und in der That, Professor R., der in geistiger Schwelgerei dem ausschweifendsten Epikuräismus huldigte, in materiellen Dingen war er ein Stoiker von der striktesten Observanz. Nichts duldete er um und an sich, was irgend einer Verweichlichung hätte Vorschub leisten können. Durch die grimmigste Kälte ging er in seinem dünnen Röckchen; einen Überzieher hatte er nie gehabt; sein Zimmer selbst ließ er eigentlich nur um meinethalben heizen. Nie kam ein Tropfen Bier oder Wein über seine Lippen; ein Minimum von Alkohol, sagte er, lähmt mir die Phantasie, verdunkelt mir den Verstand. Den Tabak haßte er ärger, als Goethe; die Gewohnheit des Rauchens fand er unsäglich »banausisch«; schalt sie: eine Wollust für Sklavenseelen, die sich damit über die Schmach der Ketten und der Treiberpeitsche wegzutäuschen versuchten.

Das war seine Weise, sich in Worten zu übernehmen und in den Aspirationen eines erhöhten Daseins dem Elend der Wirklichkeit zu entfliehen.


Inzwischen war ein strenger Winter hereingebrochen, das Städtchen halb in Schnee begrabend, alles Geräusch erstickend. Selbst die Wagen der Fabrik, die sonst so fürchterlich über das entsetzliche Pflaster unsers Gäßchens polterten, hörte man nicht mehr. Desto lauter die Krähen und Dohlen, welche des Abends zu Hunderten aus den übereisten Wäldern, von den schneebedeckten Feldern in die Stadt gezogen kamen und die Türme der nahegelegenen Nikolaikirche umkrächzten.

Solange das Wetter leidlich war, hatte ich hin 85 und wieder kleine Spaziergänge gemacht, auf denen mich auch wohl, wenigstens in den ersten Tagen, die Frauen begleiteten. Sie waren, welche Mühe ich mir auch gab, sie in Gespräch zu ziehen, scheu und zurückhaltend geblieben. Schließlich hatte ich es aufgegeben, ihnen näher zu treten; jetzt beschränkte sich schon seit Wochen unser Verkehr auf die gemeinschaftlichen Mahlzeiten. Sie währten die denkbar kürzeste Frist, und doch dankte ich Gott jedesmal, wenn eine vorüber war. Der Professor, der, des Abends mit mir allein, der Rede kein Ende finden konnte, schwieg sich aus; die Frauen sprachen kein Wort; ich wurde gegen meine Natur still in dieser stillen Gesellschaft. Und es war nicht die Stille allein, die mich bedrückte; viel peinlicher empfand ich den Geist des Unfriedens, der Vergrolltheit, der Vergrämtheit, der hier herrschte und, wenn er sich auch nicht in Worten äußerte, auf den Gesichtern der Familienmitglieder nur zu deutlich ausgeprägt war.

Zu meiner Beschämung muß ich sagen: ich hatte in diesem Familiendrama – denn als solches erkannte ich es von Tag zu Tag mehr – von vornherein Partei für meinen Lehrer genommen. Ich fand diese Frauen geistlos; wie sollten sie ihm, dem Geistvollen, anders erscheinen? reizlos bis zum Abstoßenden; konnte er, der Schwärmer für alles, was schön und anmutig war, sich zu ihnen hingezogen fühlen?

Dann aber trat – etwas spät für mich, die ich nicht ganz unedelmütig zu sein glaubte, es auch wohl nicht war – die Reaktion ein. Das Mitleid regte sich, der Drang des besseren Menschen, Partei zu ergreifen für den Schwachen gegen den Starken, für den Unterdrückten gegen den Unterdrücker. Diese beiden armen hilflosen Frauen waren Unterdrückte. Sie würden aufatmen, wurde der Druck von ihnen genommen. Wenn ich, wie der Professor mich mehr 86 als einmal versichert, einen Einfluß auf ihn hatte, wie noch kein Mensch zuvor; ich alles von ihm fordern könne, und er müsse es thun – ich hatte mir wahrlich bei solchen Reden nichts gedacht; sie für Überschwänglichkeiten genommen, in denen er sich gefiel – nun gut, so wollte ich ihn hier beim Wort nehmen; hier, wo ich es nicht für mich, sondern für andre that.

Eine Gelegenheit, die man herbeisehnt, pflegt nicht lange auf sich warten zu lassen.

Wie gut ich mich des Abends erinnere!

Das Tageslicht war nur eine schmutzig graue Dämmerung gewesen; schon um vier Uhr brach eine schwarze Nacht herein. Während wir bei unsrer trübseligen Abendmahlzeit saßen, hörten wir deutlich das kläglich ärgerliche Geschrei der Krähen, die sich um die trockensten Mauerlöcher im Kirchturme zankten. Es klang sehr häßlich; aber es war doch Bewegung, Leben, nicht die eisige Todesstille, die um unsern Tisch wieder einmal herrschte und mir den Atem beklemmte. In dem matten Licht der einzigen Lampe erschienen die Gesichter der Frauen noch bleicher als sonst. Die Mutter brachte wiederholt ein nicht ganz sauberes Taschentuch verstohlen an die roten, zwinkernden Augen; die Tochter blickte nicht von ihrem Teller auf; des Professors Stirn verdüsterte eine schwere Wolke, die er vergebens mit ungeduldiger Hand wegzuwischen suchte.

Das kurze, triste Mahl war zu Ende; er, in seiner gewohnten Weise den Stuhl hastig zurückschiebend und die zerknüllte Serviette auf den Tisch werfend, war davongestürmt, nachdem er mir noch ein halblautes: Sie kommen doch? zugerufen. Ich folgte langsam, während die beiden Frauen bereits den Tisch abzudecken begannen. Schweigsam, wie immer.

Als ich eine Viertelstunde später das Zimmer des Professors betrat, war die Wolke von seiner Stirn 87 verschwunden. Seine großen blauen Augen leuchteten; geschäftig rückte er mir den einen der beiden Korbstühle zurecht – mehr hatte das Zimmer nicht, ebensowenig wie ein Sofa – und begann, die Hände leise reibend, auf- und abzugehen, augenscheinlich im Vorgenuß der »Feierstunde und Belohnung des Tages«, als welche er das abendliche Beisammensein mit mir zu preisen pflegte.

Es sollte heute anders kommen.

Ich hatte am nächsten Tage einen lateinischen Aufsatz über die Sklaverei bei den Römern zu schreiben. Er hielt mir darüber einen Vortrag, aus dem ich entnehmen solle, was ich für den Zweck brauchen zu können glaube. Es sei ein Irrtum, das allmähliche Schwinden der Sklaverei dem Christentum zu gute zu rechnen. Überall und zu jeder Zeit sei diese Institution das Produkt der sozialökonomischen Verhältnisse gewesen. Die kleinen griechischen Republiken des Altertums hätten ohne Sklaven nicht bestehen können, weil die geringe Zahl der Freien nur eben für die beständig zu führenden Kriege ausreichte und sich um den Ackerbau, das Gewerbe, überhaupt um die gemeine Arbeit des Lebens zu bekümmern, keine Zeit hatte. Nicht anders war es bei den Römern, nur daß hier mit der Ausbreitung ihrer Macht, den maßlosen Forderungen, die der Staat zuletzt an seine Bürger stellen mußte, der verderblichen Latifundienwirtschaft die Dimensionen und mit ihnen die Mißstände des Verhältnisses zwischen Herren und Sklaven ins Ungeheure und völlig Unerträgliche wuchsen. Das Gesetz bleibe durch die ganze Weltgeschichte konstant, selbstverständlich mit den durch die jeweilige nationalökonomische Lage bedingten Modifikationen. Bei ruhelos schweifenden Jägerstämmen, wie die Indianer Nordamerikas, die, ohne Ackerbau und Viehzucht, mit Sklaven nichts Rechtes anzufangen wüßten, müßten 88 dann freilich die Männer, um Jäger und Krieger bleiben zu können, ihren Frauen und Töchtern sklavische Arbeiten aufbürden.

Mir schlug das Herz. Ich hatte ihn nicht dahin haben wollen, wie ich denn, schweigend zuhörend, nur hoffen konnte, sein Monolog werde irgend eine Wendung nehmen, die mir Gelegenheit gab, mit dem, was mich erfüllte, herauszukommen. Die Gelegenheit war da.

Ihr nationalökonomisches Gesetz in Ehren, Herr Professor. Aber ich meine, Sie lassen etwas außer Acht – haben es wenigstens bis jetzt noch nicht erwähnt – was, glaube ich, doch sehr dazu gehört.

Bitte, Fräulein Antoinette!

Sollte das Gesetz nicht sehr verschiedene Wirkungen haben, jenachdem die Menschen sind, die es angeht?

Zum Beispiel?

Zum Beispiel: die alten Deutschen, unsre Vorfahren. Auch sie lebten in den Wäldern, waren Jäger und Krieger, wie die Indianer. Dennoch waren ihre Frauen nicht ihre Sklavinnen, sondern wurden hochgeachtet und verehrt.

Sagt Tacitus: Wenn der Mann aus Gründen, über die wir unlängst schon gesprochen haben, nur nicht so gründlich löge!

Ich möchte auch fast annehmen, daß er, wenigstens in diesem Punkte, gelogen hat.

Also doch!

Wäre es sonst möglich, daß sie bis zu diesem Augenblick nur zu oft und manchmal, wo man es gewiß nicht erwarten sollte, wie Sklavinnen von ihren Männern behandelt werden?

Welche Mühe ich mir auch gab, ruhig zu sprechen, seinem leisen Ohr war der sonderbare, halb anklagende, halb trotzig drohende Ton nicht entgangen, den meine Stimme bei den letzten Worten angenommen hatte.

89 Er blieb jäh stehen und nach einer kleinen Pause mit starr auf mich gerichteten Augen und spöttischem Lächeln:

Die Weiber haben Ihnen geklagt?

Der Pfeil war von der Sehne. Mochte er nun fliegen.

Den Mut besitzen sie schon nicht mehr, Herr Professor.

Oder haben ihn nie besessen.

Doch wohl, bis – die Gärtnersleute oben auf dem Kloster hatten einen jungen Hund: das Zutraulichste, Dreisteste, was man sich nur denken konnte. Dann sollte er Hofhund werden, und, weil er sich von selbst nicht dazu schickte, zerrte und schlug man ihn, bis er sich fügte. Da war es mit seiner Munterkeit vorbei.

Sie verzeihen, Fräulein Antoinette, wenn ich finde, daß dies Ihr Gleichnis doch mehr hinkt, als sonst wohl erlaubt ist. Ich bin völlig unfähig, eine Frau zu schlagen.

Gewiß. Aber es giebt Mißhandlungen, die weher thun als grausamste Schläge.

Ich sah, wie es ihn getroffen hatte. Er war sehr bleich geworden; seine Lippen bebten. Ich mußte einen Ausbruch befürchten. Doch das ist nicht richtig: ich fürchtete mich nicht. Es war nur in stärkerem Grade die Wiederholung von Scenen, wie sie schon manchmal oben im Kloster in der Klasse zwischen uns gespielt, und aus denen ich immer als Siegerin hervorgegangen war.

So denn wunderte ich mich nicht, als er, nachdem er ein paarmal im Zimmer auf- und abgegangen, sich mir gegenüber an dem runden Tisch in seinen Stuhl sinken ließ und, den Kopf aufstützend, in leisem Ton, daß ich ihn anfangs kaum verstand, zu sprechen begann:

90 Sie haben sich zu meinem Richter gemacht. Gut. Sie sollen es sein. Den schlimmsten Verbrecher muß der Richter hören. Hören Sie mich!

Daß ich armer Leute Kind bin, wissen Sie; und wie ich mich auf der Schule und der Universität habe durchhungern müssen. Es war in meinem letzten Semester vor dem Examen. Ich hatte fürchterlich gearbeitet, die Lücken meines Wissens auszufüllen. Sie waren nicht meine Schuld; einer, der vom Morgen bis zum Abend Nachhilfestunden an dumme Jungen geben muß, kann nicht studieren, wie andere. Ich wurde krank; wollte, durfte nicht krank sein; kämpfte dagegen an, bis ich auf meinem Dachkämmerchen zusammenbrach. Transportiert konnte ich nicht mehr werden; man mußte mich sterben lassen, wo ich war. Nun, ich starb eben nicht, dank meiner eisernen Natur und der Pflege meiner Wirtsleute. Der Mann war Schneider, wie mein Vater; aber ein wenig besser daran. Hatte so etwas wie einen Laden, in dem Frau und Tochter halfen und billiges Tuch oder dergleichen an die kleinen Bürger verkauften und die Bauern, die zum Markte kamen. Da hatte ich die beiden im Vorübergehen gesehen, sonst kaum: ich hauste oben in meiner Dachkammer; Dienstleistungen brauchte ich nicht. Als ich nach Wochen aus meinem Torpor erwachte, sah ich sie oft. Es scheint, ich hatte der Universitätskrankenkasse genug gekostet, und mochte sehen, wie ich ohne die obligaten Wärterinnen fertig wurde. Was soll ich da lange erzählen: es ist eine Alltagsgeschichte. Wenn man sehr krank gewesen, hat man keine Kraft, keinen Willen, ist eine Molluske, jedem Eindruck empfänglich; sieht alles in einem rosigen Licht, das selbst das Häßliche verklärt.

In diesem Zustande halber, vielmehr völliger Unzurechnungsfähigkeit habe ich mich mit ihr verlobt.

Hier hob er den Kopf und blickte nach mir 91 hinüber, ob ich wohl die ganze Bedeutung seiner letzten Worte verstanden habe. Ich hatte sie nur zu gut verstanden, und in meinem Herzen regte sich ein starkes Mitleid mit dem unglücklichen Mann, der eine schwache Stunde so schlimm büßen mußte. Aber ich hielt an mich, erwiderte nichts, sondern sah, seinen Augen nicht noch einmal zu begegnen, starr an ihm vorüber auf die kahle Wand. Er seufzte schmerzlich tief und fuhr, den Kopf wieder in die Hand stützend, fort:

Ich machte dann – den Doktor hatte ich bereits hinter mir – mein Staatsexamen non sine gloria, und – konnte nun heiraten, meinen Sie. Nein, ich konnte es nicht, beim besten Willen nicht. Ich hatte Schulden – bei den Professoren, die mir die Kollegiengelder gestundet; bei diesem und jenem, der mitleidig genug gewesen war, dem armen Teufel zu borgen. Viel Schlimmeres kam dazu. Mein Vater, der immer gekränkelt, starb plötzlich am Lungenschlage, meine Mutter mit einem halben Dutzend jüngerer Geschwister zurücklassend, die verhungern mochten, wenn ich nicht half. Ich mußte Geld verdienen. Einer meiner Professoren, der Verbindungen in Wien hatte, empfahl mich dorthin als Hauslehrer. Von Wien ging ich dann in derselben Stellung nach Ungarn auf ein gräfliches Schloß. Es ist ein trauriges Metier, das eines Hauslehrers; und doch war es die beste Zeit meines Lebens, an die ich noch oft mit Wehmut zurückgedacht habe. Ich war, Sklave, der ich war, doch wie ein Mensch behandelt worden. Mehr: ich hatte Zöglinge gehabt, die mich liebten; und die Jungen und Jünglinge hatten Schwestern, die Schwestern Freundinnen – Baronessen und Komtessen, die so gnädig waren, mit mir Reifen zu spielen, zu tanzen sogar, wenn es an Kavalieren fehlte. Eine – Komtesse Julia – ein schönstes Mädchen – dunkle Feuerbrände die Augen – ich las mit ihr den Ariost – pah! –

92 Er schluckte ein paarmal, als habe er einen harten Bissen hinunterzuwürgen.

Ich kam zurück. Sieben Jahre waren vergangen. Sieben Jahre! Was hatten sie aus ihr gemacht! Ein Schauder überläuft mich, denke ich des Augenblicks, als ich sie wiedersah: ein blasses, verkümmertes, vergrämtes Mädchen mit einem stets weinerlichen Munde, der nicht sprechen und nicht küssen konnte, und Augen, die schon damals eine chronische Entzündung noch mehr verhäßlichten. Fräulein Antoinette, ich bin nicht schlecht, nicht niedriggesinnt. Wäre ich es, ich hätte gethan, was Hunderte an meiner Stelle gethan haben: wäre hinaus in die Welt gelaufen, die mir offen stand. Ich that es nicht. Ich rang mit Gott – damals glaubte ich noch an einen Gott: muß ich mein Versprechen halten? Ein Gott antwortet auf unsre Fragen immer nur, was wir ihm in den Mund gelegt haben. Er sagte: ja. – Und ich darf mir nicht das Leben nehmen? – Nein. Das wäre bloß ein anderer Schleichweg, um dein Versprechen herumzukommen. – Und dieser fürchterliche Kampf dauerte wieder ein volles Jahr – mein Probejahr auf dem Gymnasium in M. Ich tauge zu einem Schullehrer nicht; ich wußte es damals schon. Ich hatte während meiner Hauslehrerzeit schwer gearbeitet – vergleichende Sprachstudien gemacht der Mischvölker, welche die Donau hinab bis zu dem schwarzen Meere wohnen. Mein alter Gönner, eine Leuchte der Wissenschaft, brachte sie zum Druck. Sie machten Sensation. Man drang in mich, die Docentenlaufbahn einzuschlagen; eine glänzende Zukunft sei mir da sicher. Es war unmöglich. Ich hatte nichts – alles weggegeben an meine Familie, auch an die in Not geratene meiner – Braut, die ich ja nun doch endlich heiraten mußte. So! Und jetzt verdammen Sie mich, wenn Sie es noch können!

93 Was sollte ich sagen? Mein Herz war zweifach geteilt. Da vor mir saß der Mann, den ich doch seit Jahren, wie oft ich auch mit ihm in Streit geraten, wahrlich nicht ohne Grund so sehr verehrt hatte: ein tief Unglücklicher. Da drüben in dem kalten Eßzimmer beim matten Schein der kleinen Lampe, mit gekrümmtem Rücken, stichelten die beiden armseligen Frauen an ihrer trostlosen, endlosen Näh- und Flickarbeit und netzten den Faden mit ihren Thränen. Wer trug die Schuld? Er, oder jene? Oder war hier von einer Schuld überall nicht zu reden, nur von einem traurigen Verhängnis, das diese Menschen unentrinnbar verstrickt hatte?

Aber, wie immer es sich verhielt: die Frauen waren die Schwächeren; ich hatte mich an ihre Seite gestellt; da mußte ich ausharren.

Und Alma, sagte ich, Ihre Tochter! Sie ist so gut.

Ja, ja, erwiderte er; ich weiß, wohin Sie zielen. Ich dachte auch, als sie geboren wurde: jetzt muß sich alles wenden. Nichts hat sich gewandt; das Elend hat sich nur verdoppelt. Jawohl: sie ist gut; ihre Mutter ist es auch. Sie thuen ihr bestes, sehen mir alles an den Augen ab. Aber, mein Gott, der Mensch lebt nicht vom Brot allein! Bieten sie mir etwas, auch nur das geringste, außer diesem Alltagsbrot? Nichts! nichts! Nie ein Wort, das mich erwärmte, meine Phantasie nährte, meine Gedanken beflügelte! Alltagsware! Alltagskram! Wühlen im Staube!

Haben Sie je versucht, sie daraus zu erheben? sich gütig zu ihnen hinabgebeugt? Ist der Gatte, der Vater ihnen jemals auch Lehrer gewesen, er, der es so gut hätte sein können? Der für uns dumme Mädchen, die ihn gar nichts angingen, unermüdlich war? sich abhärmte, wenn eine durchaus nichts lernen wollte?

94 Was hilft es, wenn die Körner, die der Säemann ausstreut, auf den harten Weg fallen, oder zwischen die Dornen? Ach, Fräulein Antoinette, wir kommen so nicht zu Ende. Lassen Sie uns abbrechen!

Brechen wir ab! Aber nicht, bevor Sie mir ein Versprechen gegeben haben.

Welches?

Zu versuchen, ob es zwischen Ihnen und Ihrer Frau und Alma nicht besser werden kann. Wollen Sie?

Um Ihrethalben, ja.

Auch um meinethalben. Denn, sehen Sie, Herr Professor: so, wie es ist, darf es nicht bleiben, wenn ich bleiben soll.

Er richtete sich so jäh auf, daß der Stuhl knarrte und knackte, und sah mich mit erschrockenen Augen an, stammelnd:

Sie – Sie wollten – Sie könnten –

Ja, Herr Professor, ich würde es wollen und auch können, so schwer es mir fiel. Alles lieber, als dies mit ansehen, was mir das Herz abdrückt.

Ich war aufgestanden und hatte ein paar Schritte nach der Thür gemacht. Er trat mir rasch in den Weg:

Gehen Sie so nicht fort! Gut. Ich verspreche es. Meine Hand darauf!

Ich nahm sie. Sie war glühend heiß und bebte, wie im Fieber. Er hatte mir einmal gesagt, daß ein Puls von hundert bei ihm nichts Seltenes sei.

Noch, als ich bereits längst in meinem Zimmer war, glaubte ich die heiße Hand zu fühlen.

Der Streit in meiner Seele war nicht geschlichtet. Die Schale wollte sich sogar zu Gunsten des Professors neigen. Der Feuergeist und diese matten Seelen! War es nicht ein Unmögliches, was ich mir eben von ihm hatte versprechen lassen? Der Versuch mußte ja mißlingen.


95 (Als ich mir eben die in den letzten Tagen geschriebenen Seiten von meiner lieben Lent vorlesen ließ, ist mir der Gedanke gekommen, ob ich da nicht in einen allzu dramatischen Ton verfallen und dem Vorsatz, meine Vergangenheit so objektiv, so ruhig betrachtend zu schildern, daß es selbst W. v. Humboldt befriedigen müßte, untreu geworden bin. Ich glaube doch nicht. Kapriciös, wie mein Gedächtnis ist, so leicht es Zahlen und Namen fallen läßt, in allem, was ich erlebt habe, darf ich ihm unbedingt vertrauen. Ich sehe die Situationen, die Menschen, ich höre den Ton ihrer Stimme. Mag sein, daß meine Unterredung mit dem Professor nicht Wort für Wort so stattgefunden hat. Aber darauf kommt es nicht an. Den Geist und Sinn habe ich treulich wiedergegeben. So erinnere ich mich auch noch genau, daß ich an jenem Abend zu mir sagte: Du hast den Mund zu voll genommen. Du wirst das Haus nicht verlassen, auch wenn das Verhältnis zwischen dem Professor und den Frauen dasselbe bleibt. Ich ahnte nicht, daß die Entscheidung von einer andern Seite und so bald kommen würde.)


In meiner nun einmal übernommenen Mittlerin-Rolle hielt ich es für unbedingte Pflicht, nun auch für mein Teil nicht müßig zu sein und in erster Linie den Frauen klar zu machen, daß sie auch ihrerseits sich kräftig aufraffen und dem Gatten, dem Vater, der zu ihnen wollte, auf halbem Wege entgegenkommen müßten.

Ich verhehlte mir die Schwierigkeit der Aufgabe nicht. Wir waren uns im Laufe der Monate nicht näher getreten; im Gegenteil: die Entfremdung hatte nur zugenommen. Ich meinte, eher durch ihre als 96 meine Schuld. Wichen sie mir doch sichtbar aus; blieben einsilbig, scheu, wenn ich ein Gespräch mit ihnen anzuknüpfen versuchte. Ja, ich hatte schon ein paarmal die Empfindung gehabt, als ob ihre immer abirrenden Blicke etwas verbergen wollten, was, wenn es auch nicht gerade Haß war, entschiedene Abneigung genannt werden mochte.

Immerhin glaubte ich bei der Tochter, meiner Altersgenossin, leichteres Spiel zu haben, als bei der Mutter, und so blieb ich an einem der nächsten Abende bei ihr in der Eßstube sitzen, während der Professor zu einer Lehrerkonferenz mußte, die plötzlich nötig geworden war, und Frau Professor mit einer starken Migräne sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte.

Es schien, ich sollte für meinen guten Willen schlechten Dank haben. Wie ich mich auch bemühte, ein Gespräch in Gang zu bringen, es wollte nicht gelingen. Wieder nur einsilbige Antworten auf meine Fragen, während sie die Augen nicht von ihrer Näharbeit hob. Und wieder überkam mich dabei immer stärker das Gefühl, es lauere hinter diesem Schweigen etwas mir Abholdes, Feindseliges. Aber was hatte ich diesen Frauen Übles gethan? Ich mußte es wissen. So ließ ich mein bißchen diplomatische Kunst, das sich so vergeblich erwies, fahren und ging direkt auf mein Ziel los. – Ob meine Anwesenheit im Hause ihnen zu große Unbequemlichkeiten verursache? – Durchaus nicht. – Ob sie an meinem Betragen ihnen gegenüber auszusetzen hätten? – Keineswegs. – Ob ich ihnen persönlich unangenehm sei? – Wie ich dergleichen fragen könne?

Ja, liebes Fräulein, rief ich; dann begreife ich nicht, warum Ihre Mama und Sie meinen Annäherungen so geflissentlich ausweichen. Ich meine es wirklich gut mit Ihnen. Ich möchte so gern dazu beitragen, daß Sie alle hier im Hause sich 97 behaglicher, glücklicher fühlen. Aber ich allein vermag da nichts, wenn Sie mir nicht helfen. Sehen Sie, jetzt steht Ihr Vater vom Tisch auf, sobald er den letzten Bissen gegessen hat. Er bliebe gewiß gern, wenn er Unterhaltung fände. Verbünden wir uns! Ich will thun, was in meinen Kräften steht; thun Sie das auch! Sitzen Sie nicht so schweigsam da! Sprechen Sie – wovon Sie wollen; aber sprechen Sie! Wir kommen schon auf ein Thema, das ihn interessiert. Dann haben wir gewonnenes Spiel. Er wird seine guten Seiten herauskehren, deren er ja so viele hat. Wird heiter, gesprächig sein, wird –

Ja! Aber nicht unsrethalben!

Wie meinen Sie?

Sie war aufgestanden und hatte eilig ihr Nähzeug zusammengepackt.

Verzeihen Sie, wenn ich Sie verlasse! Ich muß jetzt zu Mama.

Damit war das schmächtige Figürchen aus der Thür gehuscht, die nach den Hinterzimmern führte.

Ich blickte ihr ganz verblüfft nach. Dies war denn doch eine positive Ungezogenheit, eine direkte Abweisung. Sie wollten es also nicht anders und nicht besser haben. Gut. Mochte es bleiben, wie es war. Mich sollte es nicht weiter kümmern.

Aber es ließ mir keine Ruhe, und während ich auf meinem Zimmer zu lesen versuchte, schweiften meine Gedanken fortwährend zu der sonderbaren Scene zurück, von der ich eben gekommen war. ›Aber nicht unsrethalben!‹ Was sollte das heißen? Und es war in einem so bittern Tone gesagt worden – wie wenn ein kleiner Hund, der sich mit Beißen nicht wehren kann, wenigstens nach seinem Feinde schnappt. ›Nicht unsrethalben!‹ Nun ja, daß ich dem geistvollen Mann interessanter war, als diese beiden insipiden Frauen; 98 er meine Gesellschaft der ihren vorzog – konnte sie das wunder nehmen? Ja, wenn er –

Und plötzlich kam mir eine Gedanke, daß ich von dem Stuhl in die Höhe fuhr. Um nach ein paar Augenblicken über den Schrecken, den ich mir selbst eingejagt, zu lachen. Dieser Unsinn! Der fünfzigjährige Mann! Er war mein väterlicher Freund und verehrter Lehrer; ich seine dankbare Schülerin. Nie hatte er etwas gesagt, geschweige denn gethan, was dies unschuldige Verhältnis in den Augen eines Verständigen anders hätte erscheinen lassen. Wem es also anders erschien, war kein Verständiger. Auf solcher Leute Urteil braucht man nichts zu geben. Und daß ich nichts Ungehöriges, Unschickliches gethan oder gesagt – das Zeugnis durfte ich mir doch wahrlich ausstellen. Da war es das beste: ich zerbrach mir über das alles nicht weiter den Kopf und ging zu Bett.

Nur zu bald sollte ich aus der künstlichen Ruhe, in die ich mich hineingeredet, aufgeschreckt und darüber belehrt werden, wie gering meine Menschenkenntnis war, auf die ich mir doch einiges zu gute that; und wie wenig ich die Welt verstand.

Trotz der Zurückgezogenheit meines Lebens in dem stillen Professorhause, war meine Anwesenheit in der kleinen Stadt nicht unbemerkt geblieben. Das Kloster oben und was da vorging, hatte das Interesse der guten Leute von jeher erregt. Mein Verlassen des Instituts, das einer Flucht ähnlich gesehen; die Entlassung des Professors aus seiner langjährigen Lehrthätigkeit da oben – dies und noch anderes mochte an den Kaffeetischen der Honoratiorendamen eifrig kommentiert sein. So wunderte es mich eben nicht, wenn ich bei meinen seltenen Ausgängen ein Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit seitens der mir Begegnenden zu sein schien. Am wenigsten, daß die 99 Offiziere mir auf den schmalen Trittsteinen mit einer höflichen Beflissenheit auswichen, die fast einem Gruße gleichkam. Warum sollten sie nicht wissen, daß ich die Tochter des früheren Kommandeurs ihres Regiments war, der man diese bescheidene Huldigung schuldig zu sein glaubte? Besonders war mir in dieser Beziehung ein Hauptmann aufgefallen, dessen freundlich-sympathisches Gesicht ich schon früher, und dann natürlich vor acht Jahren in meiner Vaterstadt und in meines Vaters Haus, gesehen haben mußte.

So war ich auch nicht weiter erstaunt, als er mich eines Tages in einem Laden, wo er Brief- und ich Schreibpapier gekauft hatten, ansprach: Es sei gewiß nicht schicklich, sich an diesem Orte vorzustellen; ich möge einem, der unter meinem Papa gedient und mich als Kind so gut gekannt, die Freiheit, die er sich nehme, nicht übel auslegen.

Ich nannte ihm jetzt, bevor er selbst dazu gekommen, seinen Namen, und versicherte, mich seiner aufs deutlichste zu erinnern, was ich dadurch sofort bewies, daß ich ihm verschiedene Details, unter anderm einen gemeinsamen Spazierritt mit dem Papa, ins Gedächtnis rief.

Herr v. Gernot war entzückt: eine größere Freude habe er seit Jahren nicht gehabt; die Begegnung mit der Tochter seines verehrten, so gütigen, so liebenswürdigen einstigen Chefs habe ihn um zehn Jahre mindestens jünger gemacht.

So plaudernd waren wir aus dem Laden auf die Straße gelangt, auf der er mich noch eine kurze Strecke begleitet hatte, und sich eben verabschieden wollte, als der Professor, aus seinem Gymnasium kommend, um die Ecke eines Nebengäßchens bog und wie immer, hastig ausschreitend, fast gegen uns gerannt wäre. Natürlich machte ich die Herren miteinander bekannt, und daß Herr v. G. ein alter Kamerad und 100 Freund meines Vaters sei, den hier wiedergefunden zu haben, mich herzlich freue.

Es wäre eine zu kurze Freude, wenn es bei dieser flüchtigen Begegnung sein Bewenden haben sollte, sagte der Professor mit einer Verbindlichkeit, die, wenn er wollte, ihm jederzeit zu Gebote stand. Sein Haus sei freilich klein und die Bewirtung ärmlich. Wenn Herr v. Gernot damit vorlieb nehmen wolle, sei er bestens willkommen. Nur möge er ihm den Gefallen thun, und sich die offizielle Visite sparen, die er ja dann erwidern müßte, was ihm, offen gestanden, ein Greuel sei.

Man lachte, scherzte, der Hauptmann versprach, an einem der nächsten Abende sofort zu einer Tasse Thee »anzutreten«; er für sein Teil kenne auch vergnüglichere Dinge als Visitenschneiden. Wir trennten uns, nachdem wir uns die Hände geschüttelt; der Professor, mit dem ich weiter den Weg nach Hause ging, war in der besten Laune.

Sehen Sie, Fräulein Antoinette, sagte er: fortes fortuna adjuvat. Da haben wir den tapferen Entschluß gefaßt, unser abendliches Beisammensein – ich meine das en famille – freundlicher zu gestalten. Der liebenswürdige angestammte Freund, den Sie da aufgegabelt, soll und wird uns dabei aufs beste unterstützen.

Und wirklich schien das der Fall sein zu sollen. Bereits an einem der nächsten Abende kam der Hauptmann, nachdem er sich eine Stunde vorher durch seinen Burschen hatte anmelden lassen. Es geriet alles aufs beste. Herr v. G., nicht mehr ganz jung – er war schon vor acht Jahren ein älterer Premier gewesen – an den Schläfen bereits etwas kahl, übrigens ein sehr stattlicher Mann, höchst unverheiratet, wie er sagte, trotzdem er der frauenhaft gesinnteste aller Erden- und Marssöhne sei – erwies sich als 101 der angenehmste Gesellschafter. Ohne geistreich zu sein und den mindesten Anspruch darauf zu machen, stak er voller amüsanter Anekdoten aus dem Garnison- und Manöverleben, die er mit dem trockensten Humor vorzutragen wußte. Aber auch sonst kannte er das Leben; seine Urteile über Menschen und Verhältnisse griffen nicht gerade hoch, waren dafür stets von dem gesundesten Menschenverstand diktiert. Höchst amüsant war für mich sein Benehmen gegen die Frau Professor und Alma. Offenbar waren ihm Wesen der Art in der Gesellschaft noch nicht vorgekommen: das bewiesen mir ein paar erstaunt fragende Blicke, mit denen er im Anfang eine Erklärung des rätselhaften Phänomens bei mir suchen zu wollen schien. Dann hatte er sich alsbald in das Unzulänglich-Unvermeidliche gefunden; schien anzunehmen, daß »die gnädige Frau« und »das gnädige Fräulein« seine eifrigsten Zuhörerinnen seien, die einen Witz am meisten goutierten, eine Pointe am schnellsten herausfänden, wie wenig sie sich es auch merken ließen. Den Professor behandelte er mit dem Respekt, der einem so grausam gelehrten Manne von einem andern gebühre, dessen Wissen man nur mir lächerlicher Übertreibung Stückwerk nennen könne. Gegen mich schlug er bei aller strengsten Beachtung der Form etwas wie einen kameradschaftlichen Ton an, als wolle er sagen: wir verstehen uns ja à demi mot! gehören wir doch zu demselben Regiment!

Es war ein sehr heiterer, durchaus gelungener Abend, und als der Hauptmann sich um elf Uhr empfahl, fand ich es sehr begreiflich, daß der Professor, der sich höchlichst amüsiert zu haben schien, sich von ihm das Versprechen geben ließ, falls die Probe nicht zu schlecht ausgefallen, den Besuch möglichst bald und möglichst oft zu wiederholen.

Aber das Wehmütig-Goethesche: »Ach, und in 102 demselben Flusse schwimmst du nicht zum zweiten Mal« sollte auch hier seine unentrinnbare Geltungskraft beweisen.

Bereits der zweite Abend, als er nach ein paar Tagen wiederkam, fiel sehr viel weniger gut aus, trotzdem Herr v. G. seine munterste Laune mitgebracht hatte. Ich, der ich mich der willkommenen Unterbrechung der Monotonie unsers Lebens aufrichtig freute, die mir noch dazu ein lieber An- und Nachklang der seligen frühesten Jugendzeit war, sekundierte ihm aufs beste. Daß die beiden Frauen in ihrem öden Schweigen beharrten, wunderte mich sicher nicht; und auch der Hauptmann schien es als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Um so mehr stach das Benehmen des Professors gegen das des ersten Abends ab. Anstatt, wie damals, sich lebhaft an der Unterhaltung zu beteiligen, auch hin und wieder allein das Wort zu nehmen und uns eine interessante Probe seines Wissens und seiner Beredsamkeit zu bieten – zu meiner Genugthuung und des Hauptmanns ehrlicher Bewunderung – war er zerstreut, einsilbig, nicht eben unhöflich gegen seinen Gast, aber gewiß auch nicht verbindlich. Freilich entschuldigte er sich mit einer Nervenabspannung, wie sie ihn in der That nicht selten plötzlich überfiel; und der Hauptmann sprach sein, offenbar ehrlich gemeintes, Bedauern aus, daß durch den bösen Zufall der Gewinn des schönen Abends für ihn eine so schwere Einbuße erleide. Er komme so selten in die Lage, einen klugen und gelehrten Mann sprechen zu hören. Auch verließ er uns diesmal bereits um zehn Uhr.

Ich meinesteils hatte bei dem allen nicht das mindeste Arg gehabt. Wie sollte ich? Nicht ich, der Professor hatte den Hauptmann in das Haus geladen, um häufige Wiederholung seiner Besuche dringend gebeten. Die Nervenabspannung war gewiß nicht fingiert; 103 bereits seit gestern, oder vorgestern schien er nicht ganz wohl zu sein, war auch bei unsern abendlichen Lektionen hin und wieder in eine bei ihm ganz ungewöhnliche Zerstreutheit verfallen, so daß ich ihn schon hatte bitten wollen, sich einmal vollkommene Ruhe zu gönnen.

Dann kam – es mochte inzwischen eine Woche vergangen sein – der dritte, verhängnisvolle, letzte Abend.

Der Hauptmann ganz wie die beiden ersten Male; ich – wie es kam, erinnere ich mich nicht mehr – besonders lebhaft, lustig, ja, übermütig, bis mir das wunderliche Betragen des Professors nicht länger entgehen konnte. Nach einem kurzen Anlauf zu der geistvollen Causerie, mit der er uns am ersten Abend entzückt hatte, saß er längere Zeit, vor sich hinstarrend, scheinbar teilnahmlos da, um plötzlich aufzufahren und eine harmlose Bemerkung des Hauptmanns mit einem scharf ironischen Wort zu erwidern. Herr v. G. lenkte sofort mit größter Höflichkeit ein – ohne Erfolg. Der Professor hielt den spöttischen Ton fest, ja, steigerte ihn zu einer unschönen und – vollends einem Gast gegenüber – unstatthaften Höhe und Schärfe. Herr v. G. verhielt sich bewunderungswürdig. Als ob die bitteren Ausfälle nicht ihm gälten, sondern der Himmel weiß wem, veränderte er nicht für einen Moment die Miene eines unbefangenen Hörers; und, als er dann, nach der Uhr blickend, plötzlich entdeckte, daß er heute abend noch einmal in die Kaserne müsse und es die höchste Zeit für ihn sei, aufzubrechen, kam das so natürlich heraus – man mußte ihm dankbar sein für die Gewandtheit und den Takt, mit denen er der peinlichen Situation ein Ende machte.

Ich wenigstens war ihm dankbar und zum ersten Mal ernstlich bös auf den Professor. Oder sollten 104 sie recht gehabt haben, die, wie Schwester Ambrosia behaupteten: er sei entweder bereits verrückt, oder werde es sicher einmal werden? Es blieb kaum etwas anderes als diese schreckliche Erklärung, die ich doch wieder verwerfen mußte: ein Verrückter denkt, spricht nicht so logisch, wie er es nur eben noch, trotz alledem, gethan; weiß die Pfeile seiner Satire nicht so unheimlich scharf zu spitzen. Dann aber: woher diese Bitterkeit, dieser Groll, dieser offenbare Haß?

Darüber zergrübelte ich mir in der langen, halb schlaflosen Nacht vergebens den Kopf.

Der folgende Morgen brachte die Auflösung des unheimlichen Rätsels.

Hier ist der Brief. Ich bitte meine liebe Lent, ihn an dieser Stelle einzuschalten, wie peinlich auch die Erinnerungen sind, die er bei mir wach rief, als ich ihn jetzt nach so vielen Jahren wieder las. Und das Schmeichelhafte für mich, das er enthält, kommt ja nicht auf meine Rechnung!

Gnädiges Fräulein!

Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß der gestrige Abend der letzte gewesen ist, den ich in Ihrer mir so teuer gewordenen Nähe verleben durfte; und ebensowenig, daß, wie ich nur um Ihrethalben in das Haus des Herrn Professors gekommen bin, ich auch nur um Ihrethalben ihn nicht zur Rechenschaft ziehe für das unqualifizierbare Betragen, dessen er sich gegen mich schuldig gemacht hat.

Ich könnte, sollte vielleicht hier schließen, nachdem ich das gnädige Fräulein noch gebeten habe, mir ein freundliches Gedenken zu bewahren. Wenn ich dennoch weiter und das Folgende schreibe, so versichere ich Sie mit meinem Ehrenwort, daß mich kein anderes Motiv leitet, als die Sorge um 105 Ihren Ruf, der mir heilig ist, wie der einer Schwester oder geliebten Tochter, die Sie ja beinahe von mir sein könnten.

Natürlich hatte ich gestern abend nichts mehr in der Kaserne zu thun, sondern eilte in unser Kasino, mit einem Glase Wein meinen Ärger hinunterzuspülen. Ich traf ein paar jüngere Kameraden bei der Bowle. Eine Plauderei, in welcher der Stadtklatsch seine hergebrachte Rolle spielte. Auch meine Besuche in dem Hause des Herrn Professors, aus denen ich kein Geheimnis gemacht hatte, wurden erwähnt, vielmehr: es wurde auf sie angespielt in einer Weise, die mir seltsam schien, so daß ich schließlich die Herren ersuchen mußte, offen mit der Sprache herauszugehen.

Mein gnädiges Fräulein: ich möchte mir lieber, ich weiß nicht welches schwere Leid anthun, als Ihnen dies schreiben; aber ich habe keine Wahl.

Man erzählt sich in der Stadt: Sie hätten nicht sowohl das Kloster freiwillig verlassen, sondern seien aus ihm entführt worden, nachdem schon längst ein zartes Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Entführer bestanden; der Aufenthalt in seinem Hause erkläre sich daraus von selbst. Die Entstehung eines so abscheulichen Gerüchtes wird auf die jetzige Vorsteherin des Klosters, Freifräulein von Dülmen, zurückgeführt, die sich rühme, zuerst Verdacht geschöpft und nach gewonnener Überzeugung den Schuldigen durch Enthebung von seinem Lehramt in der Klosterschule bestraft zu haben. Ich muß weiter berichten, daß auch die Frau Professor und ihre Tochter an der Weiterverbreitung des schändlichen Klatsches wenigstens indirekt mitschuldig sind, indem sie neugierigen Fragern ausweichend mit Klagen über ein Leid, das über sie 106 hereingebrochen, in ihrer wehleidigen Weise antworteten.

Brauche ich Ihnen meine Entrüstung, mein Entsetzen zu schildern, als ich solche Abscheulichkeiten über eine junge Dame kolportiert hörte, die – wäre sie auch nicht die Tochter meines einstigen verehrten Chefs – durch ihre Anmut und Liebenswürdigkeit, ihren schalkhaften Witz und sprühenden Geist mich zu ihrem aufrichtigsten Verehrer und Bewunderer gemacht hat!

Zur (selbstverständlichen) Ehre meiner Kameraden kann ich Gott sei Dank hinzufügen, daß sie einstimmig erklärten, das Ganze für ein schändliches Lügengewebe zu halten; und wir uns das Wort gegeben haben, wo und wann immer wir auf einen der ehrlosen Verläumder treffen, ihn zu blutiger Rechenschaft zu ziehen.

Aber, mein gnädiges Fräulein, was ist Ihnen damit gedient? Wir können nicht allen Maulwürfen in ihre dunkeln Höhlen folgen; sie werden fortfahren zu wühlen, und Ihr guter Ruf, der uns so teuer ist, bleibt angetastet.

In dieser üblen Lage Ihnen zu raten, wage ich nicht. Es ist auch nicht nötig. Sie sind, als die Tochter Ihres unvergeßlichen Vaters, so ehrliebend, wie tapfer. Dazu hat Ihnen der Himmel die seltene Gabe der Klugheit in so reichem Maße verliehen. So werden Sie Ausgang und Rettung aus diesem Irrsal selbst zu finden wissen.

Daß ich, könnte ich Ihnen dennoch in irgend einer Weise dienstlich sein, mit allem, was ich vermag, zu unbedingtester Verfügung stehe – ich würde mich schämen, es noch besonders zu versichern.

In tiefster Verehrung

A. v. Gernot.

107 Darauf also lief es hinaus: ich war die Geliebte des Professors! Dafür hielt mich das Kloster oben, die Stadt hier unten; hielten mich Gevatter Hinz und Gevatter Kunz, Frau Pastorin X., Frau Steuerrätin Y.; hielten mich Frau und Tochter des Mannes, den ich wie einen Vater verehrt, der nie ein Wort zu mir gesprochen, das nur den Schatten einer andern, als der väterlicher Liebe gehabt hätte! Und dem sollte ich mich beugen? vor einem albernen Gerede fliehen, dem ich durch meine Flucht nur den Stempel der Wahrheit, der Wahrscheinlichkeit ausdrücken würde? War ich dazu die ehrliebende, tapfre Tochter meines Vaters, wie mich der Hauptmann nannte? Ohne zu bedenken, daß, was er mir so greifbar deutlich zu thun riet, das Gegenteil von Ehrliebe und Tapferkeit war?

Nein, ich wollte nicht fliehen; wollte dem Sturm Trotz bieten!

Bereits nach einer Stunde, während der ich, jetzt, in meinem Zimmerchen auf- und abrasend, zornige Thränen weinend, schlimme Worte gegen meine Widersacher murmelnd; jetzt am Fenster stehend, ratlos auf das Grasplätzchen starrend, an dessen Leinen heute wieder einmal die Wäsche flatterte, das Für und Wider gegeneinander abgewogen, hatte ich einen Entschluß gefaßt, der mir tapfer und klug zugleich schien: ich wollte bleiben; aber in meinem Verkehr mit dem Professor vermeiden, was der Skandalsucht Nahrung verschaffen konnte und vielleicht, weil ich es arglos zugelassen, den ganzen Skandal hervorgerufen hatte. Und zwar bei der Ausführung dieses letzteren schwierigeren Teils meines Vorsatzes nicht mit der Thür ins Haus fallen, sondern ihn allmählich anbahnen.

So fand denn der Professor, als er aus seiner Schule nach Hause kam, einen Zettel auf seinem 108 Arbeitstisch, in welchem ich ihn bat, unsere abendlichen Lektionen bis auf weiteres aussetzen zu wollen, da ich die so gewonnene Zeit notwendig brauche, mich auf das demnächst stattfindende Examen vorzubereiten.

Ich kam zu Tisch. Der Professor erschien nicht: er sei durch das bevorstehende Examen der Abiturienten so in Anspruch genommen, daß er die Mittags- und Abendmahlzeiten ihm auf das Zimmer gebracht wünsche.

Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Das sah ihm ähnlich! Nur im Streit mit mir keine Erwiderung schuldig bleiben! Ich hatte ihn strafen wollen für seine Ungezogenheit gegen den von mir protegierten Gast; er strafte mich seinerseits, indem er mich der öden Langenweile des mittäglichen und abendlichen Beisammenseins mit den beiden stupiden Frauen allein auslieferte!

Sehen wir, wer es am längsten aushält, sagte ich bei mir, die humoristische Wendung, welche in meinen Augen die Sache zu nehmen begann, so ergötzlich findend, daß ich darüber fast den Ärger vergaß, den mir die übertriebene Bedenklichkeit des guten Hauptmanns im ersten Augenblick eingeflößt hatte.

Da wurde am dritten Abend, als ich nach Tisch in meinem Zimmer über den Büchern saß, an die Thür gepocht. Ich konnte nicht anders denken, als es sei eine von den Frauen, die noch irgend etwas auszurichten habe. Es war der Professor.

Ich erschrak. Noch nie hatte er mich in meinem Zimmer aufgesucht, und jetzt zum ersten Male am Abend! Aber ich war noch mehr erzürnt, als erschrocken, und wollte ihn das fühlen lassen, indem ich, selbst stehen bleibend, ihn nicht aufforderte, Platz zu nehmen, sondern in ruhigem Ton, trotzdem mir das Herz bis in die Kehle schlug, fragte, was ihn in dieser Stunde noch zu mir führe?

Und zum zweiten Male erschrak ich, als er jetzt 109 aus dem Schatten in den Lichtkreis meines Lämpchens trat: er war sehr bleich; die Augenlider waren gerötet, die immer etwas starken Säcke unter den Augen häßlich angeschwollen.

Um Gottes willen, Herr Professor, rief ich. Sie sind krank!

Ja, ich bin krank, sehr krank; erwiderte er mit dumpfer, heiserer Stimme.

Soll ich Ihre Frau – Ihre Tochter rufen?

Ich dächte, es wäre jetzt genug des Spottes.

Wie meinen Sie?

Oder wüßten Sie wirklich nicht, was mich krank gemacht hat? Muß ich es Ihnen sagen? Es mag Wahnsinn sein. Dann bin ich eben wahnsinnig, will es sein. In diesem Wahnsinn ist all mein Glück, meine Seligkeit – das andre ist Unseligkeit, Hölle. Ich liebe Sie, ich habe Sie seit Jahren schon geliebt; ich bete Sie an, habe es längst, längst schon gethan. Und es getragen mit schier übermenschlicher Kraft. Ich kann nicht mehr. Meine Kraft ist zu Ende. Kannst du mich aus der Hölle nicht lösen – einen Tropfen Labung bist du mir schuldig, wirst du mir nicht verweigern. Deine Hand! Deine geliebte Hand! Laß sie mich einmal, nur einmal küssen!

Er war bei den letzten Worten vor mir auf beide Kniee gefallen, die Hände flehend zu mir erhebend. Unwillkürlich hatte ich meine Rechte ausgestreckt, ihn aufzuheben. Er hatte sie ergriffen und mit Küssen bedeckt. Ich konnte es nicht verhindern; er hielt sie so fest. Dann hatte ich mich doch losgerissen.

Wenn Sie mich lieben, stehen Sie auf! und verlassen Sie mich!

Er war aufgesprungen; blickte mich mit irren Augen an; murmelte durch die bleichen zuckenden Lippen mir Unverständliches und war zur Thür hinaus.

110 Die ich hinter ihm verschloß, um mich angekleidet auf mein Bett zu werfen und in wildes Weinen auszubrechen.

Zorn, Entsetzen, Mitleid mit dem unglücklichen Mann, Mitleid mit mir selbst, der Schutzlosen, Hilflosen – ich weiß nicht, was es war.

Es wird wohl alles miteinander und durcheinander gewesen sein.


Ein trüber Aprilmorgen war langsam heraufgedämmert; er fand mich entschlossen und bereit. Daß ich jetzt nicht mehr in diesem Hause bleiben konnte, hatte bei mir festgestanden, als gestern abend die Thür hinter dem Professor ins Schloß fiel; über alles andere war ich im Laufe der Nacht bei mir ins reine gekommen. Die schwierigste Frage war: wohin nun? Zu meinen Verwandten nach D.? Ich war in Unfrieden von ihnen geschieden; weder von ihrer noch meiner Seite auch nur der Versuch einer Wiederannäherung gemacht worden. Wenn man die Heimatlose wirklich aufnahm – der Preis, den ich für die karge Gnade zahlen mußte: die Demütigung meines Stolzes, die Unterwürfigkeit unter die krausen Launen der Tante – es war unmöglich. Auch wenn meine Barschaft für die lange Reise gereicht hätte, was nicht der Fall war, wollte ich eine kleine Summe für die allernächste Zeit in Reserve behalten. Mein zweiter Gedanke: nach M. zu meinem Vormund zu gehen, hielt ebenfalls nicht Stich. Die Entfernung war hier wieder zu gering, als daß der Klatsch des einen Städtchens nicht zu dem andern hätte leicht übertragen werden können, zumal dasselbe Regiment in beiden lag, und die Offiziere, wie ich wußte, hinüber und herüber den kameradschaftlichen Verkehr sorgsam 111 pflegten. So wäre ich in M. sicher sofort die Beute jener Neugier und Skandalsucht geworden, der ich hier entfliehen wollte. Überdies war mein Verhältnis zum Justizrat nicht mehr das alte, gute. Nur auf meine dringenden Bitten hatte er widerwillig seine Zustimmung in der Kautionsangelegenheit gegeben, und auch die zu meiner Übersiedelung in das Professorhaus hatte ich ihm halb abtrotzen müssen. Zuletzt war meine Wahl auf D . . . d gefallen. Dort kannte mich sicher niemand; und in der großen Industriestadt, von deren rapid wachsendem Wohlstand man Wunderdinge erzählte, mußte es mir verhältnismäßig leichter werden, mir irgendwie – es war dies freilich ein sehr dunkler Punkt in meiner Rechnung – eine mir angemessene Stellung zu verschaffen.

Mein Entweichen aus dem Hause und der Stadt begünstigte ein glücklicher Zufall. Am nächsten Tage war die mündliche Abiturientenprüfung, bei welcher der Professor zugegen sein mußte, und die ihn den ganzen Vormittag festhalten würde. Um zehn Uhr bereits ging der Zug unsrer Zweigbahn, mit dem ich eine Dreiviertelstunde später die große Route nach dem Westen erreichte, wo ich dann vollends in Sicherheit war. Meine paar Sachen hatte ich während der Nacht gepackt; es galt nur noch den Abschied von den beiden Frauen. Mit dem wollte ich es mir nicht schwer machen.

Sie sorgten dafür, daß er doch nicht so leicht von statten ging. Als ich ihnen eine Stunde vor der Zeit meinen Entschluß ankündigte, verfielen sie zu meinem nicht geringen Erstaunen in ein wahres Entsetzen. Was nun aus ihnen werden solle? Der Professor würde ihnen nie vergeben, daß sie mich fortgelassen hätten! Vergebens meine Bemühungen, sie zu beruhigen: mein Fortgehen sei eine zwischen mir und ihm längst beschlossene Sache und Frage 112 der allernächsten Zeit gewesen. Die Gründe, die mich zwängen, gerade heute abzureisen, könne ich ihnen zwar nicht nennen; ich würde sie ihm aber schreiben und sei seiner nachträglichen Billigung vollkommen sicher. Ihnen zu sagen, daß sie selbst durch ihre zweideutige Haltung wacker mitgeholfen, mir das Haus zu verleiden und mich endlich daraus zu vertreiben, gab mein Stolz nicht zu. Auch empfand ich schließlich Mitleid mit diesen ratlosen Weibern, die an dem Fluch der Beschränktheit ihrer Geister schon schwer genug zu tragen hatten. Vergaßen sie doch selbst, mich zu fragen, wohin meine Reise denn nun gehe? und ich hütete mich wohl, es ihnen zu sagen!

So kam ich glücklich aus dem Hause und mit Hilfe eines Jungen aus der Nachbarschaft – des Sohnes der Besitzerin des Grasplatzes – der meine Sachen auf einen Karren lud, nach dem Bahnhof, auf dem, wie gewöhnlich, die paar Beamten die einzige Menschenstaffage bildeten.

Eine Viertelstunde später hatte ich das Städtchen hinter mir. Nach dem Kloster auf seinem Hügel hob ich nur flüchtig einmal meine Augen. In mir rief alles: fort, fort! Vorbei, vorbei! –

Hiermit ist meine eigentliche Jugend abgeschlossen und so mag es auch das erste Buch meiner Geschichte sein. Morgen, wenn ich eine leidliche Nacht habe, wollen wir das zweite beginnen.

113 Zweites Buch.

Die folgenden acht Tage sind wohl die trübsten meiner jüngeren Jahre gewesen, und ich thue mir etwas darauf zu gute, daß ich, alles in allem, den Kopf oben behielt, jedenfalls nicht völlig verzweifelte, wie es wohl manche andere in meiner Lage gethan hätte.

Sie konnte, schon im äußeren Betrag, für ein junges, weltunerfahrenes Mädchen kaum übler sein. Ratlos auf dem Perron des Bahnhofes in D . . . d stehend hatte ich den Träger, der sich meines Gepäckes angenommen, nach einem Gasthof in der Nähe gefragt, der gut und nicht zu teuer sei. Von diesen drei Requisiten entsprach das Haus, in das er mich führte, freilich dem ersten, denn es war nur wenige Schritte entfernt; mit den beiden andern sah es mißlich aus. Es war klein, unsauber und wurde, wie diese Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft eines Bahnhofes, für gewöhnlich wohl nur von Passanten frequentiert, besonders commis-voyageurs, die eine Nacht blieben und ihre Musterkoffer am nächsten Tage weitertrugen. Wenigstens begegnete ich diesen Herren wiederholt in den Korridoren und auf der Treppe, wo sie dann selten verfehlten, mir mehr oder weniger frech in das Gesicht zu starren, wohl auch eine Bemerkung zu machen, die scherzhaft gemeint sein mochte, aber selten verfehlte, mir das Blut in die Wangen zu treiben. Daß sie beim Gehen und Kommen die Thüren knallend zuschlugen, sich bis spät in die Nacht auf ihren Zimmern überlaut unterhielten; beim 116 Zubettgehen ihre Stiefel einzeln auf den Korridor schleuderten, mochten Gewohnheitsrechte sein, deren gewissenhafte Ausübung für andre immerhin ihr Unbequemes und Störsames hatte.

Übrigens verließ ich, durch die Erfahrung der ersten vierundzwanzig Stunden gewitzigt, mein Zimmer so selten wie möglich, trotzdem man es in keiner Beziehung einen angenehmen Aufenthalt nennen konnte. Es war nicht lang, dafür desto schmaler; die Wände mit einer dunklen Tapete bekleidet, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen. An Möbeln enthielt es nur das eben Notwendige, ein Vorteil insofern, als das aufräumende Mädchen ihr Geschäft in wenigen Minuten beendigt hatte, bei dem es sich allerdings mit solchen Kleinigkeiten, wie Staubwischen, nicht aufhielt. Das einzige Fenster ging auf einen von andern Baulichkeiten engeingeschlossenen Hof, aus dessen dunkler Tiefe beständig das Geräusch von Geschirr, das abgewaschen wurde, und der Duft von gebratenen Zwiebeln und übergelaufenem Fett heraufstiegen.

Doch was wollten diese Unbequemlichkeiten und Unannehmlichkeiten sagen in Vergleich zu der schweren Sorge, mit der mein junges Herz belastet war! In der schrecklichen Spelunke, die mich nun bereits drei, vier Tage gefangen hielt, konnte ich doch nicht ewig bleiben. Meine geringe Barschaft mochte höchstens noch für zwei Wochen vorhalten, und nicht einmal so lange, wenn die Rechnung, die mir jeden Morgen vorgelegt wurde, mit jedem Tage, wie es der Fall war, sich erhöhte, trotzdem ich keine größeren Ansprüche machte, und man mich eher schlechter als besser bediente. Dazu war ich offenbar den Leuten im Hause ein unbequemes Rätsel. Bereits ein paarmal war die Wirtin, eine kleine, dicke Person mit einem breiten, ordinären Gesicht, die auf einem Auge schielte 117 und das andere in allen Ecken spürend umherirren ließ, als suche sie einen verlorenen Gegenstand, bei mir erschienen und hatte, unter dem Vorwand, sich zu überzeugen, daß mir in ihrem Hause nichts abgehe, allerlei verfängliche Fragen gestellt, ans welche meine Antworten sicher recht unbefriedigend für sie ausfielen. Ich fürchtete stets, sie werde sich demnächst die Polizei zu Hilfe rufen; und ich bin überzeugt, wenn sie es nicht that, hatte ich es nur dem Umstande zu verdanken, daß die Initialen auf meinem Koffer mit dem Namen stimmten, den ich am ersten Abend in das Fremdenbuch eingetragen. Wenigstens blieb, während sie mit mir sprach, der Blick des rastlosen Auges immer wieder auf diesem Gegenstande haften, den ich deshalb nicht versäumte, stets in das beste Licht zu rücken.

Aber auch die zwei Wochen, die ich etwa noch im Gasthofe aufhalten konnte, mußten zu Ende gehen, und was dann? was dann? Eine passende Stelle! Aber für welche paßte ich denn? Lehrerin. Aber was half mir meine Kenntnis des Französischen, Englischen, Italienischen und was ich denn sonst auf der Klosterschule und bei dem Professor emsig gelernt? Es war nicht meine Schuld, wenn ich den Herrschaften kein Zeugnis vorlegen konnte; nur wurde der Sachverhalt dadurch kein anderer. Und dann: welche Familie – an ein öffentliches Institut wagte ich gar nicht zu denken – hätte auch eine geprüfte Lehrerin ohne alle und jede Empfehlung genommen? Auf wen sollte ich mich berufen? Meinen Onkel? Er würde entsetzt gewesen sein, hätte er eine Nichte, um die er sich in keiner Weise kümmerte, so weit von den Traditionen der Familie abirren sehen. Der einzige, auf den ich mich beziehen konnte, war mein Vormund. Aber ich hatte mir eingeredet, er zürne mir, und so wollte ich mich auch nur im äußersten Notfall an ihn wenden.

118 Nun blieb mir noch immer eine Zuflucht: Schloß Falkenau, wohin mich die Fürstin so freundlich, so dringend eingeladen hatte. Doch diese Einladung war an das Klosterfräulein ergangen, die intimste Freundin ihrer Schwiegertochter. Zwischen damals und heute lag mein Aufenthalt in L. mit all dem Traurigen und Herzkränkenden, das er mir gebracht. Unverständlich für eine so vornehme Dame, und sehr wahrscheinlich unverzeihlich. Sah ich doch jetzt selbst, daß es ein Ritt über den Bodensee gewesen war, und die guten Leute, die am sichern Ufer standen, Ursache hatten, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Nein, in diese Sphäre gehörte ich nicht mehr. Ich wäre lieber verhungert, als daß ich, eine Hilfeflehende, an die Pforte des Schlosses Falkenau gepocht hätte, oder gar an die Thür des Palais in der Behrenstraße zu Berlin, welches – ich wußte es nicht einmal von Carola selbst, hatte es nur in einer Zeitung gelesen – das junge prinzliche Paar nach seiner Rückkehr von der Reise bewohnen würde.

So sah ich nach keiner Seite einen Ausweg. Einige Tagebuchblätter, die das Datum jener Tage tragen, geben wohl ziemlich getreu die Stimmung des armen, verlassenen Mädchens wieder, wenn es am Abend in ihrem jämmerlichen Gasthofzimmer auf einen düstern verlorenen Tag zurücksah, dem morgen ein gleicher folgen würde.


15. April.

Heute nacht von einer dicken Katze mit gräßlichen Schielaugen geträumt, die in allen Ecken des Zimmers nach einer Maus umherfuhr. Es war aber keine Katze, sondern meine Wirtin; ich werde wohl die arme Maus gewesen sein. Zuletzt sprang 119 das Ungetüm auf meinen Koffer und wollte die aufgepreßten Buchstaben und die Freiherrnkrone wegkratzen. Ich sagte: Bemühen Sie sich nicht, Madame! Ich bleibe darum doch das Freifräulein Antoinette von Kesselbrook. Darüber erwachte ich und mußte lachen. Dann hätte ich beinahe geweint. Freifräulein von Kesselbrook! Du lieber Himmel!

* * *

16. April.

Gestern abend genau dreizehn Stiefel gezählt, die einzeln aus den Thüren geworfen wurden. Wo wohl der vierzehnte geblieben sein mag? Ich vermute, der Eigentümer ist damit zu Bett gegangen.

* * *

Ich habe nun schon zwei Männer zu meinen Füßen gesehen, die mir ihre Liebe beteuerten. Und weiß heute noch so wenig wie vorher, was Liebe ist. Ich vermute: ein Wahnsinn, der die Menschen ergreift, und sie thun und reden läßt, wessen sie sich nachträglich schämen. Wenn ich an das ewige Gekichere und Getuschele zwischen Lida und ihrem Bräutigam denke! und die albernen Gesichter, die sie dazu machten! Ob Carola und ihr Prinz sich auch so benommen haben? Ich kann es nicht glauben.

* * *

17. April.

Menü von heute mittag: Kopf eines mir unbekannten größeren Fisches; etwas, was das Mädchen ein Kotelett nannte. Ob es eines war, weiß ich nicht. Mit Messer und Gabel war ihm nicht beizukommen.

* * *

120 Ich könnte jetzt auch, wie Carola, in einem Palais wohnen und von silbernen Tellern essen. Aber um welchen Preis! Einem Mann sich zu eigen geben, den man nicht liebt! Es ist nicht auszudenken.

* * *

18. April.

Ein Mann, der wirklich ein Mann wäre! Bin ich – meinen Vater immer ausgenommen – schon einem begegnet? Ich wüßte nicht. Der Hauptmann vielleicht. Für einen Mann redete er nur zuviel. Seinen Brief hätte ich ihm so gern beantwortet. Meine Flucht ist auch eine Antwort, und die er sicher erwartete, wenigstens wünschte.

* * *

19. April.

Wie es wohl jetzt bei Professors aussieht? Von den Frauen erwarte ich nichts: sie sind zu dumm – Alma vielleicht noch dümmer, als die Mutter, obgleich das etwas sagen will. Aber er! Er ist doch wirklich zu geistreich, um nicht nachträglich einzusehen, daß seine sogenannte Liebe Unsinn war. Und er sagte, er habe mich schon seit Jahren geliebt! Da war ich doch aber noch ein halbes Kind. Ich verstehe das nicht. Er hat sich das sicher alles nur so eingeredet. Freilich, wenn ich daran denke, was er mir von seinem Leben erzählt hat: seine Armut, und wie er sich trotzdem mit großen Hoffnungen getragen. Die schöne ungarische Komtesse. Die hat er gewiß geliebt. Und das Leben mit den beiden häßlichen dummen Weibern – sein dumpfes Gymnasium, das er sein Fegefeuer nannte – die gräßliche alte Stadt mit den engen schmutzigen Gassen – keinen Menschen, mit dem er verkehren 121 mochte – nur Banausen – es muß ja auf die Dauer zum Verrücktwerden sein. Armer Mann! Er thut mir von Herzen leid. Aber ich konnte doch auch nicht anders handeln.


Ich hatte Ursache, mich an diese Überzeugung zu klammern, als nun eintrat, was so schrecklich war, daß ich nicht den Mut gehabt habe, es niederzuschreiben.

Es wird am folgenden Morgen gewesen sein.

Seit Beginn meines Aufenthalts in dem Gasthof hatte ich mir täglich eine der städtischen Zeitungen geben lassen, welche außer Lokal- und Provinzialnachrichten lange Listen Inserate brachte, die ich eifrig durchlas, ob denn da kein Haus sei, dem das Freifräulein von Kesselbrook, ohne sich etwas zu vergeben, ihre schätzbaren Dienste anbieten könne. Als ich an diesem Morgen wieder einmal nicht, was ich suchte, gefunden und seufzend das bereits unten in der Gaststube halb zerlesene Blatt aus der Hand legen wollte, fiel mein Blick in einem kurzen Korrespondenzartikel auf ein paar Zeilen, die ich zweimal lesen mußte, bevor ich den fürchterlichen Sinn fassen konnte:

Die Leiche des Oberlehrers am Gymnasium zu L., Professor Dr. R., der bekanntlich seit einigen Tagen vermißt werde, sei in dem Lübbecke-Bach, da, wo er sich unmittelbar hinter dem Kloster durch die schmale Schlucht dränge, gefunden worden an einer tiefen Stelle, wie sich derer bei dem ganz ungewöhnlich hohen Wasser dieses Frühjahrs gerade dort mehrere zeigten. Es liege zweifellos Selbstmord vor, den man mit gewissen häuslichen Zerwürfnissen in Verbindung bringe, welche den Frieden der Familie schon seit längerer Zeit untergraben hätten. Die Hauptschuld daran und allem folgenden Unheil müsse wohl 122 fraglos einer jungen Dame zugeschrieben werden, die während des Winters in dem Hause des Professors als Pensionärin und seine bevorzugte Lieblingsschülerin gelebt habe, ihre von dem verblendeten Lehrer vielgerühmte Klugheit dadurch beweisend, daß sie sich, bevor die Katastrophe hereinbrach, rechtzeitig salvierte.

Ich weiß nicht, wie lange ich, in wildem Entsetzen regungslos vor mich hinstarrend, dagesessen haben mag, bis sich die fürchterliche Beklemmung in einem Thränenstrom Luft machte. Aber ich weinte nicht um den Toten; ich weinte um mich. Was hatte ich gethan, diese Schmach zu verdienen? Wann jemals etwas anderes als meinen Lehrer in ihm gesehen? Den ich bewunderte, wo er bewunderungswert war, ohne mich gegen seine Schwächen zu verblenden. Und ganz gewiß, ohne mit ihm zu kokettieren, wie Adele, Grete Wesselhöfft und so viele andre in einer Weise, die ich abscheulich fand. Nein, ich war nicht schuld an seinem Tode. Und war sein Tod eine Schmach für ihn, der seine Vernunft so von seinen Leidenschaften unterjochen ließ, so war er ein schwerstes Unrecht gegen mich, die sich nun hilflos, schutzlos dem schmählichsten Verdacht preisgegeben sah. Nein, und tausendmal nein! keine Thräne um den unmännlichen Mann, dessen vielgerühmte Ritterlichkeit es hatte fertig bringen können, ein unschuldiges Mädchen mit einem Makel zu behaften, an dem es nun sein ganzes Leben hindurch tragen mochte!

Das Zeitungsblatt, das meinen Händen entglitten war, lag neben mir auf dem Boden. Ich hob es auf – ganz mechanisch – und ebenso irrte mein Auge wieder über die langen Annoncespalten. Bis ich auf eine stieß, die mir vorhin entgangen sein mußte. Es wurde da von einem alten Ehepaar eine junge Dame gesucht, die am Abend ein paar Stunden vorzulesen, im übrigen nur gelegentlich – nicht eben 123 oft – gesellschaftlich zu repräsentieren hätte. Musikalische Fertigkeiten erwünscht, aber nicht obligatorisch. Wohl aber eine gute Schulbildung, insonderheit eingehende Kenntnis des Französischen und Englischen. Etwaige Bewerberinnen wurden ersucht, eine von ihnen selbst verfaßte und geschriebene (nicht allzu kurze) Schilderung ihres bisherigen Lebens- und Bildungsganges einzusenden, worauf dann in kurzer Frist die Antwort erfolgen würde. Abzugeben im Kontor, mit der Bemerkung »Gesellschaftsdame« auf dem Couvert, – folgte die Straße und die Hausnummer.

Dann fand ich mich an dem kleinen Tisch sitzend, an welchem ich die schrecklichen Mahlzeiten einzunehmen pflegte und den ich abgeräumt und in das spärliche Licht des einen Fensters gerückt hatte, emsig schreibend, Blatt um Blatt füllend. Ich dachte gar nicht an sie, die das zu lesen haben würden; ich dachte nur an mich. Mein Herz war so voll; ich empfand es als eine wundersame Erleichterung und Erquickung, mir alles von der Seele herunterschreiben zu dürfen.

Es war spät am Nachmittage, als ich fertig war; ich hatte wohl sechs Stunden ununterbrochen geschrieben. Dann couvertierte ich das ansehnliche Convolut Blätter, ohne sie noch einmal zu überlesen, adressierte den dicken Brief in der geforderten Weise und klingelte nach dem Hausknecht. Es war der einzige anständige Mensch im Hause, den ich mir – ich weiß nicht wodurch – zum Freunde gemacht hatte. Er versprach, den Auftrag pünktlich zu besorgen. Meine Frage, ob er das Haus kenne, in welchem er den Brief abzugeben habe, verneinte er: er sei erst kurze Zeit im Orte, werde es aber schon finden. Ob er es gefunden, erfuhr ich nicht: der arme Kerl war stets mit Geschäften überhäuft. Ich empfand deswegen keine Unruhe; der Mann war mir sicher. Und dann: ich nahm ja gar nicht an, daß die Sache einen 124 Fortgang haben werde. Im Gegenteil: ich mußte lächeln über meine Naivetät, auch nur einen Augenblick daran geglaubt zu haben. Wer sollte sich durch die vielen Seiten durcharbeiten? Man würde sie ungelesen beiseite legen. Ja, indem mir nach und nach so ziemlich alles wieder einfiel, was ich da zusammengeschrieben, erfaßte mich ein Schrecken und ich wünschte, ich hätte es nicht abgeschickt.

So vergingen der Rest des Abends und die halbe Nacht in Sorge und Unruhe. Wobei ich es noch heute als etwas Sonderbares und psychologisch schwer Erklärliches empfinde, daß der schreckliche Tod meines Lehrers mir so wenig zu schaffen machte. Waren meine Gedanken zu stark nach einer anderen Seite gezogen; fühlte ich mich zu sehr als die Gekränkte, Beleidigte; hatte ich noch zu wenig selbst im Leben gelitten, um mit dem Leid eines Nebenmenschen ein großes, selbstloses Mitleid haben zu können – ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich zuletzt in tiefen, traumlosen Schlaf versank, aus dem ich am Morgen frisch gekräftigt erwachte und seltsamerweise hinsichtlich meiner Werbung in einer Stimmung, die das genaue Gegenteil von der gestrigen war. Kein leisester Zweifel: man hatte mein Manuskript gelesen und würde sich beeilen, die Verfasserin zu ersuchen, sich schleunigst persönlich vorzustellen.

In der sicheren Annahme, jeden Augenblick gerufen werden zu können, zog ich ein einfaches, dunkles Kleid an, das mir sehr gut stand, und ärgerte mich über den kleinen, halb blinden Spiegel, der mir nur so etwas wie einen Schattenriß von meinem Gesicht zurückgab. Mein reiches dunkles Haar, das ich mit besonderer Sorgfalt frisiert hatte, machte sich dagegen in dem Halbschatten desto besser.

So sah ich mit der Gefaßtheit des Orientalen, der fest an sein Kismet glaubt, dem entgegen, was 125 die Zukunft bringen würde, vielleicht schon die nächste Stunde bringen konnte.

Sie brachte nichts; und so schien der Vormittag resultatlos verlaufen zu wollen. Ich hatte Humor genug, an ein Orakel zu appellieren. Auf dem Hofe unter mir ging es heute ungewöhnlich still und friedlich zu. Wenn es bis zwölf Uhr so blieb, ohne daß eine der hausüblichen Lärmscenen eintrat, wollte ich die Hoffnung definitiv aufgeben. Es mochte dreiviertel sein, als ein Haufen Teller, oder was es war, mit großem Getöse, krachend und klirrend, auf dem Estrich zerschellte und ein halbes Dutzend Weiberstimmen scheltend, zankend durcheinanderkreischten. In demselben Augenblicke wurde die Thür meines Zimmers – das Anklopfen mochte ich vor dem Skandal da unten überhört haben – aufgerissen, und das Mädchen stürzte herein: ob der Herr, der die Karte abgegeben, dem gnädigen Fräulein aufwarten dürfe? Die sehr freche, nachlässige Person war wie umgewandelt: ganz Höflichkeit, ganz Dienstfertigkeit. Ob sie dem gnädigen Fräulein irgendwie helfen könne? Dabei fuhr sie mit einem schmutzigen Wischtuch in nervöser Hast über Tischplatte und Stuhllehnen. Ich ersuchte sie, sich die durchaus vergebliche Mühe zu ersparen und dem Herrn zu sagen, daß ich ihn gern empfangen würde. Sie stürzte wieder davon, in der Eile das Wischtuch zurücklassen, das ich mit dem Fuße unter das Bett schleuderte. So mochte denn Herr »Samuel Bielefelder, Königlicher Kommerzienrat« kommen.

Ich stand mitten in dem kleinen Zimmer, die Hand auf das pochende Herz gepreßt, die ich erst fallen ließ, als die Thür abermals – diesmal von der Wirtin in Person – geöffnet wurde und an ihr vorüber ein alter, einfach, aber sorgfältig in Schwarz gekleideter Herr in das Zimmer trat, dessen hagere, 126 lange Gestalt wohl noch einen halben Kopf größer gewesen wäre, wenn er sie nicht stark gebückt getragen hätte. Sein völlig rasiertes Gesicht mochte einst schön gewesen sein; jetzt war es von zu vielen Falten durchfurcht, deren zwei, die von der starken, etwas gebogenen Nase nach den Mundwinkeln liefen, sich besonders auszeichneten. Der Teint war ein eigentümliches Graubraun, wie man es wohl bei alten Offizieren, Forstleuten und andern sieht, die bei jedem Wetter in der freien Luft gelebt haben. Einen eigentümlichen Gegensatz zu dem Ganzen der Physiognomie, der doch die Spuren des Alters so deutlich ausgeprägt waren, bildeten die großen, in fast jugendlichem Glanz förmlich leuchtenden Augen. Dabei blickten sie, wenn auch ernst, doch so gut und freundlich – ich fühlte von dem ersten Moment keine Spur von Scheu und Befangenheit diesem Manne gegenüber, vielmehr mich auf eine mir rätselhafte Weise zu ihm hingezogen.

Vielleicht, weil ich sofort herausfühlte, daß auch ich einen vorteilhaften Eindruck auf ihn machte, während er zwei Schritte von mir, Hut und beide in seinen braunen Glacés steckenden Hände auf den goldenen Knopf des Bambusrohres stützend, mich mit den großen klugen Augen betrachtete. Nur ein paar Momente. Dann hob er mit einer noch immer wohlklingenden Stimme an zu sprechen.

Meine Frau und ich haben gestern abend sofort Ihre Aufzeichnungen gelesen. Ich mache Ihnen mein Kompliment: Sie haben eine höchst beachtenswerte schriftstellerische Ader. Aber die ist hier, wie erfreulich und vielversprechend immer, doch nebensächlich. Entscheidend für uns war und ist der gesunde Menschenverstand, der aus allem hervorblickt. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß ein geistreicher Franzose – Lamartine, wenn ich nicht irre – den gesunden 127 Menschenverstand le génie de l'humanité nennt. Ich bin ganz seiner Meinung. Und dann ist da eine Bravheit des Herzens, ein schöner Drang sich ins Rechte zu denken, ein Mut der Überzeugung – alles Eigenschaften, die man nicht eben oft bei einem Menschen, zumal einem so jungen Mädchen beisammen findet. Um es kurz zu machen: wenn Sie zu uns kommen wollen – unter materiellen Bedingungen, die ich jedenfalls zu Ihrer Zufriedenheit zu arrangieren hoffe – würde es uns eine Ehre und eine Freude sein. Natürlich müssen Sie wünschen, etwas über die Verhältnisse zu erfahren, in die Sie eintreten werden. Ich bin Kaufmann; meine Frau ist fast in einem Alter mit mir. Wir leben allein in dem großen Hause und haben zwei Kinder: Söhne. Der ältere, bereits verheiratet, ist hier, der zweite in Berlin an der Spitze der dortigen Filiale meines Geschäftes. Mit dem Haushalte würden Sie schlechterdings nichts zu thun haben. Den leitet eine ältere Dame, die unser volles Vertrauen besitzt und verdient. Was wir von Ihnen erwarten, respektive erbitten würden, darüber sind Sie im allgemeinen durch die Zeitungsannonce unterrichtet. Speziell hätte ich kaum etwas hinzuzufügen. Das macht sich alles von selbst unter Menschen, die einander sympathisch sind. Ich sehe Ihnen an, daß ich kein Nein zur Antwort bekommen werde. Ich darf also wohl sagen: abgemacht!

Bei den letzten Worten hatte er, sich weit vorüberbiegend, mir seine Hand entgegengestreckt, in die ich entschlossen die meine legte. Dann hatte er sich rasch erhoben und sich halb abgewandt, als ob er sich im Zimmer umsehen wollte. Ich bin überzeugt: nur, um mir Zeit zu geben, die Thränen abzutrocknen, die mir, sehr wider meinen Willen, aus den Augen brachen. Auch hatte ich mich sofort wieder gefaßt und sagte in leidlicher Haltung, daß ich mit Freuden in 128 sein Haus kommen würde, mich aber beschämt und bedrückt fühle durch das großherzige Vertrauen, das er und seine Frau Gemahlin einer ihnen doch schließlich ganz Unbekannten entgegenbrächten.

Das lassen Sie unsre Sorge sein, erwiderte er. Was mich betrifft, ich bin so viel in der Welt herumgewürfelt worden, daß es sonderbar zugehen müßte, brauchte ich lange Zeit, mich in einem Menschen zurecht zu finden. Meine Frau – wenn Sie nach dieser Seite, wie mir scheinen will, einige Sorge haben – sehen Sie, zwischen uns beiden steht die Sache so: wozu ich ja sage, dazu sagt meine Frau nicht nein, und umgekehrt: wozu sie nein sagt, dazu sage ich nicht ja. Differenzen giebt es nicht.

Er machte eine kleine Pause und fuhr dann mit einem schalkhaften Lächeln fort, indem er zugleich ein Blatt aus seinem Portefeuille nahm:

Ich sehe, ich muß, um Ihnen ein wenig mehr Vertrauen zu sich selbst einzuflößen, doch etwas deutlicher den Kaufmann herauskehren, der seine Weisheit ganz wesentlich seiner Vorsicht verdankt. Sie hatten in Ihrer Relation den Justizrat P. in M. als Ihren Vormund bezeichnet. Der Zufall will, daß er und ich, ohne uns persönlich zu kennen, alte Geschäftsfreunde sind, da er bereits wiederholt Sachen in seiner Stadt für mich zu führen hatte. Ich telegraphierte noch gestern abend in Angelegenheit einer gewissen jungen Dame an ihn. Hier seine Antwort, die heute morgen eintraf.

Er legte das Blatt vor mich hin, wollte es vielmehr vor mich hinlegen; denn ich schob es sofort zurück und sagte:

Nein, Herr Kommerzienrat; ich bin wirklich zu diskret, einen Blick in Ihre Korrespondenz zu werfen.

Er lachte:

Auch wenn ich Ihnen die Erlaubnis gebe? Wie 129 Sie wollen. Sie haben auch ganz recht: es stehen da über Sie sehr böse Dinge. So wären wir denn einig. Können Sie hier bald fertig sein? Gut. Ich fahre eben zur Börse und schicke meinen Wagen zurück, der Sie nach meinem Hause bringt. Sie werden meine Frau allein finden; aber, wie gesagt, das ist ebensogut, als ob wir beide zugegen wären. Noch eines! Und nun seien Sie brav, wie immer: Sie können hier nicht in Verlegenheit kommen?

Ich erwiderte: Durchaus nicht: ich hatte von Anfang an meine Rechnung täglich bezahlt.

Desto besser. Sie können den Wagen ruhig warten lassen. Der Kutscher ist instruiert. Also auf gutes Wiedersehen!

Er hatte mir mit einem wohlwollenden Lächeln die Hand gereicht und das Zimmer verlassen, in welchem nach kurzer Zeit die Wirtin erschien, jetzt ganz Höflichkeit und Bereitwilligkeit. Jedenfalls hatte ihr der Kommerzienrat im Vorübergehen das Nötige gesagt; sie war von allem unterrichtet und pries mein Glück, in ein solches Haus zu kommen. Der Kommerzienrat sei hoch angesehen in der Stadt. Natürlich, wenn einer so reich sei! Die Frau Kommerzienrat gelte wohl als etwas überspannt; aber sie thue so viel Gutes, daß man darüber wegsehen könne. Ich würde sicher sehr anständig behandelt werden, und auf ansehnliche Geschenke zu Weihnachten könne ich außer dem Gehalt, das gewiß reichlich ausfalle, zweifellos rechnen. Denn, wenn die Leute auch Juden seien, Weihnachten würde bei ihnen doch gefeiert; von der großen Weihnachtsbescherung, welche die Frau Kommerzienrat alljährlich für wer weiß wie viele arme Kinder in ihrem Hause aufbaue, spräche man noch wochenlang in der Stadt.

Ich hatte bis zu diesem Augenblicke keine Ahnung davon gehabt, daß ich in ein jüdisches Haus kommen 130 sollte. Auf die Visitenkarte, als das Mädchen sie mir brachte, hatte ich kaum einen flüchtigen Blick geworfen, und etwas spezifisch Jüdisches war mir im Aussehen, Benehmen und Sprechen des Mannes nicht aufgefallen; konnte es auch wohl nicht, da ich in meinem Leben vielleicht ein halbes Dutzend jüdischer Leute gesehen, und er mit diesen freilich nicht die mindeste Ähnlichkeit hatte. So mochte ich denn bei dem Worte ›Juden‹ ein etwas verwundertes Gesicht gemacht haben, das dem grünen Katzen-Spürauge der Wirtin nicht entgangen war.

Ja, liebes Fräulein, rief sie, man kann nicht alles so haben, wie man möchte, sage ich immer zu meinen Dienstmädchen, wenn sie sich über etwas beklagen; und eine adlige junge Dame, die sogar eine Krone auf ihrem Koffer hat, und ein Judenhaus, das will wohl nicht so recht passen. Wenn einer mit einem silbernen Löffel im Munde geboren ist, kann er sich die Gerichte aussuchen; sonst muß er essen, was ihm vorgesetzt wird, sage ich immer zu meinen Dienstmädchen. Und –

Hier kam wieder das Dienstmädchen hereingestürzt, noch atemloser als vorhin, zu melden, daß der Wagen des Herrn Kommerzienrats vorgefahren sei. Nun überstürzten sich Wirtin und Mädchen, mir bei dem Zusammenkramen meiner Sachen zu helfen. Es war da wenig genug zu thun. Der famose Koffer stand immer gepackt und verschlossen; ein paar Toilettengegenstände hatten schnell ihren Platz in der Reisetasche gefunden. Der ehrliche Hausknecht erschien, die Sachen hinunter zu tragen. Er voran, ich ihm folgend, die Wirtin und das Dienstmädchen hinterher, ging es die Treppe hinab, vorüber an zwei oder drei der Stiefelschleuderer, die diesmal nicht grinsten, sondern sich respektvoll auf die Seite drückten; hinaus zur Hausthür, in welcher der Wirt, den ich bei dieser 131 Gelegenheit zum erstenmal zu sehen bekam, Kratzefüße machend, hoffte, ich werde mit allem zufrieden gewesen sein und ihn recht bald wieder beehren; hinein in den Wagen, einen prächtigen offenen Landauer; hinunter die schmale Gasse, auf deren holprigem Pflaster die Hufe der edlen Pferde mächtig klapperten, während die Gummiräder geräuschlos darüber hinhüpften; durch breitere Straßen bis vor ein stattliches Haus, wo der Kutscher die feurigen Tiere mit einem Ruck parierte. Ein Diener kam die Stufen herab, mir herauszuhelfen und zu sagen: die Frau Kommerzienrätin sei in ihrem Zimmer und werde sich freuen, das gnädige Fräulein zu empfangen.

Ich sprang aus dem Wagen, heiteren Sinnes, ahnungslos, daß der Schritt, den ich über die Schwelle dieses Hauses that, über mein ganzes künftiges Leben entscheiden sollte.


3. Mai.

Acht Tage nun bereits in diesem Hause, das mir ein Paradies scheint, nicht in Vergleich zu der zehntägigen Hölle, die ich in dem schrecklichen Gasthof zugebracht, nein! ein wirkliches. Wenn ich nur an die wonnige Stille denke, die mich hier umgiebt, und an den entsetzlichen Lärm dort; an die dunkle verräucherte Spelunke, in die ich dort eingesperrt war, und die beiden schönen, hellen, geräumigen Zimmer, die ich hier bewohne. Die Fenster gehen auf einen großen Garten, aus dem im Mondenschein weiße Blütenbäume zauberhaft herausschimmern. Gestern nacht – ich hatte, wie im Kloster, die Fenster offen – schlug in dem Boskett weiter rechts eine Nachtigall so wundersam süß. Ich konnte lange nicht darüber einschlafen. Wie 132 gern hab' ich gewacht! Stille draußen, Stille drinnen: im Hause auf den läuferbelegten Treppen und Korridoren, in den großen Wohnräumen, die trotz ihrer Größe so heimlich sind. Ich habe mich gefragt, wie das kommt. Sie halten, was die Einrichtung betrifft, mit dem Kölner Patrizierhause tragikomischen Angedenkens den Vergleich nicht annähernd aus: keine Prunkmöbel, keine kostbaren Gobelins und orientalischen Teppiche, keine zahllosen Kuriositäten aus Bronze, Elfenbein und Marmor auf Schränken, Tischen und Etageren; keine braunen Bilder in schweren goldenen Rahmen – alles, wenn auch gediegen, höchst einfach. Und, ich glaube, gerade diese Einfachheit und Anspruchslosigkeit haben mir es angethan. Die und die unendliche Sauberkeit. Man könnte sich in jedem Wandschrank, jeder Tischplatte spiegeln. Wie erquicklich das ist nach – doch ich will ja in jene fürchterlichen Tage nicht zurückblicken. Ich will mir auch anderes aus dem Sinn schlagen, das, wenn ich daran denke, mir das Herz beklemmt, und woran ich doch unschuldig bin.

Aber das weitaus Allerbeste in dem schönen sauberen Hause sind doch die guten Menschen darin. Den Kommerzienrat gewinne ich mit jedem Tage lieber. So könnte ich mir Nathan den Weisen vorstellen: so gütig, maßvoll und so klug. Gegen mich ist er die Liebenswürdigkeit selbst; aber ich meine, er ist es gegen alle Menschen. Und hat so viel im Leben durchgemacht, wovon er gelegentlich einzelnes erzählt! Wenn ich erst mehr weiß, will ich es zusammenzustellen versuchen. Dabei neckt er gern; aber so freundlich und schelmisch, daß von Übelnehmen gar keine Rede sein kann.

Ganz reizend ist nun, wie er mit seiner Frau verkehrt. Sie ist so klein und unansehnlich, wie er groß und stattlich, und so häßlich, wie er schön 133 (was man so bei einem Mann schön nennen mag). Dabei scheinen sie auch ganz verschiedene Naturen. Er ruhig und bedächtig; sie nervös und fahrig; er überlegt sicher jedes Wort, das er sagt; sie sprudelt alles heraus, was ihr auf die Zunge kommt. Er liebt offenbar einen guten Tisch und ißt mit Behagen; sie scheint von der Luft zu leben. Sie liebt die Musik über alles und spielt vortrefflich Klavier (notabene Kapellmeistertochter); er hat mir lachend anvertraut, daß ihm die Musik ein unangenehmes, im besten Falle völlig unverständliches Geräusch sei. Er ist sehr für ein behaglich-häusliches Leben; sie ist fast den ganzen Tag unterwegs und immer zu Fuß, die kleine, scheinbar so gebrechliche Frau, weil sie, wie sie sagt, bei den Armen und Kranken, deren Pflege ihre Leidenschaft ist, nicht mit der Equipage vorfahren kann. Trotz dieser großen Verschiedenheit verstehen sie sich auf ein halbes Wort, einen Blick und lieben einander zärtlich. Man muß den Ton nur hören, in welchem er ›meine Frau‹ und sie ›mein Mann‹ sagt! Es klingt so herzlich und zugleich so stolz! Ach wie war das alles in L. so schrecklich anders! Aber daran darf ich nicht rühren.

Weshalb man mich eigentlich ins Haus genommen, hat mir noch nicht klar werden wollen. Mich irgendwie nützlich machen könnte ich nicht, wenn ich auch mehr davon verstände; es ist alles in so wunderbarer Ordnung, scheint von selbst zu gehen, wenn man auch weiß, daß es Frau Schmitz ist, die das Ganze dirigiert und bis in das kleinste Detail überwacht. Dann freilich auch die vielen Dienstleute: Gärtner, Kutscher, Diener, Köchin, zwei Hausmädchen (oder sind es drei?), alle, wie es scheint, gute, brave, fleißige Menschen. Ich bin, vorläufig wenigstens, das fünfte Rad am Wagen. 134 Habe bescheiden gefragt, ob ich nicht einmal vorlesen dürfe? Antwort: damit hat es ja keine Eile. – Zu repräsentieren gab es bisher auch nichts. Es ist kein Mensch ins Haus gekommen außer einmal des Abends zwei Musiker, ein älterer und ein jüngerer, die mit Frau Kommerzienrat ein paar Sonaten (oder was es war) gespielt haben. Mit einem Wort: ich habe, scheint es, keine andre Aufgabe als dazusein. Wofür ich von allen ›Gnädiges Fräulein‹ tituliert werde mit Ausnahme von Herrn und Frau Kommerzienrat, die auch damit anfingen, bis ich sie bat, mich einfach Antoinette zu nennen.

 
9. Mai.

Gestern abend – ich wollte schon zu Bett gehen– kam Frau Schmitz und blieb über eine Stunde. Sie ist eine schon ältere, aber sehr rüstige Dame, die trefflich für mich sorgt und gewiß eine brave Seele ist. Aber, Himmel, wenn sie ins Plaudern gerät! Ich habe in der einen Stunde ihre eigene Lebensgeschichte, die der Bielefelder zu hören bekommen; und die meine war eben an der Reihe, als es zwölf schlug und Frau Schmitz erklärte, die Hausordnung nicht länger verletzen zu dürfen.

Sie ist bereits fünfundzwanzig Jahre im Hause: eine Pastorswitwe, die mit vier unversorgten Kindern zurückblieb. Sie deutet an, daß nur die äußerste Not sie habe bewegen können, in den Dienst jüdischer Leute zu treten, und sie jahrelang in schweren Zweifeln gewesen sei, ob sie damit nicht eine Sünde begangen habe und zu begehen fortfahre. Ob mir denn das Herz bei dem Entschluß leicht gewesen sei? Ich lenkte von dem Thema ab, da ich sofort herausfühlte, wir würden uns in Sache der Religion schwerlich verständigen, und brachte die Rede auf das kommerzienrätliche Paar. 135 Die Bielefelders stammen, wie ja auch schon der Name beweise, aus hiesiger Gegend. Der Vater des Kommerzienrates ist ein kleiner Kaufmann gewesen, der bald mit Getreide und Schafwolle, bald mit Juwelen handelte, welche letzteren er in einem Pappschächtelchen in der Westentasche bei sich zu tragen pflegte. Als er starb, war kein Getreide, keine Schafwolle mehr da, und die Pappschachtel leer. Der einzige Sohn, eben erst sechzehn Jahre alt, fand sich vis-à-vis de rien. Ein Onkel in etwas besseren Verhältnissen lieh ihm eine Handvoll Thaler, mit der er nach Amerika ging. Nun ein vielbewegtes Leben, das gewiß an Abenteuern reich gewesen ist (um die ich ihn beneide): in Canada, in Texas, im fernsten Westen – eine Zeitlang sogar in Sibirien – Frau Schmitz meint: zumeist als Pelzhändler; jedenfalls hat der Pelzhandel den Grund zu seinem großen Vermögen gelegt. Dann, vor dreißig Jahren etwa, ist er nach Deutschland zurückgekehrt, hat sich hier niedergelassen, ein Bankgeschäft errichtet und seine kleine Frau geheiratet, die er schon als Kind (sie ist aus derselben Stadt, wie er) gern gehabt und zu heiraten versprochen hat, wenn er einmal als reicher Mann zurückkomme. (Wie ähnlich ist diese Geschichte einer anderen, die dann so schmerzlich verlaufen ist und geendet hat! – Ein Thema, über das ich weiter nachdenken muß.)

Als Frau Schmitz hier eintrat, sind die beiden Söhne schon zwölf und zehn Jahre alt gewesen, zu Frau Schmitz' einiger Beruhigung wenigstens der jüngere getauft. Der ältere heißt Arthur, der jüngere Philipp. Letzterer scheint ihr Liebling zu sein. Sie erklärt ihn für den schönsten Mann, den sie je gesehen hat, und ist unglücklich, daß er verhältnismäßig so selten von Berlin herüberkommt. Wünscht, er möchte heiraten. Fürchtet, er werde 136 schwer eine seiner würdige Frau finden. Sitzt im Abgeordnetenhause; trotz seiner Jugend einer der Führer seiner Partei (NB. Fortschrittspartei); ausgezeichneter Redner. (Höchst begierig, dies Phänomen kennen zu lernen.) – Der ältere, Arthur, steht weit weniger hoch in ihrer Gunst. Sei in allem das Gegenteil von seinem Bruder; keine Spur von Idealismus; reiner Geschäftsmann. Mir scheint, es ist hauptsächlich die junge Frau, die Frau Schmitz intrigiert: kolossal reiche Engländerin, das heißt (hier wurde Frau Schmitz stark ironisch:) englische Jüdin, die ihren Mädchennamen Lilienfeld ›Lilifield‹ spreche und auf alles, was nicht englisch sei, von oben herabsehe. Ein Kindchen, das sie hatten, ist nach einem halben Jahre gestorben, weil, wie die Mutter meint, es selbstverständlich die deutsche Luft nicht habe vertragen können. Sie wohnen in einer Villa vor der Stadt (für eine Engländerin ebenfalls selbstverständlich). Augenblicklich ist das Paar in London zum Besuch ihrer Eltern. Werden in acht Tagen zurückerwartet. (Kann nicht sagen, daß ich mich nach der Bekanntschaft sehne.)

Nun aber genug für heute morgen, wenn ich auch die Zeit, die ich auf mein Tagebuch verwende, niemandem stehle. Der Kommerzienrat ist auf seinem Bureau, Frau Kommerzienrat irgendwo in der Stadt, sicher nicht bei reichen Leuten.

Wie schön es ist in meinem lieben Zimmer, in das die Sonne so erquicklich scheint! Unten im Garten schlägt ein Fink fast ununterbrochen. Wenn er einmal eine Pause macht, singt süß und leise eine Amsel. Die liebe ich vor allem.

Was soll ich nun beginnen? In den Garten gehen und mit dem alten Gärtner plaudern, der mir ein paar Beete zu eigener Bearbeitung 137 angeboten hat? Oder weiter in Spinoza lesen? Ich merke, er ist doch schwerer verständlich, als ihn mir der Kommerzienrat schildert. Freilich, er kennt ihn auswendig und begreift nicht, wie einer sich »ohne dies klare Himmelslicht durch das dunkle Erdenleben findet«.

Ach was! Spinoza mag warten. Ich gehe in den Garten.

 
12. Mai.

Briefe von Carola und Adele. Carola seit Mitte April von der Reise zurück. Weiß von der nichts weiter zu berichten, als daß sie »unsäglich schön« war; von ihrem jetzigen Leben, daß sie »unsäglich glücklich« sei. Wäre es nicht Carola, ich würde diese beiden ›unsäglich‹ unsäglich dumm finden; aber sie kleidet alles gut, selbst ihre große Beschränktheit. Sie sind nun in Berlin, damit Carola die Stadt und ihr dortiges Heim kennen lernt. In acht Tagen gehen sie nach Falkenburg zu seinen Eltern, um den Sommer über dort zu bleiben. In diesem Augenblick ist Adele bei ihr, ihr »bei der Einrichtung der Wirtschaft zu helfen«. (Adele und Wirtschaft! – göttlich!) Der Prinz läßt »sich mir zu Füßen legen«! Er hat wohl Adeles Brief nicht gelesen. Sie ist »einfach empört« über den Schritt, den ich – sie habe keine andere Erklärung – »in einem Zustande momentaner Geistesabwesenheit gethan haben muß«. Ein Freifräulein von Kesselbrook im Hause jüdischer Leute als Gesellschafterin, Vorleserin, jedenfalls in einer dienenden Stellung! Und Balduin von Kesselbrook, der Stammvater meines Geschlechts, habe unter Kaiser Barbarossa den Kreuzzug nach Palästina mitgemacht! Weshalb die vier Mohrenköpfe im Kesselbrook'schen Wappen! Für sie kämen die Juden gleich hinter den Mohren; 138 und wer wisse, welche von den beiden die schlimmeren seien!

So geht das vier enggeschriebene Seiten fort. Auch aus meine Erlebnisse in L., über die ihr Schwester Ambrosia (ich kann mir denken, wie!) berichtet haben muß, kommt sie zu sprechen. Es scheine ihr, als habe ich es »in betrübender Weise an dem rechten Takt fehlen lassen«. Den könne man freilich nur aus Goethe lernen, den sie eifriger als je studiere, mit jedem Tage zu ihrem Entzücken deutlicher fühlend, welch' »völlig congeniale Naturen er und sie seien«! – –

Mein Gott, wie ich dies Gethue hasse! Sie hat es offenbar darauf angelegt, mir Goethe zu verleiden.

 
15. Mai.

Ich habe Frau Kommerzienrat gefragt, ob ich sie nicht auf ihren Samariterwegen begleiten, oder ihr in irgend einer Weise bei ihrer Armen- und Krankenpflege behilflich sein könne. Sie sagt: es sei ein zu trauriges Metier. So viel Elend und Jammer zu sehen, sei nichts für ein junges Mädchen, das Freude am Leben haben und Mut zum Leben behalten müsse. – Aber dabei ist sie selbst niemals traurig, sondern stets heiter und scherzt und neckt sich mit ihrem Gatten um die Wette, was oft gar lustig anzuhören ist. Ich glaube, sie hat mich ganz gern, wenn sie in mir auch nur ein halbes Kind zu sehen scheint, an das man ernstere Ansprüche nicht stellen dürfe. An mich mit meinen achtzehn Jahren! Wenn ich nun Herrn v. G. geheiratet hätte, wie Carola ihren Prinzen? Wie dann? Es ist doch kurios und eigentlich beleidigend, wie wenig wir Mädchen in der Welt gelten!

139  
16. Mai.

Der Kommerzienrat nimmt mich allerdings ernsthafter. Das habe ich so recht heute abend empfunden, als ich endlich meine erste Probe als Vorleserin ablegen durfte.

Frau Kommerzienrat hatte wieder ihr Terzett. Unter zwei Stunden geht es da nicht ab. Der Kommerzienrat bat mich, ihm unterdessen Gesellschaft zu leisten. Wir gingen in das zweite Zimmer von dem Musiksalon. Hier stehen vier große Schränke mit Büchern, weshalb es offiziell »Die Bibliothek« heißt. Die Thüren werden sorgfältig geschlossen. In den ersten Minuten war mir ein wenig beklommen: ich mußte zu lebhaft an die Abende mit Professor R. denken! Der Kommerzienrat fragte, ob ich lieber plaudern, oder etwas vorlesen wolle? Ich sagte: mir sei eines so recht und lieb, wie das andere. Er: ich glaube, wir werden Zeit zu beiden haben. Lesen wir also zuerst ein wenig; das heißt: lesen Sie mir etwas! – Und dann, als müsse er sich entschuldigen: die Sache ist: mit meinen Augen will es seit einiger Zeit nicht mehr recht gehen. Tagsüber leisten sie ihren Dienst, wie früher; aber des Abends lassen sie mich im Stich. Ich habe es mit allerlei Brillen versucht; sie helfen mir nicht. Also wenn Sie so liebenswürdig sein wollten. Was möchten Sie wohl lesen? – Aber, Herr Kommerzienrat, das müssen Sie doch bestimmen. – Kennen Sie Thackeray?– Nein, wir durften im Kloster keine Romane lesen, und später hatte ich keine Zeit. – Da mußten Sie Latein lernen, ich weiß. Und beneide Sie darum. Ich habe das Glück nicht gehabt; mußte zu früh hinaus in die Welt, die mich manches lehren sollte, nur nicht Latein. Also, wenn es Ihnen recht ist: Thackeray. Ich liebe 140 ihn sehr. Er ist als Dichter vielleicht nicht so groß, wie Dickens; aber wer die Menschen kennen lernen will, wie sie wirklich sind, hält sich besser an ihn.

Ich war inzwischen an den Schrank getreten, der, wie ich wußte, die englischen Bücher enthielt, und hatte auch sogleich die lange Reihe Thackeray in einer schönen englischen Ausgabe gefunden. Ich fragte, welchen Band ich nehmen solle? – Den ersten besten, erwiderte er; ich kenne sie sämtlich; aber erneuere gern die alte Bekanntschaft. Was haben Sie erwischt? – Vanity fair. – Hm! Die Heldin ist freilich kein Musterexemplar einer Dame; aber es kann Ihnen nicht schaden, wenn Sie auch dergleichen kennen lernen.

Ich hatte mich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt, auf dem die große Lampe brannte. Auf einmal überkam mich ein Zagen.

Wenn Ihnen meine Aussprache nur genügt, Herr Kommerzienrat.

Wie haben sie Ihr Englisch gelernt?

Wir hatten immer eine Engländerin im Kloster.

Da waren Sie besser daran als ich, sagte er lachend; meine Lehrmeister waren, wie Sie wissen, die Amerikaner; und meine Schwiegertochter sagt: die sprechen einen Jargon, den sie für Englisch halten, der aber bei Leibe keines ist. Also fangen Sie getrost an!

Ihre Aussprache ist ganz vortrefflich, sagte er, als ich eine Seite gelesen hatte, und Ihre Stimme thut mir wohl. Bitte weiter!

Ich las weiter, wohl eine gute halbe Stunde, ohne daß er mich wieder unterbrach. Und dann, als eben ein Kapitel zu Ende war:

So! für heute wollen wir es genug sein lassen. Ich danke Ihnen recht sehr. Es war wunderschön. Morgen, oder sobald als möglich, fahren wir fort; 141 und wenn wir erst etwas weiter sind, müssen Sie mir Ihre Meinung über den Autor sagen. Wie weit sind Sie im Spinoza?

Ich bin mit der Ethik durch.

Der Tausend! Das ist schnell gegangen.

Ja, aber ich habe auch die mathematischen Beweise überschlagen.

Das schadet nicht. Seine Sätze sind in sich selbst beweiskräftig genug.

Ich weiß nicht, Herr Kommerzienrat. Es will mir doch manches nicht recht einleuchten.

Zum Beispiel?

Ist mir unklar, was ich mir unter ›Substanz‹ denken soll.

Sagen Sie statt dessen: Gott. Das vereinfacht die Sache.

Herr Kommerzienrat, darf ich offen – ganz offen sprechen?

Aber selbstverständlich.

Nun war mir aber doch der Mut entfallen. Ich suchte auszuweichen:

Kant behauptet, es lasse sich kein logischer Beweis für das Dasein Gottes führen.

Sie haben Kant studiert? Alle Achtung! Wohl mit Ihrem unglücklichen Lehrer?

Ja.

Und wie stand er zu der Frage?

Er war Atheist.

Und Sie mit ihm?

Wenn Sie mich direkt fragen, Herr Kommerzienrat: ja.

Ich danke Ihnen für die ehrliche Antwort.

Er war aufgestanden und ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. Dann nahm er wieder Platz und sagte mit einem freundlichen Lächeln:

Da darf ich denn nicht weniger ehrlich sein. Ich 142 habe auch in meinen jungen Jahren den Gottesglauben verloren gehabt, und ich meine, es muß ihn jeder verlieren, der sich von der Vorstellung Gottes als einer Persönlichkeit nicht losmachen kann. Es giebt so viel Ungerechtigkeit unter den Menschen; es geschieht bei ihnen so viel Grausames – und nicht bloß bei den Menschen: durch die ganze Natur, von der wir ja nur ein Teil sind – es läßt sich nicht fassen und begreifen, solange wir Gott nicht von allem entkleidet haben, was noch an einen Menschen erinnert. Das hat Spinoza gethan. Er hat den alten Judengott Jehovah in die unergründliche Tiefe getaucht, aus der das Wort des Psalmisten herausklingt: ›Ehe denn die Berge wurden, und die Erde und die Welt geschaffen wurden, warst du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.‹ So ist Spinoza, und nicht, soweit mein Verständnis reicht, Christus, der Fortsetzer und Erfüller der jüdischen Gotteslehre. Wie seine Geburt selbst ein Wunder sein soll, hat er den Gang der Natur durch das Wunder des Glaubens unterbrochen und aufgehoben. Der Glaube soll selig machen. Giebt es aber überhaupt eine Seligkeit, ist sie nicht eine Folge des Glaubens, sondern des rechtschaffenen Handelns. – ›Gehe hin, deine Sünden sind dir vergeben.‹ Wieder ein Zerreißen der Kette von Ursache und Wirkung, welche die jüdische Lehre doch wenigstens eine kleine Strecke weit verfolgt, bis ihr allerdings schon bei dem vierten und fünften Glied der Atem ausgeht, und die Spinoza uns als eine unendliche, unzerreißbare hat erkennen lassen. Sie werden jetzt schon eher verstehen, weshalb sein Gott nicht zürnt und nicht haßt und nicht liebt. Wer Gott liebt, darf nicht erwarten, daß Gott ihn wieder liebe, sagt Spinoza. Und diese seine Gottesliebe hat mit dem, was wir 143 sonst Liebe nennen, auch nichts gemein. Es ist die Lust, die aus dem Erforschen der Wahrheit entspringt; die Wonne der sich steigernden Erkenntnis dessen, was ist, es sei nun, wie es sei.

Er hatte sich abermals erhoben, machte ein paar Schritte, wandte sich wieder zu mir und fuhr leise fort, gesenkten Hauptes das Kinn in die Hand stützend:

So nun geht ein Riß durch die Menschheit, der in früheren, naiv glaubensstarken Zeiten nicht so viel bedeuten wollte, dessen unheimliche Tiefe sich aber in dem Maße offenbart, als das Licht der Erkenntnis zunimmt. Wieviel edelste Kräfte sind nicht schon vergeudet worden und werden noch vergeudet werden, den Riß zu füllen! Aber zwischen Glauben und Wissen, – dem Wissen, das selbst in seiner höchsten Gipfelung den gesunden Menschenverstand zur soliden Basis hat und haben muß – giebt es auf die Dauer keinen Pakt.

Und so wird er weiter durch die Jahrhunderte klaffen, die Entwickelung der Menschheit zur geistigen Freiheit beständig hemmend und hindernd. Ob alle Segnungen des Christentums diesen ungeheuren Schaden kompensieren können, das ist eine Frage, die ich mir oft vorgelegt habe und leider nie im günstigen Sinne zu beantworten vermochte.

Er strich sich über die hohe Stirn und sagte, aufblickend, nun ganz wieder in seiner liebenswürdigen Heiterkeit:

Aber hier lassen Sie uns abbrechen! Ich weiß so schon nicht, ob ich nicht bereits viel zu weit gegangen bin; und ob es recht ist, Geist und Herz eines jungen Mädchens mit so schweren Dingen zu belasten.

Und ich kann Ihnen nicht genug danken, Herr 144 Kommerzienrat, daß Sie mich für würdig halten, Ihnen zuhören zu dürfen.

Der Dank ist auf meiner Seite. Ich habe niemand, mit dem ich über mein Lieblingsthema sprechen kann. Und dann: Sie sind Gott sei Dank nicht wie die jungen Dinger, Ihre Altersgenossinnen, die nichts als Windbeuteleien im Kopfe haben. –

Hier kam die Frau Kommerzienrat in die Bibliothek, hinter ihr die beiden Musikfreunde, alle noch voll von dem himmlischen Genuß, den sie sich gegenseitig bereitet hatten. Dann wurde zu Tisch gegangen. Was da gesprochen wurde, weiß ich nicht. Ich war zu erregt von der Unterredung mit dem Kommerzienrat.

Einiges mag mir entfallen sein; aber im Ganzen habe ich sie hier getreu und oft sicher wörtlich aufgeschrieben.

Ich will zu Bett gehen.

Noch eines: ich bin sehr stolz.

* * *

19. Mai.

Herr Arthur Bielefelder und Frau sind seit gestern zurück und haben den Eltern heute einen Besuch gemacht. Natürlich wurde ich auch vorgestellt. Herr Arthur ist fast einen Kopf kleiner als sein Vater, aber breiter in den Schultern. Auch sein Gesicht geht mehr in die Breite als in die Länge, besonders die untere Partie mit dem massiven Kinn, die für meinen Geschmack etwas Tierisches hat. Sonst sieht er nicht übel aus. Stößt ein klein wenig mit der Zunge an. Er war recht elegant gekleidet, etwas anders als sonst die Herren. Wird wohl englischer Geschmack sein. Seine Frau, die Jane heißt und fünfundzwanzig Jahre sein mag, ist wirklich eine auffallend schöne Dame, nur 145 vielleicht schon zu sehr embonpoint. Von dem fürchterlichen Hochmut, von dem sie nach Frau Schmitz besessen sein soll, habe ich nichts bemerkt: sie kam mir mit großer Freundlichkeit entgegen. Frau Schmitz sagt: bloß weil sie gehört hatte, daß ich ein Freifräulein bin. Mag sein. Ich mußte sofort englisch mit ihr sprechen, wie sie denn auch sonst thun soll, als sei ihr das Deutsche nicht geläufig. Das lag zu Tage, als Frau Kommerzienrat, die in der Stadt gewesen war, nach Hause kam und sofort sagte: ›Ich verstehe nämlich noch immer kein Englisch, Jane, und du weißt, wenn ich da bin, wird nur deutsch gesprochen.‹ – Jane scheint einen heillosen Respekt vor der Schwiegermama zu haben; sie war sofort wie umgewandelt. Frau Kommerzienrat nimmt aber auch wirklich kein Blatt vor den Mund. So sagte sie, sich vor ihre Schwiegertochter hinstellend, und sie von oben bis unten musternd: ›Gott, Kind, wie du mal wieder aufgedonnert bist!‹ – Jane, mit einem Versuch, überlegen zu lächeln: ›Die neueste Londoner Mode, Mama.‹ – ›Ach, was geht uns die Londoner Mode an! Hier sind wir in Deutschland.‹ – ›Verzeihung, Mama‹, sagte Herr Arthur; ›ich finde Janes Toilette durchaus nicht auffallend, im Gegenteil sehr decent und geschmackvoll.‹ – ›Na ja! ungefähr wie dein Kotelettbart. In England magst du damit für einen Lord gelten; hier siehst du aus wie ein Oberkellner.‹ –

Ich gestehe: mir schien das etwas stark, besonders weil es in meiner Gegenwart gesagt wurde. Der Kommerzienrat muß es auch so gefunden haben. Er sagte freundlich: ›Aber Sarah, du solltest dich doch nachgerade an die Weise der Kinder gewöhnt haben.‹ – Und sie: ›Hast recht, Alter. Habe ich 146 mich doch auch an mein Reißen in der Schulter gewöhnen müssen.‹

Damit war die kleine Scene zu Ende. Zu meiner großen Erleichterung. Die schöne Frau hat mir wirklich leid gethan, wenn ich auch der Frau Kommerzienrat recht geben muß. Die beiden Eltern von Jane sind Deutsche – aus Hamburg – und sie ist fünfzehn Jahre alt gewesen, als sie nach England kam. Da ist es doch wirklich lächerlich, sich als Engländerin aufzuspielen.

Für übermorgen sind wir zu einem kleinen Diner in ihre Villa geladen. Ich bin sehr neugierig, wie es da aussehen und zugehen wird.

Habe Frau Kommerzienrat gefragt, ob ich mir noch schnell ein neues Kleid dazu machen müsse? – Unsinn, hat sie geantwortet. Kommen Sie in dem schwarzen seidenen, das Sie letzten Sonntag anhatten. Sie sehen riesig vornehm darin aus.

Ich finde, daß Herr und Frau Kommerzienrat mich »riesig« verwöhnen.

* * *

22. Mai.

Frau Kommerzienrat thut meiner Meinung nach Jane ein wenig unrecht. Ihre englische Schrulle mag ja Spott verdienen; und die Klügste ist sie sicher auch nicht. Aber dann ist sie wieder so grenzenlos gutmütig. Und ich darf nun schon gar nicht über sie klagen. Sie nennt mich: my lovely girl, my dearest, charming girl; und will für mich Jane sein – nothing else.

Es scheint, daß sie mich wesentlich, mir diese Liebeserklärungen zu machen, gebeten hatte, eine Stunde vor den andern zu kommen. Die Villa liegt dicht vor der Stadt inmitten eines großen Gartens, den hernach einer der Gäste einen englischen Park en 147 miniature nannte. Natürlich ist auch die Villa, und alles was darin, im englischen Geschmack. Jane führte mich herum. Es gab aber keine Zimmer, nur rooms: drawing-room, dining-, sleeping-rooms und so weiter. Ich mußte alles bewundern, was ich auch ehrlich konnte, denn es war sehr prächtig und trotzdem äußerst komfortabel; in Vergleich zu der schlicht bürgerlichen Einrichtung unsrer Wohnung in der Stadt ganz fürstlich (wie ich mir nämlich das so denke). Kein Möbel, keine kleinste Nippessache, die nicht englisch wäre. In das Souterrain, wo die Küche und die Wirtschaftsräume liegen, durften wir nicht. Dort herrscht souverän die Köchin, (natürlich) eine Engländerin. Sie würde sofort kündigen, wollte man sie mit einem Besuch belästigen. Desto eingehender wurden die Garderoberäume besichtigt, in denen mindestens acht mächtige Mahagoni-Schränke standen, alle voll von den kostbarsten Kleidern. Ich mußte mich sehr hüten, eines und das andre besonders schön zu finden: sie wollte es mir dann sofort schenken, und ich hatte die größte Mühe, mich dessen zu erwehren. Freilich, ihr kommt es nicht darauf an: sie ist einziges Kind, und ihr Vater, scheint es, unermeßlich reich: Stahlhämmer, Messerfabriken, Bergwerke, ganze Eisenbahnen – was weiß ich. So treibt auch ihr Mann (wohl wesentlich mit dem Gelde des Schwiegervaters) das Geschäft hier im Großen, »beherrscht den Kohlenmarkt«, wie Jane stolz versicherte. In diesen Dingen wußte sie sehr gut Bescheid, sonst ist sie bodenlos unwissend. Von deutscher, französischer Litteratur keine Ahnung; Shakespeare, Walter Scott, Byron kannte sie faktisch nur den Namen nach. Womit sich die jungen englischen Damen in den Pensionaten beschäftigen, ist mir ein Rätsel.

148 In ihrem sitting-room auf dem kostbaren Schreibtisch (der sicher nie zum Schreiben benutzt wird) stand zwischen allerlei wunderlichem bric-à-brac eine Anzahl Photographien, die meisten in einem Format, wie ich es so groß noch nicht gesehen habe; unter anderen ihre Eltern, von denen man nicht recht begriff, wie sie eine so schöne Tochter haben konnten. Dann war da das Bild eines Herrn, das mich sehr frappierte: ein ganz prächtiger Kopf: mächtiges Haar, über der geraden Stirn sich förmlich aufbäumend, sinnende tiefe Augen, eine edelgeformte Nase, der untere Teil des Gesichts von einem sehr starken Vollbart bedeckt, der auf die Brust hinabreichte. Ich habe immer gemeint: es giebt keine schönen Männer; hier wurde ich eines andern belehrt. Diesen hier mußte wohl jeder und jede schön finden. – ›Wer ist das?‹ fragte ich. – ›My brother in law. He lives in Berlin and‹ – ›Ich weiß. Ist er wirklich so‹ – ›Well looking? Oh yes! But‹ – ›Es scheint, Sie mögen ihn nicht?‹ – ›Oh, dear, no! I like him very much. Only Mr. Bielefelder (sie nennt ihren Mann nie anders, wenn sie von ihm spricht) says: he is a ladies-man, but bot a business-man.‹ – ›Und das ist wohl das Schlimmste, was Ihr Herr Gemahl von einem sagen kann?‹ – ›Oh yes (mit großem Stolz:) He is a business-man.


Inzwischen waren die Gäste gekommen, wohl an zwanzig Personen: Herren und Damen; erstere in Frack und weißer Binde, letztere ausnahmslos in großer Toilette, im Schmuck von vielen Brillanten in Form von Ohrringen, Colliers, Broschen, Armbändern. Frau Kommerzienrat konnte sich von dem jedenfalls bedeutenden Effekt, den ich mit meinem keineswegs mehr ganz neuen schwarzen Fähnchen 149 machte, nicht überzeugen: sie war zu Haus geblieben. Meine Augen sind jetzt schon so weit gebildet: ich unterschied ziemlich deutlich die christlichen von den jüdischen Herrschaften; letztere in der Mehrzahl. Es wurde nur von Geschäften gesprochen. Mein Tischnachbar zur Linken – ein jüngerer Herr – wünschte zu wissen, ob ich glaube, daß die Baisse auf dem Kohlenmarkt lange anhalte; der zur Rechten – ein älterer – versicherte mich, daß über kurz oder lang die englische Kohle die deutsche (oder war es umgekehrt?) vom Markt verdrängen werde. Der Kommerzienrat, zu meiner Verwunderung, nahm an diesen Gesprächen nicht nur teil, als ob es niemals einen Spinoza gegeben habe, sondern wurde augenscheinlich von allen als eine Autorität betrachtet. Nur einmal wurde die Unterhaltung allgemein. Vielmehr der Kommerzienrat ergriff das Wort und gab in längerer Rede seine Ansicht über die politische Lage: daß es trotz unsrer teilweisen Mobilmachung nicht zum Kriege mit Frankreich kommen, der Kaiser Napoleon vielmehr, nachdem er ein paar Vorteile errungen, sein Projekt fallen lassen und Frieden schließen werde. – Leider verstehe ich von diesen Dingen ebenso wenig, wie vom Kohlengeschäft. –

Nach Tisch, da der Abend sehr mild war, wurde auf der Veranda der Kaffee eingenommen. Der Blick in den Garten wunderlieblich. Über den Bäumen, die jetzt ihr volles Laub haben, stand an dem grünblauen Himmel die goldene Mondessichel. Von den Wiesen (sprich: lawns) kam ein würziger Duft. Die Gesellschaft hatte sich geteilt: links auf der Veranda saßen die Herren und rauchten; rechts die Damen, die sich ausschließlich von ihren Kindern und Köchinnen unterhielten. Dazwischen schrie manchmal ein Pfau, der auf einen benachbarten 150 Baum geflogen war. Das machte sich sehr drollig. Sonst war es »zum Auswachsen«, wie mein Schwager, Herr von Dillingen, sagen würde.

Auf der Nachhausefahrt (im offenen Landauer) fragte mich der Kommerzienrat:

Nun, Antoinette, wie sehr haben wir uns denn gelangweilt?

Rechtschaffen, Herr Kommerzienrat. Das einzige, was mich interessiert hat, war Ihre Auseinandersetzung über den Krieg.

Ei, ei! Also auch Politikerin!

Nein, ganz und gar nicht.

Ich darf mich auch keinen Politiker nennen. Aber ich kenne so leidlich die Menschen und die menschlichen Dinge. Das reime ich mir denn für den gegebenen Fall zusammen; und, es ist wahr: meistens, oder doch oft kommt es so, wie ich es mir gedacht habe. Im Gegensatz zu meinem Sohn Philipp, der ein großer Politiker vor dem Herrn ist, nur daß für gewöhnlich seine Voraussagungen nicht in Erfüllung gehen. – –

Herr Philipp, Herr Philipp! Ein Geschäftsmann sind Sie nicht; mit Ihrer Politik scheint es auch nur schwach bestellt! Das thut mir leid. Der »schöne Mann« allein thut's doch nicht. – Wenigstens nicht bei mir.


Also Onkel Max wirklich pensioniert! Die Geschichte mit dem Burschen soll ihm »den Hals gebrochen« haben, wie Lida sich ebenso geschmack-, wie pietätvoll ausdrückt. Um sich von dem Diebstahl zu reinigen, dessen ihn Tante und (auf ihren Befehl) Onkel beschuldigten, hat er sich auf den zweiten Burschen und die andern Dienstboten berufen, wobei die sonderbarsten Dinge zur Sprache 151 gekommen sein sollen. Kurz, Onkel, der »schon lange wackelte«, ist nicht länger zu halten gewesen – versicherte Dillingens Onkel im Militärkabinett, der es allerdings wissen muß. Selbst den Titel General bei der Verabschiedung herauszudrücken, hat große Mühe gekostet. Ach, wie so recht hatte Professor R., wenn er den Geiz das schmutzigste aller Laster nannte. Das hat Tante Anna nun von ihrer Pfennigfuchserei! Der arme Onkel! Er könnte einem leid thun, wäre er nicht ein so jämmerlicher Pantoffelheld. Daß so wenige Männer Männer sind! Es ist schrecklich!

Übrigens werden sie nach Görlitz ziehen, wo wegen der Billigkeit sehr viele pensionierte Offiziere leben sollen.

Dafür ist Dillingen nun endlich Premier und bleibt in D. »Natürlich haben wir jetzt größere Ausgaben, und da wäre es so lieb von dir, wenn du uns die Zinsen von dem Gelde, das du zu unsrer Kaution zugeschossen hast, ließest. Hundertsechzig Thaler mehr oder weniger spielen ja für dich keine Rolle. Du bist jetzt in einem so reichen Hause, wo du gewiß alles im Überfluß hast. Für uns sind sie eine große Sache. Wir müssen uns so furchtbar einschränken, und Otto ist doch so an ein gutes Leben gewöhnt.«

Es kommt mir sehr ungelegen. Freilich, ich habe hier gar keine, so gut wie gar keine Ausgaben; aber ich war entschlossen, das große Gehalt, das mir der Kommerzienrat aufgedrungen hat, nicht anzurühren, da ich gar nichts dafür leiste. und es ihm später zurück, oder, wenn er es nicht wieder nehmen will, an die Armen der Frau Kommerzienrat zu geben. Was soll ich thun? Ich möchte ihr schreiben, ob Dillingen nicht besser thäte, etwas 152 weniger »gut zu leben«. Aber das bringe ich nicht fertig. Also –

Herr v. R. ist seit einem Monat von seiner Orientreise zurück; hat sein Atelier in D. aufgegeben, sich ganz nach Köln zurückgezogen und – sich mit einer Patriziertochter verlobt, die »noch reicher ist, als er!« Und ich Schaf hätte beinahe an seine sogenannte Liebe geglaubt und aus lauter Mitleid ja gesagt! Wir Mädchen sind zu dumm; aber diese Männer sind einfach verächtlich.

 
5. Juni.

Den Kommerzienrat nehme ich aus. Ich liebe und bewundere ihn von Tag zu Tag mehr. Besonders das Verhältnis zu seiner Frau finde ich geradezu ideal. Sie ist doch wahrlich nichts weniger als was man für gewöhnlich liebenswürdig nennt. In ihrem fahrigen Wesen ist so wenig Anmut. Und man muß sie einmal auf der Straße bei Regenwetter gesehen haben: hoch aufgeschürzt, daß man von den dünnen Beinchen mehr sieht, als schön ist; ein ausgefranstes Tuch um die mageren Schultern; einen zerknüllten Hut schief auf dem Kopf mit den grauen Haaren; in der einen Hand einen großen Beutel, in der andern einen Schirm von zweifelhafter Farbe und unzweifelhafter Verbrauchtheit! Die ganze Stadt kennt sie, und Frau Schmitz deutet an, daß man sie nicht für vollkommen zurechnungsfähig hält. Mit der Polizei steht sie sich nicht gut; aber man läßt sie gewähren, weil sie doch so sehr viel für die Armen thut, die sie, wie sich denken läßt, auf das höchste verehren.

Und nun muß man den Kommerzienrat über sie sprechen hören!

Noch gestern abend!

Sie blieb so lange aus, daß er anfing ängstlich 153 zu werden, da auch das Wetter sehr schlimm war und immer schlimmer wurde. Ihr Leute oder gar den Wagen nachschicken, ging nicht an – wer konnte wissen, wo sie steckte! Der Kommerzienrat lief unruhig im Zimmer hin und her, etwas von Unvorsichtigkeit, Unverstand murmelnd. Und dann, als ob er sich mit seinem Schelten an ihr versündigt habe und es sofort wieder gut machen müsse, fand er die schönsten Worte, sie zu loben und zu preisen. Glauben Sie mir, rief er, wenn ich ein halbwegs guter Mensch bin, ihr verdanke ich es, nur ihr. Sie ist mein besseres Ich; sie ist mein Gewissen. Für sie existiert kein Trug; sie ist die Wahrhaftigkeit selbst; so kann man in ihrer Nähe nicht anders als ehrlich und wahr sein. Ich gebe zu, sie erscheint manchmal unverbindlich, unhöflich; aber Verbindlichkeit und Höflichkeit sind sehr geringfügige Tugenden im Vergleich mit der Gerechtigkeit. Sie ist gerecht, das heißt: sie hat das Höchste erreicht, wozu der Mensch es bringen kann. Denn die Gerechtigkeit ist die Tugend aller Tugenden; um sie wirklich üben zu können, muß man im Besitz aller andern; muß mäßig, vor- und umsichtig, geduldig, vor allem aber tapfer sein. Irdische Hoheit darf einem nichts gelten und man muß den Mut haben, die Sache der Kleinen und Geringen, der Armen und Elenden gegen die Mächtigen und Reichen zu führen. –

Er sagte so noch mehr, was mir nicht wieder einfallen will. Aber wenn er sich seine Angst wegsprechen wollte, so gelang es ihm nicht. Fortwährend lief er nach dem Fenster, auf die dunkle Straße zu starren, durch die Sturm und Regen peitschten.

Endlich kam sie. Wie er ihr bis auf den Hausflur entgegenlief, ihr selbst das nasse Tuch 154 abnahm, sie halblaut zärtlich schalt, dann wieder umarmte und küßte, und sie lachend abwehrte: Was hast du nur heute, du großes Kind? Geglaubt, deine Alte werde dir abhanden kommen? Das hätte dir wohl gepaßt – mir sind dabei die Augen übergegangen.

 
7. Juni.

Heute eine merkwürdige Unterredung mit Frau Kommerzienrat gehabt. Ich erzählte ihr, wie sehr sich der Kommerzienrat gestern um sie geängstigt habe. Sie lachte und sagte: Na, na, Kind! tragen Sie die Farben nur nicht so stark auf! An mir ist nichts mehr zu bessern. Übrigens: es ist nicht meine Schuld, daß mein Mann so weichmütig ist. Das kommt von seinem Pantheismus.

Ich fragte, wie sie das meine?

Das meine ich so: Wenn man Gott überall sehen will, kommt man schließlich dahin, daß man ihn nirgends mehr sieht: in seiner Kraft und Herrlichkeit, wie ihn die Propheten gesehen haben und wie wir schwächere Menschen ihn erst recht sehen müssen, sollen wir den Mut zum Leben nicht verlieren. Ich glaube an den alten Gott meiner Väter, bloß daß er nicht mehr so zornwütig ist. Er hat es nicht mehr nötig; die Menschen sind zahmer geworden und vertragen schon ein bißchen mehr Güte. Darum ist er aber immer noch ein eifriger Gott, und spotten läßt er sich heut so wenig, wie vor tausend und tausend Jahren. Das darf er auch nicht, sonst schlafen ihm von seinen Menschen die Schlaffen und Faulen vollends ein, und die Energischen und Rührigen werden ganz übermütig. Das ist mein Glaubensbekenntnis. Sehen Sie zu, was Sie daraus machen können. Ich befinde mich wohl dabei; aber eine Medizin paßt nicht für alle. 155 So habe ich auch nichts dagegen gehabt, als mein Jüngster durchaus getauft sein wollte. Ich dachte, hilft es nicht, so schadet es auch nicht; schließlich schafft sich doch jeder Gott nach seinem Bilde. Jetzt thut es mir doch leid, wenigstens möchte ich, das Experiment wäre umgekehrt angestellt. Arthur ist ein ausgesprochener Egoist, dem hätte eine tüchtige Portion Nächstenliebe, aus der sie im Christentum so viel Wesens machen, vielleicht ganz gut gethan; Philipp ist eine weiche Natur, und so wäre er wohl besser Jude geblieben. Was ein Stahlbad für den Leib, ist für den Geist das Judentum. – –

Offen gestanden: die religiösen Ansichten der Frau Kommerzienrat sind mir etwas konfus vorgekommen. Wenn sich jeder Gott nach seinem Bilde schafft, ist es doch ganz gleich, in welcher Religion man uns erzieht. So würde denn auch der Egoist im Christentum Egoist bleiben, und die weiche Natur im Judentum nicht hart werden. Wofür Frau Kommerzienrat an ihrem Gatten das beste Beispiel hätte. Also Philipp (entschuldigen Sie, mein Herr, daß ich Sie hier so sans gêne bei Ihrem Vornamen nenne!) eine weiche Natur! Jane sagt: No business-man. Kommt vermutlich auf dasselbe hinaus. Aber einer, der kein business-man ist, könnte doch wohl ein Mann sein (was ich darunter verstehe). Und nach Ihrer Photographie würde ich Sie entschieden für einen halten. Nur die »weiche Natur« macht mich wieder bedenklich. Schade! Ich möchte so gern einen richtigen Mann kennen lernen, den ich lieben müßte.


Hier ist eine Lücke in meinem Tagebuche, die über mehrere Monate geht. Des ersten Grundes 156 der Unterbrechung erinnere ich mich genau. Frau Kommerzienrat hatte sich an jenem Regen- und Sturmabend eine schwere Erkältung zugezogen, gegen die sie ein paar Tage in ihrer tapferen Weise ankämpfte, bis sie sich mit einem heftigen Schüttelfrost zu Bett legen mußte. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nicht krank gewesen und wunderte sich höchlichst, daß ihr das »auf ihre alten Tage« passieren sollte. Auch wurde es glücklicherweise nicht schlimm; aber vor der Hand konnte sie an Ausübung ihrer gewohnten Thätigkeit nicht denken und geriet darüber fast in Verzweiflung. Was nun aus ihren Schützlingen werden solle? Ich hatte mir von Anfang an nicht nehmen lassen, sie zu pflegen, und mußte mich wohl anstellig dabei gezeigt haben. Denn als es nach etwa einer Woche besser mit ihr ging, sie wohl aus dem Bett, aber nicht aus dem Zimmer durfte, und ich, ihre leidenschaftliche Ungeduld zu beschwichtigen, mich erbot, nach ihren Kranken zu sehen, willigte sie ohne weiteres ein. Mit den nötigen Adressen und Instruktionen versehen, machte ich mich auf den Weg, ohne eigentlich etwas anderes zu empfinden, als Neugier, wie ich mich aus dieser Affaire ziehen würde. Aber diese kindische Regung erstarb sehr bald in dem tiefen Interesse, das mir die übernommene Aufgabe einflößte. War es Zufall oder eine Folge der schönen Jahreszeit – ich fand keine Schwerkranken auf meinem Rundgang, aber so viel Elend, Sorge und Kummer, daß ich mit einem tieftraurigen Herzen nach Hause kam. Ich ließ es mir nicht merken, erstattete ruhig meinen Bericht, machte Vorschläge, wie hier oder dort noch anders zu helfen sei; und war nicht wenig stolz, als zuletzt Frau Kommerzienrat mich mit den Worten in die Arme schloß: Antoinette, Sie sind ein Prachtmädchen! Ich muß Ihnen einen Kuß geben.

Von diesem Tage an datiert die innige 157 Freundschaft, die mich mit der alten Frau bis zu ihrem nur zu bald erfolgenden Tod verband. Es ist nicht ihre Schuld, wenn – doch ich muß der Reihe nach erzählen, sollen sich jetzt nicht Empfindungen und Gedanken, die ich damals nicht hatte und haben konnte, mit dem vermischen, was ich nachträglich über die betreffenden Ereignisse und Menschen gedacht und empfunden habe. Aber hier eine reinliche Scheidung zu bewirken und so den Lauf meines Lebens, nicht, wie es, ließ man die Phantasie das Geschäft besorgen, hätte sein können, sondern wie es in Wirklichkeit gewesen ist, zu überblicken – ohne nachträgliche Wenn- und Aber-Weisheit, die so billig und so nutzlos ist – das war doch die Absicht, mit der ich an diese Aufzeichnungen gegangen bin.

Ein zweiter Grund, weshalb mein Tagebuch hier schweigt, mag dieser sein: die Situation, in der ich mich befand, hatte den Reiz der Neuheit für mich verloren; und wie der Mensch einmal geartet ist, daß er das Gute als selbstverständlich hinnimmt und nur über das Schlimme, mit dem er heimgesucht wird, in beredte Klagen ausbricht, hatte ich jetzt gewiß keine Veranlassung, besonders schreibselig zu sein. Wäre »ein glücklicher Mensch« nicht so etwas wie eine contradictio in adjecto, ich hätte mich sogar glücklich nennen dürfen. Hatte ich zu dem Kommerzienrat von Anfang an wie zu einem Vater hinaufgeblickt, verehrte ich jetzt in seiner Frau eine trefflichste Mutter, wie ich es seiner Zeit im Kloster mit Chère Mère gethan. Und doch in ganz anderer Weise. Chère Mère in ihrer unvergleichlichen Güte, der nie durch ein kleinstes Wölkchen getrübten Reinheit ihrer schönen Seele hatte doch zu hoch über dem halberwachsenen Mädchen gestanden, als daß der Respekt die Vertraulichkeit nicht hätte ausschließen sollen. Diese temperamentvolle Frau, die bei ihren raschen 158 Entschlüssen oft genug in ihren Zielen irrte, in der Wahl ihrer Mittel fehlgriff, dessen auch gar kein Hehl hatte, sondern in Freud und Leid ihr Herz stets auf der Zunge trug, forderte geradewegs zur vollsten Intimität heraus. Sie sagte es selbst: entweder traue ich einem Menschen ganz, oder gar nicht. Mir traute sie ganz, wie ich ihr; nur daß ich nicht ihre fromme Naivetät hatte, sondern mit einer gewissen Schlangenklugheit einen nicht kleinen Teil meiner Gedanken für mich behielt. Zum Beispiel in Bezug auf ihre Samariterthätigkeit, bei der ich treulich nach besten Kräften half, ohne mich überzeugen zu können, daß nicht alles auf das Schöpfen in ein Danaidenfaß hinauslaufe. Nicht sowohl wegen der Überfülle des Elends, dem abgeholfen werden sollte, sondern wegen der Hilfsmethode, die mir durchaus unzulänglich schien, ohne daß ich hätte sagen können, wie dem abzuhelfen sei.

Gegen den Kommerzienrat war ich weniger reserviert. In der Weite seines geistigen Horizontes bewegte man sich mit so viel größerer Freiheit; und wenn, was nicht selten geschah, unsre Ansichten auseinandergingen, handelte es sich immer um theoretische Dinge, über die sich gewaltig streiten läßt, ohne daß ein Stachel in der Seele der Streitenden zurückbleibt. So zog ich bei unsrer gemeinsamen Lektüre, die wir eifrig fortsetzten des Abends, wenn Frau Kommerzienrat allein, oder mit ihren Freunden musizierte, im Widerspruch mit ihm, Dickens weit dem Thackeray und beiden Lord Byron und allen dreien Shakespeare vor, in welchem ich den Poet der Poeten sah, während der Spinozist sich von der Gewaltsamkeit, mit der der Titan die von dem Feueratem der eignen Seele erfüllten Geister seiner Menschen aufeinanderplatzen läßt, vielmehr abgestoßen als angezogen fühlte.

Auch sein Lieblingsphilosoph wollte mir auf die 159 Dauer immer weniger genügen. Sein Begriff der Substanz, aus welchem er doch alles ableitet, war und blieb mir ein willkürlicher, bei dem immer als existierend und bewiesen vorausgesetzt wurde, dessen Existenz erst zu beweisen war. Auch erklärte ich es für reine Spiegelfechterei, die handgreiflichen Unvollkommenheiten und das viele und fürchterliche Böse der Welt in der Substanz, die dann wieder als Gott figuriert, ausgeglichen zu sehen, wenn wir Menschen daran und darüber zu Grunde gingen. Und wenn das nicht in Abrede zu stellen, wie könne dann das »Sich-selbst-bewahren« als höchste Pflicht gepriesen werden? Als ob wir in der Praxis dieser Theorie nicht – wir möchten nun wollen, oder nicht – neben dem bißchen Guten, das uns inne wohne, auch ebenso das viele Schlechte und Böse mitbewahren müßten! Da lobe ich mir doch Schopenhauer, der die Welt aus dem Willen zum Leben hervorgehen lasse, wenn er auch hinterher mit mephistophelischer Weisheit herausfinde, daß alles, was entstehe, wert sei, daß es zu Grunde gehe.

Der Kommerzienrat wollte von Schopenhauer, trotzdem er mir dessen Studium selbst empfohlen hatte, nichts wissen. Er meinte: was bei ihm gut sei, sei nicht neu, denn es stehe bereits im Spinoza; und was neu sei, sei alles andere, nur nicht gut. In erster Linie seine Forderung der Willensverneinung, deren Geschäfte zwar nicht der Intellekt, wie er verlange, sondern der Tod, den er so gründlich haßte, besorge; und die dennoch, die Thatkraft der Menschen, welche dem thörichten Gedanken nachgrübelten, lähmend, als ein verderbliches Gift wirke.

Ich aber trank zu dieser Zeit abwechselnd aus den beiden Quellen, die der Weise von Frankfurt mir erschlossen; freilich mit weitaus volleren, gierigeren Zügen aus der hellen der Bejahung, als aus der 160 düsteren der Verneinung. Die Natur, die so lange scheu in mir gezögert, forderte endlich ungestüm ihre Rechte. Alles um mich her lebte, liebte; ich wollte es auch. Und was war denn mein Leben? Ein geschäftiger Müßiggang! Mein Lieben? eine kindliche Verehrung der beiden guten alten Leute! Es mußte auch für mich ein anderes iutensiveres, farbenreicheres Leben und Lieben geben. Aber wie? aber wo? Ich war doch nun einmal kein Knabe, wie mein Vater gewünscht hatte, und ich selber früher so oft in jüngeren Jahren, wenn mir dies und das versagt und verboten war, was den Knaben freistand. Ich hatte mich darein gefunden, ein Mädchen, ein Weib zu sein. Ich wollte es ganz sein. Und wie die Dinge damals lagen, wo die Frauenemanzipation, von der heute so viel geredet wird und für die so manches geschieht, erst eine nur hier und da scheu aufgeworfene Frage war, – ein Mädchen, das den Eingang zu einem Leben suchte, in welchem es seine Kraft, siegend oder untergehend, erproben und bethätigen konnte, fand keinen andern als die Heirat. Ja, wenn ich ein ausgesprochenes Talent zu irgend einer Kunst in mir gespürt hätte! Ich war klug genug, mich darüber nicht zu täuschen: ich besaß keines; nicht einmal, schien es, das alltägliche: einen Mann, den ich an mich gezogen, festzuhalten. Dessen konnten sich doch wenigstens die andern rühmen: meine Schwester Lida, Carola, die ein Baby erwartete, Adele, die auf dem Punkte stand, sich mit einem Freunde des prinzlichen Hauses zu verloben; Grete Wesselhöfft, die, kaum aus dem Kloster heraus, einen westfälischen Magnaten geheiratet hatte. Und wie weit hatte ich mich über sie alle erhaben gedünkt! wie oft mir Professor R. versichert, ich sei unter den andern wie ein Edelfalke unter Dohlen und Krähen!

Dann, hatte ich mich so in Lebenssturm und 161 Thatendrang hineinphantasiert, kam der Rückschlag, und ich wandte mich von der Bejahungs- zur Entsagungsquelle. War es vielleicht das Los des Edelfalken, einsam zu sein? Und diese Einsamkeit nicht auch das bessere Los? Oder hatte ich, soweit meine Erfahrung reichte, eine Ehe beobachtet, in der ich hätte leben mögen? Freilich, der Kommerzienrat und seine Frau! Aber das waren alte Leute, in deren Empfindungen ich mich nur mühsam hineindenken konnte. Und die übrigen? Die Ehe des Professors? Mochte der Himmel jeden vor solchem Graus bewahren! Lida und ihr Dillingen? Dazu gehörte, daß man hätte albern können, wie sie. Carola und ihr Prinz? Wer gern tanzt, dem ist leicht aufgespielt! Jane und Arthur? Ich hatte da bereits Scenen erlebt, die ich zwischen gebildeten Menschen für unmöglich gehalten, geschweige denn unter Eheleuten. Wer bürgte mir dafür, daß ich es besser treffen würde? Den Traum von meinem Ritter hatte ich nicht zum dritten Male geträumt; er würde sich also nicht erfüllen. Und überhaupt: es gab keine Ritter außer in der Phantasie von Kloster- und sonstigen Pensionärinnen; in der Wirklichkeit konnte es sich nur um Durchschnittsmänner handeln, bei denen es auf ein bißchen Verstand, Herzensgüte, Ehre und Treue mehr oder weniger so viel eben nicht ankam.

So denn nur die bange Wahl: ledig bleiben, oder das Banausentum der Ehe entsagungsvoll über sich ergehen lassen.

Es sollte nicht lange dauern, und ich sah mich vor die bange Wahl gestellt.


Von dem Berliner Philipp war in der Familie nicht eben häufig die Rede. Der Kommerzienrat 162 schien zu ihm keine anderen Beziehungen zu haben als geschäftliche, und von Geschäften sprach er zu Hause grundsätzlich nicht. Der Mutter, nahm ich an, so wenig sie aus ihrem Judentum machte, hatte er sich durch seinen Übertritt zum Christentum entfremdet. Öfter sprach sein Bruder Arthur von ihm, stets in wenig brüderlicher Weise. Nach seiner Ansicht verstand er von Geschäften »nicht die blasse Bohne«; hatte aber freilich einen »kolossalen Turkel«, so daß ihm jedes Unternehmen einschlug, wenn es auch in den Augen eines vernünftigen Kaufmanns manchmal »der helle Blödsinn« war. Ich hatte Arthur in Verdacht, daß dergleichen herabsetzende Reden ihm von der Eifersucht diktiert wurden. Jane machte in ihrer naiv-täppischen Weise aus ihrer Bewunderung des schönen Schwagers kein Hehl und reizte dadurch ihren Gatten, der seinem Ärger dann in dergleichen bitteren Sarkasmen freien Lauf ließ, oder unfeinen Ausfällen gegen sie selbst, die sie in ihrem Phlegma nicht zu empfinden schien, höchstens mit der Bemerkung erwiderte, daß er trotz seines dreijährigen Aufenthalts in London noch immer nicht Englisch gelernt habe.

Ich aber, die ich nun schon über ein Vierteljahr in der Familie lebte, hatte das vielgescholtene und vielbewunderte Original zu der Photographie auf Janes Schreibtisch noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen.

Mein Wunsch, ihn persönlich kennen zu lernen, war lebhafter, als ich mir selbst eingestanden haben würde.

Da komme ich eines Abends von einem Nachmittagsbesuch bei Jane nach Hause, und unser alter Diener Friedrich, der mir auf dem Flur begegnet, teilt mir mit, daß der junge Herr aus Berlin vor einer Stunde ganz unerwartet eingetroffen, jetzt bei dem Herrn Kommerzienrat sei, und heute eine halbe 163 Stunde später gegessen werden solle. Es könne auch eine ganze werden: die Herren schienen sehr wichtige Dinge vorzuhaben. Es müsse alles ganz plötzlich gekommen sein; der junge Herr hätte sich sonst sicher vorher angemeldet.

Mir schlug bei dieser Meldung das Herz. Zu meinem wirklichen Erstaunen. Ich wollte mir erst einreden: vor Schrecken. Konnte da doch etwas Unangenehmes, Schlimmes sich ereignet haben: ein großer pekuniärer Verlust, oder dergleichen! Noch heute nachmittag hatte sich Arthur mit harten Worten über die geschäftliche Unfähigkeit des Bruders ausgelassen! Als ich aber auf meinem Zimmer ohne einen plausiblen Grund das Kleid, das ich anhatte, mit einem andern vertauschte, von dem Jane – meine Autorität in Toilettesachen – behauptete, daß es mir besonders gut stehe, und, vor dem Spiegel sitzend, mein dichtes Haar in eine besonders sorgfältige Frisur brachte, dabei fortwährend aufmerksam nachdenklich mein Gesicht betrachtend, mußte ich plötzlich hell auflachen. Der kleine Schrecken unten, die bei mir so ungewöhnliche große Sorge um meine werte Erscheinung – sie hatten dieselbe Ursache: ich wollte auf Janes schönen Schwager einen bedeutenden Eindruck machen!

Wenn das nicht zum Lachen war! Was ging er mich, was ich ihn an! Er hatte seine Zahlen im Kopf, und ich war ja wohl mit mir darüber einig, daß es nur im Traume Ritter gab und die Banausen der Wirklichkeit mich nichts angingen.

Als ich mich in diesen wackeren Gesinnungen gestärkt und etwas Violet de Parme – mein Lieblingsparfüm – ein Geschenk Janes – auf mein Taschentuch gegossen, ging ich hinab. Es war der Musikabend von Frau Kommerzienrat; nur hatte sich heute zu dem Violinisten und dem Herrn mit der Bratsche ein Cellist gesellt, der so hin und wieder 164 bei uns eine Gastrolle gab: ein noch jüngerer Mann, besonderer Günstling der Frau Kommerzienrat und auch von mir wohlgelitten. Nicht wegen seines vorzüglichen Spiels – von dem ich nichts verstand – sondern seiner drolligen Einfälle und seines eminenten Talentes, kleine Soloscenen ohne jegliche Requisiten mit wundervollem Humor und einer mimischen Kunst vorzuführen, die einem großen Schauspieler Ehre gemacht haben würde.

Ich hatte mich still in eine Ecke gesetzt. Gegen meine Gewohnheit interessierte mich die Musik, welche dem Cello eine besonders große Rolle zuteilte. Dann dachte ich darüber nach, wie es möglich sei, daß jemand, der seinem Instrument so wundervolle, rührende Töne zu entlocken verstand, die mir – der Unmusikalischen – Thränen in die Augen lockten, ein anderes Mal Narrenspossen treiben könne, über die man sich vor Lachen ausschütten mußte. Darüber hatte ich ihn, für den ich mich geputzt, völlig vergessen, bis die letzten Töne des Quartetts verklungen waren, die Thür nach dem Speisezimmer geöffnet wurde, und er hinter seinem Vater hereintrat.

Eine Enttäuschung: keine volle, aber doch halbe.

Zuerst: ich hatte ihn mir jünger vorgestellt, vermutlich, weil die Dienstleute – wie vorhin noch der alte Friedrich – stets von dem »jungen Herrn« sprachen; aber auch ohne das hätte ihm wohl jeder statt seiner neunundzwanzig Jahre mindestens fünfunddreißig gegeben. Und die von Jane so bewunderte Schönheit? Nun, Männer mit starkem Haar- und Bartwuchs pflegen in der Photographie immer besser wegzukommen, als andre, die mit dieser Zierde nicht prunken können. Immerhin blieb er eine auffallende Erscheinung mit dem, unwillkürlich an einen Löwenkopf erinnernden, stattlichen Haupt, das er, wie sein Vater, etwas vornübergebeugt trug. Auch in der, das 165 Durchschnittsmaß überragenden Größe glichen sie sich. Die Augen hatte ich mir ganz anders gedacht. Sie waren, oder schienen mir doch, eher klein als groß; nicht eben lebhaft, und hatten die Neigung, besonders, wenn er mit jemand sprach, auf die Seite zu blicken, so daß man den Eindruck hatte, als schiele er, was aber nicht der Fall war.

Ich hatte Zeit, diese Beobachtungen zu machen, während er mir und den Herren Musikern vorgestellt wurde. Dann ging es zu Tisch, wobei der Herr mit der Bratsche Frau Kommerzienrat und er mir den Arm bot. Auf meine linke Seite kam der Cellist zu sitzen.

Die Mahlzeit verlief sehr vergnügt. Mein Cellist übertraf sich heute abend selbst. Er sprudelte nur so von drolligen Einfällen, Witzworten – meistens Wortwitzen, die ich eigentlich nicht leiden konnte; aber er wußte sie so geschickt anzubringen – und amüsanten Stadtklatschgeschichten, deren er immer eine Menge bereit hatte. Es wurde viel gelacht, besonders von Frau Kommerzienrat, die für Humor einen ausgesprochenen Sinn und sympathetisches Verständnis besaß.

Mein Nachbar zur Rechten lachte am wenigsten. Vielmehr: er lachte gar nicht, lächelte nur hin und wieder in seinen großen Bart hinein. Als sage er bei sich: seltsame Leute, die an dergleichen Vergnügen finden. Ich fand das hochmütig, ja, ich fand es dumm. Nach meiner Ansicht gehörte es sich für einen klugen Menschen, daß er über wirklich Komisches mit einem herzlichen Lachen quittierte. Auch sonst war der Mann ein stiller Gast. Nur einmal, als ein Wort über Politik fiel, das er sogleich aufgriff, ging er aus sich heraus, aber in einer Weise, die mir gründlich mißfiel: in einem oratorisch-pathetischen Ton, der 166 mir in dieser harmlosen, durchaus unpolitischen kleinen Gesellschaft möglichst wenig angebracht schien.

Nach Tische gab der Cellist einige seiner Stücke zum besten, besonders eines, das hinter einer Thür spielte; vielmehr durch eine Thürritze, die sich fortwährend ein wenig öffnet und ebenso oft wieder geschlossen wird: ein verspäteter Theatergast, der sich vergebens in ein bis an den Rand gefülltes Stehparterre zu drängen sucht; von denen drinnen, die nicht Platz machen wollen oder können, stets zurückgewiesen wird, bis er sich, nach vielen durch die Ritze gerufenen: Aber, meine Herren – aber ich muß doch bitten – so etwas ist mir – den Eingang glücklich erzwingt.

Ich hatte das Stückchen schon einmal mit großem Behagen gesehen und den Künstler speziell um eine Wiederholung gebeten. Diesmal lachte ich nur aus Höflichkeit. Der »Komthur« – so hatte ich Herrn Philipp bereits im stillen getauft – hatte mir die Laune verdorben. Sie wiederzugewinnen, reizte ich mich zu einer Lustigkeit, die ich keineswegs empfand, und die deshalb in scheinbaren Übermut ausartete. Worüber ich mich denn abermals und noch gründlicher ärgerte, zumal sich das ernste Gesicht des Komthurs nun vollends zu versteinern schien.

Als ich dann auf meinem Zimmer war, mein Lieblingskleid mehr abriß als auszog, in meinem Haar bis zum Schmerz ungeschickt herumwühlte und meinem Bilde im Spiegel die verdrießlichsten Gesichter schnitt, mußte ich die Zähne zusammenbeißen, um nicht in Weinen auszubrechen.

Bevor ich einschlief, war ich mit meinem Urteil fertig: Herr Philipp Bielefelder war nichts weniger als schön, ohne Geist, ohne eine Spur von Humor, pedantisch, unliebenswürdig – mit einem Worte: abscheulich.

An diesem unerfreulichen Resultat änderte der 167 nächste Tag – der einzige, den er noch in D. blieb – nichts. Konnte es auch nicht wohl, da ich den Gegenstand meiner Ungnade kaum zu Gesicht bekam. Am Vormittag wieder eine lange Konferenz mit dem Kommerzienrat – es handelte sich, wie ich nachher erfuhr, um ein sehr bedeutendes Geldgeschäft, das Philipp vorgeschlagen hatte, aber ohne den Konsens des Vaters nicht ausführen konnte – dann Börse. Dann Mittagessen draußen in der Villa bei Arthur. Ich hatte mich gestern über mich gerade genug geärgert und war gar nicht sicher, daß ich mir heute, so oder so, abermals dazu Gelegenheit geben würde. Da blieb ich denn, unter dem Vorwand, Kopfschmerzen zu haben, lieber zu Hause und überließ Jane den »schönen Mann« zu weiterer Bewunderung.

Am Abend reiste er nach Berlin zurück.

Ich machte in Gedanken einen dicken Strich unter diese kurze Episode.

L'homme propose, Dieu dispose, meint der Franzose.

Der alte Homer: die Menschen sagten zwar, daß von den Göttern das Unheil komme, in Wahrheit aber bereiteten sie sich selbst in ihres Sinnes Thorheit die Leiden gegen das Geschick.


Ich war sonst in der Durchführung meiner Vorsätze und Entschlüsse von einer Festigkeit, auf die ich mir etwas zu gute that. So hätte es mich stutzig machen sollen, als meine Gedanken in den folgenden Wochen sich wieder und wieder ohne jede mir erfindliche Veranlassung mit dem Manne beschäftigten, den ich aus meinem Gedächtnisse hatte streichen wollen. Es ging mir mit ihm, wie mit einem Rätsel, das man hartnäckig zu lösen sich bemüht, trotzdem man sich sagt, es sei das Gleichgiltigste von der Welt, ob man 168 es löse, oder nicht. Wer eigentlich war dieser Mensch, der in der Konversation sich als so wenig ausgiebig erwies und doch ein glänzender Redner sein sollte? nach Aussage des sehr geschäftskundigen Bruders von Geschäften nichts verstand und dem jede Unternehmung einschlug? So gleich diese letzte, wegen der er nach D. gekommen war. Er hatte den Vorschlag zu einer Transaktion gemacht, bei der es sich um einen Gewinn von vielen Tausenden handelte, dem freilich ein Risiko von derselben Höhe gegenüberstand. Weder der Kommerzienrat noch Arthur hatten darauf eingehen wollen; der letztere die Sache eine Donquixoterie genannt, deren Autor ins Tollhaus gehöre. Damit war er abgereist, und ich konnte mir die Wolke deuten, die während seiner Anwesenheit über der Familie gehangen hatte. So dann hatte er erklärt, das Geschäft mit seinem eigenen Gelde machen zu wollen. Und schon nach wenigen Tagen kam die Nachricht, daß er das überaus gewagte Spiel gewonnen. Ich erfuhr es von Jane, die triumphierend hinzufügte: er war schon immer durch seine Privatspekulationen in einer guten Lage, now he is a very rich man indeed – und das wollte bei ihr, die jeden, der nicht über mindestens eine Million verfügte, für einen Bettler hielt, etwas sagen. Der Ärger, welchen ihrem Gatten der Erfolg des Bruders, den er so weit unter sich sah, bereitete, erhöhte ihre Freude. Aber auch mir ging die Sache, sowenig ich daran beteiligt war, fortwährend durch den Kopf. Das beweist mein Tagebuch, zu dem ich immer nur dann meine Zuflucht nahm, wenn mich irgend etwas innerlich besonders lebhaft beschäftigte.


Ich denke so oft darüber nach, wie der Mann beschaffen sein müßte, den ich lieben könnte. Ich 169 bringe es nicht heraus. Nur eines weiß ich sicher: er müßte tapfer sein.

* * *

Auch Tiere können tapfer sein – gewiß; aber es ist doch wohl nur eine untergeordnete Art von Tapferkeit. Die darauf hinausläuft, daß sie »ihr Selbst« (siehe Spinoza!) zu bewahren streben. Eine Löwin, die, ihr Junges zu verteidigen, den Jägern entgegenstürzt; eine Mutter, die ihr Kind zu retten, der hungrigen Löwin in den Rachen läuft. Die erstere weiß nicht, daß der Kampf wahrscheinlich, oder gewiß mit ihrem Untergange enden wird, die letztere weiß es. Darauf, scheint mir, kommt es an.

* * *

Ist ein Spieler tapfer, der alles auf eine Karte setzt? Schwerlich im großen Sinne: er hofft zu gewinnen. In einem gewissen Sinne aber doch wohl.

* * *

Jane sagt: Ph. war schon immer well up. Ein Akt der Verzweiflung ist also seine gewagte Spekulation nicht gewesen. Was aber dann? Ehrgeiz? Ist es denn eine Ehre, viel, sehr viel Geld zu besitzen?

* * *

Vielleicht keine Ehre, aber ein Mittel, sich frei ausleben zu können. Dazu möchte ich wohl reich sein.

* * *

Dazu muß man reich sein. Professor R.'s große Sehnsucht war Italien – er ist nie dahin gekommen. Von einem Universitätskatheder herab lehren zu dürfen, wie oft hat er mir davon 170 vorgeschwärmt, und – er blieb in das »Fegefeuer« seines Gymnasiums gebannt! Alles – ach! und noch viel mehr: sein ganzes verfehltes, verquältes Leben – sein tragisches Ende – nur, weil er arm war!

* * *

Adeles Programm der reichen Heirat ist am Ende so dumm und verächtlich nicht. Und wenn man den Mann, den man heiratet, wirklich liebte, wüßte ich nicht, was man dagegen sagen könnte. Aber »wirklich lieben« – da liegt's.

* * *

Janes Schwärmerei für Ph. fällt mir nachgerade recht auf die Nerven. Und dabei sagt sie selbst: er macht sich gar nichts aus mir. Wie sollte er auch? Man kann doch nur lieben, was »unser Sein« erhöht, ergänzt, komplettiert. Er z. B. eine Frau, die gesellschaftlich so gewandt wäre, wie er ungewandt ist; an seiner Stelle die Kosten der Unterhaltung trüge u. s. w.

* * *

Wie kommt es, daß schweigsame Menschen immer etwas Vornehmes haben? »Das arme Haus ist offen, das reiche zu« – lese ich in der Frithjofssage.

* * *

Es muß doch ein großer Fonds von Gedanken, Wissen, Empfinden in ihm sein. Habe die Rede gelesen, die er vorgestern in der Kammer gehalten hat. Ob sie mir, gehört, ebenso imponiert hätte? Er fällt so leicht in einen pathetischen Ton, den ich nun gar nicht goutiere. Frau Kommerzienrat 171 sagt: ich habe oft die Empfindung: »Ph. kommt zu seinen guten Reden, wie zu seinen kaufmännischen Erfolgen: er weiß nicht, wie.« – Aber, mehr als einmal habe ich von Professor R. gehört: Gerade dies Halbunbewußte, dies mit halbgeschlossenen Augen auf sein Ziel losgehen und es doch sicher erreichen, ist das ganz eigentliche Zeichen des Genies.

* * *

Zwei Naturen, die sich schärfer entgegengesetzt wären, als mein unglücklicher Lehrer und Ph. möchten kaum denkbar sein. Ich hätte Professor R. niemals lieben können, auch wenn er zwanzig Jahre jünger gewesen wäre, d. h. so alt, wie Ph. jetzt ist. Man sagt: Les extrêmes se touchent. Auch in ihren Wirkungen? Dann wäre ich davor sicher, mich in Ph. zu verlieben.

* * *

Den Glauben an eine Liebe, wie ich sie verstehe, habe ich ein für allemal aufgegeben. Und das Verliebtsein überlasse ich gern Mädchen, wie Carola oder Lida. Ich würde auch einen Mann hassen, oder – was noch schlimmer wäre – verachten, der in mich verliebt wäre. Sie sehen in dieser Verfassung zu albern aus und benehmen sich zu läppisch. Ph. vor mir auf den Knieen, wie – – horreur!

* * *

Aber davor bin ich sicher. Wer der launischen Göttin Fortuna ihre Gunst abtrotzen kann, kniet nicht vor einem sterblichen Mädchen. – – –


Indem ich diese Blätter, bevor sie meine gute Lent zu den Akten nimmt, überlese, drängt sich mir 172 zum andern Male die schmerzliche Betrachtung auf, wie wenig, wie so gar nicht eine gewisse geistige Frühreife und Charakterstärke – die man ihr, die sie schrieb, kaum wird absprechen können – vor den größten, verhängnisvollsten Irrtümern und Mißgriffen in der Praxis des Lebens schützen. Ja, daß jene scheinbar so Bevorzugten sich viel leichter in Schlingen fangen, an denen die Harmlosen glücklich vorüberkommen. Wenn wir der Natur folgen, werden wir niemals fehlgehen, sagt irgend ein alter römischer Weiser. Jene aber in dem hochmütigen Wahne, die Natur meistern zu können, haben nichts gethan, als die ursprünglich sicheren Instinkte zu trüben und zu fälschen. Da können denn die üblen Folgen nicht ausbleiben. –

Und eine zweite Bemerkung, für deren Richtigkeit ich mich wieder auf Meister Spinoza berufen kann:

Wenn uns die Handlungsweise eines Menschen in Anbetracht seines sonstigen Wesens und Charakters durchaus nicht erklärlich scheint; oder wir ihn in einer bestimmten Richtung sich bewegen sehen, die er, wie wir meinen, aus freiem Willen niemals eingeschlagen haben würde, so sprechen wir, im Ungewissen und Dunklen über die bewegenden Kräfte – die wir uns von außen stoßend denken, während sie doch zumeist aus seinem eigensten Selbst quillen – von einem Schicksal, das wir womöglich noch personifizieren und ihm eine Macht verleihen, der selbst die gewaltigen Götter sich fügen müssen, und der schwache Mensch nun schon gar nicht entgehen kann.

Aber ich gerate ins Philosophieren und will doch nur – with the veracity of an historian, sagt der alte ehrliche Vikar von Wakefield – eine Geschichte schreiben: meine Geschichte.


173 Es mochten seit Philipps erstem Besuche fünf Wochen vergangen sein, als er zum zweiten Male kam. Diesmal nicht unangemeldet, vielmehr nach langer, sorgfältiger Verabredung mit dem Vater.

Nach Philipps großem Coup, der sein Vermögen vielleicht auf gleiche Höhe mit dem des Kommerzienrats hob, hatte er den Wunsch ausgesprochen, sich völlig selbständig und aus der Filiale des Geschäftes in D., die sein Geschäft in Berlin gewesen war, ein eigenes Bankhaus zu machen. Der Vater, der das Verlangen gerechtfertigt fand, war dem Sohne durchaus entgegengekommen; ein freundwilliges Zusammenarbeiten der beiden Häuser bei gewissen Operationen in selbstverständliche Aussicht genommen. Die Neugestaltung der Dinge ermöglichte dem Kommerzienrat die Realisation eines längst gehegten Planes: die Errichtung eines Zweiggeschäftes seiner Bank in Brüssel. Dazu war aber seine persönliche Anwesenheit erforderlich; und so hatte man die Verabredung getroffen, daß er auf vorläufig acht Tage dorthin ging, während Philipp in D. blieb zu weiterer Ordnung der beiderseitigen Angelegenheiten.

Ein paar Stunden bereits nach seinem Eintreffen war der Kommerzienrat abgereist nach einem Abschied von seiner Frau, der von seiner Seite still und bewegt, von der ihren in ihrer gewohnten, etwas lärmenden Herzlichkeit war. Sie hätte ihren »Alten« gern begleitet; aber in ihrem Armensprengel gab es gerade jetzt im Hochsommer so viele kranke Kinder, wie sollte man da ohne sie fertig werden!

So bestand denn unsre Hausgenossenschaft nun aus ihr, Philipp und mir.

Ich hatte mir doch einige Sorge gemacht, wie sich das Leben unter uns dreien gestalten würde. Daß Mutter und Sohn wenig sympathisierten, wußte ich; und die Kommerzienrätin pflegte mit ihren 174 Gefühlen, sie mochten sein, wie sie wollten, nicht hinter dem Berge zu halten. Das war keine erfreuliche Perspektive. Andererseits empfand ich unserm Gaste gegenüber eine Befangenheit, die mir selbst unbegreiflich, und die doch erklärlich genug war: ein junges Mädchen darf über das Wesen eines Mannes nicht bereits viel gerätselt haben, wenn sie ihm ohne eine Spannung in der Herzgegend auch nur Guten Morgen und Guten Abend soll bieten können.

Aber es ließ sich alles sehr viel besser an, als ich zu hoffen gewagt. Die Kommerzienrätin war bei all ihrem fahrigen und manchmal burschikosen Wesen eine viel zu vornehme Natur, als daß sie die gastlichen Pflichten, deren Beobachtung ihr jetzt allein oblag, hätte vernachlässigen sollen; ich selbst hatte meine mir verwunderliche und ärgerliche Befangenheit bereits nach den ersten vierundzwanzig Stunden überwunden. Und wie hätte mir auch entgehen können, daß in dem geselligen Verkehr von uns beiden ich entschieden die gewandtere, sicherere war; und wenn es eine Scheu zu überwinden gab, nicht mir, sondern ihm die Aufgabe zufiel.

Übrigens war die Zeit des Beisammenseins karg genug gemessen. Tagsüber wurde unser Gast von den Geschäften vollauf in Anspruch genommen; selbst zu Mittag war er ein paarmal nicht erschienen, um sich den weiten Weg hin und zurück zu ersparen, und hatte sich lieber mit einem Frühstück in einem Restaurant der Innenstadt begnügt, das den Kontors benachbart war. So blieb für uns nur sein Abend; und da war dem von des Tages Arbeit Ermüdeten seine Schweigsamkeit nicht zu verargen. Das that auch Frau Kommerzienrat nicht; nur fand sie, worin ich ihr recht geben mußte, dies abendliche Beisammensein gründlich langweilig und suchte es dadurch abzukürzen. daß sie sich, was sie sonst nicht that, nach 175 Tisch noch einmal in das Musikzimmer zurückzog und ein paar weitere Stunden mit Feuereifer spielte. Es war damals gerade Wagners Stern im Aufgehen, in seinem Glanz noch stark verdunkelt von Wolken des Zweifels und Verständnismangels, aber doch schon hoch verehrt, ja angebetet von einer kleinen Schar Auserwählter. Zu ihnen gehörte Frau Kommerzienrat. Und eben war ein neues Werk des Meisters – ich weiß nicht mehr, welches – erschienen; das wollte durchstudiert, in der Fülle seiner Schönheiten gewürdigt sein.

Dagegen hatte ich gewiß nichts. Es war dabei nur der Übelstand, daß jetzt die Aufgabe, unsern Gast zu unterhalten, mir allein zufiel. Von ihrer Schwierigkeit ganz abgesehen, schien mir fraglich, ob nicht die Schicklichkeit einigermaßen in Gefahr geriet, wenn nun ein junges Mädchen sich zu einem mehr oder weniger langen tête-à-tête mit einem jungen Mann verurteilt sah. Ich verhehlte Frau Kommerzienrat meine Bedenken nach dieser Seite nicht; sie vermochte durchaus nicht in der durch ihren naiven Egoismus heraufbeschworenen Situation etwas Verfängliches zu erblicken. Seit wann ich denn zum Hasenpanier geschworen habe? Das sei doch sonst nicht meine Art. Wie lange es eigentlich dauern solle, bis ich mich als Kind in ihrem Hause fühle? Wäre es wirklich noch immer nicht der Fall, ihre Schuld sei es nicht. Nun, und ein Kind des Hauses werde doch wohl mit einem Sohne des Hauses auf ein paar Stunden allein gelassen werden können, ohne daß eines oder das andre dabei zu Schaden käme. Zu welchem? wenn ich die Güte haben wolle, ihr das zu sagen! Etwa, daß ich mich in ihn verliebte? Sie habe eine bessere Meinung von meinem Geschmack: eine Antoinette werde niemals mit einer Jane konkurrieren wollen. Oder umgekehrt Philipp sich in mich? Das wolle sie ihm von ganzem Herzen gönnen und wünschen. Was der Herr 176 Abgeordnete und Politiker dabei verlöre, werde dem Menschen zu gute kommen; und in dieser Richtung habe der Betreffende noch sehr viel nachzuholen.

Sie lachte dabei in ihrer vergnüglichen Weise, und ich mußte mitlachen. Sie hatte ja recht: ebensowohl hätten sich Kinder beim Spiel vor dem »schwarzen Mann« fürchten können.

Nun, es war nicht gerade spielend leicht, Philipp in der Bibliothek zu unterhalten, während, durch das dazwischenliegende Speisezimmer gedämpft, aus dem Musiksaal die Klänge von »O, du, mein holder Abendstern«, oder »Es giebt ein Glück, das ohne Reu«, zu uns herüberkamen. Glücklicherweise war mein Partner ebenso unmusikalisch, wie ich. Darin war er der Sohn seines Vaters; ja, dessen Gleichgiltigkeit gegen die Kunst der Töne war bei ihm zu richtiger Antipathie gesteigert.

Ich begreife nicht, sagte er, wie man sie die Kunst der Künste nennen kann; für mich steht sie auf der untersten Stufe: gut für Kinder und Träumer, aber nicht für sie, die sich zu handelnden Menschen ausgewachsen haben. Auch räumt ihr bekanntlich Plato in seiner Republik den schmalsten Platz ein. Und doch von den Alten ist gerade er es, welcher im Denken und Fühlen der christlichen Mystik, dieser eigentlichen Mutter der Musik, am nächsten steht.

Hatte ich die Unvorsichtigkeit begangen, bei seiner Erwähnung Platos eine etwas verwunderte Miene zu machen? Doch wohl; denn er fuhr fort, in seiner gewohnten Weise heimlich in den dichten Bart hineinlächelnd:

Ich bin nämlich nicht ganz so unwissend, wie der Durchschnittskaufmann. Es würde sich auch für einen Politiker nicht schicken. So ein Citat aus einem alten Klassiker ist immer ein guter Redeschmuck und imponiert manchen Leuten gewaltig. Übrigens bin 177 ich durch die Schule gelaufen, habe mein Abiturientenexamen gemacht, sogar anderthalb Jahr unter Welcker und Ritschl in Bonn Philologie studiert, bis ich, halb meinem Vater zu lieb, der eine Hilfe im Geschäft brauchte, halb in der Überzeugung, daß unsere Zeit ein größeres Bedürfnis nach Männern der Praxis als der Theorie habe, Kaufmann wurde. Aber das werden Sie ja alles wissen, sowenig auch in der Familie von mir und über mich gesprochen werden mag.

Mir schien, als ob wir hier auf ein unsicheres Gebiet gerieten. So fragte ich, um abzulenken, auch nicht eben geschickt:

Und welches war die Veranlassung, daß Sie zum Christentum übertraten? Das interessiert mich.

Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten, erwiderte er. Ich war damals zwölf oder dreizehn; und die Erinnerung an Seelenzustände in so jungen Jahren pflegt um so weniger hell zu sein, als die Zustände selbst sich nicht durch Klarheit auszeichnen. Ich weiß nur: ich hatte einen gleichaltrigen Freund, den ich leidenschaftlich liebte. Er war der Sohn eines Predigers und sehr fromm. Christus war sein zweites Wort; Christus nachzuleben, den Tod am Kreuz, womöglich, eingeschlossen, sein Ideal. Ich, der Jude, wollte, wie Sie sich denken können, zuerst nicht recht darauf eingehen; aber ich liebte ihn zu sehr, um ihm nicht jeden Gefallen zu thun. Und dann war in der Christenlehre doch etwas, ja, sogar sehr viel, das mich höchst sympathisch berührte. Oder, wenn nicht in der Lehre, so im Lehrer selbst. Es hieß von ihm: er redete gewaltig, und nicht wie die Schriftgelehrten. Nun war ich – Sie werden es nicht glauben – als Junge berühmt – wenn Sie wollen: berüchtigt – für meine Reden. Es waren sicher nur zusammengestoppelte Phrasen; aber so oft 178 ich mich in ihnen erging – und ich that es bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit – erregte es bei meinen Commilitonen die höchste Bewunderung; selbst Erwachsene, die gelegentlich dazu kamen, fanden, es sei eine seltene Begabung. Das schmeichelte mir und reizte meinen Ehrgeiz. Ich wollte Theologie studieren. Wenn keine Bergpredigt, doch etwas derart mußte auch mir gelingen. Als ich die Schule verließ, hatte sich mein Eifer bereits von der Theologie zur Philologie abgekühlt. Wie es kam, daß ich das kaum angefangene Studium wieder abbrach, sagte ich bereits.

Und was ist aus Ihrem Freunde geworden?

Er war auf der Universität in üble Gesellschaft geraten, legte sich aufs Trinken und ist frühzeitig elend zu Grunde gegangen.

Schade!

Wie das?

Es ist doch immer schade, wenn ein junger, und, ich nehme an, begabter Mensch zu Grunde geht.

Freilich. –

Ich behaupte nicht, daß, was ich uns beide hier sagen lasse, oder in der Folge sagen lassen werde, wörtlich seiner Zeit so gesprochen ist. Aber auf wörtliche Genauigkeit kommt es mir so wenig an, wie auf einen dramatisch ausgefeilten und zugespitzten Dialog. Wohl aber darauf, daß Geist und Sinn der zwischen uns gewechselten Reden dieser Tage, die für mein ganzes späteres Leben entscheidend gewesen sind, richtig wiedergegeben werden. Und dafür glaube ich einstehen zu können. So ziehe ich auch, was er über das mir so äußerst wichtige und vorläufig recht dunkle Verhältnis zu seiner Familie sagte, hier in eines zusammen, trotzdem es sicher bei verschiedenen Gelegenheiten zur Sprache kam.

Ich weiß, daß meine Mutter mich nicht liebt. 179 Ich bedauere es; aber fühle mich nicht schuldig. Wir sind eben zwei grundverschiedene Naturen. Sie lebt nur in dieser Welt, für diese Welt; ich habe mir in mein Kaufmannstum doch noch ein großes Stück von dem Idealismus meiner Jugend gerettet. Das sollte mich nun meinem Vater um so näher bringen, der durch und durch Idealist ist. Und in der That fließen unsere Differenzen aus einer ganz anderen und, wenn Sie wollen, sittlich indifferenten Quelle. Wir können uns als Kaufleute nicht verstehen. Er ist kein Politiker, ganz und gar nicht; und nach meiner Auffassung muß ein Kaufmann im großen Stil es sein. Er muß bei seinen Dispositionen einen Faktor in Rechnung stellen können, der allerdings sehr selten, vielmehr nie, sich in bestimmten Zahlen ausdrücken läßt: den Charakter der Nationen, welcher viel mehr, als was da etwa geredet wird und in den Zeitungen steht, bei ihren Entschlüssen und Handlungen den Ausschlag giebt. So entscheidet bei Krankheiten nicht das Aussehen des Patienten, das vielleicht ganz normal ist, sondern die Temperatur des Blutes. Daß ich mich darauf verstehe, – auf dies Thermometer, wenn ich so sagen darf – ist das ganze Geheimnis meiner Erfolge. Der Kaufmann verdankt sie dem Politiker. Auch mein Bruder ist keiner und läßt mich nun durch seinen eifersüchtigen Haß für seine kaufmännische Inferiorität büßen. Übrigens standen wir uns von jeher feindselig gegenüber, schon in der Kinderstube. Jetzt ist unser Verhältnis äußerlich ja ganz leidlich, und würde noch besser sein, wenn Jane nicht die unter der Asche glühenden Kohlen immer wieder von neuem schürte. Ich begreife sie nicht. Was will sie? Ihren Mann ärgern? Das mag ja für sie ganz amüsant sein; aber für dritte ist es doch recht unerquicklich. Besonders für mich, der darüber in einen Verdacht gerät, der mich ganz zu Unrecht 180 trifft. Ich habe ihr nie den Hof gemacht. Ohne mich dessen rühmen zu wollen. Sie ist einfach nicht mein Genre. Ich könnte mit ihr eine gemeinschaftliche Reise nach Kalifornien machen, ohne mich in sie zu verlieben.

Der letzte Teil dieser Bekenntnisse, von denen ich jetzt annehme, daß sie zu einem guten Teil auf Selbstbetrug hinausliefen, fand nach einem Diner statt, welches Arthur zu Ehren unseres Gastes draußen auf seiner Villa gegeben hatte. Die Gesellschaft promenierte nach dem Kaffee in den schönen Anlagen; Philipp hatte sich zu mir gesellt, trotzdem er auch bereits mein Tischnachbar gewesen war. Jane, die an seiner andern Seite saß, hatte fortwährend auf ihn eingesprochen in jenem halben Flüsterton, der für die anderen eine besondere Vertraulichkeit markieren soll; er nur widerwillig oder gar nicht hingehört, von Zeit zu Zeit einen leisen Seufzer ausstoßend. Das hatte mich amüsiert. Ich war in einer meiner übermütigen Launen. Von meiner einstigen Verlegenheit ihm gegenüber spürte ich längst nichts mehr, und so fragte ich, durch seine letzte Äußerung belustigt:

Man hört das so oft: mein Genre. Ich vermute stark, daß sich die Leute dabei nie etwas Bestimmtes denken. Oder wären Sie im stande, zu sagen, welches Ihr Genre ist?

Eine Frage, die freilich schwer zu beantworten sein dürfte; erwiderte er.

So versuchen Sie es wenigstens!

Das kann man ja zur Not. Also etwa ein Mädchen – Sie müssen hier das Individuum als Typ der Gattung nehmen – das, ohne blendend schön zu sein, wie Jane, immerhin eine anmutige Erscheinung böte, wozu in meinen Augen unter anderem gehört, daß sie mindestens von mittlerer Größe – lieber etwas mehr, als weniger. Auf dem schlanken 181 Körper müßte ein kleiner Kopf sitzen, vermutlich als Gegensatz zu meinem Stierschädel. Augen, wenn es sein kann, nicht braun: ich möchte nicht gern an Janes Augen erinnert sein.

Ich hätte blind und sehr stupid sein müssen, wäre mir entgangen, daß bei dieser Schilderung, wenn nicht meine Person, so doch etwas ihr leidlich Ähnliches herauskam. Aber, ich sagte schon, ich war übermütig und wollte wissen, wie weit er das Spiel wohl treiben würde.

So! rief ich; da hätten wir denn einigermaßen das Äußere der Dame. Ist es verstattet, ihr auch ein wenig in den kleinen Kopf zu sehen?

Wenn ich das selber könnte, erwiderte er, hier zum ersten Male offen lachend; wieviel gäbe ich darum! Aber wir reden ja wohl von einem Luftbild, und dem kann man alles Mögliche anwünschen und andichten. Und da wünsche ich in den kleinen Kopf eine tüchtige Portion Verstand – Geist, wenn Sie wollen. Wozu dann verschiedene Eigenschaften kommen müßten, auf die ich wohl deshalb so viel Wert lege, weil sie mir mehr oder weniger fehlen. Die Betreffende müßte redegewandt, schlagfertig sein; eine Konversation zu führen, ja, zu leiten verstehen. Ich denke sie mir nämlich an der Spitze eines Hauses, das auf einem breiten Fuß eingerichtet ist, und in dem viele Leute: Parlamentarier, Gelehrte, Künstler – kurz: eine zahlreiche gebildete Gesellschaft verkehrt. Damit ihr die auch sonst nicht imponiert – es könnten vielleicht Minister und andre große Tiere gelegentlich kommen – wäre es immerhin wünschenswert, daß sie aus einer vornehmen Familie, also von Adel sei, was bei uns in Deutschland wohl so ziemlich identisch ist. Und da ich eben von Deutschland spreche: nur keine Ausländerin! Es wäre für ihren Gatten – wir wollen sie uns verheiratet vorstellen 182 – ein Hemmschuh in seiner Carriere. Er hat ganz besondere Ursache, sein Deutschtum zu accentuieren; keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß es ihm mit seiner Devise: ein einiges Deutschland unter preußischer Führung blutiger Ernst sei. Habe ich mich hinreichend deutlich ausgedrückt?

Glücklicherweise brauchte ich auf die Frage nicht zu antworten. Es kam ein Schwarm der Gesellschaft herbei, in welchem wir sofort getrennt wurden. Der Abend war schon tief hereingesunken; man konnte die einzelnen Personen nur eben noch voneinander unterscheiden; aus dem Wäldchen hochstämmiger Rosen zu unsrer Rechten wehte von den zahllosen Blumen ein süßer Duft, wundersam sich mischend mit dem würzigen Hauch von dem Tannenboskett zu unsrer Linken. Plötzlich stand er wieder vor mir:

Gnädiges Fräulein, Mama wünscht aufzubrechen. Mir würde man es übel nehmen, wenn ich die Bowle, die eben angesetzt wird, im Stich ließe. Wollen Sie mir verstatten, Ihnen – nur für die Rückfahrt! – diese Rose anzubieten? Da ich Sie im Dunkeln gepflückt habe, kann ich für ihre Farbe so wenig einstehen, wie für die Ihrer Augen.

Es war das eine Anspielung auf den in der Familie stehend gewordenen Scherz, daß niemand herausbringen könne, ob meine Augen blau oder grau seien. So durfte ich denn, die Blume entgegennehmend, mit einem Scherz antworten.

Aber, als ich nun mit Frau Kommerzienrat an dem lauen Abend durch die stille Vorstadt mit ihren weißen Villen und dunklen Gärten nach Hause fuhr, war mir nichts weniger als scherzhaft zu Mute. Schon der letzte Teil der Schilderung seines »Genre« war so deutlich gewesen, daß ich beim besten Willen die Beziehung auf mich nicht mißverstehen konnte. Endlich die Rose, die ich da in meiner Hand hielt! 183 Bei einem weniger ernsthaften Mann hätte man es für leere Galanterie nehmen dürfen. Aber ihm lag alles Spielerische so fern! Und ich hatte eine zu gute Meinung von mir, als daß ich hätte argwöhnen können, es würde jemand wagen, mit mir spielen zu wollen. Er meinte es also ernst; er liebte mich. Aber ich empfand doch nichts für ihn außer einem Respekt, den mir seine verständigen Reden und sein gehaltenes Wesen eingeflößt hatten.

Ich konnte meinen Gedanken ungestört nachhängen, während Frau Kommerzienrat in ihrer satirischen Weise die Gesellschaft, aus der wir kamen, Revue passieren ließ, bis ihr denn doch zuletzt meine Schweigsamkeit auffiel.

Was haben Sie, Kind? rief sie. Und ohne eine Antwort abzuwarten:

Aber was frage ich? Sie haben sich ebenso fürchterlich gelangweilt, wie ich. Es war aber auch danach! Schaudervoll, wieviel Ebenbilder Gottes auf der Welt herumlaufen, die ich mir an seiner Stelle auf das ernstlichste verbitten würde. Und ich, wenn ich nach Hause komme, kann mir Ennui und Ärger, die ich ausstehen mußte, wenigstens mit Musik wegspülen. Guter Wortwitz! nicht? Dieser Wagner! Ich komme ihm mit jedem Tage näher, denke mich immer tiefer in ihn hinein. Wenn man von Mozart und Beethoven an ihn herantritt, erscheinen seine Motive oft so schwächlich, einfach trivial. Über Elsas große Arie war ich anfangs geradezu empört. Der Text bleibt albern: »Es giebt ein Glück, das ohne Reu« – Unsinn! Noch hat jeder jedes Glück mit Reue bezahlen müssen, schon deshalb, weil er es entweder zu wenig zu genießen wußte, oder zu gierig genoß. Aber die Musik! Ich hatte das Tempo falsch genommen – zu schnell einmal, dann wieder zu langsam. Jetzt habe ich es heraus. Soll ich es Ihnen 184 hernach – aber heute ist nun rein gar nichts mehr mit Ihnen anzufangen. Apropos, wissen Sie, daß Philipp morgen abend schon fort muß, anstatt übermorgen? Er sagt, er könne nicht länger bleiben. Na, Glück auf den Weg! Übrigens, alles was recht ist: er war diesmal ein gut Teil traitabler, als sonst. Auf meine Rechnung kommt es nicht, liebes Kind. So mögen Sie es sich denn in Gottes Namen gutschreiben. –

Ich konnte in dieser Nacht lange nicht einschlafen. Endlich meinte ich, es sei der Duft der Rose, die ich in einem Glase Wasser neben mir auf den Nachttisch gestellt hatte. Ich erhob mich, das Glas in das offene Fenster zu tragen. In dem trügerischen Licht des Mondes hatte ich auf die starke Abschrägung des Simses nicht hinreichend geachtet. Es glitt mitsamt der Rose hinab und fiel in den Garten.

Damit wären wir also fertig, sagte ich halblaut vor mich hin, während ich mein Bett wieder aufsuchte, um alsbald in Schlaf zu fallen.


Heiteren Sinnes erwachte ich am nächsten Morgen; und so erzählte ich dem Mädchen, das mir beim Ankleiden half, was mir gestern abend mit dem Glase passiert sei.

Der Gärtner hat es schon gefunden, sagte sie; es ist auf das Gitter vor dem Kellerfenster gefallen und kurz und klein gebrochen. Das giebt Glück, gnädiges Fräulein!

Ich bin nicht abergläubisch, erwiderte ich.

Na, man kann nie wissen, meinte sie schelmisch. Es ist noch nicht aller Tage Abend.

Es war in einem Tone gesagt, der mich stutzig machte. Sollten die Leute im Hause über mich und 185 ihn gesprochen haben? Aber außer der Scene im Garten draußen war schlechterdings nichts zwischen ihm und mir vorgefallen, das auch von dem Argwöhnischsten hätte mißdeutet werden können. Immerhin ist es gut, daß er heute abend reist, dachte ich.

Als ich zum Frühstück nach unten kam, sagte mir Friedrich, der junge Herr sei bereits vor einer Stunde in das Geschäft gefahren und werde auch zu Mittag nicht erscheinen: er habe noch zu viel zu thun. Frau Kommerzienrat lasse sich entschuldigen: sie habe eine starke Migräne und liege zu Bett, bitte aber das gnädige Fräulein, hernach auf einen Augenblick zu ihr zu kommen.

Das war eine gute und eine schlechte Nachricht; die zweite würde ohne die erste ganz bedenklich gewesen sein: ich wäre sonst Gefahr gelaufen, mit Philipp allein zu Tisch zu gehen. Gefahr! Lächerlich: er war mir nicht gefährlich, und wenn er mir statt noch einer Rose einen ganzen Rosengarten geboten hätte!

Frau Kommerzienrat hatte mich nur sehen wollen. Sprechen könne sie in diesem Zustande nicht; das wisse ich ja. Diese abscheulichen Diners! Als ob man für die Langeweile, die man ausgestanden, hinterher noch durch eine Migräne abgestraft werden müsse! Es geschehe ihr schon ganz recht. Gebrannte Kinder scheuten das Feuer; und sie alte dumme Person falle immer wieder auf den Schwindel hinein. Diesmal sei es aber auch das letzte Mal gewesen. Wenn ich das glaube, solle ich nur sofort einen Thaler bezahlen. Wegen Philipp habe mir Friedrich ja wohl Bescheid gesagt. Sie werde ihn nicht mehr sehen: diesmal sei es eine vierundzwanzigstündige. Also: sie lasse ihn grüßen, glückliche Reise wünschen; und er habe sich so weit ganz anständig benommen.

Damit drehte sie sich auf die andere Seite; ich war entlassen.

186 Was sollte ich mit dem Tage anfangen? Jane hatte mich dringend eingeladen: nach einem Gesellschaftsabend brauche sie durchaus Gesellschaft. Eigentlich hatte ich nicht hingehen wollen. Jetzt kam es mir gelegen. Vielleicht erschien Philipp doch zum Mittag, und dann –

Philipp! und immer wieder Philipp! Das war doch völlig kindisch!

Der Tag war herrlich; so machte ich den langen Weg zu Fuß. Jane hatte schon die Hoffnung aufgegeben, ihr dearest lovely girl zu sehen, und empfing mich mit einer stürmischen Umarmung. Ich wußte, es war keine Komödie: sie hatte mich mit der Zeit alles Ernstes in ihr großes Herz geschlossen. Heute war ich ihr doppelt willkommen: das Herz war ihr so voll! Noch gestern abend hatte es richtig wieder eine Scene mit ihrem Mann gegeben; er sei kein Gentleman; er sei ein brute. Aber sie habe es nun satt. Sie wolle sich scheiden lassen; nötigenfalls Christin werden. Ihr sei alles gleich, wenn sie nur von diesem Menschen loskomme. Es werde ein furchtbares Geld kosten; aber sie sei dann doch frei und könne für einen Mann, den sie hasse, verabscheue, den andern haben, den sie liebe, anbete, vergöttere.

Ich hatte diese Tiraden schon so oft mit anhören müssen, daß ich dagegen abgestumpft war. Aber heute hatte sich die schöne Frau in eine Art von Leidenschaft hineingeredet. Kam es auch sicher diesmal so wenig wie früher zum Äußersten – das eheliche Zerwürfnis in der Villa hatte dem guten Kommerzienrat nur schon zu viel Kummer bereitet; es war meine Pflicht, das Feuer, das hier so ungewöhnlich lebhaft aufprasselte, möglichst zu dämpfen. Wer unter dem andern, dem Angebeteten, gemeint war, darüber konnte ich nicht in Zweifel sein. Vielleicht ließ sich von diesem Punkte aus der Sache am besten beikommen.

187 Wir haben, liebe Jane, sagte ich, im Deutschen ein altes derbes Wort: man soll das schmutzige Wasser nicht weggießen, bevor man reines hat. Ich meine, Sie thäten gut, es in Ihrem Falle ein wenig zu beherzigen.

Ich verstehe Sie nicht, dearest; sagte Jane.

Das thut mir leid, erwiderte ich, denn ich muß jetzt, sehr wider meinen Willen, deutlicher werden. Zum Heiraten gehören doch zwei. Sie wollen Philipp heiraten. Sind Sie denn auch nur einigermaßen sicher, daß seine Absichten den Ihren entgegenkommen?

Aber vollkommen, sagte die schöne Frau.

Ich hätte beinahe laut aufgelacht, als ich sie so vor mir sitzen und mit der ruhigsten Miene eine Schleife an ihrem gelbseidenen Schlafrock ordnen sah. Vollkommen sicher! Nach allem, was ich aus Philipps Munde über sie gehört hatte!

Man ist das oft, sagte ich, und irrt sich doch. Um so größer und schmerzlicher ist dann die folgende unausbleibliche Enttäuschung.

Aber, dearest child, erwiderte sie, eine zweite Schleife in Angriff nehmend, in solchen Verhältnissen ist doch Diskretion Ehrensache von seiten der Dame nicht weniger als der des Herrn. Sie verlangen, scheint es, Beweise. Die habe ich – ich weiß nicht wie viele. Und wenn Sie es durchaus wünschen – ich weiß ja, darling, ich darf Ihnen unbedingt vertrauen –

Um Himmelswillen! unterbrach ich sie.

Hätte ich sie weiter reden lassen! Aber ich war überzeugt, daß alles, was sie nun auch vorbringen mochte, nichts als Blasen ihres windigen Gehirnchens sein würden; Einbildungen, mit denen sie ihrer Eitelkeit schmeichelte. Und ich wollte es ihr ersparen, sich noch weiter vor mir lächerlich zu machen.

188 So denn suchte ich einzulenken:

Ich darf und will mich nicht in Ihre Geheimnisse drängen. Ich habe nur eine Bitte: Bevor Sie einen entscheidenden Schritt thun, prüfen Sie alles, vor allem sich selbst, noch einmal gründlich! Und denken Sie dabei an Ihre Schwiegereltern, die doch gewiß eine Scheidung, wie Sie sie vorhaben, aufs innigste betrüben würde!

Ja, aber warum? rief sie; die Schwiegertochter der guten alten Leute bleibe ich doch, wenn ich statt des einen Bruders den andern zum Gatten habe. In England würde sich das schwer machen lassen. Aber in der Beziehung denkt ihr in Deutschland ausnahmsweise ja ein bißchen vernünftiger.

Einer so hartnäckigen Verblendung gegenüber war offenbar nichts zu machen. Ich gab es auf und fing an, von dem gestrigen Diner zu sprechen, von Mamas Migräne, von anderen Dingen. Sie ging auf alles munter ein, ohne, wie ich fürchtete, auf Philipp zurückzukommen. Das wunderte mich. Sie wußte, er würde heute abend abreisen. Voraussichtlich kam er in Monaten nicht wieder nach D. Eine so lange Trennung mußte doch für ein liebendes Herz und das sich wieder geliebt glaubte, sehr schmerzlich sein. Woher nun diese Gelassenheit, diese Ruhe, die sicher nicht in einer resignierten Stimmung ihren Grund hatten? So etwas gab es in dieser kleinen Seele nicht.

Und plötzlich kam mir ein wunderlicher Gedanke. Wenn sie nun doch Beweise hatte, die ihr jetzt, nachdem sich die Leidenschaft ausgetobt, diese Ruhe gaben? Mein einziges Interesse an der Frage konnte nur das der Eltern sein, die unter dem Familienzwist schwer zu leiden haben würden. Ich persönlich wurde nicht davon getroffen. Also hatte die verdrießliche Empfindung, die sich in meinem Herzen zu regen 189 begann. eine andere Quelle. Aber dann welche? Dünkte mich Philipp zu gut für eine Jane? gönnte ich ihr den Mann nicht? Aber das sah fast wie Eifersucht aus. Und Eifersucht entsteht nicht von ungefähr; doch nur da, wo es sich um etwas handelt, das man in den Besitz eines andern übergehen sieht, während man es gern selbst besitzen möchte. Ich war auf Grete Wesselhöfft um die Gunst des Professors eifersüchtig gewesen, weil ich gewohnt war, sie als mein Recht in Anspruch zu nehmen. Welches Recht auf Philipp hätte ich gehabt? beansprucht? Was war er mir? Etwa doch mehr, als ich Wort haben wollte? War mit dem Glase, das samt seiner Rose heute nacht aus dem Fenster fiel und unten in Scherben brach, doch nicht alles vorbei zwischen ihm und mir? Lauerte da im Hintergrunde noch ein Ungewußtes, das einmal hervortreten würde? Bloß auf eine Gelegenheit dazu wartete?

Mein Gott, sagte ich bei mir, was ist das? Hat dich Jane mit ihrer Narretei angesteckt? Entfliehst du, wenn er heute abend reist, nicht nur der Gefahr von ein paar langweiligen genierten Stunden, die du sonst vielleicht noch mit ihm zubringen müßtest? Aber es war gar nicht so langweilig. Du hast manches dabei gelernt: Politisches und anderes, das dich interessierte. Und von Gêne kann nun vollends nicht die Rede sein: ihr habt euch – in letzter Zeit wenigstens – ganz unbefangen, ganz freundschaftlich miteinander unterhalten. Sei nicht albern, Antoinette! Es schickt sich nicht für dich.

Wirklich gelang es mir, eine Stimmung zu bemeistern, in der ich mir schließlich ganz toll vorgekommen war. Und doch war es kein gutes Zeichen, daß ich Janes Einladung, nun auch zum Mittagessen zu bleiben, begierig annahm. Man konnte nicht wissen, 190 ob er nicht seinen Entschluß änderte und sich zu Tisch einfand!

Das behagliche Gefühl völliger Sicherheit erhöhte meine gute Laune, die ich den andern mitzuteilen schien. Arthur konnte, wenn er wollte, ganz unterhaltend sein; und entschieden wollte er es heute. Zwar nahm er seine Stoffe stets aus seiner Geschäftssphäre, und seine Scherze waren nicht immer fein. Aber er kannte Paris, London, New-York, seiner eigenen Versicherung nach, wie seine Tasche, und in seiner Weise war er ein guter Beobachter. Was war ihm hier und da und auf den vielen Reisen nicht alles begegnet! Das hörte sich, wenn nicht erbaulich, amüsant genug an. Es konnte nicht fehlen, daß er auch auf Philipp zu sprechen kam, heute nicht in gewohnter satirischer und herabsetzender Weise, vielmehr mit wenigstens gut gespielter Anerkennung, ja, Bewunderung. In der Welt, der Geschäftswelt nun gar, gebe der Erfolg den Ausschlag: und man möge über Philipp denken, wie man wolle, den könne man ihm nicht absprechen. Bleibe ihm in der Politik das Glück so treu, wie an der Börse, sei der große Mann fertig. Die äußere Erscheinung dazu habe er ja von Natur mitgebracht. Kein Wunder, daß er auch den Frauen gefalle! Es thäten das schon andere, die sich nicht der Hälfte von Philipps Vorzügen rühmen könnten!

Ich traute meinen Ohren nicht. Und kaum meinen Augen, als ich Jane dies splendide Lob des geliebten Mannes aus dem Munde des eigenen Gatten hinnehmen sah, ohne daß ihre Miene auch nur die mindeste Unruhe verraten hätte. Sie lächelte sogar ihrem Gatten freundlich zu und meinte, es sei immer noch besser, spät zur rechten Einsicht zu kommen als gar nicht.

Spielten die beiden hier Komödie, war sie sicher gut gespielt. Vielleicht war es auch nur eine 191 friedliche Oase in der leidigen Wüste von Zank und Streit. Was ging es schließlich mich an? Jedenfalls hatte ich Ursache, ihnen zu danken, daß sie mich in Ruhe ließen und mir anstatt ein paar unerquicklicher Stunden ebensoviele ganz behagliche bereiteten.

Zuletzt wurde es ordentlich ein kleines Fest. Von gestern her gab es noch allerlei auserlesene Delikatessen, und Arthur ermahnte uns immer wieder, den Champagner nicht verschäumen zu lassen. Darüber zog sich das heitere Mahl in schier ungebührliche Länge.

Endlich saßen wir denn doch, noch immer munter plaudernd, auf der Veranda beim Kaffee, als der Diener ein Telegramm brachte: »nicht für den Herrn; für das gnädige Fräulein. Frau Kommerzienrat habe es mit dem Wagen herausgeschickt, im Falle das gnädige Fräulein zurückfahren wolle.«

Ich hatte noch nie im Leben ein Telegramm erhalten und war heftig erschrocken.

Gewiß ist der Kommerzienrat krank geworden! rief ich.

Thorheit, sagte Arthur; dann hätte er an mich, oder Philipp telegraphiert. Bitte, geben Sie mir! Sie werden nicht damit fertig. Ich darf es doch lesen?

Er hatte mir das zusammengefaltete Blatt aus den zitternden Händen genommen und es geöffnet.

Na, sehen Sie! »Komme sieben Uhr. Bitte Quartier für die Nacht. Lida.« Also Familienbesuch. Der hoffentlich nicht bloß für die Nacht ist, so daß wir auch etwas davon haben. Nicht wahr, Jane?

Certainly. I shall be so glad, to know your sister, dearest!

Mein Schrecken war nur noch größer geworden. Ich wußte, daß Lida in nicht langer Zeit ein Baby 192 erwartete. Wie konnte sie da eine so weite, anstrengende Reise unternehmen! Es mußte sich um etwas ganz Schlimmes handeln.

Ich will sofort auf den Bahnhof fahren, rief ich.

Dazu ist nicht mehr Zeit, sagte Arthur, auf die Uhr sehend. Fahren Sie direkt nach Hause! Dann sind Sie noch immer ein paar Minuten vor Ihrer Frau Schwester da.

Ich fühlte, daß ich mich zusammennehmen müsse. Was mir auch bevorstand, es war meine Angelegenheit. So gelang es mir, mich mit leidlicher Fassung zu verabschieden, wiederholt von Jane umarmt und von Arthur höflich zum Wagen geleitet.

Bitte, mich der Frau Schwester zu empfehlen! Philipp habe ich schon heute morgen im Geschäft adieu gesagt.

Ich bat den Kutscher, möglichst schnell zu fahren. So hatte ich, zu Hause angelangt, noch eine Viertelstunde, bevor Lida kommen konnte. Frau Schmitz, die mich empfing. sagte mir, daß Frau Kommerzienrat mich heute abend nicht mehr erwarte: sie möchte vollkommene Ruhe haben. Ich mußte daher das Nötige mit Frau Schmitz besprechen, was auch ganz unverfänglich war, da sie den Hausstand völlig selbständig leitete. Nur obenhin mit meinen Familienverhältnissen bekannt, sah sie in dem Besuch der Schwester durchaus nichts Absonderliches. Der Herr Gemahl sei gewiß versetzt, und die Frau Gemahlin reise voraus, um Quartier zu machen.

Das klang nicht unwahrscheinlich. Ich klammerte mich an diesen Trost. Er sollte nicht lange vorhalten.

Lida kam in einer Droschke angefahren. Mit dem ersten Blick in ihr verstörtes Gesicht sah ich, daß meine Befürchtungen sich so oder so bestätigen würden. 193 Ich hatte nur eben noch Zeit, ihr zuzuflüstern: Um Himmels willen, nichts vor den Leuten!

So brachte ich sie denn glücklich auf mein Zimmer, ohne daß jemand hätte ein Arg schöpfen können. Aber Frau Schmitz, die uns hinaufbegleitet, hatte die Thür kaum hinter sich geschlossen, als sie sich in meine Arme stürzte, unter strömenden Thränen in kläglichen Tönen rufend: Es ist alles aus! Wir sind verloren, wenn du uns nicht rettest!

Ich hatte große Mühe, sie so weit zu beruhigen, daß sie in einigem Zusammenhang verständlich sprechen konnte.

Und dies nun war es:

Mit ihren Finanzen hatte es von Anfang an mißlich gestanden. Otto war schon vor der Ehe mit Schulden, die er nach der Weise der Schuldenmacher vor ihr und aller Welt verheimlicht hatte, belastet gewesen. Von Bezahlen war dann erst recht nicht die Rede. Er hatte sich mit Wechseln hingefristet, deren Betrag bei jeder Prolongierung anschwoll, bis nun auch diese klägliche Notbrücke zusammenzubrechen drohte. Dann aber war ihm der schlichte Abschied gewiß. Als blutjunger Offizier hatte er schon einmal eine ähnliche Krisis durchgemacht, aus der ihn die Gnade des Königs rettete. Damals war ihm von dem Onkel im Militärkabinett bedeutet worden, daß er ihn im Wiederholungsfalle weder halten könne, noch wolle. In seiner jetzigen Not hatte er vergebens an alle Thüren gepocht. Habe er nicht bis morgen mittag das Geld, müsse er sich eine Kugel vor den Kopf schießen.

Ich denke, sagte ich, dazu hat er dich denn doch zu lieb. Aber du hast noch immer nicht gesagt, um welche Summe es sich handelt.

Fünftausend Thaler.

Sie hatte es ganz leise gesagt; dennoch traf es 194 mich wie ein Donnerschlag. In meiner Unerfahrenheit hatte ich mir den Betrag nicht annähernd so hoch gedacht, im stillen hoffend, daß meine kleinen Ersparnisse vielleicht ausreichen würden. Die waren jetzt der Tropfen auf einem heißen Stein.

Und diese Unsumme soll ich dir schaffen! rief ich voller Entsetzen.

Otto sagt: sie ist jetzt bei so reichen Leuten und steht mit ihnen auf einem so brillanten Fuß. Und es sind ja auch nur Juden. Die werden sich eine Ehre daraus machen, mit einem Herrn von Dillingen in Geschäftsverbindung zu treten.

Ich hatte ein bitteres Wort gegen den Herrn von Dillingen auf der Zunge, aber die arme Lida war schon unglücklich genug. So fragte ich nur:

Wie hat sich denn dein Mann das gedacht?

Er hat mir alles auseinandergesetzt, erwiderte sie mit einer zuversichtlichen Überlegenheit, die meine Lachlust erregt haben würde, wäre die Situation nicht so furchtbar ernst gewesen. An Wechsel ist nicht zu denken, sagt er: es nimmt sie mir keiner mehr ab. Es muß eine richtige Anleihe sein, für deren Wiederbezahlung – es brauchte das nicht heut oder morgen zu sein – jemand Bürgschaft leistete.

Und das sollte ich?

Wer sonst? Du hast fünftausend Thaler in unsrer Kaution stehen –

Es ist alles, was ich habe –

Aber es reicht doch gerade –

Und wenn ich sie verliere?

Darauf hatte die Ärmste keine Antwort als eine neue Thränenflut. Sie habe sich immer eingebildet, ich hätte sie lieb. Nun sehe sie, daß sie sich getäuscht. Und nun könne sie nur gleich zusammen mit ihrem Otto sterben.

Ich war überzeugt, daß ihr Otto an nichts 195 weniger als an sterben dachte; aber das Leben, das meine arme thörichte Schwester an der Seite eines geschwenkten Offiziers in immer sich steigerndem Elend führen würde, war schlimmer als der Tod.

Und mein scheues Auge glitt über ihre einst so sylphenhaft schlanke Gestalt, die nun so entstellt war! Ein Kind, das, schuldlos, in solchen Jammer hineingeboren werden sollte! Es schnürte mir das Herz zusammen.

Aber wie helfen? Ich wollte gern den letzten Pfennig hergeben. Damit allein war es nicht gethan. Es mußte mir jemand dieselbe Summe bar vorstrecken – auf Jahre hinaus – womöglich ohne Zinsen – ich wenigstens hatte von meinem Gelde noch keine zu sehen bekommen – Dillingen, dem sie ausgezahlt wurden, unter diesem oder jenem Vorwande alles behalten. Und würde der neue Gläubiger sich auch sein Recht zu verschaffen wissen – ich hatte jetzt lange genug in kaufmännischen Kreisen gelebt – kein solider Geschäftsmann würde sich auf einen solchen Handel einlassen. That er es, so war es aus Gefälligkeit für mich. Wen sollte ich darum angehen? Wäre der Kommerzienrat dagewesen! Ich wußte, er hatte mich lieb; und er legte keinen übertriebenen Wert auf Geld, mit welcher Klugheit er es auch zu erwerben verstand. Wie manchmal hatte er, wenn wir auf dies Kapitel zu sprechen kamen, gesagt: ich habe ja leider nichts anderes gelernt, und muß nun schon bei dem Metier bleiben, sowenig es meinem Geschmack zusagt. – Aber er war doch nun nicht da; kam im besten Falle erst übermorgen abend, und bis morgen mittag mußte das Geld geschafft werden. An Frau Kommerzienrat durfte ich nicht denken. Sie war in Geschäftssachen ein völliges Kind und hatte nie Geld, so reichlich sie auch von ihrem Gatten damit versehen wurde – sie gab alles ihren Armen. – Arthur? 196 Er hätte sich wohl nicht lange bitten lassen – schon um Janes willen, die ihn stets der Knickerei beschuldigte; – aber ich traute ihm nicht und glaubte Ursache dazu zu haben. Schon wiederholt – so noch heute nachmittag – hatte er einen familiären Ton gegen mich angeschlagen, der mir gar nicht gefiel, und dem ich sicher bedenklichen Vorschub geleistet haben würde, wenn ich eine so große Verpflichtung gegen ihn einging. Es blieb also niemand als Philipp.

Daß er unser Retter werden konnte, wenn er wollte, daran durfte ich nicht zweifeln. Würde er es wollen? Ich kannte ihn so wenig! War er gütig, hilfreich, mitleidig? Ich hatte keine Beweise dagegen, aber auch keine dafür. Wenn er mir meine Bitte abschlug – es war ein entsetzlicher Gedanke! Und gewährte er sie – er war gewiß eine vornehmere Natur als Arthur, aber nicht mein Vetter, mein Bruder; ein Fremder, den ich seit acht Tagen kannte. Welches Recht hatte ich auf seine Gefälligkeit? seine Großmut?

Sein Zug ging um neun Uhr. Er hatte hinterlassen, daß er um acht Uhr noch einmal nach Hause kommen werde. Es ging stark auf acht. Benutzte ich die kurze Zeit nicht, war alles verloren. Ich klingelte und fragte. Der junge Herr war soeben gekommen und unten in der Bibliothek.

Ich ließ Friedrich, der die Meldung gebracht hatte, eine Minute vorangehen, als ob die Thatsache, daß ich es war, die den ersten Schritt zu einer Zusammenkunft mit Philipp that, dadurch aus der Welt käme. Dann huschte ich die Treppe hinab. Die Hauslampen waren noch nicht angezündet; durch das hohe Treppenfenster nach dem Garten fiel ein matter Abendschein. Auf dem Absatz blieb ich einen Augenblick stehen; in dem breiten Spiegel, der dort hing, erschien mein Gesicht totenbleich; die Hände, mit denen 197 ich mir den Scheitel glättete, zitterten. War es die bange Ahnung einer traurigen Zukunft, die ich durch diesen Schritt heraufbeschwören würde? Ich weiß es nicht. Mein Herz schlug mir so dumpf in der Brust. Ich hätte mich zu Boden werfen, in jammervolle Thränen ausbrechen mögen, daß mir das Schicksal dies auferlegte. Und dann dachte ich an die Ärmste da oben, die für ihren Gatten, für sich, für das Kind unter ihrem Herzen um Tod und Leben rang, und wankte die Treppe weiter hinab.

Als ich das Bibliothekzimmer betrat, stand Philipp an dem runden Tisch im Licht der großen Hängelampe, mir den Rücken zukehrend. Bei dem Geräusch der Thür legte er eine Mappe, in die er Papiere zu ordnen schien, nieder und wandte sich.

Aber, mein gnädiges Fräulein, eben wollte ich hinaufschicken und fragen lassen, ob ich Ihnen Lebewohl sagen dürfe – Sie sind wirklich zu gütig!

Er war mir lebhaft entgegengetreten und reichte mir die Hand. Meine Hand war eiskalt. Ich fühlte es selbst in der Berührung seiner großen warmen Hand, und nun, in größerer Nähe der Lampe konnte ihm nicht entgehen, wie blaß und verstört mein Gesicht war, trotzdem ich mir die größte Mühe gab, ruhig zu erscheinen.

Was haben Sie? was ist Ihnen? rief er. Doch nicht die Mama? Frau Schmitz hat mir noch eben gesagt: die alte Migräne – nichts weiter. Oder Ihre Frau Schwester? Ich höre, sie ist ganz unvermutet angekommen –

Es handelt sich um meine Schwester, sagte ich, mich in einen der Lehnsessel setzend, den er eilig zurechtgeschoben. Ich habe – in ihrem Interesse – eine Bitte an Sie – eine große Bitte –

Je größer, je besser, sagte er gutlaunig, mir 198 gegenüber in schicklicher Entfernung Platz nehmend. Um was handelt es sich?

Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, das Furchtbare vorzubringen, im Sprechen doch ruhiger werdend, weil ich fühlte, es sei meine Pflicht, ihm zu zeigen, wie ich mir über das Ungeschäftliche dieses Handels durchaus keine Illusionen mache und mich nicht an den Kaufmann, sondern an den Menschen wende.

Da er, während ich sprach, beständig die Augen in gewohnter Weise niederschlug, konnte ich nicht sehen, welchen Eindruck ich gemacht hatte. Ich mußte fürchten: einen ungünstigen, als jetzt seine Antwort nicht alsbald kam.

Genieren Sie sich nicht, sagte ich, mich erhebend. Ich finde es nur zu begreiflich, wenn Sie eine solche Zumutung einfach ablehnen.

Aber, mein gnädiges Fräulein, rief er, von seinem Stuhl in die Höhe fahrend, wie können Sie nur einen Augenblick – ich dachte nur – machen Sie mich nicht unglücklich und nehmen Sie wieder Platz! – ich sann nur darüber nach, wie die Sache bei der großen Eile, die sie hat, – so wird's gehen! Es sind nur zwei Depeschen nötig: eine an die X-Bank in D . . . f, das Geld morgen mittag an Ihren Herrn Schwager zu zahlen, die andere an Ihren Herrn Schwager, das Geld abzuheben. Für gewöhnlich nehmen wir Banquiers Anstand, eine bloße telegraphische Ordre zu honorieren – es unterläuft da so leicht ein Betrug – ich kann aber glücklicherweise mein Telegramm so fassen, daß über die Person des Absenders kein Zweifel möglich ist. Jetzt nur noch die genaue Adresse Ihres Herrn Schwagers; und die Sache ist abgemacht.

Eine Flut von Empfindungen, deren jede aus besonderer Quelle floß, rauschte durch meine Seele. 199 Die Freude der Erlösung von dem Alp, der mich so schwer bedrückt; das Vorgefühl der Wonne, der Schwester oben, der Armen, Geängsteten, sagen zu dürfen: du bist gerettet! innige Dankbarkeit gegen ihn, der in so prunkloser Weise Großmut übte; schamvolles Zagen, wie ich diese Dankbarkeit ausdrücken sollte, ohne meinem Mädchenstolz dem doch immer fremden Mann gegenüber allzuviel zu vergeben.

Er mußte in meiner Seele gelesen haben.

Und nun thuen Sie mir den einen Gefallen und danken Sie mir nicht! Sie haben mir den Aufenthalt hier, vor dem ich mich richtig fürchtete, zu einem so angenehmen, unvergeßlich schönen gemacht – die kleine Gefälligkeit, die ich Ihnen erweisen darf, ist dafür wahrlich kein Äquivalent. Ich bleibe darum noch immer Ihr Schuldner. Aber, gnädiges Fräulein, ich habe keine Minute zu verlieren, wenn ich unsre Angelegenheit nach Ihrem Wunsch zu Ende führen soll.

In überquillender Empfindung hatte ich ihm beide Hände hingestreckt. Er hielt sie mit starkem Drucke fest. Unsre Blicke begegneten sich. In seinen Augen war ein Flimmern; seine Lippen waren aufeinander gepreßt. Er schien etwas sagen zu wollen, wofür er das rechte Wort nicht fand. Dann hatte er mich losgelassen und sich nach dem Tisch gewandt. Bis zur Thür waren nicht eben viel Schritte. Dennoch, als ich die Hand auf den Drücker legte, bereute ich schon, was ich gethan. Ich warf einen schnellen Blick rückwärts. Er saß bereits am Tisch, die Depeschen schreibend. Ich wollte rufen: lassen Sie! Es darf nicht sein! – und brachte es nicht heraus. Dann war ich draußen, durch das Speisezimmer, über den Flur, die Treppe hinaufhastend, wie einer, der vor seinem Verbrechen flieht.

200 Wir sind verloren, schrie Lida, als sie mein blasses, verstörtes Gesicht sah. –

Ihr nicht, erwiderte ich. Aber –

Aber?

Nichts. Es steht alles gut.

Und ich teilte ihr mit, was ich ausgerichtet.

Sie nahm es mit einer Gelassenheit hin, die mich innerlich empörte. Als ob sie es nicht gesagt hätte! der Herr – wie hieß er doch? – es sich nicht zur Ehre schätzen würde, einem Kavalier die Kleinigkeit vorzustrecken!

Und für dies leichtsinnig oberflächliche Wesen und einen Mann, der ihrer würdig war, hatte ich die Pein der letzten Stunde erduldet; hatte ich eine Last auf mich geladen, an der ich so schwer trug; von der mir die Ahnung sagte, daß ich nun weiter schwer daran zu tragen haben würde! Wo war die Wonne geblieben, die ich mir davon versprochen, der Schwester als eine Retterin zurückzukehren! Ich empfand nichts als Bitterkeit, ja, Erbitterung.

Lida hatte in ihrer kindischen Weise, ohne daß ich darauf gehört hätte, fortgeredet, als sie sich plötzlich mit dem Ruf unterbrach:

Nun aber muß ich morgen früh fort!

Weshalb diese Eile? Die Sache ist ja erledigt; so gut wie erledigt.

Das sagst du. Du kennst Otto nicht. Weißt du, ob er das Geld, wenn er es morgen mittag bekommt, am Abend noch hat?

Weil er es an seine Gläubiger gegeben?

Oder auch nicht; oder doch nur zum Teil. O, ich kenne ihn! Nein! morgen mit dem ersten Zuge! Es geht einer um neun. Dann kann ich um elf Uhr bei ihm sein. Glaub' mir, es ist absolut notwendig!

Du mußt es wissen.

201 Ich fand es höchst unschicklich, aus dem Hause zu gehen, ohne der Herrin für die bewiesene Gastfreundschaft gedankt zu haben; auch schien mir sehr wünschenswert, daß sie in ihrem Zustande sich einen Ruhetag gönne; aber ich machte keinen Versuch, sie zu halten. Sehr wahrscheinlich war ihre Sorge nur zu begründet; und umsonst wollte ich mein Opfer nicht gebracht haben.

So dann geleitete ich die Schwester am nächsten Morgen auf die Bahn, um, nach Hause zurückgekehrt, alsbald Frau Kommerzienrat aufzusuchen. Sie war bereits mit ihrem frugalen Frühstück fertig und zu einem Gange in die Stadt gerüstet. Der heute etwas lange dauern würde, wenn sie das gestern Versäumte nachholen wolle! Dabei hatte sie es so eilig, daß sie sich kaum Zeit ließ, zu fragen, was meine Schwester hierher geführt und warum der Besuch nur so kurze Zeit gedauert? Ich wußte auch, sie würde mich später nicht mit Fragen in Verlegenheit setzen. Das eine Wort: Familienangelegenheit, und die Sache war für sie erledigt.

Bereits am folgenden Tage hatte ich einen Brief von Lida. Sie war zur rechten Zeit angelangt, um dafür zu sorgen, daß das ganze Geld in die Hände von Ottos Gläubigern kam. Er habe freilich gemeint, die Manichäer könnten froh sein, wenn sie überhaupt etwas erhielten; sie jedoch ihren Willen durchgesetzt. Sie wollte sich nicht rühmen; aber wie sie diese »dumme Geschichte aus der Welt geschafft« und ihren Otto »aus der Patsche gezogen«, solle ihr erst mal eine nachthun! Daß doch eigentlich ich es war, die dies Heldenstück vollbracht, schien sie schon vergessen zu haben, oder hatte es sich nie klar gemacht.

Scheinbar also war alles in bester Ordnung: ein Gewitter, das finster drohend heraufkommt, aber sich verzieht, ohne eingeschlagen zu haben. Leider ließ 202 sich der Vergleich nicht weiter spinnen; sicherlich nicht für mich. Mir hatte es keinen Segen gebracht, keine Erquickung. Im Gegenteil: ich, die ich letzthin so sorglos-heiter in ein Leben geblickt, das sich mir nur von der freundlichsten Seite zeigte, fühlte mich wie von einer dumpfen Schwüle umgeben, die mir den Atem hemmte und das Herz schlagen machte. Immerfort hörte ich im Innern eine Stimme: du durftest es nicht; dein Stolz hätte es dir verbieten müssen!

Wir kennen unsre Geistes- und Charaktereigenschaften nicht, bis ein äußeres oder inneres bedeutendes Ereignis sie in die Schranken ruft, auf eine Kraftprobe stellt und für uns in die Helle des Bewußtseins rückt. Ich war immer stolz gewesen, ohne es zu ahnen, ja, ohne es zuzugeben, wenn andre, wie es wohl geschehen war, mir einen Vorwurf daraus gemacht hatten. Daß ich stets nur geben, niemals nehmen wollte; schwächeren Mitschülerinnen, wie Carola, ihre Arbeiten korrigierte oder diktierte; bei unsern Spielen die weniger Kräftigen in meinen Schutz nahm, ohne jemals eine Gegenleistung zu beanspruchen – dies und alles derart hatte ich von jeher als etwas Selbstverständliches betrachtet. Man kann einen solchen Charakterzug Stolz nennen, und ich wußte ihn damals nicht anders zu bezeichnen; heute sehe ich darin nur das Streben, sich unabhängig zu erhalten, oder, wie Spinoza es ausdrückt: sein Selbst zu bewahren. Unser ganzes Leben ist ein Kampf um diese Unabhängigkeit, der von den Schlaffen, Lässigen, Feigen matt, ohne Nachdruck und Konsequenz, mit Aufwendung von allerlei Listen und Winkelzügen; von den Starken, Eifrigen, Tapferen offen, energisch, leidenschaftlich geführt wird. Sie haben es im Instinkt, daß sie mit jeder Hilfe, die sie annehmen, ein entsprechendes Stück ihrer Selbständigkeit hingeben, in die Abhängigkeit dessen geraten, der 203 ihnen die Hilfe bietet. Hier gilt für Individuen und Nationen dasselbe unerbittliche Gesetz.

Nun war ich zum ersten Mal abgewichen von der Linie, die ich, bewußt oder unbewußt, beständig eingehalten. Daß ich es nicht um meinethalben, nur einem anderen zuliebe gethan, konnte mich nicht trösten: ob man von seinem Wege abweicht, oder sich von ihm abdrängen läßt – im Resultat kommt es auf eines heraus. Ich hatte mir von jemand einen Dienst erweisen lassen, den man füglich eine Gnade nennen durfte, und ich hatte ihm nichts dafür zu bieten. Was er da von meiner Gegenwart gesagt, die ihm den Aufenthalt im Elternhause verschönert, war schließlich doch nur eine Höflichkeitsphrase, seine Großmut in ein für mich weniger beschämendes Licht zu stellen. Was auf der Welt konnte ich thun, meine Schuld gegen ihn, wenn nicht zu tilgen, doch erträglich für mich zu machen?

Darüber grübelte ich Tag und Nacht, denn mein gesunder Schlaf hatte mich verlassen und fast regelmäßig sah ich den Sommermorgen in mein Zimmer dämmern, ohne ein Auge geschlossen zu haben. In dieser Überreizung meiner Nerven geriet ich auf die tollsten Einfälle: er hatte durch eine seiner kühnen Spekulationen sein ganzes Vermögen verloren und ich zu gleicher Zeit das große Los gewonnen. Vater, Bruder, die Freunde – keiner wollte ihm helfen. In einem Augenblick der Not haben Sie mir fünftausend gegeben; hier sind hunderttausend. Nicht auf die Größe der Hilfe kommt es an; nur auf den Geist, in welchem sie geleistet wird. Der Ihre war der der Großmut; der meine: der der Dankbarkeit. Großmut und Dankbarkeit sind Zwillingsschwestern. – Dann wieder war er in Gefangenschaft geraten; ich bestach die Wächter, stahl mich durch tausend Gefahren in Verkleidung zu ihm: er wurde frei; wollte mir 204 danken. und ich – mit einer pompösen Handbewegung –: keinen Dank mein Herr! Wir sind nur eben quitt.

In diese kindischen Phantasieen schlich sich ein Gedanke, der mich, als er mir kam, furchtbar erschreckte; den ich, als ein allerabsurdestes Hirngespinst, weit von mir zu weisen versuchte, ohne ihn bannen zu können. Der immer wiederkehrte mit stets größerer unerbittlicher Deutlichkeit und Kraft, bis ich mich überzeugen mußte, er sei meiner armen Weisheit letzter Schluß.

Er aber sprach: was hat ein armes Mädchen, wie du, zu geben, als sich selbst?

Nicht, als ob ich mir das Ungeheure, das in dem Worte steckte, in allen Konsequenzen klar gemacht hätte! Das war bei meiner Unerfahrenheit und Unschuld nicht wohl möglich. Es blieb bei einer vagen Vorstellung von einem Opfer, das ich selbst war; und der Überzeugung, ich müsse es bringen, wenn es gefordert würde.

Und dann atmete ich auf bei dem zweiten Gedanken: es wird nicht gefordert werden. Einer, den die Reize eines so schönen Weibes, wie Jane, kalt lassen – wie könntest du ihm begehrenswert erscheinen? Du bist ihm nichts gewesen, als ein freundlich Mittel, über ein paar langweilige Stunden glücklich wegzukommen; die Bettlerin am Pont des Arts, welcher der vorübergehende gutgelaunte Herr ein Goldstück, das er nicht entbehrt, in die zitternde Hand drückt. Wenn das Bild, welches er von dem Weibe entwarf, das er lieben könne, einige Ähnlichkeit mit dir hatte, so war es Zufall, vielleicht die gnädige Neckerei eines Grand Seigneur mit einer Hofdame. Die Heirat mit einem armen Mädchen wäre sicher das letzte, worauf ein Mann verfiele, dessen Streben und Ehrgeiz so offenbar ins Große und Weite gingen.

205 So denn auch hier kein Ausweg aus meiner Not: ich war und blieb die Schuldnerin des fremden Mannes.


Der Kommerzienrat war zurückgekehrt, erfrischt von der Abwechselung, die ihm die Reise gebracht, und voller Befriedigung, ein schwieriges Geschäft ganz nach Wunsch erledigt zu haben. Unser Leben bewegte sich wieder in den gewohnten Geleisen. Frau Kommerzienrat widmete ihre Vormittage nach wie vor den Armen, um am Abend, allein oder mit den Freunden musizierend, alle Not und alles Elend des Lebens glücklich zu vergessen: stets heiter, nie um ein treffendes Wort verlegen, höchlichst verwundert, daß es Menschen gebe, welche die Wahrheit nicht vertragen könnten. Meine Leseabende mit dem Kommerzienrat waren zu einer Institution geworden, an der er mit Konsequenz festhielt; er nannte sie den Preis des mühseligen Tages. Die englische Litteratur hatte der deutschen Platz gemacht. Wir lasen fast ausschließlich Goethe. Zu meiner wahrhaften Erquickung: der himmlisch klare Blick, mit dem er in das verworrene Leben schaute; seine milde Weisheit, die alles an die rechte Stelle rückte, sich selbst durch das scheinbar ganz Absurde, Unerträgliche nicht beirren ließ, waren Balsam für mein wundes Herz. Doch nur Linderung schaffend, keine Heilung; und wie ich mich auch bemühte, die schmerzliche Unruhe, die in mir wühlte, zu verbergen, dem scharfen, liebevollen Auge des väterlichen Freundes war sie nicht entgangen. Er hatte mich gewiß tagelang still beobachtet, bis er eines Abends während einer Pause in unsrer Lektüre, sich in dem Lehnsessel aufrichtend, mit gütiger Stimme sagte:

Liebes Kind – er nannte mich jetzt oft so – 206 Sie haben etwas auf der Seele, das Sie schwer drückt. Möchten Sie es mich nicht wissen lassen? Vielleicht kann ich Ihnen raten, oder gar helfen. Ich wüßte nichts, was mir größere Freude machen würde.

Der herzliche Ton, die Zartheit, mit der mir hier eine Hilfe geboten wurde – während ich mir selber so gar nicht zu helfen wußte – es überwältigte mich und die Thränen stürzten mir aus den Augen. Er legte, aufstehend, seine Hand auf meinen gesenkten Scheitel:

Ruhe! liebes Kind, Ruhe! Die Dinge sind selten so schlimm, wie sie uns erscheinen. Was ist es?

Ich sagte ihm alles.

Er hatte sich wieder gesetzt und, die Augen mit der Hand beschattend, mir zugehört, ohne mich zu unterbrechen. So blieb er noch eine halbe Minute und dann, den Kopf hebend:

Sie haben nichts gethan, dessen Sie sich irgend zu schämen brauchten. Wie die Dinge lagen – ich abwesend, eine sofortige Entscheidung notwendig – konnten Sie nicht anders handeln. Was Philipp betrifft – ich räume es willig ein – so hat er sich in der Situation als Gentleman gezeigt. Gewiß: er ist jetzt ein reicher Mann, der mit ganz anderen Summen zu rechnen gewohnt ist; er hat Ihnen ja auch das Geld nicht geschenkt, nur vorgeschossen und verliert schlimmsten Falls, der freilich wohl eintreten dürfte, die Zinsen. Immerhin muß ich zugeben: nicht jeder wäre sofort bereit gewesen. Darum kann ich Ihnen nicht weniger den schweren Druck nachfühlen, der auf Ihnen lastet. Und nun hören Sie mich einmal recht ruhig an! Sehen Sie, liebe Antoinette, ich arbeite so weiter in meinem Geschäft, ohne eigentlich zu wissen, warum; bloß, weil ich kein anderes gelernt habe. Dabei empfinde ich oft eine 207 tötliche Langeweile und, daß ich es beim rechten Worte nenne: ich bat Sie in mein Haus, damit Sie mir diese Langeweile vertreiben hülfen. Das haben Sie mit einem Erfolg gethan, den ich nie für möglich gehalten; aber ich habe Ihnen für viel mehr zu danken. Sie haben in mein altes Leben ein Licht getragen, das wie der Wiederschein meiner Jugend ist; sind mir geworden, wonach ich mich mein lebelang gesehnt: eine geliebte Tochter, die, – ich weiß es, ohne daß Sie mir es gesagt haben, noch je zu sagen brauchen – mir von Herzen zugethan ist. Sehen Sie, das ist etwas Großes – mit allem Gelde Rothschilds könnte ich es nicht erkaufen. Wenn ich nun also sage: Sie sind Philipp nichts schuldig – keinen Pfennig: er hat das Geld, weil ich eben nicht zur Hand war, nur ausgelegt. Sie sind aber auch mir nichts schuldig – wiederum keinen Pfennig: so etwas existiert zwischen Vater und Tochter nicht – werden Sie das Herz haben – dummes Zeug! ich weiß es ja, ich sehe es ja: Sie werden nicht nein sagen.

Es war freilich nicht schwer zu sehen. Ich war von meinem Sitz herabgeglitten, ihm zu Füßen, das weinende Gesicht auf seine Kniee drückend.

Er hob mich auf und küßte mich auf die Stirn.

Das war das köstliche Siegel auf unserm Pakt.

In dieser Nacht – zum erstenmale seit vierzehn Tagen – schlief ich einen süßen traumlosen Schlaf.


Entscheidungen, bei denen das Herz den Ausschlag gab, haben das Schlimme, ins Wanken zu geraten, sobald die Flut der Empfindungen zu ebben beginnt.

Ich mußte diese trübe Erfahrung bereits nach wenigen Tagen machen. Nicht, als ob ich es bereut 208 hätte, die Liebe des väterlichen Freundes und sein großmütiges Geschenk entgegengenommen zu haben! Nicht, als ob ich mir hätte vorwerfen müssen: du hast ihn und dich selbst betrogen, denn du kannst ihm das einzige, was er für seine Liebe verlangt, nicht geben: deine Gegenliebe! Ich liebte ihn und seine prächtige Frau von ganzem Herzen längst, bevor es darüber zu einer Aussprache kam. Es war ein anderes: ich sah mich in der Hoffnung getäuscht, mich von Philipp frei zu machen, als ich mich in die Arme seines Vaters flüchtete. Mochte er immerhin das Geld bei Heller und Pfennig wieder erhalten haben, seine Schuldnerin blieb ich doch. Es handelte sich nicht um das Geld, wenigstens gewiß nur ganz nebensächlich. Was für mich ausschlaggebend war: nicht daß, sondern, wie er mir geholfen: mit dieser schönen Bereitwilligkeit, die sich auch nicht einen Moment zu besinnen brauchte; dieser ritterlichen Courtoisie, die dem Beschenkten die Beschämung ersparte, seinem Dank mit zarter Wendung auswich. Darin bestand in meinen Augen der Wert seiner Handlungsweise; bestand meine Verpflichtung gegen ihn. Und jetzt mußte er meinen, daß ich herzlos genug war, diese Verpflichtung nicht zu empfinden; frivol genug, anzunehmen: ich könne ihn ablohnen wie einen bezahlten Diener. Es war entsetzlich, mir sagen zu müssen: so kann er, so muß er jetzt über dich denken!

Ich klagte der Frau Kommerzienrat meine Not. Wie es zwischen den Ehegatten kein Geheimnis gab, hatte er ihr sofort mitgeteilt, was sich zwischen ihm und mir begeben; und wie sie beide stets dasselbe wollten und dasselbe nicht wollten, war sie mit Freude als dritte in den Bund getreten. So durfte ich über das, was mir das Herz beklemmte, frei mit ihr reden.

Sie nehmen das viel zu schwer, sagte sie, viel 209 zu ernsthaft. Wirklich ernsthaft ist eigentlich nur die materielle Not und dann freilich der Tod, der eine sehr melancholische Affaire ist und bleibt. Über so ziemlich alles andre kommt der Mensch weg: der eine früher, der andere später. Das ist Temperamentssache und Sache der Jahre. Wie ich Philipp kenne, denkt er heute schon nicht mehr an die ganze Geschichte. Er hat so viel anderes in den Kopf zu nehmen: Geldgeschäfte, Politik – was weiß ich! Seine ruling passion ist die Eitelkeit, – meinetwegen Ehrgeiz, wenn das besser klingt. Es wurmte ihn, als Judenjunge über die Achsel von den andern Bürschchen angesehen zu werden – flugs mußte er sich taufen lassen. Es ärgerte ihn, daß sein Bruder so viel reicher war, als er – da ging er an die Börse und spielte um ein paar Millionen, die er natürlich gewann: solche Leute gewinnen immer. Durch die dünne christliche Hülle hätte am Ende noch der Jude zu kenntlich durchgeblickt, also noch ein paar Fellchen darüber: Nationalvereiner, Parlamenter, Volksredner! Nun komme jemand und sage, daß der Name Bielefelder verdächtig klingt! Es fehlt ihm jetzt nur noch eines: eine unzweifelhaft christliche Frau, würdig, den Thron mit ihm zu teilen. Wenn ich an seiner Stelle wäre, ich wüßte, was ich thäte. Aber das Gute liegt den meisten Menschen viel zu nah. Gott, Kind, Sie brauchen nicht gleich die freifräulichen Augenbrauen in die Höhe zu ziehen! Ich denke gar nicht an Sie! Ich meine Ihre kaiserliche Hoheit, die Prinzeß Fatme von Fez und Marokko.

Das Gespräch, wie so ziemlich alle, die man mit der so wunderlichen, wie geistvollen Frau führte, endete in Scherz und Lachen. Ich schämte mich meines hypochondrischen Kleinmuts; nahm mir vor, alle Grillen fahren zu lassen und das Glück meines jungen Lebens frei und fröhlich zu genießen.

210 Schien doch die Sonne meiner Klosterjahre wiedergekehrt! Wie damals, hatte ich hier keine Sorgen, wenn ich sie mir nicht selber zusammenphantasierte. Sorgsame Hände wehrten alles Unliebsame von mir ab; wie die Lilien auf dem Felde brauchte ich nicht zu arbeiten und zu spinnen, wie die Vögel unter dem Himmel nicht zu säen und zu ernten, und ich hatte alles, was nur zum Leben gehört, in Hülle und Fülle. Ich durfte studieren, lesen, soviel ich wollte, was ich wollte. Die beiden lieben guten alten Leute nahmen es mit ihrem Wort schier feierlich ernsthaft: ich war die Tochter des Hauses, und wehe dem, der mir nicht als solcher begegnet wäre! Aber das fiel keinem ein: die Leute legten es förmlich darauf an, mich zu verziehen und zu verwöhnen.

Dazu war es Hochsommer, der schönste, den ich erlebt zu haben mich erinnere. Die Blumen in den Gärten blühten in schier südlicher Üppigkeit und Pracht. In dem Glanzlicht der sonnigen Tage schien selbst die Häßlichkeit der Stadt mit ihren nüchternen Fabrikgebäuden und dem Rauch und Ruß aus den Riesenschornsteinen der Stahl- und Eisenwerke, der Spinnereien und Brauereien wie weggelöscht. Die Länge der Tage verstattete ausgedehnte Spazierfahrten, auf welchen die Umgegend durchstreift und in der monotonen Landschaft doch so mancher anmutig-malerische Punkt entdeckt wurde. Auch die herrlichen parkartigen Anlagen von Arthurs Villa hätten uns zur freiesten Verfügung gestanden: Jane war wieder einmal in London, schleunigst dorthin berufen von ihrer Mama. einer sehr anspruchsvollen Dame, die – nach schwägerlich-freundlicher Aussage der Frau Kommerzienrat – bei beneidenswert robuster Gesundheit mindestens alle halbe Jahr einmal sterben zu sollen glaubte und zu diesem feierlichen Vorgang selbstverständlich das einzige Töchterchen bei 211 sich haben wollte. Jeden Morgen, wenn ich erwachte und die frühe Sonne, durch die rotseidenen Vorhänge scheinend, mein lauschiges Zimmer mit einer lieblichen Dämmerung füllte, sagte ich zu mir: wie so sehr gut hast du es doch! wie so allen Grund, zufrieden und glücklich zu sein, und – ich war es nicht. Es war da etwas Unausgeglichenes in meinem Leben, das mir die Ruhe störte, mich mit bangen Ahnungen erfüllte.

So steht wohl manchmal an dem blauesten Himmel über dem Scheitel des Gebirges ein graues Wölkchen, das der Reisende nicht beachtet, und von dem der wetterkundige Führer, sorgend zu ihm aufblickend, sagt: wir werden in kurzem Sturm und Regen haben.

 

Aus meinem Tagebuche.

Die Rosen haben ihre Glanzzeit hinter sich. Es sind ihrer noch eine Menge schönster Blumen; aber mehr noch haben ihre Blätter schon auf den Boden gestreut. Wie lange wird es dauern und es heißt: 'T is the last rose of summer!

* * *

Das Lied will mir nicht aus dem Sinn:

Left blooming alone;
All her lovely sisters
Are faded and gone!
!

* * *

Die schöne Lida, die noch schönere Carola, die reizende Grete Wesselhöfft – gone! gone! wenigstens für mich. Aber faded? Sie sind die Gattinnen von Männern, die sie lieben, von denen sie 212 geliebt, denen sie Kinder schenken werden. Da kann man doch nicht von ›faded‹ sprechen!

* * *

Es ist etwas Ungeheures, der Gedanke: das Kind, das nun das Licht erblicken soll, wird vielleicht einst die Welt mit seinem Ruhm erfüllen: ein Goethe, ein Spinoza, ein Alexander, ein Cäsar! Und du bist die Mutter dieses Kindes! – Gebenedeit! – Welch ein schönes Wort ist das!

* * *

Man sagt, das Genie stamme von der Mutter. Auch Goethe scheint etwas derart ausdrücken zu wollen. Mit der ›Lust zu fabulieren‹ ist es bei mir wohl nicht weit her. Aber eine ›Frohnatur‹ bin ich wohl. Wenigstens habe ich mich stets dafür gehalten, bis –

* * *

Acht Tage ist es bereits her, daß der Kommerzienrat an ihn geschrieben hat, und noch immer keine Antwort! Der Kommerzienrat meint: er wird verreist sein. Aber ich glaube, er sagt es nur, um mich zu beruhigen.

* * *

Das Urteil seiner Mutter über ihn ist doch sehr hart: Eitelkeit! Ja, was heißt das? Dann sind alle großen Männer, die es weit in der Welt gebracht haben, eitel gewesen.

* * *

Suum esse conservare. Mir deucht, in den drei Worten steckt die ganze Philosophie Spinozas. Ich grüble fortwährend darüber. So viel glaube ich 213 zu sehen: für den Menschen bedeutet es doch noch etwas anderes, als für den Stein, die Pflanze, das Tier. Bedeutet für ihn: ich will jede Kraft, die in mir liegt, anspannen bis zu ihrer äußersten Grenze; will von der Welt, was ich nur fassen und halten kann, in mich hineinfangen. Das ist des Menschen wirkliches ›Sein‹.

* * *

Und mein ›Sein‹? Das verhätschelte Schoßkind eines guten alten Ehepaars! Das ist was Rechtes!

* * *

Wenn er verreist wäre – soviel ich weiß, läßt ein Geschäftsmann sich seine Briefe nachschicken. Es ist gewiß etwas anderes: er hat es übel genommen; er zürnt; er will den Wunsch des Vaters nicht erfüllen. Wäre ich an seiner Stelle – ich thäte es auch nicht.

* * *

Mein Schlaf fängt wieder an sehr unruhig zu werden. Ich habe die wunderlichsten Träume. Eben jetzt: mein armer lieber Professor und er stritten sich fürchterlich über Spinozas großes Wort. Zuletzt rief Ph.: Was wollen Sie? Thatsachen entscheiden. Sie sind Ihr lebelang ein armer Schulmeister geblieben und haben zuletzt den Tod gesucht, weil Antoinette Sie nicht lieben wollte, was ich ihr gar nicht verdenken kann. Ich bin wie Fiesco: die Blinden in Genua kennen meinen Tritt. Mich lieben die schönsten Weiber, zum Beispiel meine Schwägerin Jane, der Sie doch gewiß die Schönheit nicht absprechen werden. Antoinette liebt mich auch. Ich mache mir aus dem allen nichts. Ich habe mehr und besseres zu thun –

Darüber wachte ich auf. Oder ich hatte träumend schon halb gewacht: es war alles so deutlich gewesen. Während ich im Bett aufrecht saß und in die rosige Dämmerung rings um mich her blickte, konnte ich, was er gesagt, Wort für Wort wiederholen. Dann bin ich aus dem Bett und in den Schlafrock geschlüpft und notiere mir's, damit ich's nicht vergesse: »Antoinette liebt mich auch!«

Sind Sie dessen so sicher, Herr Graf von Lavagna? Man sagt: Antoinette sei nicht ganz die Suse, wie Ihre verliebte Frau Gemahlin; nicht ganz die Pute, wie Jane, die vor aller Schönheit nicht einschlafen kann!

* * *

Wäre nur erst der Brief da!


Er kam zwei Tage später. Meine liebe Lent wird ihn mit zu den Akten nehmen.

 
Berlin, 8. Juli 1859.

Mein gnädiges Fräulein!

Soeben kehre ich von London zurück, wohin ich Hals über Kopf auf telegraphische Ordre meiner Schwägerin reisen mußte. Ihre Mama wollte wieder einmal sterben. Ich bin ihr Vertrauensmann in Geldsachen; da durfte ich nicht fehlen: so eine Million Pfund Sterling – das will überlegt sein. Natürlich war es wieder blinder Lärm, obgleich Jane in ihrer Depesche einen tragischen Ton angeschlagen hatte; und einmal muß ja doch 215 der Tod einem jeden von uns kommen. Genug, ich bin hinübergefahren und länger aufgehalten, als ich dachte.

Hier nun finde ich einen Brief meines Vaters. Weil er mit ›Private and confidential‹ bezeichnet, also kein Geschäftsbrief war, hat man ihn mir nicht nachgesandt.

Man opponiert nicht gern seinem Vater. Diesmal wird mir es doch recht schwer, es nicht zu thun. Er verlangt von mir –

Weshalb Ihnen das sagen? Sein Brief kann ohne Ihr Wissen, ohne Ihre Einwilligung nicht geschrieben sein. Also haben Sie seinen Wunsch zu dem Ihren gemacht; oder umgekehrt: Sie waren die Wünschende, er der Konsentierende. Es kommt auf eines hinaus.

Ich bin recht traurig. Es ist nicht freundlich, wie man mich behandelt. Ich meine, das süße Gefühl, einer liebenswürdigen Dame eine Gefälligkeit erwiesen zu haben, sollte respektiert werden; man sollte es mir nicht stören, nicht rauben wollen.

Glücklicherweise ist es auf der Welt so eingerichtet, daß das Üble irgend ein Gutes in Begleitung hat. Hier ist es sogar ein Großes.

Ich darf jetzt frei bekennen, was ich in dem Villa-Garten draußen – Sie erinnern sich – sub rosa Ihnen schon bekannt hatte, und entschlossen war, offen zu sagen in dem Augenblicke, da ich von Ihnen mich verabschieden würde. Und nun doch nicht sagen durfte, weil es den Anschein gehabt hätte, als wollte ich mir meine kleine Gefälligkeit bezahlen lassen, wie ein Wucherer – ein schnöder Wucherer.

Sie sind ein kluges Mädchen; Sie wissen, was ich nun bekennen darf und will.

216 Ja, Antoinette, ich liebe Sie; habe Sie vom ersten Augenblick an geliebt.

Es ist heraus. Bei Ihnen liegt die Entscheidung.

Für meine Werbung plaidiere ich weiter nicht. Daß die weltlichen Vorteile, die ich Ihnen bieten kann, in Ihren Augen gleich Null sind, weiß ich. Meine Sache ist hoffnungslos, wenn in Ihrem Herzen nichts für mich spricht.

Lassen Sie es sprechen!

Ich sage nicht: an dem Spruch hängt für mich Tod und Leben. Sie hassen die Phrasen, und das wäre eine. Ich werde auch weiter leben, wenn er gegen mich fällt. Es wird nicht eben leicht sein; aber das ist meine Sache. Den einen Vorteil wenigstens will ich von der veränderten Situation haben: überzeugt sein zu dürfen, daß Ihr Ja oder Nein vollkommen frei ist; von keiner Rücksicht, sie sei auch, welche sie sei, diktiert wird.

In Erwartung und Hoffnung zugleich

Ihr            

u. s. w.

Wem wäre es nicht schon begegnet, daß er in eine Situation gelangte, die er schon einmal durchlebt; in eine Gegend, die er bereits zuvor gesehen zu haben glaubte, trotzdem er mit Bestimmtheit weiß: es ist nicht der Fall gewesen.

Ähnlich so erging es mir mit diesem Brief. Ohne daß ich es wußte, oder mir gestehen wollte, hatte ich ihn Tage zuvor empfangen, gelesen, beantwortet. Nur vielleicht war er noch mehr in meinem Geschmack als der Gedankenbrief. Einem verliebten Mädchen möchte er erschreckend kühl erschienen sein; und gerade diese Kühle berührte mich höchst 217 sympathisch. Die beiden Liebeserklärungen, die man mir gemacht, hatten mich gerade durch ihre leidenschaftliche Heftigkeit verstimmt, erschreckt, abgestoßen. Wäre mir der dritte Bewerber ebenfalls mit einem Fußfall gekommen, sicher hätte er das Schicksal seiner Vorgänger geteilt. Er war klüger, sehr viel klüger gewesen, als jene; und ich hatte von jeher einen großen Respekt vor der Klugheit gehabt. Weiter: bei mir stand es fest: er, dem ich meine Hand reichen sollte, mußte ein Mann in meinem Sinne des Wortes sein. Das waren jene beiden nicht gewesen: Sklaven ihrer Empfindung, die sie im Sturm mit sich fortriß. Hier war zum ersten Mal einer an mich herangetreten, der sich vollkommen selbst beherrschte; sich stark genug fühlte, auf jede Überraschung, Überrumpelung verzichten zu können; offen erklärte, er werde es auch überleben, wenn ich ihn verschmähte.

Nun war noch ein Wort in seinem Briefe, das mich hätte stutzig machen sollen und es doch nicht that. Aus einem Grunde, dessen ich mich auch nachträglich nicht habe schämen mögen. Er nannte seine Sache hoffnungslos, »wenn in meinem Herzen nichts für ihn spräche«. Aber wie soll man eine Sprache verstehen, die man nicht gelernt hat, nicht hat lernen können, weil man sie nie hat sprechen hören? Und mein Herz hatte noch nie gesprochen; niemals deutlich, laut, gebieterisch. Höchstens verworren gelallt; und kaum das. Und ich hatte mir eingeredet, daß jene unschöne sinnliche Glut, die in meinen Augen den Mann unter sich selbst erniedrigte, bei einer Frau vollends unverzeihlich sein würde. Wie hatten mich die Liebkosungen angewidert, die ich Lida an ihren Otto verschwenden sah! Verliebt sein, war für mich der Inbegriff des Läppischen. Wenn Liebe kein Hirngespinst, wenn es ein Reelles war, das wirklichen Wert hatte, konnte er nur in Achtung, Vertrauen 218 bestehen, wie sie zwischen dem Kommerzienrat und seiner Gattin walteten und ihren Bund in meinen Augen zum schönsten der Welt machten.

Diese Achtung, dies Vertrauen hatte mir Philipp eingeflößt. Wie wenig dabei das Herz mitgeredet hatte, sollte ich sehr viel später erfahren, als es – zu spät war. In Ermangelung eines andern nahm ich es für die Sprache des Herzens.


Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, sagte die Kommerzienrätin, als ich ihr pflichtschuldig mitteilte, daß Philipp um meine Hand angehalten habe, und ich entschlossen sei, seine Werbung anzunehmen. Sie wollen ihn heiraten – basta! Ich werde mich deshalb schön hüten, zu sagen, daß ihr gar nicht zu einander paßt. Und wenn ich weiter sage: Sie sind viel zu gut für ihn, so klingt das freilich sehr wenig mütterlich, hat aber den Vorzug, desto ehrlicher zu sein. Eitle Menschen, wie Philipp, können überhaupt nicht lieben, außer sich selbst, was die allerordinärste Sorte von Liebe ist. Er weiß deshalb auch nichts von Ihren guten Eigenschaften, und wüßte er was davon, würde er keinen Pfifferling dafür geben; zum Beispiel für den völligen Mangel an Falsch in Ihrer Seele, der Sie mir so lieb und wert macht. Blieben Sie nur, was in seinen Augen Ihr Hauptwert ist: das geborene Feifräulein, möchte es für ihn mit Ihrer Wahrheitsliebe nicht besser bestellt sein, als mit der Janes, die den Mund nicht aufmachen kann, ohne zu flunkern. Und da Sie partout unsre Tochter werden wollen, muß ich Sie wohl von Stund an du nennen. Also, gieb mir einen Kuß! Und um die Aussteuer brauchst du dir das Köpfchen nicht zu 219 zerbrechen; die werden wir dir besorgen, daß sich der verwöhnte Prinz in Berlin wundern soll. –

Diese Rede, welche mir die treffliche Frau mit ihrer übersprudelnden Lebhaftigkeit noch an demselben Morgen hielt, – mit Regenschirm und Pompadour schon zu ihrem Ausgang in die Stadt gerüstet – blieb auf mich ohne Eindruck: ich war zu sehr davon überzeugt, daß die Mutter diesen Sohn falsch beurteilte, während ich ihr doch hinsichtlich Arthurs, der kaum besser wegkam, völlig recht gab.

Der Kommerzienrat, wie ich es erwartet hatte, sah die Angelegenheit in einem freundlicheren Licht.

Für die Mutter, sagte er, hat jeder verloren, den sie nur einmal auf einer Unwahrheit ertappte. Und ich muß gestehen: mit Philipps Wahrheitsliebe, als er ein Knabe war, stand es nicht zum besten. Aber ich habe immer gemeint: es war die Phantasie, die ihm diese Streiche spielte. Bis zu einem gewissen Grade ist er als Mann der knabenhafte Phantast geblieben. Darin liegt seine Schwäche, aber auch seine Stärke. Sähe er die Dinge so nüchtern wie andere Leute, erschienen sie ihm nicht in einem verlockenden Schimmer, würde er nicht den Wagemut haben, dem er seine Erfolge verdankt. Wer nicht in der Lotterie spielt, darf sich nicht wundern, wenn er das große Los nicht gewinnt. Sie, liebe Antoinette, sind sein großes Los. Hat jemand viel zu verlieren, drängt sich ihm der Gedanke auf: wie sicherst du deinen Besitz? In Ihnen sieht er diese Versicherung. Und mit Recht: Ihr klarer, reiner Sinn wird ihm ein Stern sein, dem er nur zu folgen braucht, um sich nicht in der Wüste zu verirren. Sein gehaltener kluger Brief ist mir ein Beweis: wenn jemals, so weiß er diesmal, was er thut. Ich werde Sie – wir werden Sie schmerzlich vermissen. Aber daran dürfen wir, dürfen Sie nicht denken. Was wäre das 220 Menschenleben, wenn wir es in dem engen Kreis unsers individuellen Daseins beschlossen sähen; wir nicht auch in der Zukunft, für die Zukunft lebten, die ja nur deshalb so heißt, weil sie einmal kommen wird? So schreiben Sie ihm denn ein mutiges Ja! und sehen getrost dem entgegen, was kommen wird! –

Und ich ging auf mein Zimmer, nahm einen Briefbogen und schrieb mit fester Hand: Ich erwarte Sie, Ihnen mündlich zu sagen, daß ich die Ihre werden will.

221 Drittes Buch.

Helgoland, 15. September.

Wie dankbar bin ich dem katholischen Priester, der uns nicht zusammengeben wollte, ohne daß ich Gott weiß was alles versprach! Wie dankbar den evangelischen Geistlichen, die nicht ganz so indiskret waren, aber sich auch sperrten! wie dankbar Philipp, der kurz entschlossen sagte: was gehen uns diese Pfaffen an! Wozu gäbe es denn ein Helgoland?

Abgesehen von allem andern: ich finde Helgoland wunderschön. Morgen reist Frau Schmitz zurück, die mich hierher eskortiert hat. Dann wird's noch schöner. Sie ist gewiß eine brave Frau. Aber man will doch lieber »unter sich« sein

* * *

19. September.

Die lieben, guten alten Leute! Ich wußte ja, daß sie mich lieb hatten – und doch! Frau Kommerzienrat – pardon! ich soll ja: Mama sagen und ich thue es gern – Mama machte freilich ihre Witze, nur, vor lauter Rührung, zum erstenmal passabel schlechte; und an die Migräne, mit der sie ihre roten Augen entschuldigte, glaube ich nicht. Papa – er ist ja immer so weich, viel zu weich – weinte die hellen Thränen. Philipp sagt: der Jude ist entweder hart, wie Flintstein, oder weich, wie eine Molluske. Ich habe es schon 224 heraus, daß er selbst beides ist. Wenn er mir des Abends aus Schiller, seinem Lieblingsdichter, vorliest – er liest sehr gut, nur nach meinem Geschmack etwas zu pathetisch – muß er bei einer besonders schönen Stelle seine Rührung gewaltsam unterdrücken; und während sich die arme, unschuldige Möve, die er angeschossen hat, zu Tode zappelt, ladet er kaltblütig seinen Lefaucheux und lacht mich wegen meiner »Sentimentalität« aus. Ich kann es nicht vertragen, wenn jemand über mich lacht. Noch dazu ganz ungerechterweise: ich bin gar nicht sentimental.

* * *

20. September.

Heute erster Zank. Ich habe mich geweigert, in dem großen Fährboot mit ihm zum Baden nach der Düne hinüberzufahren. Eine halbe oder ganze Stunde lang eng zusammengepfercht mit Krethi und Plethi zu sitzen, die dummen Gesichter ansehen und die noch dümmeren Unterhaltungen anhören zu müssen – c'est plus fort que moi. Er sagt: ich sei eine Aristokratin. – Wenn, Widerwillen gegen das Gemeine empfinden, aristokratisch ist, so bin ich es. Will es aber auch sein.

Nebenbei: Eine Stunde Einsamkeit über seinem Tagebuch ist auch nicht so übel.

* * *

21. September.

Langer einsamer Spaziergang über das Oberland. Diese wonnesame Luft, die dahergerauscht kommt, wie auf ungeheuren Schwingen! Diese blaue Unendlichkeit von Meer und Himmel! Ich stand lange hart am Rande des nördlichen Kaps und sah den Möven zu, die unter mir Kreise in 225 Kreise schlangen, ohne daß sich die langen weißen Schwingen zu bewegen schienen. Auf einmal – wie wunderlich! – glaubte ich mich aus der verfallenen Terrasse hinter unserm Kloster und sah den braunen Bach um die großen weißen Steine rinnen und über sie hin. Mein armer, unglücklicher Professor! Ich habe es nie fassen können, daß du, der starke, glänzende Geist – und nun glaube ich es doch zu verstehen. Weil ich jetzt weiß, was Liebe ist. Weiß ich es denn wirklich? –

* * *

23. September.

Philipp neckt mich mit meinem Tagebuch. Er wünsche mich neben so vielem andern auch als Schriftstellerin zu bewundern. Es fällt mir nicht ein, es ihm zu zeigen. Weiß ich denn immer, was er denkt? Nicht ohne Grund habe ich ihn schon: Philipp, der Schweigsame, genannt.

* * *

24. September.

Gestern abend in größerer Gesellschaft wieder auf dem Nordkap, von dem man, da es sich umbiegt, auch direkt nach Westen sieht. Die Sonne mußte im Untergehen sein, aber sie war verdeckt von einer ungeheuren schwarzen Wolke, die vom Horizont aus gerade auf uns zu sich über unsre Häupter streckte. Das stille Meer unter ihr schwarz, wie sie selbst. Wunderbar war, wie, weiter nach Westen, unmittelbar neben der scharfabgeschnittenen finstern Riesendecke der Himmel in der vollsten Klarheit eines reinsten Sonnenuntergangs erglänzte, und unter ihm die unabsehbare Fläche des Wassers, auf der hier und da ein rosiges Segel schwamm, in den sanftesten Farbentönen schimmerte und leuchtete.

226 Neben mir stand eine junge, seit zwei Jahren, wie sie mir gesagt hatte, verheiratete Frau, ein vielleicht nicht bedeutendes, aber sehr sympathisches Wesen, während ich ihren Mann nicht leiden kann, trotzdem er die Bonhomie und Jovialität selber scheint und die ganze Tischgesellschaft mit seinen Scherzen unterhält. Ich hatte mich zu ihr gewandt: Ist es nicht großartig? – Sie blickte an mir vorüber starr in die Weite und sagte ganz leise, wie mit sich selbst sprechend: So war meine Vergangenheit. Dabei deutete sie nach links in die Helle; dann, die Hand ein wenig nach der Himmelsschwärze hebend: Und so ist mein jetziges Leben. Dabei rollten ihr zwei dicke Thränen aus den starren Augen über die Wangen.

Das herrliche Schauspiel war für mich verschwunden; ich sah nur noch das blasse, weinende Gesicht. Ein paar große Tropfen fielen, denen sofort ein Regen folgte, wie ich ihn noch nicht erlebt. In einem Nu war man durchnäßt. Dabei brauste ein Sturm vom Meere her, glücklicherweise hinter uns drein, die wir auf dem schmalen Wege durch die Kartoffelfelder über die Länge der Insel nach dem Orte hasteten. Es dunkelte so, man konnte kaum erkennen, wen man neben sich hatte. Jemand faßte meine Hand. Es war Herr B., der Mann der jungen Frau. Als hätte ich eine Kröte berührt, schleuderte ich die Hand von mir. Weiß nicht, was er sich dabei gedacht haben mag. Ich dachte: Schurke! möglicherweise habe ich es auch gesagt. Verstanden hat er es wohl nicht: der Sturm heulte viel zu arg. Schade!

Mich beschäftigt heute das gestrige Erlebnis den ganzen Tag. Ich habe keinen Grund anzunehmen, daß sich die beiden nicht aus Liebe geheiratet haben. 227 Und jetzt nach zwei kurzen Jahren! Es ist unergründlich schaurig und traurig.

 
25. September.

Heute morgen sind sie abgereist. Die ganze Gesellschaft hat sie bis auf die Brücke begleitet. Herr B. machte einen Witz über den andern. Ich hätte ihn am liebsten ins Wasser gestoßen. Seine kleine Frau gab sich alle Mühe, munter zu sein; wie es in ihr aussah, wußte wohl niemand außer mir. Als wir uns einen Moment allein fanden, flüsterte ich ihr zu: Ist da keine Rettung? Sie hatte mich sofort verstanden: Scheidung? Aber er thut mir ja nichts. Ich müßte fortlaufen; man würde ihm das Kind zusprechen. Da könnte ich mir nur gleich das Leben nehmen.

Aber, Luise! rief ihr Mann, schon im Boot. Es war in Begriff abzustoßen. Ich hatte eben nur noch Zeit, sie zu umarmen. Uns beiden war das Weinen nahe.

»Er thut mir ja nichts!« Wie denn? Er martert sie, mordet sie langsam – ist das nichts? In den Augen der Richter nichts? Dann sind sie blind; dann sind sie blödsinnig! Oder die Welt ist es, die solche Gesetze schafft, bestehen läßt.

Und lag bei meinem armen Professor der Fall nicht ebenso, bloß umgekehrt? Sie that ihm auch nichts, die alberne, dumme Frau. Sie trieb den geistvollen Mann nur zur Verzweiflung, zu meinen Füßen und – in den Tod.

War es darum, daß mir neulich, als ich auf der Nordspitze stand und in die Weite und in die Tiefe starrte, die schmale Felsschlucht hinter unserm Kloster plötzlich vor die Seele trat mit dem braunen Bach in ihrem Grunde? Ob das grundlose Meer, ob ein Bach von ein paar Fuß Wasser – 228 in beiden kann man ihnen entfliehen, die »einem nichts thun«.

 
26. September.

Ich wollte es eigentlich nicht, dann habe ich Philipp gestern abend doch erzählt, was mir mit der jungen Frau B. begegnet war. Er zuckte die Achseln und sagte: Sie werden sich eben nicht verstehen. Ich hatte auf der Zunge zu fragen: Was heißt das: sich verstehen? Und verstehen wir uns? – Wenn dies »sich nicht verstehen« so grauenhaftes Leid im Gefolge hat, ist es der Eingang zur Hölle, die Hölle selbst. Den Teufel soll man nicht an die Wand malen.

 
27. September.

In einem großen Boot mit einer kleinen Gesellschaft zum Makrelenfischen gefahren. Es werden da zwei lange Angelschnüre ausgeworfen, rechts und links, die mit dem segelnden Fahrzeug durch das Wasser schleifen. Man spürt an einem leisen Ruck, daß ein Fisch gebissen hat, und zieht dann langsam die Schnur ein. Nach einigen verfehlten Versuchen hatte ich es heraus und fing die meisten Fische. Es machte mir keinen Spaß, trotzdem die Tiere, sobald sie in das Boot geworfen, fast sofort tot sind. Sehr hoher Seegang. Ein Boot, das in geringer Entfernung von uns segelte, verschwand wiederholt bis zur Mastspitze hinter den Wellenbergen, die sich zwischen uns auftürmten. Wir blieben ganz trocken, bis eine Dame scherzend sich beklagte, daß wir »kein Spülwasser bekämen«. Ich raunte dem Mann am Steuer zu: Können Sie das nicht machen? Er lächelte (wie diese Leute lächeln – kaum merklich – mit einem Mundwinkel) – im nächsten Moment fegte ein dichter 229 Sprühregen über uns weg. Alle Welt schrie auf – außer mir natürlich – am lautesten Philipp. Hernach sagte er: er habe sich meinethalben geängstigt. Ich glaube es nicht, nachdem er immer gesagt: man sei in den Händen dieser Leute absolut sicher. Weshalb denn so heftig auf den Mann einschelten? Es sollte mir leid thun, aber ich fürchte sehr: sein physischer Mut ist nicht groß. Trotzdem er in dem nassen Regenmantel unter dem breiten Hut mit seinem mächtigen Bart aussah wie ein richtiger Wikinger.

 
Hamburg, 1. Oktober.

Gestern mit dem letzten Schiff abgereist. Böse Fahrt. Fortwährend Regenböen, über das Verdeck wegpeitschend. Sehr bewegte See, Schiff viel Wasser nehmend (wie der Ausdruck lautet). Bis auf wenige Ausnahmen (ich z. B.) alle seekrank. Dazu vielleicht fünfzig nach Schluß der Saison heimkehrende Kellner und Kellnerinnen an Bord, zwischen denen beständig die (vermutlich gestohlenen) Flaschen kreisten. Sklavensaturnalien. Kreischende Musik zwischendurch. Als wir hier ankamen, stockfinstre Nacht. Berge von Koffern und sonstigem Gepäck auf der Landungsbrücke. Keine Droschken. Endlich doch im Hotel (de l'Europe). Philipp schwer verdrießlich; vermute, hauptsächlich, weil auch er heftig seekrank gewesen war. Noch nie passiert! behauptet er. (Wer's glaubt, giebt einen Thaler, würde seine Mutter sagen.) Er ausgegangen, einen Geschäftsfreund aufzusuchen. Ich lange Zeit am Fenster gestanden. Konnte mich nicht satt sehen. Das breite Wasser mit einem leichtesten Silberschleier überhaucht, durch den von drüben die von der Morgensonne beschienenen weißen Häuser in zartestem rosigen Licht blickten. Auf dem Wasser schnelle kleine 230 Dampfer beständig gehend und kommend. Am Quai eine Menge kleiner Boote festgebunden. Um die Boote Gewimmel von Schwänen. Hier möchte ich wochenlang bleiben. Leider sollen es nur drei Tage sein. Philipp muß nach Berlin zurück. Ich begreife das.

 
2. Oktober.

Wie klein die Welt ist! Gestern morgen, als Philipp zurückkam, treffen wir in dem Frühstückssaal (wo an kleinen Tischen gespeist wird) ein junges Paar: Herrn Lonis Bernstein und Frau; er, Hamburger von Geburt, seit zehn Jahren in London; sie wenigstens in England geboren (von deutschen, natürlich jüdischen Eltern); beide alte Bekannte von Philipp; sie die Cousine von Jane. Altersgenossin, Busenfreundin, in einer Pension erzogen – Jane spricht immerfort von ihr. Hat etwas Herbes, Puritanisches in Ausdruck und Wesen, was mir nicht mißfällt, da es mit einem sehr klaren Verstande verbunden scheint. Auch ich muß ihr sympathisch sein. Sie sagte nichts dergleichen; ich fühlte es nur aus der Weise heraus, wie sie mit mir sprach und mir zulächelte, während sie gegen Philipp sehr reserviert war. Wir sind den ganzen Tag zusammengeblieben; spät mittag in einem sehr feinen Restaurant gegessen (Pforte); abends in der Oper (Tannhäuser); hernach Austernkeller mit überflüssig vielem Sekt. Langes Programm für heute: Hafen, Blankenese – was weiß ich!

 
3. Oktober.

Abermals wundervoller Tag, fast ganz in der freien Natur verlebt. Etwas so Großartiges, wie den Hafen, habe ich mir nicht träumen lassen. Fange an, die Poesie des Handels zu begreifen. 231 Königlicher Kaufmann! Freilich! dazu gehören denn auch die prächtigen Villen am Elbufer in ihren schattigen Parks. Mit Sidonie richtige Freundschaft geschlossen. Sie über ihre »Busenfreundschaft« mit Jane interpelliert. – »Erstens heißt sie nicht Jane, sondern Rebekka. Zweitens liegt die Sache hier, wie so oft: Sie liebt mich und ich lasse mich lieben. Übrigens bin ich nicht eben stolz darauf; wen liebt sie nicht? – Ich: Zum Beispiel mich. – Da hat sie zufällig das Richtige getroffen. Als Regel liebt sie jeden, der ihr schmeichelt, wie das bei sehr Eitlen und – verzeihen Sie! – sehr Dummen so zu sein pflegt. Daneben ist sie die Gutmütigkeit selbst, vorausgesetzt, daß ihre Eitelkeit nicht verletzt wird. Dann kann sie sehr unangenehm, sogar boshaft werden. Doch das wissen Sie alles längst aus eigener Beobachtung oder von Ihrem Gatten. – Ich: Er spricht sehr selten von ihr. Er kann sie nicht ausstehen. – Auch einer, der sich Haß aus der Fülle der Liebe trank. – Ich (etwas stark frappiert): Wie das? – Hat er Ihnen nicht erzählt, daß er Jane einmal heiraten wollte? – Ich: Aber kein Wort! – Dann, verzeihen Sie! Mein Mann hat mir alle seine vorehelichen Dummheiten gebeichtet. – Ich: Also doch eine Dummheit? – Eine wie große, können Sie daraus abnehmen, daß er dann Sie geheiratet hat, die Sie, Gott sei Dank, in allem das Widerspiel von Jane sind. –

Konnte es dann doch nicht lassen, am Abend Philipp den Inhalt dieses erbaulichen Gesprächs mitzuteilen. Er wollte aufbrausen (wozu er überhaupt geneigt ist); ich sagte: das solle er lassen; damit imponiere er mir ganz und gar nicht; lieber sagen, was er mir wohl besser schon vorher gesagt hätte. Er: Mein Gott ja, ich habe Jane den Hof 232 gemacht, wie hundert andere. Sie war damals eben in unsern Kreisen der Star der Season. Aber von heiraten wollen! Keine Idee! Daß sie mich vor allen auszeichnete, gebe ich zu. Und wenn die Leute sagen, sie habe Arthur bloß par dépit geheiratet, weil ich für eine schöne Schottin schwärmte, die eben damals in der Gesellschaft auftauchte – so mag das auch wohl sein. Aber für das alles kann man doch nicht mich verantwortlich machen. Übrigens verstatte mir zu bemerken: ich finde diese Indiskretionen von der Bernstein einfach skandalös – unfair im höchsten Grade. Ich meine, du thätest besser, dich mit ihr nicht weiter einzulassen. Viel Gelegenheit dazu wirst du, so wie so, nicht haben. Sie schreiben mir aus Berlin, man wünsche dringend meine Rückkehr. Wenn es dir recht ist, reisen wir, anstatt übermorgen, spätestens morgen nachmittag. –

Mir ist es gar nicht recht. Aber Philipp hat wohl Ursache, über die Indiskretionen Frau Sidoniens ungehalten zu sein; und so will ich mich fügen. Merkwürdig bleibt, daß er mir nie von dieser früheren Courmacherei Janes auch nur eine Silbe gesagt hat. Philipp, der Schweigsame! Wenn das kein bloßer Scherz bliebe! Und Janes Behauptung ihrer Macht über ihn mehr wäre, als eitle Prahlerei, wofür ich es bis jetzt gehalten?

Es scheint, daß Frauenschönheit für die Männer ist, was das Feuer des Leuchtturms für die Vögel, die nachts über Helgoland streichen: wie magnetisch angezogen, fliegen sie gegen die glänzenden Scheiben. Man sagte mir, daß man oft hunderte der Tierchen am folgenden Morgen mit zerschmettertem Schädel unten liegend findet. Nun sollte der Mensch mehr Verstand haben, als ein Vögelchen. Aber was sollte nicht alles sein? Zum 233 Beispiel nicht eine Hochzeitsreise (nebenbei ein recht häßliches Wort!), die mit beiderseitiger Verstimmung endet.

Spinoza sagt: man müsse die menschlichen Dinge nicht beweinen oder verspotten, sondern verstehen. Suchen wir also, dies zu verstehen! Dies und – anderes!


Ich hatte Berlin mit einer so großen Spannung entgegengesehen, meine Erwartungen so hoch gesteigert, daß eine Enttäuschung unvermeidlich schien. Sie trat keineswegs ein. Nach wenigen Tagen stand bei mir fest: dies ist der völlig geeignete Ort; hier kannst du dein Selbst in deinem Sinne bewahren, das heißt: zu einer Höhe steigern, die du freilich nicht zu berechnen vermagst, für die du aber in deiner Ahnung eine sichere Gewähr hast. Die zum Teil unabsehbar langen Straßen; die weiten Plätze; die Pracht so vieler Gebäude; die Menge, das Gewimmel der Menschen – das alles mutete mich wundersam an. Hier pulste der Wille zum Leben mit einer leidenschaftlichen Kraft, für die ich einen Maßstab zu haben glaubte in der Lebensleidenschaft, die immer in mir gewesen sein mußte und mir jetzt nur zum Bewußtsein kam. Wie ein Geschöpf erst weiß, was es kann und vermag, wenn es in das ihm gemäße Element versetzt ist: ein Vogel, der dem Käsig entflohen ist und zum ersten Mal die Schwingen in der freien Luft regen darf. Ganz so fühlte ich mich; und das goß eine Heiterkeit in meine Seele, die mir die ganze Welt in einem Glanzlicht erscheinen ließ und gewisse Wolken verscheuchte, welche die Tage in Helgoland und Hamburg doch hier und da recht arg verdüstert hatten.

234 Niemand kam das mehr zu gute als Philipp. Die herbe Knospe, die ich bis dahin gewesen, wollte sich zur Blume entfalten. Diese Metamorphose läßt keinen Mann ungerührt. Es schmeichelt ihm, der Schöpfer eines Glückes zu sein, das vielleicht nur auf Rechnung der Natur und der begleitenden Umstände kommt. Ich muß sagen: vom ersten Augenblick an hatte er sich gegen mich durchaus rücksichtsvoll verhalten; jetzt verdoppelte er seine Aufmerksamkeiten; gab mir in jeder Weise zu erkennen, daß er nicht den mindesten Anspruch darauf mache, meine Freiheit zu beeinträchtigen; ich durchaus Herrin meiner Handlungen sei.

Freilich die beste Politik, die er einem selbstherrlichen Wesen gegenüber, wie ich es war, irgend befolgen konnte.

An Gelegenheit, sich in dieser diplomatischen Kunst zu üben, fehlte es ihm nicht.

Er hatte von einem Teil des immensen Gewinnes, den ihm seine letzte große Spekulation eingetragen, ein stattliches altes Haus mit einem ausgedehnten Garten und betreffenden Nebengebäuden in der Tiergartenstraße gekauft, das freilich, modernen Ansprüchen zu genügen, im Innern vielfach anders eingerichtet werden mußte. Diese Einrichtungen waren ungefähr zur Hälfte bereits getroffen, als ich dazu kam. Es war nicht alles nach meinem Sinn, aber ich rührte nicht daran, um über den Rest desto selbständiger schalten zu können. Nun galt es auch, die noch leerstehenden Räume zu möblieren. Hier sah ich erst, wie dankbar ich den lieben Schwiegereltern sein mußte. Sie hatten mir zu meiner Ausstattung ein bedeutendes Geld zur Verfügung gestellt, und des guten Papas letzte Worte waren gewesen: Sieh zu, Kind, wie weit du damit reichst! Reicht es nicht, sage es offen: ich habe noch mehr für dich. – So 235 brauchte ich dann zu meinem innigsten Behagen Philipps – übrigens, wie es schien, unerschöpfliche – Generosität nicht in Anspruch zu nehmen; durfte frei meinem Geschmack folgen, meinen Einfällen nachgehen. Sie waren manchmal ein wenig kraus; im Ganzen traf ich doch das Rechte. Der Himmel mag wissen, wie das zuging. Ich hatte niemals Kunst- und Kunstgewerbe-Studien machen können. Das einzige, was ich in dieser Richtung gesehen, war in der Park-Villa in D. gewesen; und da hatte durchgängig spezifisch englischer Stil geherrscht, mit dem hier nichts anzufangen war. Es mußte mich wohl ein gewisser angeborener Sinn für das Schöne und Passende bei meiner Auswahl leiten; wenigstens versicherten die Händler, ich habe ein seltenes Talent, unter dem Unbedeutenden, für den Durchschnittsgeschmack Berechneten sofort das Bedeutende und Wertvolle herauszufinden.

Und so sagten auch die Bekannten und Freunde, deren sich schon jetzt mehr vorstellten, als unsere geräumige Chambre-garnie-Wohnung, die wir interimistisch inne hatten, manchmal bequem faßte; und deren Schar ich erst einigermaßen übersehen konnte, als wir im Spätherbst, – der Reif lag bereits auf den Bäumen im Tiergarten – unser inzwischen fertiggestelltes Heim durch eine große Abendgesellschaft einweihten.

Es war ein schönes Fest, an das ich noch jetzt mit wehmütiger Freude zurückdenke.

Die weiten Gesellschaftsräume im Erdgeschoß zeigten gewiß noch nicht die Pracht, mit der sie heute ausgestattet sein sollen, und die in ihrem vollen Glanz meine Augen nie gesehen haben und sehen werden. Aber vor dreißig Jahren machte man noch nicht die Ansprüche von heute. Noch wußte man nichts von elektrischer Beleuchtung; die Wände brauchten noch 236 nicht mit Freilicht-Gemälden tapeziert zu sein; die Möbel und Kunstgegenstände von damals sind längst aus der Mode. An jenem Abend war nur eine Stimme, daß man eine so kostbare, gediegene, erlesene Ausstattung sonst nur in fürstlichen Schlössern bewundern könne.

Und die festlich gekleidete Menge, die sich in den schönen Räumen hin und wider bewegte? Es war eine Gesellschaft, wie sie in jenen Tagen schwerlich ein Berliner Haus bunter und interessanter aufweisen mochte. Das Hauptkontingent bestand aus Männern der haute finance mit ihren Frauen und Töchtern – Geschäftsfreunde Philipps, in deren Häuser mich einzuführen er beflissen gewesen war; sodann aus Parlamentariern, mit denen er durch seine öffentliche Thätigkeit in mehr oder weniger intimer Beziehung stand. Es fehlte aber auch nicht an Schriftstellern und Publizisten, die zur liberalen Partei gehörten, und Künstlern, die uns unser Heim hatten schmücken helfen. Philipp hatte bereits als Junggeselle eine Art von Haus gemacht; man war gern zu seinen Diners und Soupers gekommen; aber er hatte sie meistens in Hotels geben müssen, und so hatte der rechte Zusammenhang gefehlt. Der war jetzt ersichtlich, und es konnte nicht ausbleiben, daß man mir das Verdienst zuschrieb und es mir auf die schmeichelhafteste Weise zu erkennen gab. Die junge neunzehnjährige Frau durfte sich als den Mittelpunkt einer so großen und vielfach ausgezeichneten Gesellschaft betrachten; und sie genoß ihren so leicht gewordenen Triumph in vollen Zügen. Ich sehe mich noch an diesem Abend in meinem weißen Atlaskleide, dessen Rock die damals modische lächerliche Krinoline nur mäßig aufbauschen durfte, denn ich war etwas eitel auf meine schlanke Gestalt, die in meinen Augen nebst meinem schier überreichen Haar mein einziger Reiz war. Doch hatte 237 ich sehr bald heraus, daß etwas ganz anderes als meine äußere Erscheinung mir eine Stellung in der Gesellschaft verschaffen zu wollen schien. Zwar war ich mir immer leidlich gescheit vorgekommen, und mein armer Professor hatte mir oft gesagt, ich habe eine beneidenswerte Gabe, das rechte Wort im rechten Moment zu finden; und das wollte immerhin in seinem Munde, der selbst so beredt war, etwas sagen. Aber ich hatte nie Gelegenheit gehabt, dies Talent, wenn es wirklich vorhanden war, auf eine höhere Probe zu stellen. Hier wurde sie mir, und zu meinem frohen Erstaunen fiel sie über meine kühnsten Erwartungen glücklich aus. Ich sah es aus den verwundert lächelnden Mienen des Kreises, der, immer wechselnd, mich den ganzen Abend hindurch auf Tritt und Schritt umgab. Man hatte die Naivetät, es mir in mehr oder weniger geschickten Wendungen zu sagen; manchmal auch in recht ungeschickten, die ich darum nicht weniger goutierte. Mein erstes Debüt in der Berliner Gesellschaft war ein entschiedener Erfolg.

Den die Wintersaison, die nun ihren Anfang nahm, eher erhöhte, als abschwächte. Wir gingen aus einer Gesellschaft in die andre; mir konnte es nicht zu viel werden: meine kraftvoll-elastische Natur fühlte kaum die Anstrengung, und es ist für den Neuling so süß, sich bewundern und verwöhnen zu lassen. Man hatte dafür in gewissen Regionen unsers sich täglich vergrößernden Kreises ein ganz spezifisches Talent. Mit der unbefangensten Miene von der Welt sagten sie einem ins Gesicht die unerhörtesten Dinge; und Männlein und Fräulein gaben darin einander nichts nach. Mein längerer Aufenthalt in einem jüdischen Hause war in den Augen dieser Herrschaften ein Passepartout, der mir die Häuser und Herzen öffnete; und damit die Vertraulichkeit die Grenze nicht überschritt, erinnerte man sich, daß ich 238 der Abkömmling einer uralten freiherrlichen, einst reichsunmittelbaren Familie war, aus der so gut, wie aus den Habsburgern oder Hohenzollern, ein Dynastengeschlecht hätte hervorgehen können. Es war damals bei den Damen Mode, sich à l'américaine mit Schmuck: Diamanten, Brillanten, Perlen zu behängen, und diese reichen Frauen wetteiferten darin. Nun machte ich es mir zum Gesetz, selbst bei großen Gelegenheiten keinerlei Schmuck zu tragen. Das gab denn im Anfang höchst erstaunte Augen der mit Diademen, Ohrgehängen, Rivièren, Broschen, Armspangen, Ringen aufgeputzten stattlichen, nicht selten auffallend schönen Damen, bis denn eine und die andere, als hätte man ein schwieriges Problem glücklich gelöst, förmlich erleichtert aufatmend, sagte: Freilich, Sie dürfen es! Und gerade das wollte ich hören.

Gewährten mir schon diese üppigen Diners und Soupers, diese glänzenden Bälle, für welche meine Tanzkarte meistens schon, ehe sie begannen, gefüllt war, ein großes Vergnügen, fand ich doch ein viel intensiveres, meinem Geschmack weit mehr zusagendes in dem kleineren Kreise, den ich bald in der Theestunde, die ich eingeführt, um den Kamin in meinem Salon zu versammeln verstanden hatte. Hier galt kein Stand und Rang, keine Großmachtstellung an der Börse. Es wurde nach nichts gefragt, nur nach der geistigen Qualität des, oder der Betreffenden. Meistens waren es jüngere Männer: Professoren, Privatdocenten der Universität, die sich bereits einen rühmlichen Namen gemacht hatten, oder vor Begierde brannten, es zu thun; Dichter, die in ihren ersten größeren Erfolgen schwelgten; Künstler, die sich im Geist schon mit der großen oder kleinen goldenen Medaille geschmückt sahen; Redakteure von Blättern, deren Witze und Karikaturen, wie ephemer sie schienen, ein dauerndes Ferment der sozialen und politischen 239 Bewegung bildeten – alle mehr oder weniger ausgezeichnete Köpfe, anregend, für jede Anregung empfänglich. Wurden von diesen Fragen der Wissenschaft und Kunst mit Eifer und Einsicht ventiliert, wollten auch die Parlamentarier zu Worte kommen; ja, sie beherrschten nicht selten das Gespräch, da bereits jetzt alle Anzeichen am politischen Horizont auf den Sturm deuteten, der dann wenig später in der Konfliktszeit zum Ausbruch kam.

Ich hatte mich nie um die Politik gekümmert. Wie hätte ich es auch gesollt in den höchst unpolitischen Kreisen, in denen ich bisher gelebt: meinem stillen, weltabgeschiedenen Kloster? der Offiziersgesellschaft meines Onkels in D.? dem Hause meines Professors, der nur in höchsten Geistessphären leben wollte und in der Politik ein verächtlich-banausisches Treiben sah? Auch in die spinozistischen Grübeleien meines edlen Kommerzienrats hatten politische Fragen nicht so recht hineinpassen wollen. Eine erste Anregung nach dieser Richtung hatten mir seinerzeit die abendlichen Unterhaltungen mit Philipp gebracht; aber sie war doch zu flüchtig gewesen und er bei seiner seltsamen Befangenheit im Privatgespräch kein guter Lehrmeister. Hier geriet ich in die Hände der vorzüglichsten. Oder wie sollte ich die v. F., v. H., L., Tw., B., den beweglichen O., den prächtigen alten W. nicht so nennen – Männer vom tiefsten Wissen der öffentlichen Dinge, durchdringendem Verstande, anmutiger, oft glänzender Beredsamkeit? Und noch hatten der Gang und die Entwickelung der Ereignisse diese Geister nicht getrennt; es herrschte ein wundervoller Einklang, den die Originalität, die jeder seiner individuellen Stimme zu geben wußte, durchaus vor Eintönigkeit schützte.

So erinnere ich mich mit Entzücken einer Sylvesternacht, der ersten, die ich als junge Frau erlebte. 240 Unser Kreis, die Damen eingeschlossen, hatte sich in einem damals ganz besonders fashionablen Restaurant Unter den Linden ein Rendezvous gegeben. Alle jene vorhin Genannten und einige wenige andre, unter ihnen B. A., waren zugegen, fürwahr eine auserlesene Gesellschaft. Der spät begonnene Abend verging schnell unter munteren Gesprächen; witzige, geistvolle Worte flogen hinüber und herüber. Bis die Mitternachtsstunde immer näher rückte, und es stiller und stiller um dem großen Tisch wurde, so daß zuletzt nur noch einige Damen mutig weiter sprachen. Ich mußte heimlich lachen; ich glaubte, mir dies seltsame Schweigen deuten zu können. Wenn die Glocke schlug, mußte unbedingt gesprochen werden. Wer sollte sprechen? Hier saßen mindestens ein Dutzend Männer, welche die angeborene Gabe der Rede noch berufsmäßig jahrelang geschult, zur Vollendung gebracht hatten. Unter so vielen Pairs wollte keiner sich den Vortritt anmaßen. Die Uhr auf dem Kamin hakte aus, schlug; draußen auf der Straße das Neujahrsgeschrei, bei uns im Saal feierliche Stille. Die dann von einem jungen Schriftsteller unterbrochen wurde, der sich unlängst durch einen vielbesprochenen Roman vorteilhaft in unsern Kreis eingeführt hatte. Wenn die Ritter sich sperrten, dürften sie sich nicht wundern, daß der Knappe sie beschäme. Er aber ringe keineswegs nach dem Preis des Turniers; wolle nur die edlen, vom Kopf bis Fuß geharnischten Herren aus ihrem fainéant-Schlafe wecken, und hoffe, daß ihm dieser Liebesdienst gelungen sei.

Er war ihm gelungen. Einer nach dem andern erhob sich, sprach; einer immer schöner als der andre. Als ich später im Lamartine die wundervolle Schilderung der letzten Nacht der Girondisten las, mußte ich an diesen Abend denken. Und doch war unser Vergniaud kein zünftiger Politiker. Als alle anderen 241 gesprochen, hub, als letzter, B. A. seine kurze stämmige Gestalt vom Stuhle auf und begann zu reden. Ich wüßte seine Rede nicht wiederzugeben. Schon während er sprach, hatte ich durchaus den Eindruck: das seien nicht Worte, das sei Musik, die aus höheren Regionen herabtöne, das Ohr mit Wohllaut, die Seele mit Entzücken füllend. Wäre da ein Stenograph zugegen gewesen! Die Kulturgeschichte unsres Volkes würde um ein wundervolles Kapitel reicher sein!


Daß ein Haus, welches sich so glänzend eingeführt hatte, um in kurzer Zeit der Mittelpunkt einer eben so zahlreichen, wie interessanten Gesellschaft zu werden, vielfach in dem Mund der Leute war, auch solcher, die außerhalb unsers Kreises standen, ist begreiflich. Eine Großstadt ist es immer nur in gewissen Beziehungen; sonst ist sie ein Konglomerat aus unterschiedlichen Mittel- und kleinen Städten, in denen es gesellschaftlich nicht eben anders zugeht, als in irgend einer Provinzialstadt. Man sondert sich in Lager, beobachtet einander, kritisiert einander; hält gute Nachbarschaft, steht sich feindschaftlich gegenüber; jedes hat seine Anschauungen, Sitten und Gewohnheiten, selbst seine Sprache für sich; entschiedene Überläufer aus einem in das andre sind selten, und es haftet an ihnen der leichtere, oder schwerere Makel des Renegatentums; in mehreren Lagern zugleich zu verkehren, erfordert eine außerordentliche Gewandtheit, die denn doch dem Vorwurf der Charakterlosigkeit kaum entgeht.

So wurde ich eines Tages – der Winter ging bereits zu Ende – nach Hause kommend, durch eine Karte überrascht, die inzwischen von der Dame in 242 Person abgegeben war: Frau Geheimrat Dürieu, geb. Komtesse Reckeberg.

Wohl durfte ich überrascht sein. Mit Carola freilich, die mit ihrem Gatten, dem Erbprinzen, dauernd auf dem Schlosse der fürstlichen Schwiegereltern residierte, war ich in einiger Verbindung geblieben. Wir hatten uns gegenseitig durch Briefe au courant der beiderseitigen Erlebnisse erhalten. Ich hatte ihr von meinem Aufenthalt in dem Hause des Kommerzienrats berichtet, meine Verheiratung angezeigt. Sie ihrerseits schrieb von dem idyllischen Leben, das sie in Falkenburg führe; von der zunehmenden Kränklichkeit des alten Fürsten; von dem Mutterglück, dem sie entgegenharre, und zu dem sie täglich und stündlich den Segen des Himmels erflehe. Dann, vor einem Monat etwa, war das große Ereignis eingetreten und der durchlauchtigen Familie ein neuer Stammhalter geboren worden.

Während so zwischen mir und dem Liebling meiner Klosterjahre die alte Freundschaftssonne noch immer, wenn auch verblaßt, nicht ganz erloschen war, schienen Adele und ich nicht mehr für einander zu existieren. Zu verwundern war das nicht. Wie lange wir auch in einem Zimmer geschlafen, aus einer Schüssel gegessen, eine Schulbank gedrückt hatten, wir waren innerlich einander fremd geblieben; ja, wer in unsre Herzen hätte sehen können, würde da einen Keim entdeckt haben, aus dem sich eine solide Feindschaft unter Umständen wohl entwickeln mochte. Es fand eben zwischen uns das Gegenteil einer Wahlverwandtschaft der Seelen statt, und die instinktive Antipathie wurde noch durch die Unvorsichtigkeit unsers Professors vermehrt, der ein mephistophelisches Vergnügen daran fand, uns beide als Rivalinnen gegeneinander auszuspielen. So hatte denn nach unsrer Trennung nur ein kurzer, hinüber und herüber so 243 wenig erquicklicher Briefverkehr stattgefunden, daß ich es mir schuldig zu sein glaubte, ihn Knall und Fall abzubrechen. Damit hatte jede Verbindung zwischen uns aufgehört; eine Wiederanknüpfung schien jetzt vollends unmöglich. Ihr Gemahl, der Geheimrat Dürieu aus dem Kultusministerium, – ein Herr, der den Jahren nach gut und gern ihr Vater sein konnte – galt als eine der festesten Säulen der orthodoxesten kirchlichen Partei und eingefleischter Absolutist, dem selbst unser bescheidenes konstitutionelles Wesen ein Greuel war. Daß man ihm einräumen mußte, ein durchaus ehrbarer Mann zu sein, der, ohne Liebedienerei und Strebertum, fest in seiner Überzeugung stand, die er, nach unten, wie nach oben, gleich kräftig behauptete, schützte ihn in den Augen unsrer Partei sicher vor Mißachtung, ließ ihn aber um so gefährlicher erscheinen.

Ich kann mir denken, daß Adele seine Gesinnung teilt, sprach ich bei mir, während ich nach der Viktoriastraße fuhr, den mir zugedachten Besuch pflichtschuldig zu erwidern.

Ein Livreediener leitete mich die breite Treppe hinauf über einen weiten Flur durch mehrere sehr geräumige Zimmer in einen saalartigen Raum, wo er mich Platz zu nehmen und die Gnädige erwarten zu wollen bat, die in wenigen Augenblicken erscheinen werde. Ich ließ meine Blicke aufmerksam umherschweifen, wie ich es schon beim Heraufsteigen gethan. Die fast durchgängig weißen, dem Marmor täuschend angeähnelten, nur mit schmalen Goldleisten decent verzierten Stuckwände; die im schönsten Verhältnis zu der Höhe und Weite der Gemächer stehenden, ebenfalls in Weiß und Gold gehaltenen Thüren mit ihren schmalen, südländische Landschaften in klassischen Umrissen und Farben darbietenden Supraporten; die Marmorbüsten auf Konsolen, schicklich über die 244 Wandflächen verteilt; die nicht eben zahlreichen Möbel in ihren gräcisierenden, das Auge seltsam anmutenden Formen – alles machte auf mich den Eindruck stiller, vornehmer Größe, die mir gewaltig imponierte und mir, in Vergleich, mein, mit so viel Kopfzerbrechen und so großen Kosten eben erst eingerichtetes Heim beschämend kleinlich, ja, ordinär erscheinen ließ.

Nun öffnete sich eine Tapetenthür, die ich nicht bemerkt hatte, und die Herrin trat herein, eine Erscheinung bietend, als habe der Geist dieses klassisch vornehmen Hauses wandelnde Form angenommen. Die schlanke Gestalt in ein faltenreiches weißes, über den Hüften mit einem goldenen Gürtel zusammengehaltenes Gewand gehüllt; das reiche blonde Haar an den Schläfen gewellt, im Nacken geknotet, kam sie auf mich zu, zwei schmale Hände mir entgegenstreckend, deren Alabasterfarbe unmöglich ein Produkt der Natur sein konnte.

Bei diesem Anblick, mit dem der feierlich-priesterliche Ausdruck des Gesichts durchaus harmonierte, hätte mir meine leicht erregliche Spott- und Lachlust fast einen bösen Streich gespielt; aber es gelang mir, Zunge und Miene im Zaum zu halten und die Küsse auf meine beiden Wangen mit gutem Humor entgegenzunehmen.

Meine erste Bemerkung war natürlich ein Kompliment über ihre stattlich schöne Umgebung.

Kein Wunder, sagte sie, da Schinkel für den seligen Vater meines Gatten das Haus gebaut und ausgestattet hat. Jedes Möbel ist nach einer Zeichnung von ihm. Er war nach Goethe der letzte Grieche. Mit ihm ist die Klassicität zu Grabe getragen.

Da ich hier bei meiner beklagenswerten Ignoranz in der Bau- und Kunstgeschichte auf ein sehr unsicheres Terrain geraten zu sollen schien, fragte ich schnell nach Carola.

245 Es ging ihr gut; der Erbprinz, Dagobert mit Namen, gedieh vortrefflich in der herrlichen Luft, die »über jene sanftgerundeten Hügel, durch jene elysäischen Gefilde« wehe. Leider könne man von ihrem Gatten nicht dasselbe sagen; er reibe sich auf in der Ordnung der Schuldmasse, die der verschwenderische, seit einem halben Jahr unter Kuratel gestellte Fürst aufgehäuft habe. Glücklicherweise sei das Majorat vor den Griffen der Gläubiger sicher – ein Vorzug, dessen sich die schnell zusammengerafften Vermögen der Spekulanten, Gott sei Dank, nicht zu erfreuen hätten.

Nun bekam ich ohne Übergang eine Geschichte des Dürieuschen Vermögens zu hören, das keineswegs ein schnell zusammengerafftes sei. Vielmehr ein altes, höchst feudales, sintemal die Vorfahren Jahrhunderte lang als Grand-Seigneurs in der Provence gesessen hätten, um, nach dem Edikt von Nantes expatriiert, sich in Berlin niederzulassen und den Import von Seide im großen Stil zu betreiben. Woran sich dann eine langatmige Klage über die Hartnäckigkeit ihres Gatten schloß, der, im Bewußtsein seines alten französischen Adels, das Anerbieten einer preußischen Nobilitierung bereits wiederholt abgelehnt habe.

Ich finde das sehr schön von deinem Manne, sagte ich.

Wie man es nehmen will, erwiderte Adele. Nur, daß leider niemand unserm Namen, wenn er als ein Wort geschrieben wird, ansieht, daß er ursprünglich du Rieux gelautet hat.

Das scheint mir denn doch sehr gleichgültig zu sein.

In meinen Augen nicht. Für mich ist der Adel eine geheiligte Institution. Es ist mir unbegreiflich, wie du den Vorrechten, welche dir deine Geburt gab, hast entsagen können; noch dazu in einer so eklatanten, das Gefühl deiner Standesgenossen tief verletzenden Weise.

War, mir diese wenig schmeichelhafte Bemerkung zu machen, der Grund, weshalb du mich nach der langen Trennung wieder aufgesucht hast?

Wenn ich ganz offen sein soll: ja. Als deine Jugendfreundin glaube ich das Recht zu dieser Offenheit zu haben. Es schmerzt mich, sehen zu müssen, wie weit du von dem Pfade abgewichen bist, der dir, der Tochter eines höchst ritterlichen Geschlechts, so deutlich vorgezeichnet war. Wärst du als Bürgerliche geboren, ich würde es zur Not begreifen; so stehe ich vor einem unheimlichen Rätsel. Dein Gatte, höre ich, ist ein getaufter Jude. Was ist durch die Taufe geändert? Auf das Blut kommt es an; Blut ist alles; wenn dir der Himmel Kinder beschert, werden sie Judenblut in den Adern haben. Dein Gatte, sagt man mir, hat sein Vermögen durch Spekulationen an der Börse gewonnen. Kannst du eines Reichtums froh werden, der andre arm gemacht hat? und von dem es heißen wird: wie gewonnen, so zerronnen? Dein Gatte, vernehme ich, ist ein Ultraradikaler, der nichts von der Heiligkeit des Satzes weiß, daß wir unterthan sein sollen der Obrigkeit, die Gewalt über uns hat; vielmehr sich mit Frevelmut, wie er nur immer kann und vermag, gegen die uns von Gott gesetzte Obrigkeit auflehnt. Ich begreife es von ihm, dem Sohn des Volkes, das den Herrn gekreuzigt hat. Aber du! Und man teilt mir mit, daß du an diesen Orgien des Frevelmutes und der Zerstörungswut, die in deinem Hause begangen werden, teilnimmst; ja, daß du die Fahnenträgerin dieser Umstürzler und Nihilisten bist. Da wollte ich dich denn gewarnt haben, solange es vielleicht noch nicht zu spät ist; da wollte ich dich freundschaftlich, und darf sagen: schwesterlich gebeten, angefleht haben: gehe nicht weiter 247 auf diesem verderblichen Wege! kehre um zu uns, die die Reuige mit feurigen Armen empfangen werden! Ich verlange nicht, daß du dich sofort bereit zeigst – dazu bist du wohl schon zu eng in die Schlingen deiner Irrtümer verstrickt. Ich bin bereit, dir sie lockern, lösen zu helfen. Besuche mich oft! Ich werde dir den Kreis erschließen, den ich um mich geschart habe; eine Gesellschaft, in welcher sich die höchste Bildung mit der feinsten Sitte paart. In dieser reinen Atmosphäre wirst du dich auf dich selbst besinnen; auf das, was du deinem glorreichen Geschlecht, deinem König, deinem Gott, dir selbst schuldig bist. –

Nun war diese lange, zweifellos sorgfältig vorher ausgearbeitete Rede gewiß von einer Naivetät, die man wohl Unverschämtheit hätte nennen können; seltsamerweise fühlte ich mich nicht beleidigt. Wie sie da vor mir saß, die Alabasterhände im Schoß sanft übereinandergelegt; die schwimmenden Augen bald zur Zimmerdecke groß aufschlagend, bald wie in verzücktem Traum halb schließend; wie sie alles sagte: in sanften Tönen, als deklamiere sie ein Geibelsches Gedicht – das war ja, wie sie leibte und lebte, meine Adele aus dem Kloster, die mich mit ihrem rührseligen Pathos so oft zum Lachen gebracht hatte. Nein, ich konnte nicht bös werden. Aber den kecken Angriff unerwidert, sie in dem Glauben lassen, einen glänzenden Sieg über mich davon getragen zu haben – das durfte auch nicht sein. So sagte ich mit größter Gelassenheit:

Das war eine fleißige Arbeit, liebe Adele, gut memoriert und trefflich vorgetragen. Ich werde dir Nummer Eins geben müssen. Wenn ich mit dem Inhalt nicht überall einverstanden bin, so kennst du mich von früher her zu gut, als daß du dich darüber wundern solltest. Wir sind eben beide geblieben, wie wir waren: du autoritätsgläubig, auf die Worte dessen 248 schwörend, der dir gerade zufällig als Meister gilt; ich skeptisch, niemand aufs Wort glaubend, er sei auch wer er sei. Und wenn ich seitdem auch die Politik in den Kreis meiner Betrachtungen gezogen habe, so ist das keine Veränderung, nur eine Erweiterung meines Wesens. Natürlich bin ich hier nicht weniger radikal, als ich es in Sache der Religion immer gewesen. Wie ich niemals geduldet habe, daß irgend ein Glaubensdogma, es hülle sich in noch so ehrwürdige, noch so schmeichlerische Gestalt, mein freies Denken beschränkte; die Wunder, mit denen man Christi Geburt, Leben und Sterben ausgeschmückt hat, niemals für etwas anderes gehalten, als Erzeugnisse der mythenträumenden Volksphantasie, so gilt mir das Gottesgnadentum der Könige nichts, halte ich die Existenz einer Adelskaste für eine Demütigung, gegen die sich ein Volk, das mündig ist, empören müßte, und würde lieber in einer Republik auf einem beständigen Qui vive! als in einer Monarchie behaglich und in Frieden leben. Das alles ist dir ja aus meinem Munde nichts Neues. Aber interessieren wird es dich, zu hören, daß auch ich, wie du, der Mittelpunkt einer zahlreichen Gesellschaft bin, die der deinen an Geist, Bildung und feiner Sitte nichts nachgeben dürfte. Ich weise dein Anerbieten, mich in deinen Kreis einzuführen, nicht zurück; im Gegenteil: nehme es mit Dank an, vorausgesetzt natürlich, daß du meiner Einladung nicht minder willig folgen wirst.

So war ich im besten Redefluß, als, aus dem Vorzimmer kommend, durch die Portiere ein Herr in den Saal trat, den mir Adele, nicht ohne einige Verlegenheit, als ihren Gatten vorstellte. Offenbar hatte unsre Zusammenkunft unter vier Augen sein sollen, und der Herr Gemahl kam ihr sehr ungelegen, wie denn auch er sich durch meine Anwesenheit etwas geniert zu fühlen schien.

249 Das erhöhte denn meine gute Laune, ja, brachte sie zum Überschäumen. Ich begrüßte den steifstelligen alten Herrn mit dem glattrasierten versteinerten Büreaukratengesicht, als hätten wir uns lange Jahre schon gekannt; erzählte ihm triumphierend, daß seine Frau und ich den alten Bund erneuert hätten, in welchem er und mein Gatte durchaus der dritte und vierte sein müßten. Und da frische Fische gute Fische, sollten der Herr Geheimrat und Frau Gemahlin gleich übermorgen Donnerstag kommen, meinen offenen Abend, der immer eine größere Gesellschaft vereinige. Unter andern werde Schulze-Delitzsch da sein, und Oberbürgermeister Ziegler habe versprochen, Lassalle mitzubringen. Die Geister würden prächtig aufeinanderplatzen; es würde ein richtiges Turnier geben; die Herrschaften würden sich gewiß zweifellos köstlich amüsieren.

Und so, der schönen Helena und ihrem antiquarischen Faust kräftig die Hände schüttelnd und ihnen keck in die verdutzten Gesichter lachend, rauschte ich aus dem Saal, durch die Vorgemächer, die Treppe hinab, hinaus zu dem Hause, das ich sicher war, niemals wieder zu betreten.


Zu meiner Verwunderung war Philipp über dies negative Resultat meines Besuches bei Adele sehr ungehalten.

Ich gebe zu, sagte er, ihre Vorwürfe waren ungeschickt und ungerecht; aber wer wird bei solcher Gelegenheit jedes Wort auf die Goldwage legen? Jedenfalls hat sie es gut gemeint; das hättest du nicht vergessen dürfen. Ich glaube, du hast dir selbst den größten Schaden gethan, als du in deiner leidenschaftlichen Weise das Kind mit dem Bade 250 ausschüttetest. Einen Versuch wäre die Sache immer wert gewesen: die Gesellschaft, die sie in ihrem Hause empfängt, soll wirklich hervorragend distinguiert sein. Und du hättest da sicher manches gehört, woraus wir hätten Kapital schlagen können: Hofintriguen, Intimes aus der hohen Beamtenwelt und dergleichen. Aber dann solltest du dich auch nicht beklagen, daß du keine Freundinnen hast. Du hast keine, weil du keine haben willst.

Ich nahm es mit dieser Reprimande nicht eben ernst. Sie war zu offenbar von einer momentanen üblen Laune diktiert, und in sich selbst zu haltlos, als daß ich mich darüber hätte ärgern können. Auch versuchte er sofort einzulenken, was ihm in meinen Augen nicht gerade zum Vorteil gereichte. War, was er da vorgebracht, seine Überzeugung – nun gut, so mußte er daran festhalten. Sonst konnte ich ihm neben dem Vorwurf der Verstandes- den der Charakterschwäche nicht ersparen. Und ich wußte nicht, welcher nach meiner Art zu denken der schlimmere war.

Nur eines ging mir nachträglich doch durch den Kopf: seine letzte Behauptung, daß ich keine Freundinnen habe, weil ich keine haben wolle. In der That: ich hatte keine; und, wenn ich es recht überlegt, auch niemals welche gehabt. War es meine Schuld? Carola, Grete Wesselhöfft und ein paar andere waren Lieblinge von mir gewesen; aber doch nur, weil sie durch ihre Schönheit, ihren Reiz meinem ästhetischen Sinn schmeichelten, nicht, weil eine Seelengemeinschaft zwischen uns stattgefunden hätte. Aus demselben Grunde hatte ich bei meiner Schwester Lida, bei meiner Schwägerin Jane über ihre Oberflächlichkeit, Beschränktheit, offenbare Stupidität ein, oder auch beide Augen zugedrückt. Gab es dabei eine zu beklagen, so schien mir, daß ich es war. Eine große Auswahl unter solchen, die mir wahrhaft 251 freundschaftliche Gefühle hätten erwecken können, hatte ich offenbar nicht gehabt; auch das mochte mich nach dieser Seite rechtfertigen.

Jetzt stand die Sache anders und scheinbar weniger zu meinen Gunsten. Ich sah mich von einem reichen Kranz mehr oder weniger schöner und liebenswürdiger Mädchen meines Alters und älteren Damen umgeben, die mich mit Zuvorkommenheiten überhäuften und von denen mehr als eine das beliebte Epitheton jener Tage: »bedeutend« entweder wirklich verdiente, oder es zu verdienen sich redlich Mühe gab. Aber aus dem Kreis jener holden Gestalten, die in dem Leben vorläufig noch ein buntes Spiel sahen, bei dem es in erster Linie darauf ankam, sich zu amüsieren, war ich heraus- und in den der »Bedeutenden« noch nicht hineingewachsen. Und machten mir die ersteren aus ihrer Anmut zu viel Wesens, so die letzteren aus ihrer Würde. Ich verdachte es jenen nicht, daß ihnen ein Abend, an dem nicht wenigstens etwas getanzt wurde, ein verlorener schien, so wenig, wie den andern, daß sie Dante oder Cervantes gemeinschaftlich in der Ursprache, Shakespeare, Schiller mit verteilten Rollen lasen, sich von hochgelehrten Professoren Vorlesungen über Nationalökonomie oder Dogmengeschichte halten ließen; aber recht hingezogen fühlte ich mich weder zu den einen, noch zu den andern, und gesellte mich lieber zu den Männern, unter denen mich lebhaft interessierende Fragen mit ernstem Eifer, aber ohne Pedanterie, vor allem ohne gelehrtes Scheinwesen behandelt wurden.

So mochte es geschehen, daß ich allmählich in den Ruf, ausschließlich eine Männerfreundin zu sein, gelangte, vielleicht in dieser kurzen Zeit bereits gelangt, und Philipps dahingehender Vorwurf nur das ärgerliche Echo einer Stimme war, die sich in unsrer Gesellschaft laut und lauter machte.

252 Ein ganz zufälliger Umstand hatte gewiß dazu nicht das wenigste beigetragen.

Vom Vater her lag mir die Reitlust im Blut. Schon als halbes Kind hatte ich ihr schier im Übermaß nachhangen dürfen; es auf das schmerzlichste empfunden, daß mir später so gar keine Möglichkeit war, meine Leidenschaft zu befriedigen, und die vorübergehende kärgliche Gelegenheit, die sich mir während des Besuches in D . . . f bei dem Onkel bot, mit Begierde ergriffen. Eine meiner ersten Fragen an Philipp, als die Verlobung mir zu dergleichen den nötigen Mut und einiges Recht gab, war gewesen: ob er Reiter sei, was er zu meiner großen Freude bejahte. In der That hielt er sich schon seit einigen Jahren ein Pferd, zu dem er natürlich gleich nach unsrer Verheiratung ein zweites kaufte, das er sofort wieder mit einem andern vertauschen mußte, weil es mir zu fromm war. Nun war es ein böser Übelstand, daß, während ich mich im Sattel freier fühlte, als auf ebener Erde, Philipp zu den vielen gehörte, die trotz der besten Lehrer und aller aufgewandten Mühe niemals gut reiten lernen. Ja – abgesehen davon, daß er bei seiner großen, immer vornübergebückten Gestalt zu Pferde eine schlechte Figur machte – er ritt positiv schlecht: ohne Verständnis für Art und Temperament des Tieres, ohne je die Hilfen zur rechten Zeit und im rechten Maße geben zu können.

Mir war das schon in der Manege, zu der wir während des Winters unsre Zuflucht hatten nehmen müssen, keineswegs entgangen; vollends klar wurde es mir aber, als schöne Frühlingstage uns verstatteten, im Terrain zu reiten: im Hippodrom und weiter im Grunewald. Gute Reiter pflegen schlechten gegenüber mit ihren Ratschlägen nicht zu sparen; und auf Waldwegen, wo die über den Boden hinlaufenden 253 langen Wurzeln der Tannen eine unsichere Führung des Pferdes geradezu gefährlich machten, schien es mir einfach Pflicht, mit meiner Weisheit nicht zurückzuhalten. Philipp nahm diese Erinnerungen scheinbar ohne Empfindlichkeit hin; aber innerlich mochte sein Selbstgefühl um so tiefer gekränkt sein. Wenigstens erklärte er eines Tages, nachdem er ein paarmal unter diesem und jenem Vorwand seine Begleitung abgelehnt, daß ihm unser Sport mehr Zeit koste, als er übrig habe, und er sein Pferd verkaufen werde. Dagegen ich: er möge es damit halten, wie er wolle; keineswegs sei ich geneigt, mich eines Vergnügens zu berauben, dem ich nun einmal mit Leidenschaft ergeben sei. Allein brauchte ich deshalb nicht zu reiten. Da war der Stallmeister aus der Manege, der jeden Augenblick zu meiner Verfügung stand. Da waren aus unsrer Gesellschaft Dr. O., der bei seiner rundlichen Gestalt und großen Kurzsichtigkeit freilich noch schlechter ritt, als Philipp; der Abgeordnete v. S-T., ein großer Pferdezüchter und ehemaliger Garde-Dragoner; da waren drei oder vier Offiziere, die mir Herr v. S-T. in der Manege vorgestellt hatte. Alle beeiferten sich, mir ihre Begleitung anzutragen. Ich war ihnen für ihr Anerbieten um so dankbarer, als ich einige von ihnen als sehr unterhaltende Gesellschafter kannte. Diese Promenaden zu mehreren durch den morgenfrischen Wald waren das Reizendste, was man sich denken konnte; aber da ich in der Kavalkade stets die einzige Dame war, mußte ich mir schließlich gefallen lassen, daß mein Ruf, die Gesellschaft der Herren auf Kosten der der Damen vorzuziehen, sich zu dem bedenklichen, eine Männerfischerin zu sein, verdichtete.

Gelegentliche Anspielungen der jüngeren Damen unsrer Gesellschaft, wohlwollende Vorhaltungen der gelehrten Frauen sorgten dafür, daß dies Gerede mir 254 nicht verborgen blieb. Es ließ mich völlig kühl. Ich war mehr als je entschlossen, nach meinen Überzeugungen zu leben. Und meine Überzeugungen mir von niemand diktieren zu lassen, als von mir selbst.


Ein tragisches Ereignis, welches sich noch in diesem Sommer zutrug, bot den Geschichtenträgern weiteren willkommenen Stoff, der denn von ihnen auch, wie ich nachträglich erfuhr, mit Sorgfalt und Liebe ausgebeutet wurde.

Zu unserm Bekanntenkreise gehörte ein Graf R. Aus einem alten, einst in Schlesien reich begüterten, später verarmten Geschlecht, war er, noch ganz jung, in die Bewegung von achtundvierzig geraten. Man sagte, er habe auf den Berliner Barrikaden tapfer gekämpft; daß er an dem badenschen Aufstand des folgenden Jahres lebhaft teilgenommen, war gewiß. Dann hatte er fast ein Jahrzehnt das bittere Brot der Verbannung in England und Amerika gegessen. Was er in der langen Zwischenzeit getrieben, wie er sich durch das Leben geschlagen, wußte kein Mensch. Er sprach nie darüber; nach dem schwermütigen Ausdruck seiner dunklen Augen zu schließen, den tiefen Furchen, die das Gesicht des Mannes durchzogen, der wenig über dreißig sein konnte und dessen ungewöhnlich dichtes Haar an den Schläfen bereits stark zu ergrauen begann, mochte er Schmerzliches, ja, Fürchterliches und Schauderhaftes die Hülle und Fülle erfahren haben. Mit den Erzrevolutionären, wie Bakunin, Herzen, Mazzini, hatte er in naher Verbindung gestanden; auch unsre Flüchtlinge drüben, wie Dr. L., Fr. K. und andere, kennen gelernt und war von ihnen in unsern Kreis eingeführt worden. Seine stürmische Vergangenheit gab ihm hier ein Relief, das ihm auch sehr nötig war. Er wußte nicht aus sich herauszugehen, nichts 255 aus sich zu machen. Schweigsam hörte er den Debatten dieser beredten Männer zu; man hielt ihn nicht gerade für beschränkt; meinte aber, daß, wenn nicht sein Verstand, doch sein Gemüt in Folge der ausgestandenen Leiden arg verstört und verdüstert sei.

Mir war er durchaus sympathisch; und wie das bei diesen unglücklichen verschlossenen Menschen zu sein pflegt, er hatte das bald herausgefunden und erwiderte meine Zuneigung mit stiller, rührender Dankbarkeit. Wenn es, ohne aufzufallen, anging, stahl er sich in meine Nähe, um da still zu verweilen, und nie werde ich den Blick vergessen, den er zu mir aufschlug, wenn ich ihn in den Winkel, in den er sich zurückzog, sobald mehr Menschen da waren, eine Tasse Thee brachte – den Blick des Schwerverwundeten, dem die barmherzige Schwester einen Labetrunk reicht.

Er konnte auch sprechen, ja, beredt werden; freilich nur, wenn er, was nicht eben häufig geschah, mit mir allein war. Meistens handelte es sich dann um abenteuerliche Projekte, mit denen er sich beständig trug, und über die er meine Ansicht zu wissen begehrte. Nie sollten seine Erfindungen ihm selbst nützen, immer nur der leidenden Menschheit zu gute kommen. Heute war es ein mnemotechnisches System, das, richtig durchgeführt und angewandt, den Kindern die Mühsal des Lernens zu einem heiteren Spiel machte; ein andermal glaubte er herausgerechnet zu haben und beweisen zu können, daß die Großstädte Millionen an Arbeits-, Kranken- und Irrenhäusern ersparen könnten, wenn sie ihre Armen und Elenden in ländlichen Kolonien unterbrächten, wo sie physisch und moralisch gesunden und der Kommune noch einen namhaften materiellen Gewinn schaffen würden. Ich hörte ihm willig zu, manchmal aus wirklichem Interesse, zumeist freilich, weil es ihn so glücklich machte, 256 sich mir gegenüber in seinen Phantasien ergehen zu können.

Eines Abends saß ich mit einigen Herren in dem Wintergarten, der mit dem Tanzsaal durch eine große Glasthür kommunizierte und an dem ein Teil der Veranda hinläuft, die dem Hause in seiner ganzen Breite nach der Gartenseite vorgebaut ist. Mich hatte die Hitze des Tages etwas erschöpft; ich schickte nach einiger Zeit die Herren fort, um die Kühle, die durch die offenen Fenster hereinkam, ungestört zu genießen. Sie entfernten sich; nur Graf R. war geblieben. Augenscheinlich hatte er, in seine Grübeleien versunken, meine Bitte gar nicht gehört. Er störte mich nicht. Entweder würde er schweigen, oder laut träumen – das eine war mir so willkommen, wie das andre.

Und er begann laut zu träumen.

Sie wissen, sagte er mit seiner sanften melancholischen Stimme, ich beschäftige mich gern mit chemischen Experimenten; Luft-Analysen sind meine Spezialität. Ich habe mir Methoden ausgedacht und Messungs-Instrumente erfunden, von denen der Berufschemiker nichts ahnt. Ich hoffte immer, ein Geheimnis zu enthüllen, das mich schon seit Jahren quält; ich glaube – vielmehr: ich weiß, daß ich ihm jetzt auf der Spur bin.

Lassen Sie hören! sagte ich mit vor Müdigkeit halb geschlossenen Augen.

Ich war stets überzeugt, fuhr er fort, daß mit dem, was wir Tod nennen, das Leben nicht völlig zu Ende ist. Zum wenigsten nicht das Leben der Menschen. Eine Pflanze, selbst ein Tier, sie wissen nicht, daß sie sterben werden. Schon darin sehe ich einen indirekten Beweis, daß sie einen völligen Tod erleiden; auch haben sie ja ihr Dasein ganz erfüllt – was sollte ihnen eine Fortsetzung, wo nichts fortzusetzen ist? Für den Menschen liegt die Sache anders; nicht 257 für jeden gleich. Je mehr sein Leben ein Pflanzen- und Tierleben war – und Millionen und Milliarden bringen es kaum weiter, als bis zum Vegetieren – je weniger Chance hat er auf eine Kontinuation seiner Existenz; und nun natürlich auch umgekehrt. Da steht ein Herz still, reich wie Plutos Schacht; da stockt ein Gehirn, das noch eben von leuchtenden Gedanken vibrierte. Und damit sollte es zu Ende sein? Nimmermehr! Eine solche Verschwendung ertrüge die Natur bei allem ihrem Reichtum nicht. Man sagt: sie kann es sich leisten; in ihrer räumlichen und zeitlichen Unendlichkeit hat sie die Gewähr, sich immer wieder zu komplettieren; und so ist nichts und niemand unersetzlich. Ein großer Irrtum: ein jeder lebt in einer Welt, die er sich selbst geschaffen hat, die nirgends da ist außer in seinem Gehirn, und unwiderruflich, unwiederbringlich mit ihm zu Grunde gehen würde. Und giebt es schon nicht zwei völlig sich gleiche Blätter, so gewiß nicht zwei Herzen, die genau in demselben Takte schlagen. Wie gesagt: dies alles war längst für mich – ich möchte sagen: a priori – durchaus zweifellos, aber wie es nachträglich beweisen!

Und Sie glauben jetzt, den Beweis gefunden zu haben? fragte ich, angezogen nicht sowohl durch das, was er sagte, als wie er es sagte: mit dieser schwärmerischen Inbrunst eines, der die Himmel sich öffnen und Engelscharen zu sich herabschweben sieht.

Für andere beweisen, sprach er weiter – und hatte offenbar meine Frage überhört – mir persönlich war es längst bewiesen.

Er schwieg abermals, die bleiche Stirn in die Hand stützend. Es war seine Gewohnheit, seine Phantasien nicht zu Ende zu führen, sondern mitten darin abzubrechen, ohne später darauf zurückzukommen. Ich dachte, es werde auch diesmal nicht anders sein. Zu meinem Erstaunen hub er von neuem an:

258 Da wundern sie sich und nennen es unerklärlich, daß aus Totem Lebendes, aus rein chemischen Prozessen entstehen könne, was wir Seele nennen. Freilich, wenn wir nicht annehmen, was wir durchaus annehmen müssen: einen psychischen Urstoff, der absolut überall ist, überall nach Erscheinung drängt und in Erscheinung tritt, sobald er das nötige physische Organ findet, ohne welches er allerdings, sozusagen, machtlos ist. Stein, Pflanze, Tier bieten ihm Organe, in denen er es nur zu einer mehr oder weniger rudimentären, mangelhaften Machtentfaltung bringt; anders mit dem Menschengehirn, das für ihn ist, was jener fruchtbare Boden, der dem Säemann tausendfältige Frucht desselben Samens trägt, der auf der harten Landstraße von den Vögeln gefressen wird und zwischen den Dornen erstickt.

Nun, und diesen psychischen Urstoff habe ich gefunden: ein unsäglich feiner Äther, der, wie durch die ganze Welt, so sich durch unsere Erdatmosphäre breitet; in ihr bei der Analyse als Residuum zurückbleibt, welchem, weil er ein Urstoff, durch kein chemisches Reagens beizukommen ist.

Offen gestanden, lieber Graf, unterbrach ich ihn hier, das alles klingt ein wenig sehr unwahrscheinlich. Aber, gesetzt, es verhielte sich so, wie wollen Sie daraus eine Fortdauer der individuellen Existenz ableiten?

Wenn Sie mir nur die Prämisse der Ubiquität des psychischen Urstoffs konzedieren, sagte er, hat es mit den Konsequenzen, die für meine Theorie eintreten, keine Not. Der Tod ist nichts anderes, als die Scheidung des Urstoffes von seinem Organ. Nun verrinnt freilich ein Tropfen Wasser, den Sie in das Meer fallen lassen, unterschiedslos mit seinem Element. Aber der Tropfen Urstoff im menschlichen Gehirn – wenn ich mich dieses Bildes bedienen darf – hat 259 inzwischen – wir sprachen schon vorhin davon – eine ganz individuelle, spezifische Färbung angenommen; er kann nicht ohne weiteres spurlos in seinem Element aufgehen; wird im Gegenteil seine Spezialität bewahren – wie lange, das möchte von der Kraft abhängen, mit der sie sich, zu der sie sich entwickelt hat: eine Goethe-Spezialität länger, als eine Hinz- und Kunzspezialität: auf Tausende von Jahren, vielleicht von Jahrtausenden.

Sie sagten vorhin: die Sache sei Ihnen längst persönlich bewiesen. Wie meinten Sie das?

Er blickte träumerisch an mir vorüber in das Halbdunkel zwischen den Dracänen und Palmen, die uns umstanden, und sagte mit noch leiserer Stimme, daß ich Mühe hatte, ihn zu verstehen:

Ich liebte einst ein Weib – in Mexiko – eine Kreolin – sie war schön, wie die Sternennacht – mit wahnsinniger Leidenschaft und wurde ebenso von ihr wiedergeliebt – die Engel im Himmel haben uns sicher beneidet. Sie war verheiratet – unwürdig – wir beschlossen, gemeinsam zu fliehen. Freunde hatten uns Pferde verschafft – von Etappe zu Etappe waren Relais gelegt – das Gelingen der Flucht schien gesichert. Aber der Verrat hatte nicht geschlafen; wir wurden verfolgt; an der Schnelligkeit unsrer Tiere hing Tod und Leben. Den Weg zu kürzen, jagten wir über Stock und Stein. Beim Überspringen eines Hindernisses kam ihr Pferd nicht frei ab, überschlug sich, sie weit von sich schleudernd. In dem fürchterlichen Sturz war ihr das Genick gebrochen. Sie lebte nur noch wenige Sekunden, versuchte vergebens meinen Namen zu stammeln; ich küßte den letzten Hauch von ihren blassen Lippen.

Und Sie, armer Freund?

Ich fiel in grausame Hände und – doch das gehört nicht hierher.

260 Wieder schwieg er und dann:

Ich hatte den letzten Hauch von ihren Lippen geküßt; ich hatte den psychischen Urstoff, der ihre Seele war, in die meine gesogen. Seitdem lebe ich zwei Seelenleben; sie ist immerdar bei mir, in mir; wir sprechen miteinander, wie ich jetzt mit Ihnen spreche. Manchmal ist sie traurig, dann bin ich es mit ihr; dann lacht sie wieder, und ich muß mit ihr lachen. Ich würde lieber sterben, als etwas Unwürdiges begehen; ich müßte fürchten, sie werde sich von mir trennen. Manchmal glaube ich, sie habe es gethan, und sitze weinend in meinem Bett. Dann fühle ich ganz deutlich ihren süßen Hauch auf meinen Lippen; sie ist wieder da; sie hat mich nur necken wollen, und überselig entschlummere ich.

Und sehen Sie, gnädige Frau, die Güte, die man mir erweist, erweist man auch ihr. Und darum bin ich Ihnen für das viele, viele Gute und Liebe, das Sie mir erweisen, dankbar mit doppelter Dankbarkeit.

Er war vor mir niedergekniet, hatte inbrünstig meine beiden Hände geküßt und ging langsam zwischen den Palmen dem Ausgang zu. Wie hätte ich ahnen können, daß ich ihn lebend nicht wiedersehen würde!

Und doch sollte es so sein.

In unsrer Gesellschaft verkehrte ein Herr F. Als Straßenredner hatte er achtzehnhundertachtundvierzig eine mehr komische als ernste Rolle gespielt; auch ein paar überspannte Broschüren geschrieben, die ihn auf einige Jahre ins Gefängnis brachten. Jetzt redigierte er ein demokratisches Blatt, dem die Partei ein gewisses Gewicht beilegte, und das war der Grund, weshalb man ihn unter uns duldete. Ich sage: duldete; denn leiden mochte ihn niemand, wie er denn auch in seinem großsprecherischen Wesen und seinen plumpen Manieren unleidlich war. Mir vor allen, umsomehr, als er mich mit seinen Huldigungen 261 verfolgte, trotzdem ich ihm den Widerwillen, den er mir einflößte, auf jede erdenkliche Weise zu verstehen gegeben hatte, so daß er in letzter Zeit wenigstens nicht mehr in meine Nähe zu kommen wagte.

Auch an diesem Abend war er zugegen, von mir in gewohnter Weise mißachtet. Als ich die kleine, mich umgebende Schar aus dem Wintergarten wegschickte und nur Graf R. zurückblieb, hatte er sich zufällig auf der Veranda befunden – wie er nachträglich behauptete; sich absichtlich dorthin geschlichen – wie ich überzeugt bin. Von unserm Gespräche kann er nichts verstanden haben – dazu wurde es zu leise geführt; aber er sieht, wie der Graf vor mir auf den Knien liegt; ein schändlicher Verdacht, mit dem er sich zweifellos längst getragen, wird bei ihm zur Gewißheit; in seiner eifersüchtigen Wut beschließt er, an mir und dem vermeintlichen glücklichen Nebenbuhler blutige Rache zu nehmen. Er weiß es so einzurichten, daß er mit dem Grafen und einigen anderen Herren zugleich das Haus verläßt. Kaum auf die Straße gelangt, beleidigt er den Arglosen in der gröblichsten Weise. Verständige Männer wollen vermitteln; es ist unmöglich; der Graf kann die ihm angethane Beschimpfung nicht ungeahndet lassen. Ein Duell wird verabredet. Der Graf – er hatte Mitleid mit dem zertretenen Wurm – will an dem verheirateten Mann Gnade für Recht üben und schießt in die Luft; der Bube läßt sein Opfer bis an die Barriere avancieren und streckt ihn aus nächster Nähe tot nieder. Ich habe sein edles stilles Gesicht nur noch im Sarge gesehen und ihm seinen Kuß zurückgegeben. Diesmal war kein Verräter da; die Palmen, die den Sarg umstanden – dieselben, welche Zeugen unsrer letzten Unterredung gewesen waren – haben ihr feierliches Schweigen nicht gebrochen.

Das tragische Ereignis machte ungeheures 262 Aufsehen. Während die einen von meiner Schuldlosigkeit überzeugt waren, behaupteten die andern mit nicht minderer Zuversicht das strikte Gegenteil; und wie denn Bosheit und Skandalsucht hundert eifrige Diener finden gegen einen, der dem Wohlwollen und dem ruhigen Urteil zugeneigt ist, erging es mir übel genug. Herzlose Koketterie, als Sport getriebene Männerfischerei – das war noch das Geringste, was man mir vorwarf. Wundern freilich könne man sich nicht: es sei das ständige Resultat der thörichten Nachsicht jener Männer, die ihre Frauen wild laufen ließen.

Wie Philipp über dies alles dachte? Ich habe es niemals erfahren. Er schwieg sich in seiner gewohnten Weise aus, und ich war zu stolz, um in eigner Sache das Wort zu nehmen. Jede Erklärung hätte den Anschein einer Entschuldigung gewonnen; ich hatte nichts zu entschuldigen. Übrigens war ich Philipp für seine Diskretion aufrichtig dankbar. Was ihn in Wirklichkeit zu einem so diskreten Ehemann machte, ahnte ich damals nicht.

Und das Jahr sollte nicht zu Ende gehen, ohne mich ein zweites Mal auf das schmerzlichste heimzusuchen.


Mit den Schwiegereltern war ich von Beginn meiner Ehe in ständiger brieflicher Verbindung gewesen. Selten freilich, daß die Mama vor aller Armenpflege und fleißigem Musizieren Zeit für einen ihren kurzen, originellen Briefe fand. Desto häufiger und ausführlicher schrieb der Papa. Manchmal freilich waren es nur längere Exkurse zu einem Satze Spinozas, der ihm Zweifel erregt hatte, die ich ihm sollte lösen helfen. Niemals aber konnte er schließen, ohne mich seiner väterlichen Liebe zu versichern und 263 wie sehr ich ihm fehle. Er habe, wie es ja auch seine Pflicht sei, immer von neuem versucht, mit den Kindern draußen in der Villa auf einen freundschaftlich-behaglichen Fuß zu kommen, und immer vergeblich. Arthur gehe mit jedem Tage mehr in seinem Geschäfte auf, das freilich bei den riesigen Dimensionen, die es annehme, die ganze Kraft des Leiters beanspruchen möge; ebenso scheine Janes ihm so antipathische weltliche Gesinnung, womöglich, in beständigem Wachsen. Sie habe nur noch ein Interesse an Putz, Gesellschaft und anderen Narreteidungen und komme von London, wohin sie alle Augenblicke reise, zurück mit immer neuem Frivolitätsstoff beladen, wie eine Biene mit Honig. Die Mutter habe in ihrer entschiedenen Weise erklärt, jede Stunde sei verschwendet, die man einem solchen Ausbund von Oberflächlichkeit opfre. Ich könne mir denken, wie unbehaglich diese Situation für ihn sei, der der Mutter im Grunde recht geben müsse und doch die Schwiegertochter nicht fallen lassen möge, in deren Thorheit er nur die notwendige Folge einer aberwitzigen Erziehung und dann freilich auch des verderblichen Einflusses übertriebenen, gemeinschädlichen Reichtums sehe.

So lagen die Dinge, als eines Morgens Anfang Dezembers ein Telegramm des Vaters eintraf: die Mutter sei seit einigen Tagen nicht unbedenklich erkrankt; es würde ihm eine große Beruhigung sein, wenn ich sofort kommen könnte. Philipp wollte davon nichts wissen: eine so weite Reise im Winter bei meinem Zustande sei einfach Verbrechen. – So werde ich das Verbrechen begehen, entschied ich. Und du solltest nur gleich mitkommen. Ich bin überzeugt, es steht schlimmer, als die Depesche sagt. – Wenigstens möchte ich so lange warten, bis man nach mir verlangt. – Und dann ist es vielleicht zu spät.

Wir trennten uns in beiderseitiger gereizter 264 Stimmung. Philipp hatte mit seiner Mutter nie gut gestanden. Das war in meinen Augen keine Entschuldigung seines jetzigen Verhaltens. Und wenn er um mich besorgt war, meinte ich, hätte er mich erst recht begleiten sollen.

Noch in der Nacht langte ich in D. an, von dem Papa, dem ich telegraphiert hatte, auf dem Bahnhof empfangen.

Er war in zitternder Erregung, die ich bei ihm, dessen gefestete Ruhe wie ein Teil seines Wesens schien, nie für möglich gehalten. Es stand also wirklich schlimm. Aber das wollte er nicht Wort haben. Die Ärzte hätten freilich Typhus konstatiert; allerdings in einer leichten Form, und bei Mamas im übrigen kernfester Natur sei die Prognose nicht ungünstig. Seine Sorge entspringe nur aus der Beobachtung, die er wiederholt gemacht, daß gerade solche Naturen, die sich auf Kranksein, sozusagen, nicht eingerichtet hätten, auch weniger schweren Anfällen am ehesten unterliegen. – Ich meinte, hier müsse man doch dem Arzt mehr vertrauen, als seinen laienhaften Beobachtungen.

Und dabei hatte ich Mühe, ihm nicht merken zu lassen, von wie trüben Ahnungen meine Seele erfüllt war.

Ich fand am nächsten Morgen – in der Nacht durfte ich nicht mehr zu ihr – die liebe Kranke fast fieberfrei und in der besten Stimmung. Sie hatte meinen Zustand sofort wahrgenommen, und, sobald wir uns einen Moment allein fanden, bekam ich die gründlichste Schelte zu hören. Wenn sie das gewußt hätte! Nie würde sie ihre Einwilligung zu meinem Kommen gegeben haben! Bei jungen Frauen in meiner Lage hapere es freilich manchmal mit der Gehirnthätigkeit; aber mir habe sie immer zu viel Kopf zugetraut, als daß ich ihn jemals ganz verlieren könnte.

265 Ich war froh, daß die Pflegerin wieder hereinkam und sich das viele Reden ihrer Patientin energisch verbat.

Es folgten peinliche Tage. Der Zustand der Kranken wechselte in einem fort. Ein paar Stunden pausierte das Fieber, dann setzte es von neuem mit erschreckender Heftigkeit ein. Aber der guten Stunden wurden immer weniger, und endlich gab es keine mehr. Sie lag apathisch da, oder erging sich in krausesten Delirien. Jetzt war sie bei ihren Kranken und sah sich von Scenen der Not und des Jammers umgeben; bald saß sie am Flügel und schwelgte in Mozarts oder Beethovens Melodien. Dann mischte sie beides durcheinander: wollte sie einer Kranken die Sonate pathétique eingeben, worauf sie sofort gesunden würde; oder der Flügel hatte einen bösartigen Keuchhusten, und schleunige Luftveränderung sei unbedingt nötig. Das Geld dazu fände man in ihrem Schreibtisch; sei keines mehr im Kasten, solle man sich an den Herrn Kommerzienrat wenden; bei dem habe sie unbegrenzten Kredit.

Der arme Mann! Ich erinnere mich einer Stelle aus Goethes italienischer Reise. Er sieht von Neapel aus ein nach Sizilien – dem Lande seiner heißen Wünsche – bestimmtes Schiff sich allmählich entfernen, zuletzt zwischen dem Cap Minerva und Capri verschwinden. Wenn jemand, sagt er, ein geliebtes Wesen sich so entführt sähe, er müßte vor Sehnsucht wahnsinnig werden. Das ist das Bild des Unglücklichen. Er sah von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde das Ende nah und näher kommen; den Augenblick kommen, wo der Puls, der nur noch ein dünner rieselnder Faden war, stille stehen; die keuchende Brust den letzten Atemzug gethan haben würde, – sein verzweifelter Blick irrte über die Gesichter der Ärzte, ob da kein schwächster Hoffnungsschein 266 sich zeigen wollte, und begegnete nur teilnahmsvoll ernsten Mienen, mitleidig niedergeschlagenen Augen.

Dann sagte die leise Stimme des einen der Ärzte, hörbar kaum: es ist vorbei.

Zum Begräbnis, das auf dem jüdischen Kirchhof stattfand, kam Philipp. Es war irgend eine Börsenkrisis; er konnte nur einen Tag bleiben. Ich sah ihn eben nur kommen und wieder gehen, als wäre er ein mir Fremder, wie die vielen, die da kamen und gingen; meine ganze Seele war bei ihm, der seine Gattin, seine Freundin, seine Geliebte – sein Alles verloren hatte.

Denn das ist sie mir gewesen, schluchzte er, und mehr, unendlich mehr, als Worte sagen können. Zwei Seelen so ineinanderwachsen lassen, daß sie nur noch eine bilden, keine sich mehr ohne die andre denken kann, und diese eines gewordene Seele auseinanderreißen, als sei sie ein wertlos Stück Papier – das ist furchtbar, das ist grausam, das ist teuflisch.

Dann schwelgte er in der Aufzählung und Schilderung ihrer trefflichen Eigenschaften:

Sie wußte nichts von Philosophie, und war doch eine Philosophin; sie hatte nichts studiert, und nichts war ihr fremd: Politik, Nationalökonomie – sie traf überall das Richtige, wie sie keine Taste auf dem Flügel verfehlte. Sie gab sich oft rauh und hart, weil sie ihr weiches Herz kannte, und daß es ohne diese Stachelhülle völlig wehrlos gewesen wäre. Ihre Seele war lauter wie Gold, rein, wie das Herz der Wasser; daß ein Mensch lügen könne, verstand sie einfach nicht. Sie war Wahrheit, die ganze Wahrheit, nichts als Wahrheit. Sie war die heilige, naive Natur selbst; nur nicht auch grausam, wie die Natur, sondern eitel Güte und Barmherzigkeit – allbarmherzig, wie die Unverständigen Gott nennen, der doch nichts von Barmherzigkeit weiß.

267 Dann klagte er sich bitter an, daß er einen solchen Schatz in seiner Unermeßlichkeit erst begreife, nun, da er ihm entrissen; die Beste, Einzige nicht geliebt habe, wie sie geliebt zu werden verdiente; oder wohl so geliebt, aber es ihr doch nicht gesagt, gezeigt, bewiesen. Und sie nun darüber weggestorben, ohne das volle Bewußtsein seiner Liebe dahingeschwunden sei. Warum denn hätten wir ihn so oft von ihrem Krankenlager weggeschickt, weggedrängt? Ihn zu schonen? Als ob der Tod etwas von Schonung wisse! Ach, nur eine Minute, eine Sekunde, ihr sagen zu können: ich liebe dich! liebe dich über alles, die du mein Alles bist!

Es ist furchtbar, einen alten Mann weinen zu sehen – Thränen, die ihm keine Erquickung schaffen, wie einem Weibe, einem Kinde; nur schwere Tropfen sind aus einer brennenden Wunde, die nun so weiter brennen und schmerzen soll.

Sprecht mir nicht von einem Trost, den die Zeit bringen wird, sagte er. Woher soll ich die nehmen? Für die paar Jahre, die ich schlimmsten Falles noch zu leben habe, wird mein Schmerz wohl noch reichen.

Er wollte nicht getröstet sein. Es kam ihm wie ein Raub vor, den er an seiner Liebe zu ihr beging.

Und dieser trostlose, in seinem Schmerz wühlende alte Mann war ein Philosoph, war ein Spinozist! Wohin nun alle die trefflichen Lehren des Meisters? Zerrissen, verweht im Sturm des Erdenjammers wie Sommerfäden! Daß, was für uns unadäquat, in Gott adäquat sei; Reue über Gethanes, oder Unterlassenes eine große Thorheit, da wir es ja aus Notwendigkeit gethan oder unterlassen hätten; alles und jedes, und so gewiß auch der Tod, das Glied einer unendlichen, unzerreißbaren Kette; der Tapfre niemals an den Tod denke, der überhaupt nicht existiere, nichts sei und bedeute in einer Welt der Ewigkeit in Gott – wunderschöne Theoreme und Maximen, ausgeklügelt 268 von einem kühlen Kopf über einem Herzen, das nie von heißer Leidenschaft durchwühlt war!

Aber was konnte ich davon wissen? Hatte ich in dieser Beziehung irgend eine Erfahrung gemacht, auf die ich mich berufen durfte? Ich hatte Liebe und Leidenschaft nun bereits wiederholt bei andern gesehen und beobachtet: bei meinem excentrischen Professor damals; vor wenigen Monaten bei dem phantastisch-träumerischen Grafen; jetzt bei dem alten Manne, der sich eingebildet hatte, ein Philosoph zu sein – aber ich selbst, mich hatte die Flamme, in der ich andre auflodern, aufgehen sah, nicht einmal gestreift. War es mir zu verdenken, daß meine immer skeptische Ansicht von der Liebe sich nur verhärtete? ich sie hochmütig mit einer Krankheit verglich, die epidemisch wütend, zwar sehr viele befällt, aber nur solche, welche ihr einen günstigen Nährboden bieten; und, die es nicht thun, unbehelligt läßt? Und natürlich ich mich nun zu diesen Auserwählten, normal Gesunden rechnete?

Ich mußte nach Berlin zurück und wollte es auch. So lieb mich der Vater hatte und es mir auf jede Weise zu erkennen gab, in diesem Stadium seiner schmerzlichen Sehnsucht nach der Verlorenen konnte ich ihm nicht raten, nicht helfen. Ja, ich hatte das Gefühl: wer sich ihm noch so liebend nahte, er stand zwischen ihm und ihr, an die sein erster Gedanke beim Erwachen, an die sein letzter vor dem Einschlafen war; die ihm, wie er mir, unter Thränen wehmütig lächelnd, sagte: allnächtlich im Traume erschien, leider immer nur auf allzu kurze Zeit, aber doch lange genug, um ihr sagen zu können, wie unermeßlich er sie liebe.

Was sonst treue Sorge für ihn schaffen konnte, das, wußte ich, war bei der guten Frau Schmitz in den besten Händen.

269 So brauchte ich mich denn nur noch in der Villa draußen zu verabschieden.

Ich hatte in allen diesen Tagen Arthur und Jane kaum gesehen. Er hatte sich regelmäßig, wenn er in sein Geschäft fuhr, persönlich nach dem Befinden der Mutter erkundigt; auch Jane war ein paarmal dagewesen, aber nur im Vestibül: Typhus war so ansteckend, und ihre liebe Mama in London würde ihr nie vergeben, wenn sie sich, noch dazu ganz unnötigerweise, leichtsinnig einer solchen Gefahr aussetze!

Als ich das letzte Mal durch die Vorstadt fuhr, war es mit der Mama im Spätsommer gewesen. Wir hatten gelacht und gescherzt, und die untergehende Sonne hatte selbst die aus den Riesenschloten aufsteigenden Rauchwolken verklärt. Nun war ich allein; ihr kinderfrohes Lachen verstummt für immer. Zu Schmutz zerfahrener Schnee bedeckte die Straßen. Durch die graue schwere Luft blickten die öden Fensterreihen der Fabrikgebäude unsäglich traurig, als stünde über jedem Portal: laßt alle Hoffnung draußen!

Jane empfing mich in einem schweren, schwarzen, mit Spitzen reich besetzten Seidenkleide. Dafür, daß sie es sich in aller Eile habe machen lassen müssen, scheine es noch ganz leidlich ausgefallen; mit einer Londoner Robe dürfe man es natürlich nicht vergleichen.

Ich hatte immer gemeint, Jane würde mir es nachtragen, daß ich Philipps Frau geworden, der, wie mir Frau Bernstein in Hamburg gesagt, sie einstmals hatte heiraten wollen, und von dem sie sich, nach ihrer eigenen früheren Behauptung, noch immer geliebt wußte.

Nun bekam ich eine ganz andere Version der Sache. Sie hatte von Anfang an Arthur haben wollen, sich für Philipp nur als für ihren künftigen 270 Schwager interessiert und sich möglichste Mühe gegeben, die Verbindung zwischen ihm und der schönen Schottin, in die er damals so sehr verliebt war, zu stande zu bringen. Was aber ihre Cousine Bernstein betreffe, so sei sie eine schwatzhafte, indiskrete, ränkesüchtige Person, vor der sie mich nicht eindringlich genug warnen könne.

Was sie mir da erzählte, war ganz offenbar Produkt der Erfindung. Ob ihrer eigenen? Es fiel mir auf, daß sie über Sidonie Bernstein in den identischen Ausdrücken sprach, wie Philipp. Ein bloßer Zufall konnte das doch kaum sein. Dazu kam ein anderes. Sie hatte den überschwenglichen Ton, in dem sie früher von ihm zu schwärmen pflegte, dem neuen Programm gemäß, wesentlich herabgestimmt, während Philipp seit der Scene in Hamburg plötzlich herausgefunden, daß sie freilich ihre schwachen, vielleicht lächerlichen Seiten habe, aber au fond doch ein gutes Geschöpf sei, dem man nicht anders als gut sein könne.

Ich habe mir dies alles in jenem Augenblick sicher nicht klar gemacht; es huschte nur eben so an meinem Geist vorüber, der mit wichtigeren Dingen beschäftigt war. Schwerlich wäre ich sonst ihrem Wunsch, uns endlich einmal besuchen zu dürfen, freundlich entgegengekommen. Sie brenne darauf, Berlin kennen zu lernen; sich zu überzeugen, daß unser Haus wirklich so stattlich, unsre Einrichtung so glänzend sei, wie die Zeitungen berichteten. Bei der Taufe sei sie, als Jüdin, wohl etwas deplaciert; aber wenn ich sie nachher auf ein paar Tage –

Auf ein paar Wochen, liebe Jane!

So lange würde mich Arthur nicht entbehren wollen. Du mußt wissen, darling, er und ich, wir leben jetzt wie die Turteltauben.

271 Ich legte diese neueste Überraschung zu den übrigen, mit denen sie heute so freigebig war.

Wir umarmten uns, und Arthur, der eben aus dem Geschäft gekommen war, brachte mich galant zu meinem Wagen, lachend versichernd, daß, wenn es ein Sohn und Erbe würde, wir ihn, ihm zu Ehren, Arthur nennen müßten, oder mit unsrer Freundschaft sei es zu Ende.

Weder über seine, noch ihre Lippen war ein einziges Mal der Name von ihr gekommen, die seit so wenigen Tagen erst im Grabe von ihrer rastlosen Thätigkeit ausruhte. Ich empfand es als eine Wohlthat. Der Ausdruck einer wärmeren Empfindung wäre in dem Munde der beiden pure Heuchelei gewesen. Wie diese Mutter zu diesen Kindern gekommen, war mir immer ein Rätsel gewesen. Hier hatte offenbar der Atavismus eine seiner wunderlichsten Rollen gespielt. War es die Vorahnung, daß ich für meine Person auch früher und später reichlich Gelegenheit haben sollte, über dies dunkle Thema unerfreuliche Betrachtungen anzustellen, was mir die Heimfahrt durch den düstern Wintertag doppelt melancholisch machte?


Einen Monat später wurde uns ein Sohn geboren. Wie er mir vorher kaum zur Last gewesen war, hatte er seinen Eintritt in die Welt mit so wenig Umständen genommen, daß es den Kundigen zum Erstaunen gereichte. Bereits nach wenigen Tagen hätte ich wieder aufstehen können; wenn ich im Bette blieb, war es nur eine der Wissenschaft gemachte Konzession. Eine weitere Gunst war es, daß wir nicht im entferntesten einer Amme bedurften.

Ich hatte so viel von dem Mutterglück gehört und gelesen und war nicht sowohl beschämt, wie 272 erstaunt, daß ich so gar wenig davon verspürte. Es ist die Neuheit der Situation, erklärte ich es mir. Deine Weise ist es nun einmal, Dinge und Menschen ruhig zu nehmen, bis sie ihre bemerkenswerten Seiten allmählich herauskehren und dir so ein objektives Urteil über sie ermöglichen. Einen coup de foudre giebt es nicht für dich.

Und so betrachtete ich mir ohne Voreingenommenheit nach irgend einer Seite das kleine Geschöpf, das an meiner Brust lag. Es hatte ein sehr feines und für die winzige Spanne Zeit, seit es das Licht erblickt, höchst ausdrucksvolles Gesichtchen, so daß man wohl schon von Zügen sprechen konnte. Ich vermochte keinen zu entdecken, der mich auch nur im entferntesten an mich selbst erinnert hätte. Der übermütig dichte Schopf, den es mit auf die Welt gebracht; die gerade Stirn; die scharfgezeichneten Brauen über den dunklen Augen, der hübsche Mund mit den vollen Lippen – es war der Vater en miniature. Das hätte mir nun das artige Wesen, dem es auf der Welt so gut zu gefallen schien, wie es allen, die es sahen, ausnehmend gefiel, doppelt lieb und wert machen sollen, wenn ich ihn, dessen Abbild es war, wahrhaft geliebt hätte. Aber eine Heirat aus Liebe war es für mich, die ich überhaupt nicht an Liebe glaubte, nicht gewesen. Ich hatte ihm wohlgewollt, weil er sich in einem kritischen Augenblick gegen mich in einer Weise benommen, für die ich ihm aufrichtig dankbar war. Das übrige hatte der Wille, der Drang zum Leben gethan, der allmählich übermächtig in mir geworden war, und dem ich folgen mußte, hätte er mich auch in ganz augenscheinlich mißliche Verhältnisse geführt. Daß sie hier äußerlich ganz ungewöhnlich günstig lagen, war für mich – ich durfte mir das Zeugnis geben – kein weiterer Anreiz gewesen. Auch hatte ich nichts bereut. Ließ er mich doch – was 273 mir freilich als selbstverständlich erschien – in jeder Weise frei gewähren, war auch sonst die Zuvorkommenheit und Höflichkeit selbst. Aber näher waren wir uns bei alledem nicht gekommen; ja, vielleicht ein wenig weiter voneinander abgerückt. Seine Mutter hatte Eitelkeit die ruling passion seines Wesens genannt. Wäre sie doch in diesem Falle ausnahmsweise weniger scharfsichtig gewesen! Aber ich mußte ihr recht geben. Er war eitel auf sein stattliches Äußere, auf sein sprichwörtliches Glück in allen Unternehmungen, auf sein Ansehen in der Partei, sein glänzendes Haus. Er war es augenscheinlich auch auf mich, von der alle Welt ihm sagte, daß sie seine Stellung in der Gesellschaft ganz ausnehmend gehoben habe. Er war es jetzt vor allem auf seinen Sohn, dessen Mutter er kostbare Geschenke auf das Bett legte, um sich dann über die Wiege zu beugen, in Entzücken zu geraten, hielt das Kind den dargebotenen Finger fest, und mich zu versichern, daß, wenn es so etwas wie Wunderkinder gebe, dies jedenfalls eines sei.

Und dann kam eine schlimme Stunde für den Selbstgerechten.

Ich war schon so weit, meine Korrespondenz wieder ohne Hilfe führen zu können. Sie war ziemlich umfangreich, bestand freilich zum größeren Teil aus Briefen von Armen, die zu meiner Klientel bereits gehörten, oder meine Hilfe nachsuchten. Kaum nämlich hatte ich in der Berliner Gesellschaft Fuß gefaßt, als kein Wohlthätigkeitsbazar abgehalten werden, kein Hilfskomitee sich bilden konnte, ohne daß man meine Mitgliedschaft in Anspruch nahm; und da ich – worauf es ja hauptsächlich abgesehen war – gern und viel gab, aber auch in der Schule der lieben Mama einiges auf diesem Gebiete gelernt hatte, sah 274 ich mich bald in Vertrauens- und Ehrenposten, zu denen meine Jugend mich kaum berechtigte.

So war denn eines Morgens wieder viel der Art eingegangen, das ich geschäftsmäßig durchlief, bis ich an einen Brief kam, dessen Äußeres sich freilich von den andern nicht eben unterschied, um mich mit seinem Inhalt desto gründlicher zu überraschen.

Ich will nicht länger als nötig dabei verweilen. Es war die in teils heftigen, teils hämischen Ausdrücken abgefaßte Klage eines Mädchens, das meine Hilfe in Anspruch nahm gegen ihren Verführer, der sie und ihr Kind schmählich in Stich gelassen. Als der Schuldige wurde Philipp nicht ausdrücklich genannt, aber es war in einer Weise auf ihn hingewiesen, die keine andre Deutung zuließ.

Ich war in der bittersten Verlegenheit. Es handelte sich hier offenbar um eine allereigenste Angelegenheit Philipps, in die man mich gewaltsam hineingezogen. Als solche hätte ich sie am liebsten einfach von mir gewiesen. Dann aber wäre der Thatbestand für mich dunkel geblieben. Vielmehr: ich hätte meinen Gatten innerlich mit einem Vorwurf belastet, der ihm vielleicht, der ihm hoffentlich gar nicht zukam, wenigstens in dieser Schwere nicht. Wer konnte wissen, ob nicht alles eine Lüge, oder doch bös entstellte Wahrheit sei?

Als er am Mittag von der Börse nach Hause und in mein Zimmer kam, schickte ich die andern weg, bat ihn, Platz zu nehmen und mir in einer Angelegenheit, aus der ich mich allein nicht herausfinden könne, seinen Rat, eventuell seinen Beistand zu leihen.

Die Ruhe, mit der ich sprach, hatte ihn nichts Verfängliches ahnen lassen; aber er hatte kaum ein paar Zeilen gelesen, als er sich entfärbte, seine Hände zu zittern begannen, bis er, mit der Lektüre zu Ende, das Blatt zerknüllend und es auf den 275 Fußboden schleudernd, aufsprang und, mit langen Schritten das Gemach hin und her messend, in zornigen Verwünschungen gegen »diese verlogene Person« ausbrach.

Je verlogener sie ist, sagte ich, desto weniger Ursache hast du, dich aufzuregen. Ich denke, es ist das beste, du sagst mir ohne Rückhalt, wie sich die Sache verhält. Wir werden dann überlegen, was zu thun ist.

Es kam nun die etwas verworrene Geschichte eines Verhältnisses mit einem hübschen Mädchen, das, an einer Vorstadtbühne engagiert, ihrer kümmerlichen Gage durch die Zuwendungen ihrer Freunde aufgeholfen hatte. Die Zahl dieser Freunde war weder im Laufe der Zeit, nicht einmal in einem gegebenen Augenblick festzustellen. So hatte denn das armselige Geschöpf Anspruch auf die Vaterschaft ihres Kindes bei mehreren ihrer Liebhaber zugleich erhoben, wofür Philipp den unwiderleglichen Beweis beibringen zu können erklärte.

Mir deucht, sagte ich, die Frage ist hier nicht: bist du der Vater des Kindes? sondern: kannst du es sein? Und darauf ist nach dem, was du selbst zugegeben, die Antwort nicht zweifelhaft. Juristisch, sagst du, liege die Sache so ziemlich umgekehrt; es genüge da der Nachweis, daß du es ebensowohl auch nicht sein kannst. Aber ich denke, wir lassen hier in unser beider Interesse den Richter aus dem Spiel.

Also was wünschest du?

Daß du dem Mädchen bis auf weiteres – worüber sich ja noch sprechen läßt – eine jährliche Pension bezahlst, wie sie sich für deine Verhältnisse schickt.

Er murmelte etwas in den Bart von Sündenbock – eine Rolle, zu der sich niemand freiwillig hergebe.

276 Von freiwillig kann hier nicht die Rede sein, sagte ich. Wollten die andern sich ebenso zurückziehen, stünde das unglückliche Geschöpf vis-à-vis de rien, wie offenbar in diesem Augenblick; oder sie würde weiter so auf eine Bahn gedrängt, die mit ihrem Untergang enden muß. Mag sein, sie ist nicht mehr zu retten. Desto schlimmer für dich und die andern. Jedenfalls ist, daß du meinen Wunsch erfüllst, die Bedingung, unter der die traurige Angelegenheit für mich nicht mehr existieren soll. Bist du's zufrieden?

Er war es, oder schien es wenigstens nach der Lebhaftigkeit, mit der er mir die Hände küßte, und der Rührung des Tones, in welchem er mich das edelste, großmütigste Wesen nannte, das auf Erden existiere.

Und da wir einmal bei einem so heiklen Kapitel sind, fuhr ich fort, ohne mich von seiner Aufregung anstecken zu lassen, wäre es wohl der geeignete Moment, daß du mir über ein anderes zu der wünschenswerten Klarheit verhülfest. Wie stehst du eigentlich mit Jane?

Mit Jane? rief er erstaunt.

Ich war es selbst über meine Frage. Sie war mir ganz plötzlich gekommen, offenbar aus dem logischen Schluß, daß, wenn Philipp hier ein Geheimnis vor mir gehabt, von dem ich nichts geahnt, es dergleichen noch mehr geben könne. Und in diesem Falle hatte sich bei mir ein unbestimmter Verdacht wiederholt geregt, am stärksten bei meiner letzten Zusammenkunft mit der schönen Schwägerin.

Das brachte ich nun alles in einen Zusammenhang, gegen dessen Konsequenz nicht viel einzuwenden war. Besonders verweilte ich bei den Widersprüchen, deren sich sowohl Jane als er selbst bei der 277 Darstellung ihrer gegenseitigen Beziehungen schuldig gemacht hatten.

Ich glaube nicht mit dem Hang zur Eifersucht gerade übermäßig belastet zu sein, schloß ich; aber dein Bruder und Jane werden zur Taufe kommen; Jane wird vielleicht länger bei uns bleiben. Die Liebelei oder gar Liebschaft meines Mannes mit einer andern unter meinem Dach möchte ich schon der Leute wegen ungern sehen; auch am Düpe-sein habe ich keinen rechten Geschmack. Kurz, kannst du mir versprechen, daß du auf diesen meinen Geschmack gebührende Rücksicht nehmen willst?

Ich verspreche es dir.

Gut. Und vergiß nicht dies: ich kann viel verzeihen, weil ich vieles zu verstehen glaube. Daß ein Mann sein gegebenes Wort bricht, würde ich nie verstehen und nie verzeihen.

Hiermit endete eine Unterredung, an die ich nach einer langen Reihe von Jahren auf die eindrücklichste Weise erinnert werden sollte. –

Die Taufe wurde der Trauer wegen im kleinsten Kreise gefeiert. Arthur und Jane waren gekommen und bei der Handlung gegenwärtig, wenn auch nicht aktiv. Das letztere fand ich einigermaßen sinnlos, und es kostete etwas Mühe, mir klar zu machen, warum es bei der passiven Teilnahme bleiben müsse, wenn auch Arthur – ich war überzeugt, aus purer Opposition gegen den renegaten Bruder – sich zum orthodoxen Judentum bekannte. Zur Erwiderung seiner Höflichkeit, trotzdem gekommen zu sein, wurde das Kind nach ihm genannt. Ich konnte den Namen nicht leiden; aber Philipp sagte, man könne nicht wissen, ob der reiche Onkel, der möglicherweise ohne eigene Kinder bliebe, dem Jungen nicht einmal auf seinem Lebenswege sehr nützlich werden könne. Ich vermißte in dieser Reflexion schmerzlich den 278 »königlichen Kaufmann«; aber ich hatte mich längst daran gewöhnt, die Wirklichkeit zu nehmen, wie sie war; das heißt: ohne von ihr zu verlangen, daß sie Ideale zeitige, die ein für allemal in das Reich der Träume gehörten.

Arthur verließ uns schon nach zwei Tagen; Jane blieb ebensoviele Wochen. Sie fand alles very nice, pretty, sweet, wonderful, astonishing: unser Haus, unsre Einrichtung, unser baby (the exact likeness and very picture of his mother!), die Stadt, die Straßen und Plätze, die Theater, die Wachtparade, die Läden, von denen sie vor allen für das Geschäft von Gerson eine Leidenschaft entwickelte, welche bei ihrer Abreise den Aufbau und die Verpackung eines halben Dutzend riesengroßer Kisten notwendig machte, trotzdem sie schon mit dem Inhalt ihrer acht Kleiderschränke zu Hause einen ganzen anspruchsvollen Hofstaat hätte ausstatten können.

Ihr Verkehr mit Philipp schien sich in angemessenen Grenzen zu bewegen. Ich gab grundsätzlich keine genauere Obacht darauf. Auch war meine Zeit hinreichend in Anspruch genommen. Ich hatte mich der Pflege des Baby zu widmen; und auf dem Tisch in meinem Arbeitszimmer, das ich mir nach der stillen Durchgangsstraße, die neben unserm Hause hinlief, ausgesucht hatte, häuften sich die Broschüren und Bücher, deren eingehendes Studium mein Ehrgeiz und meine Freude war.


Denn an dem Konflikt zwischen der Regierung und der Opposition, der sich immer schärfer zuspitzte, nahm ich leidenschaftlichen Anteil. Ich könnte mich jetzt, wo das alles so weit hinter mir liegt, mir alles so fremd geworden ist, als wäre es auf einem andern 279 Stern vor sich gegangen, auf keine Weise wieder in die Stimmung jener Tage versetzen, kämen mir nicht einige verstreute Blätter aus meinem Tagebuche zu Hilfe, die ich als willkommene Lückenbüßer hier einschalten will.

 
Oktober 1862.

Heute wurde aus der Gesellschaft ein richtiges Parlament, zu dessen Präsidenten man in stillschweigender Übereinkunft den ehrwürdigen W. machte. Es wurde in aller Form das Wort erbeten und erteilt. Alle Matadore sprachen, auch Philipp, und sogar recht gut. Wunderschön der mir so liebe, so sympathische Dr. L.-C., was Naturbegabung betrifft, vielleicht der bedeutendste unter allen diesen bedeutenden Rednern. Freilich hat er auch in Frankfurt eine gute Schule durchgemacht und vereinigt nun in ganz origineller Weise das deutsche Pathos mit amerikanischer Sachlichkeit. Besonders ist mir neben ihm ein noch jüngerer Mann aufgefallen, den ich heute zum erstenmal sah und hörte: kleine, unscheinbare Gestalt, eckige Manieren, häßliches, aber kluges Gesicht; vorläufig noch wenig gewandt in der Rede, die überdies durch zeitweilig starkes Anklingen an Gott weiß welchen östlichen jüdischen Jargon beeinträchtigt wird; aber ganz ungemein schlagfertig mit beneidenswerter logischer Präzision und Schärfe. Er soll ein durchaus integrer Mensch und sittlich reiner Charakter sein. Dr. L.-C., mit dem ich nachträglich über ihn sprach, weissagt ihm eine bedeutende politische Zukunft.

Ganz besonders angenehm berührte mich die völlige Einmütigkeit, mit der alle dasselbe wollten, wenn gleich hier und da hinsichtlich der Mittel zu dem gemeinsamen Zweck und Ziel die Ansichten differierten. Es wäre auch schlimm, wenn 280 angesichts einer so großen hereindrohenden Gefahr, die alles schon Errungene wieder in Frage stellen will, nicht alle wahrhaft freigesinnten Männer zusammenstehen wollten!

* * *

Langes intimes Gespräch mit Dr. L. über die Situation. Zu meiner großen Verwunderung ist er lange nicht so radikal, wie ich ihn mir vorgestellt. – Ich habe mir schon in Frankfurt die Hörner stark abgelaufen, sagte er. Die republikanische Bewegung von damals, zu der ja auch ich stark neigte, war ein totgeborenes Kind. Republikaner müssen Herdemenschen sein in dem Sinne, wie in einer Herde gewisse Instinkte durch alle Individuen mit elementarischer Kraft gleichmäßig wirken, so daß alle zum Beispiel auf einen bestimmten Anstoß von außen in gleicher Weise reagieren: die Flucht ergreifen, wenn es Schafe sind; bei einer Feuersbrunst nicht aus dem Stall wollen und was dergleichen mehr ist. Der Deutsche ist kein Herdemensch; dazu ist er viel zu eigensinnig, rechthaberisch; viel zu sehr Grübler, der mit seinen Gedanken einsam und allein sein will. Wir haben es in Frankfurt erlebt: so viel Köpfe, so viel Sinne. Dafür ist er der geborene Gefolgsmann. Das scheint ein Widerspruch mit meiner ersten Behauptung, ist es aber nicht. Der einsame Mensch möchte aus seiner Isolierung heraus, ins Große und im Großen wirken, weiß aber nicht, wie er das anstellen soll; fühlt in sich selbst nicht die Kraft dazu und bleibt, die Hände im Schoß, ruhig sitzen, von mächtigen Thaten träumend, die er gern ausführen möchte und ausführen würde, wenn – es kein Wenn und Aber gäbe. Nun lassen Sie jemand kommen, für den es keines giebt; der den Mut 281 der Initiative hat; sein Ziel klar sieht und in den Mitteln, die dahin führen, nicht wählerisch ist – der Mann hat sie, oder bekommt sie alle unter einen Hut. –

Sie denken natürlich dabei an Herrn von Bismarck, sagte ich; warum, wenn Sie ihn so hoch stellen – denn hoch steht in meinen Augen ein Mann, der die engen Schranken, die dem Individuum gezogen sind, lösend, sich zum Typ – zum Typ seines Volkes – macht und ihm dies, sein gesteigertes Bild aufzuprägen im stande ist – warum, frage ich, opponieren Sie ihm so eifrig und nachdrücklich?

In der Politik, erwiderte er mit seinem anmutigen Lachen, muß man es mit dem italienischen Handelsmann halten. Er fordert das Doppelte und Dreifache dessen, was die Ware wert ist, weil er weiß, daß der andre ihn doch herunterbieten wird, und er so sicher ist, sie wenigstens nicht unter dem Wert losschlagen zu müssen.

Auf deutsch: im Grunde sind Sie für die Armee-Reorganisation?

Ich habe zu lange im Auslande gelebt, um die Schmach, Angehöriger einer machtlosen Nation zu sein und von den andern über die Achsel angesehen und an die Wand gedrückt zu werden, nicht voll empfunden zu haben. –

Diese Unterredung geht mir sehr durch den Kopf. Ich beginne an der allein selig machenden Kraft des Parteidogmas zu zweifeln und in den Feuerwein meines Hasses gegen Herrn von Bismarck einiges Wasser zu gießen.

* * *

Ich habe mich so lange gesträubt, ihn zu sehen und zu hören; nun ist es heute doch geschehen. 282 Prof. St. hatte mich überredet: es sei heute eine wichtige Sitzung im Abgeordnetenhaus; die dürfe ich nicht versäumen. Ich müsse es mit Wallenstein halten, der behaupte: »er fürchte den Gegner nicht, den er ins Auge fassen könne, und der, selbst voll Mut, auch ihm den Mut erhöhe«. Weiß der Himmel, woher der Mann alle die Citate nimmt, mit denen er seine Rede spickt! Mir ein unerfreulicher Zug, weil das sichere Zeichen der mir so widerwärtigen Anempfinderei! Doch das nebenbei.

Der Zufall wollte, daß, als wir in das Haus kamen, gerade Dr. L., der mir neulich so merkwürdige Konfidenzen gemacht, auf der Rednerbühne stand und sich in den heftigsten Angriffen gegen das Ministerium, speziell gegen Herrn von Bismarck erging, von dem man mir sagte, er sei in dem Augenblick, als Dr. L. seine Rede begann, durch die Thür, die von dem Ministertisch in sein Sprechzimmer führt, verschwunden. Dr. L. unterließ nicht, am Schluß seiner Rede, diese bequeme Methode, dem Gegner auszuweichen, mit starken Worten zu kennzeichnen. Gleich darauf erschien Herr v. Bismarck durch eben jene Thür wieder im Saal, zu sprechen anhebend fast, bevor er noch seinen Platz erreicht. Der Herr Vorredner irre sich: bei seinem so überaus sonoren Organ könne man sehr bequem, was er sage, durch die Wand hören. Ich fand den Witz nicht gerade klassisch, aber doch treffend in Anbetracht, daß Dr. L. wirklich übermäßig laut und (nach meinem Gefühl) übermäßig pathetisch gesprochen hatte (was ich nun gar nicht leiden kann). Es mag sein, daß Herrn v. Bismarcks völlig moderierte, sachliche, hier und da fein ironische Sprechweise mir desto mehr zusagte. Und je länger er sprach, desto mehr imponierte er mir. Er scheint mir kein eben gewandter 283 Redner: fast alle Herren in meinem Salon sprechen fließender. Er sucht häufig nach einem Wort und hebt eine oder die andre der Achseln, als könne er es durch einen solchen Ruck herausbringen; oder klopft leise mit dem stumpfen Ende des Bleistifts, den er in der Hand hält, auf die Tischplatte, als solle es ihm die hergeben; aber, so oder so, das Wort kommt, und man kann sich darauf verlassen, es ist dann das beste, zutreffendste, das unsre Sprache in ihrem reichen Schatze bewahrt. –

Napoleon sagte zu Goethe bei der ersten Entrevue in Erfurt: vous êtes un homme. Als ich hernach die enge, steile Treppe von der Zuhörertribüne herabstieg, murmelte ich vor mich hin: voilà un homme!

* * *

Merkwürdig! Der riesenhafte Mann spricht mit einer weichen Tenorstimme! – Im Säuseln des Windes nahte sich der Herr, heißt es irgendwo in der Bibel.

* * *

Ein Mann! ein wahrhafter Mann! Es ist der Traum meines Lebens gewesen. Der Traum ist Traum geblieben. Bismarck? – Aber »die Sterne, die begehrt man nicht«.

* * *

Ich finde, auch ich citiere jetzt viel. Hat mich dies thatenlose Leben, das keine meiner Kräfte energisch herausfordert, den Stoff zu einer Heldin nicht in mir fand, oder mir ihn nicht bieten konnte, faute de mieux zur An- und Nachempfinderin gemacht? Es wäre schrecklich!

* * *

284 Seltsam: erste Männer, wie Dr. L., v. H., Tw. und andere, wünschen über die politische Situation, über die Opportunität, oder das Nutzlose und Verfehlte dieser oder jener Maßregel meine Ansicht, meinen Rat zu hören. Sie sagen, ich habe einen so gesundes Urteil, einen so sichern Blick! Nennen mich eine Seherin, eine Sibylle. Was hilft mir das? Ich möchte mit thaten, nicht bloß raten!

* * *

Heute nannte mich Prof. St. eine der glücklichsten Frauen in ganz Berlin, vielleicht die glücklichste. Ich hätte ihm fast ins Gesicht gelacht. Nun ja: ich habe einen ansehnlichen, angesehenen Mann; kann thun und lassen, was ich will; verkehre in den besten Kreisen; habe viele Freunde, Bewunderer sogar; ein glänzendes Haus; bin vier Stunden im Sattel, ohne zu ermüden – und doch! und doch! Da sind in meiner Seele Quellen, deren dumpfes Rauschen an mein Ohr dringt, und ich kann zu ihren erquicklichen Wassern nicht gelangen; da kommen holde Blumendüfte zu mir von herrlichen Inseln, und mein Lebensschiff, vorwärts strebend, läßt sie in unabsehbarer Ferne seitwärts liegen – nein! ich bin nicht glücklich –

* * *

Gestern abend war ein Herr aus Hannover bei uns, ein Dr. H., Redakteur einer dortigen höchst liberalen Zeitung. Verkrüppeltes Bein, so daß er an einem Stock mühsam ging, aber herrlicher Kopf mit großen, feurigen, braunen Goethe-Augen. War gekommen, die Stimmung hier kennen zu lernen: Oberbürgermeister Z. hatte ihn zu uns geführt. Traf es gut: zufällig fast alle Führer der Partei zugegen. Er hörte lange schweigend zu, 285 dann nahm er das Wort, sprach lange, geistvoll, eindringlich. Der Jammer der Kleinstaaterei – die einzige Rettung aus der Misere ein starkes Preußen, das ohne ein starkes Heer eine Chimäre sei – die Notwendigkeit einer Abrechnung mit Österreich, das aus Deutschland hinaus müsse – die Verkehrtheit, in einem Volke den Freiheitsbaum aufrichten zu wollen, den jeder Feind, der in das wehrlose Land dringe, wieder umwerfen könne, während umgekehrt ein starkes Volk mit Naturnotwendigkeit die Freiheit aus sich erzeuge – es war unsäglich kühn, in diesem Kreise für diese Sätze zu plaidieren. Der Mann mit den Glanzaugen hatte die Kühnheit; und ich, während alle mit finstern Stirnen dasaßen, und sich in ominöses Schweigen hüllten, als er zu Ende war, bin aufgestanden, habe ihm die Hand gedrückt und für seine mutigen klugen Worte gedankt. – Philipp war sehr ungehalten: – Du hast unsre sämtlichen Freunde vor den Kopf gestoßen. – Ich: es war nicht meine Absicht, aber, wer, wie ihr, mit dem Kopf durch die Wand will, darf sich nicht wundern, wenn er hart anläuft.

Er sah mich verwundert an. Er ahnt nicht, wie weit ich bereits innerlich von der Partei abgerückt bin.

* * *

Herr von Bismarck treibt es offenbar zum Bruch. Er hat recht, so kann es nicht bleiben. Oder soll es enden, wie das Frankfurter Parlament? Herrliche liberale Maximen, die wie Seifenblasen in der rauhen Luft der Wirklichkeit zerplatzen? Ich habe keine Geduld mehr mit diesen Schönrednern.

* * *

286 Ich sprach mit Dr. L. ganz offen. Er ist der einzige, dem man alles sagen kann, weil er alles versteht. – Nun, Herr Doktor? – Er mit leichtem Achselzucken: Sie sind eben ein Soldatenkind. Sie haben es im Blut. –

Das ist es! Ich habe es im Blut! Dies – und andres.

* * *

Gestern abend ganz en petit comité. Zum Glück! Denn während wir – ein paar Damen, Herr S. (der in jener Sylvesternacht so mutig das Eis des Schweigens gebrochen hatte), der Maler R., Dr. Sch. – harmlos plaudernd um den Kamin herumsaßen, wurde die Thür nach der Flur aufgerissen und der lange Oberbürgermeister Z. stürzte herein, blieb stehen, hob beide Arme und rief mit rollenden Augen: Auf die Knie! auf die Knie!

Nun kenne ich ja den braven Z. längst als einen excentrischen Menschen; aber dies war doch etwas zu stark, und so konnte ich es den anderen nicht verdenken, wenn ihre erschrockenen Blicke deutlich sagten: er ist verrückt geworden. Ich hatte mich alsbald gefaßt und sagte: Das können wir später ja noch immer, wenn es nötig sein sollte. Vorläufig setzen Sie sich einmal zu uns und erklären uns, daß es und warum es nötig ist! – Z. hat viel zu viel Humor, um jetzt nicht der erste zu sein, der herzlich lachte. Doch klang in ihm eine ehrliche starke Erregung nach, während er uns mitteilte, um was es sich handelte: ein eben erschienenes Flugblatt von F. Lassalle: »Macht und Recht«. Er hatte die Broschüre in der Tasche und las sie uns vor. Ich war sehr frappiert. Es waren dieselben Gedanken, die mir schon so lange im Kopf 287 herumgehen, nur zu einer Klarheit des Ausdrucks erhoben, die ich ihnen nicht zu geben wüßte, und auch neulich der hannöversche Journalist nicht zu geben vermocht hatte. Die andern Damen, die mit ihren Männern, – besser auf ihre Männer hin – zum Fortschritt schwören, gerieten außer sich: dies sei eine offene Kriegserklärung gegen die Partei und nebenbei die flagranteste Verhöhnung wackerer Freiheitskämpfer, denen der Galopin einer Gräfin Hatzfeld nicht wert sei, die Schuhriemen zu lösen.

Der Streit war bereits recht unerquicklich geworden, als ich mich zum Glück erinnerte, von Herrn S. gelegentlich gehört zu haben, er sei als Student in Bonn Augen- und Ohrenzeuge des Prozesses von Anfang bis zu Ende gewesen, der achtzehnhundertachtundvierzig vor den Assisen in Köln gegen L., als intellektuellen Urheber des berüchtigten Kassettendiebstahls, geführt wurde. Ich bat ihn, uns den Handel zu schildern. Er wußte noch alles und erzählte ausführlich: mit welch atemloser Spannung das dichtgedrängte Publikum den Peripetien der verwickelten Sache gefolgt sei; die Verlegenheit der Richter, wenn gegen ihren Wunsch und Willen unerhörte Dinge zur Sprache kamen; die Widersprüche, in welche sich die zu nicht geringem Teil hinüber und herüber bestochenen Zeugen verwickelten; die stupende Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit des Angeklagten, der mit täglich wachsender Kraft den ganzen Prozeß beherrscht habe, um mit einer meisterhaften vierstündigen Verteidigungsrede seinen grandiosen Erfolg zu krönen. Schließlich der Jubel der vor dem Justizpalais harrenden zahllosen Menge, die den Freigesprochenen in Triumph zu seinem Hotel begleitete. –

Ich atmete tief auf, als Herr S. zu Ende war. 288 Ich hatte alles miterlebt. Und jetzt bin ich entschlossen, den Wundermann persönlich kennen zu lernen.

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Philipp sagt: es ist unmöglich, wenigstens bei uns. Er könne keinen Menschen in unserm Hause empfangen und ihm die Hand bieten, der unsre besten Männer: einen Sch.-D., einen J. Sch. so greulich beleidigt habe. Ich erwiderte: das verlange ich auch gar nicht; er solle vollständig aus dem Spiel bleiben. Ich würde ihn allein empfangen und die Verantwortung auf mich nehmen. – Er: So thu, was du nicht lassen kannst! –

Als ob es dazu seiner besonderen Erlaubnis bedürfte!

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Nun hat es bereits Wochen gewährt, und ich habe ihn noch immer nicht kennen gelernt. Freilich hat er auf Freund Z.'s. von mir autorisierter Anfrage, ob er bei mir eingeführt sein wolle, geantwortet: Aber mit dem größten Vergnügen! Nach allem, was ich von ihr höre, muß sie ein Schwan unter den allzu vielen Gänsen sein. Er hat dann meine Photographie, die ich Z. geschenkt, aufmerksam längere Zeit betrachtet und gesagt: Sie entspricht in Wuchs und Haltung, vor allem mit den nicht regelmäßigen, aber durchaus vornehmen, mir völlig sympathischen Zügen des Gesichts, wie es sich hier im Profil bietet, ganz dem Bilde, das man sich nach Ihrer Schilderung von ihr machen muß. Sagen Sie ihr, daß ich kommen werde! – Er kam dann wirklich; leider war ich nicht zu Hause. Ein paar meiner Einladungen mußte er absagen: man hatte ihn aufs neue wegen einer Rede, die 289 er im Handwerkerverein gehalten, angeklagt. Er arbeitet an seiner Verteidigungsrede, die sehr umfangreich ausfallen wird. – Inzwischen lese ich alles, was von ihm erschienen ist. Wahrlich, er schreibt gewaltig, und nicht wie die Schriftgelehrten! Ich höre den braven Sch. D., den wackern Jul. S. ordentlich unter seinen Skorpionenhieben winseln. Hier ist ein Bekenner erstanden, aber nicht des Evangeliums, das jeder nach seiner Façon liest, sondern der Volksrechte, die in ewigen Lettern, für jeden gleich, geschrieben sind. Und ich sage euch: hier ist mehr, denn Luther! Der konnte nur eine Kirche gründen, die schließlich nichts weiter ist als eine neue große Sekte. Die Gemeinde, die L. will, umfaßt Christen, Juden, Heiden – alles, was Menschenantlitz trägt. So darf man denn hier nicht von Volksrechten, muß durchaus von Menschenrechten sprechen.

Christus hat sein Reich auf die Liebe basiert; aber die Verwirklichung in das Jenseits verlegt; Lassalle hat für die Liebe, von der er absieht, die Gerechtigkeit eingeschaltet und damit einen schönen Traum in Wirklichkeit verwandelt, in etwas wenigstens, das auf Erden möglich ist. Spinoza steht mitten zwischen ihnen, so zwar, daß Christus gewiß ohne Spinoza, Lassalle aber nicht ohne ihn gedacht werden kann.

Man mag gegen die Juden sagen, was man will: sie sind und bleiben doch nun einmal ein auserwähltes, ja, das auserwählte Volk. Ich will von jenem Größten gar nicht sprechen. Aber ein Mann nur, wie mein lieber Schwiegervater! Da müßte man lange unter den Christen suchen, bis man seinesgleichen fände! Und die gute Mama, die nun von der Mühe und Arbeit, die ihr Leben war, im Grabe ruht – ich gäbe mit Freuden sämtliche, so 290 »bedeutenden« Damen meines Kreises für diese Eine hin.

* * *

Endlich heute abend! Ich schreibe noch in dem vollen Aufruhr, in den er meine Seele versetzt hat. Welches Wissen! welches stupende Gedächtnis! welche fesselnde Beredsamkeit! Wahrlich, Z. hat recht: er ist ein Phänomen. Auch seine Erscheinung hat mir imponiert: die hohe, elancierte Gestalt, der Cäsarenkopf. Ich begreife schon, daß ihm die Herzen der Frauen zufliegen. Er sprach auch über sein Verhältnis zur Gräfin H., die er »wie ein Sohn« liebt. Freilich, eine andre Version, als die im Kölner Prozeß so gründlich ventilierte! Aber wann hätte die Welt es sich nicht zum Geschäft gemacht, das Strahlende zu schwärzen!

Ich habe nur eines an ihm auszusetzen: nicht daß er ein wenig mit der Zunge anstößt! – es giebt seiner Rede noch einen besonderen Reiz – sondern: daß er eigentlich niemand von uns zu Worte kommen ließ. Für die andern thut mir das nicht eben leid, desto mehr für mich. Ein nächstes Mal werde ich wohl besseres Glück haben. Er hat versprochen, wiederzukommen.

* * *

Drei Wochen, ohne daß ich ihn gesehen habe! Ich kann mich jetzt in seinen Schriften examinieren lassen. Philipp fragt: was ich zur Zeit studiere? – Das neueste Evangelium. – Er hat mich verdutzt angesehen. Wir verstehen uns von Tag zu Tag weniger.

* * *

291 Gestern abend! Er hatte sich anmelden lassen und ich Befehl gegeben, niemand außer ihm anzunehmen. So denn fand er mich allein. Mir klopfte das Herz. Sonderbar genug fiel mir erst in diesem Augenblick ein, daß es doch ein recht gewagter Schritt sei, den ich da gethan: hatte man ihn mir doch oft genug als Libertin und Frauenjäger der gefährlichsten Art geschildert! Aber nun war es zu spät: meine gegebene Ordre konnte ich nicht rückgängig machen; und so hielt ich es für das beste, ihm ehrlich zu sagen: er müsse heute mit mir vorlieb nehmen; es liege mir daran, über so manches, was ich auf der Seele habe, von anderen nicht gestört, frei mit ihm zu reden. – Aber Sie hätten mir keinen größeren Gefallen thun können, sagte er, mir gegenüber am Kamin Platz nehmend; ich liebe leidenschaftlich die Duette, in denen jede der beiden Stimmen voll zur Geltung kommt. Neulich – ich will es nur gestehen – fürchtete ich, das ganze Orchester Ihrer Gesellschaft zu entfesseln; dabei muß man so viele unreine Töne mit in den Kauf nehmen; so spielte ich mich als Solisten auf. Das ist heute, Gott – vielmehr Ihnen – sei Dank, anders; heute sollen Sie mit mir zufrieden sein.

Es fehlt doch viel, daß ich es ganz gewesen wäre. Über die erste halbe Stunde freilich kann ich nicht klagen. Eine meiner ersten Fragen war, wie er zu Herrn von Bismarck stehe? Er ließ sich mit Lebhaftigkeit eingehend darüber aus. In B. sehe er einen Ebenbürtigen; er dürfe sagen: zur Zeit den einzigen in Deutschland. Die Grundmaxime ihres beiderseitigen Handelns: daß Macht vor Recht gehe, sei dieselbe; freilich bis auf einen kleinen, aber sehr wichtigen Unterschied: bei B. bleibt es ein brutales de facto; bei ihm vertiefe es sich zu einem de facto und de jure. Der 292 Schüler habe eben den Lehrer – denn das sei er B. gegenüber – nicht ganz verstanden. Wer sich nur auf die Macht stütze, nur mit der Macht operiere, werde immer an einen Punkt geraten, wo die große Macht auf eine größere stoße und zerschelle. Die größte aller Mächte sei das Recht. Wer nicht verstände, das auf seine Seite zu bringen, müsse auf die Dauer immer den Kürzeren ziehen. Das habe sich B. nicht klar gemacht; könne es sich auch nicht klar machen als ein unphilosophischer Kopf und bloßer Empiriker, der mutig darauflos experimentiere, dem dabei auch vieles gelingen werde, unter anderm sehr wahrscheinlich die Zusammenschweißung der deutschen Bundesstaaten zu einem deutschen Staatenbunde – ein gewaltiger Erfolg, den ihm das Volk und die Geschichte hoch anrechnen würden, nur daß dem stolzen Gebäude das feste Fundament fehlen werde: die gesicherten Volksrechte, die in letzter Instanz mit den Menschenrechten zusammenfielen. Freilich werde er, wenn er sehe, daß sein Bau auf schwankendem Grunde stehe, klug, wie er sei, sich auch auf die besinnen und mit Streben und Futtermauern, etwa mit dem allgemeinen Wahlrecht und dergleichen, nachzuhelfen suchen; aber das werde eben Flickarbeit sein und bleiben. Armeereform – sehr schön! Hinausdrängen Osterreichs aus Deutschland – bravo! Vielleicht ein neues deutsches Kaisertum – bravissimo! Auch Cäsar sei ein famoser Reorganisator gewesen und habe seinen Nachfolgern den römischen Staat als einiges Reich hinterlassen – scheinbar aere perennius. Aber man habe die Rechnung ohne Christus gemacht; ihn, der die alt gewordene zerfahrene Menschheit fundamentaliter erneuert, das Reich der Gerechtigkeit auf Erden gegründet habe. Das solle einer versuchen, 293 Bismarck klar zu machen! Zweifellos werde er die Beschuldigung, kein Christ zu sein, mit Entrüstung zurückweisen; aber bekanntlich kämen nicht alle Herr-Herr-Sager in das Himmelreich. Und ob er die Bergpredigt hundertmal gelesen habe und auswendig könne, sie bleibe ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Er habe nur eine Christenlehre: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, verstanden, aber leider falsch; wie jener Hegelsche Schüler das Wort des Meisters, das heißt: ohne die göttliche Ironie zu ahnen, die verborgen darin liege. Wie sich das für den Major Domus der Hohenzollern auch nicht anders schicke. –

Dies alles war mir ja nun aus der Seele gesprochen, und er sagte es viel schöner, als ich es zu reproduzieren vermag. Aber wieder hatte er, wie neulich, das Wort allein gehabt. Es war ein Vortrag, ein Privatissimum, das er mir da hielt; von dem »Duett«, welches er so leidenschaftlich liebe, und auf das er mir Hoffnung gemacht, keine Spur. Das ärgerte mich trotz der ehrlichen Bewunderung, die ich dem geistreichen Manne willig zollte. Ich wollte nicht zum andern Male mein Licht unter den Scheffel gestellt sehen. Und ich begann von dem vollen Verständnis zu sprechen, das ich seiner Weltanschauung entgegenbringe; wie auch ich mich überzeugt halte, es sei für den vierten Stand die Zeit angebrochen und die Bourgeoisie verteidige nur noch einen schon halb verlorenen Posten. Und wie in der intelligenten Minderheit des Bürgertums dieser reformatorische Gedanke bereits hell und heller dämmere, wofür ich als Beweis die Theorie meines Schwiegervaters und die Praxis meiner verstorbenen Schwiegermama anführte, in deren Schule ich mein Mitleid mit den Armen und Elenden gelernt habe.

294 Nun brauche ich nur auf die herrliche Frau die Rede zu bringen, und ich weiß, daß ich beredt werde. Ich war es, fühlte es und war mit mir zufrieden, bis ich bemerkte, daß er nur zerstreut zuhörte, um plötzlich, ich weiß nicht mehr mit welchem Übergang, das Thema »die Frau« aufzugreifen, nicht im allgemeinen, sondern in spezieller Beziehung auf sich. Er wisse, sein Ruf nach dieser Seite sei nicht der beste – mit Unrecht. Wenn einer, so achte und ehre er die Frauen. Es müßten aber die wirklichen Frauen sein; jene edlen, an die Goethe den Mann verweise, wenn er wissen wolle, was sich zieme: Frauen von Intelligenz, Geist und Anmut, die nach Schiller ja nur ein in die Sinne fallendes Produkt der schönen Seele sei. Könne man es dem Manne verdenken, wenn er in den andern nichts als ein Spielzeug zur Erholung sehe, ihm wohl zu gönnen nach des Tages Last und Mühe?

Dagegen hätte ich theoretisch nun auch nichts gehabt; dennoch ergriff mich, je länger er so sprach, immer stärker ein Gefühl des Mißbehagens und der Unruhe. Dies war nicht mehr der Gelehrte, der Denker, der Apostel und Agitator – es war der Held des Salons, der sich erinnerte, daß er mit einer jungen Frau allein war, und seine Künste spielen ließ. Ich fürchtete mich nicht, auch als er, wie zufällig und im Eifer der Rede, seinen Sessel ein paar Zoll näher an den meinen heranrückte. Ich habe das Fürchten nicht gelernt.

Plötzlich brach er auf. Ich bin überzeugt, weil er ein Spiel satt hatte, bei dem er sah, daß nichts für ihn herauskam; nicht, weil er, wie er vorschützte, noch eine Verabredung für den Abend habe. –

Ich bin sehr betrübt. Dies Gemisch von Größe 295 und Kleinheit, von hohen Gedanken und niederen Gelüsten in einer Menschenseele! Und wäre es noch für mich der erste Fall der Art! War es mit meinem unglücklichen Professor viel anders? Wie oft habe ich schon gestern abend und heute morgen an ihn denken müssen!

Ich habe ihm versprochen, am sechzehnten zur Verhandlung seiner Sache vor dem Stadtgericht zu kommen. Prof. St. soll mich begleiten. Er will alles mit ihm verabreden.

Jetzt warnt mich etwas, daß ich es nicht thue. Ich glaube nicht mehr an seine Kindesliebe zur Gräfin H., so wenig, wie an die Freundschaft, die er mir gestern abend zugesichert mit einem Feuer, das sicher an einer weniger lauteren Fackel entzündet war.

* * *

17. Januar 1863.

Natürlich bin ich dann doch dagewesen. Ich hatte mir unter einer solchen Gerichtsverhandlung etwas besonders Feierliches und Ehrwürdiges vorgestellt; und fand das volle Gegenteil in allem wenigstens, was das Äußere betrifft: ein kaum mittelgroßer oblonger Raum mit drei Fenstern auf der Längsseite, der nie hell sein kann, und in welchem an diesem trüben Wintertage bereits in den Morgenstunden Halbdunkel herrschte, das ein paarmal in Volldunkel übergehen zu wollen schien. Den Fenstern gegenüber die Angeklagtenbank, davor der Tisch des Verteidigers. An der Schmalseite der Eingangsthür gegenüber das aus drei Herren bestehende Richterkollegium; vor ihnen, etwas zur Seite gerückt, der Platz des Staatsanwalts. Zwischen der Thür und einem Ofen in der Ecke ein kleiner Verschlag mit zwei schmalen hölzernen 296 Bänken, auf deren erster wir Platz nahmen: Prof. St., der Schriftsteller S., ich, ein paar Journalisten; hinter uns einige Leute aus dem Volke. L., der in Gesellschaftstoilette, sehr stattlich, nur etwas blaß aussah, begrüßte uns lächelnd mit halber Verbeugung von seinem Platz aus, den er sich nach längerem Hin- und Herreden zwischen ihm und dem Präsidenten endlich am Tisch des Verteidigers glücklich erobert hatte. Nun die offiziellen Vorfragen. Bei der einen: Sind Sie bereits bestraft? gleich wieder ein heftiger Wortwechsel. – Sehr langweilige Verlesung der Anklage. Endlich kam dann auch die pièce de résistance: L.'s Verteidigungsrede. Ich hatte durchaus die Empfindung, daß L. die einem Angeklagten gesteckte Grenze zum Schaden seiner Sache weit überschritt, wenn er den Staatsanwalt auf jede Weise reizte und verhöhnte: und fand es sehr begreiflich, daß der Präsident ihm wiederholt das Wort entziehen wollte. Freilich gab das wieder L. Gelegenheit, seine Schlagfertigkeit von der glänzendsten Seite zu zeigen. Er führte mit größtem Scharfsinn den Beweis, daß ihm verstattet sein müsse, zu reden, um darzuthun, es sei ihm zu Unrecht die Rede abgeschnitten worden. Er sprach ausgezeichnet mit einer Sicherheit, die unfehlbar schien. Und wenn er auch am Abend vorher Prof. St. und den dort versammelten Freunden die Rede, die er halten würde, aus dem Manuskript vorgelesen hatte – auf diesen höchst intrikaten Zwischenfall konnte er nicht vorbereitet sein. Es war eine Improvisation, die der auswendig gelernten Rede nichts nachgab, sie womöglich noch übertraf. Auch an tragikomischen Zwischenfällen fehlte es nicht. So, wenn Prof. St., als der Staatsanwalt wieder einmal L. das Wort entzogen wissen wollte. – unschicklich genug – 297 hell auflachte und der Präsident drohte, »den Saal räumen zu lassen«; das heißt: uns halbes Dutzend Menschen hinauszuschicken!

Hatte ich mich schon von Anfang an, als einzige Dame unter allen diesen Männern, sehr unbehaglich gefühlt, so machte dies peinliche Intermezzo das Maß voll. Dazu die dumpfschwüle, kaum noch atembare Luft in dem niedrigen Raum. Ich benutzte eine Pause, die der Präsident verkündet hatte, und die für alle Beteiligten sehr notwendig schien, um Herrn S. zu bitten, mich aus dem Saal zu bringen. Er sagte, auch seine Zeit sei um. Vorher trat L. noch an uns heran, reichte uns die Hand, bedauerte, daß ich fort müsse: die Hauptsache käme ja erst. Er war sehr gut gelaunt, fast übermütig, wie ein Schauspieler, der sich bewußt ist, seine Rolle gut gespielt zu haben.

Herr S. und ich, als wir draußen waren, tauschten die Eindrücke aus, die das eben Erlebte auf uns gemacht. Sie trafen seltsam zusammen. Ich habe vor vierzehn Jahren an ihn geglaubt, sagte Herr S.; jetzt thue ich es nicht mehr. Wie weit er auch damals schon Phraseur und Poseur war, will ich dahingestellt sein lassen – ich war noch zu jung, um meine Beobachtungen kontrollieren zu können; daß er es jetzt, wenn nicht ganz, doch zum größeren Teil ist, möchte ich beschwören. Er wohnt nicht, nach dem schönen Goetheschen Wort, in der Burg der Leute, denen es nur um die Sache zu thun; es dreht sich bei ihm alles um seine Person; er arbeitet auf die Wirkung, auf den Effekt. Wie komödienhaft seine Haltung während des ganzen Morgens! Welch kokettes Prunken mit seiner Überlegenheit dem unglücklichen Staatsanwalt gegenüber! Dergleichen würde einem wahrhaft vornehmen Menschen völlig unmöglich sein. Ihn hätte das 298 Bewußtsein durchdringen müssen, hier nicht »als Roderich« zu stehen – um mit Marquis Posa zu sprechen – sondern als »Abgeordneter der ganzen Menschheit«, zum mindesten ihrer ungeheuren Majorität: der Armen und Elenden. Das würde seinem Auftreten eine Würde verliehen haben, die ich schmerzlich vermißte. Aber die Sache ist: er kennt sie gar nicht, für die er plädiert: die Armen und Elenden. Er glaubt sie ausschließlich in den Scharen der Handwerker und Arbeiter zu sehen, die ihn umdrängen, wenn er ihnen seine Reden deklamiert, und deren tägliches Anschwellen ihn mit Stolz erfüllt. Ist er doch ihr Generalissimus! kann er doch dem Bourgeois die Haut schaudern machen, wenn er ihn den dumpfen Schritt seiner heranziehenden Bataillone hören läßt! In ihre schmutzigen Hütten aber ist er nie gegangen; an seiner trüben Quelle hat er das Elend nie aufgesucht. Es würde mich gar nicht wundern, wenn aus dem Paulus von heute in absehbarer Zeit ein sehr viel echterer Saulus würde. Wenn ich Bismarck wäre, ich ließe es mich viel kosten, mir den Mann zu kaufen. Er könnte ihn brauchen. –

Ich finde dies Urteil des Herrn S. zu hart; aber ganz unwahr möchte ich es auch nicht nennen. Dazu ist der Nachgeschmack von gestern zu bitter. Mich wundert, daß Herr S. nicht auf eines zu sprechen gekommen ist: L.'s Judentum. Mir deucht, man kann ihn nicht verstehen – nicht in seiner Genialität und dialektischen Schlagkraft, nicht in seiner vordringlichen Großmannssucht und anmaßlichen Selbstüberhebung – wenn man vergißt, daß er dem so geistesmächtigen Stamm entsprossen ist, den man jahrhundertelang in schnöden Fesseln gehalten; und der nun, da die Fesseln gefallen sind, nicht weiß, wohin mit der aufgespeicherten Kraft. 299 Wenn er sie jemals richtig gebrauchen lernte, – es könnte ein wundersames Ferment in der Erziehung des Menschengeschlechtes werden.


Hier bricht mein Tagebuch plötzlich ab. Der Grund war ein sehr trauriger und der noch lange bei mir nachgewirkt hat: die Erkrankung und der Tod meines Schwiegervaters.

Von allen Menschen hatte ich diese beiden zumeist geliebt: ihn und seine Gattin. Sie war wohl die bedeutendere: eine Natur im besten Goetheschen Sinn: so voller elementarer Kraft, daß sie aller Bei- und Nachhilfe der Bildung entbehren konnte. Aber sie hatte – wiederum aus genialem Instinkt, weil sie fühlte, daß sie anders ihr Suum esse nicht bewahren könne – das lautere Gold ihres Wesens mit zu viel hartem Kupfer legiert; es fehlten ihr, ohne die es sich nicht wohlig an eines Menschen Seite ruhen läßt: die Grazien. Sie aber waren ihrem Gatten bei seiner Geburt hold gewesen und ihm bis in sein Alter jederzeit gewärtig. Er, der spät geheiratet hatte, stand jetzt in seinem fünfundsiebzigsten Jahr. So beunruhigte es mich sehr, als er, der meines Wissens niemals krank gewesen war, mir durch Frau Schmitz schreiben ließ: er fühle, daß sein Ende nicht mehr fern; es werde ihm eine große Freude sein, die liebe Tochter noch einmal zu sehen. Frau Schmitz hatte freilich nachträglich hinzugefügt: sie habe nicht gewagt, anders zu schreiben, als der Herr befohlen; halte aber seinen Zustand keineswegs für gefährlich.

Philipp hielt sich an die Nachschrift des Briefes, etwas von übertriebener Ängstlichkeit murmelnd. Übrigens würde er mich für den Augenblick nicht gut begleiten können, auch wenn man, was nicht der Fall 300 zu sein scheine, seine Anwesenheit in D. wünschte. Er müsse in den nächsten Tagen nach London, wo Janes Mutter wieder einmal im Sterben liege. Nach Janes sehr dringender Aufforderung scheine es diesmal ernst zu sein.

Ich hatte auf seine Begleitung nicht gerechnet. Daß ihm so offenbar Janes Mutter wichtiger war als der eigene Vater, empfand ich freilich als eine häßliche Impietät; behielt es aber für mich. Wie er mir nie in meine Entschlüsse hineinsprach, mich immer frei gewähren ließ, glaubte ich ihm die gleiche Vergünstigung gewähren zu müssen. Aus dem Brief von Jane hatte er mir nur den betreffenden Passus vorgelesen. Er war so sicher, daß ich nicht sagen würde: bitte, zeig mir den Brief!

So ging denn jeder von uns seines Weges.

In D. fand ich den Vater in einem Zustand, den sich die Ärzte nicht zu deuten wußten. Er klagte über nichts; kein Organ wies einen Fehler auf, den man für die Quelle und Wurzel des Übels hätte nehmen können. Aber das Übel war unleugbar: eine Abnahme der Kräfte, die denen, welche ihn täglich sahen, weniger auffällig sein mochte, als mir, die ich vor drei Jahren einen von Schmerz gequälten, seelisch tief gebeugten, aber körperlich noch immer rüstigen alten Mann verlassen hatte und nun einen hilfsbedürftigen Greis wiederfand. Er wollte nichts davon wissen, daß er der Hilfe bedürftig; lehnte jede Unterstützung freundlich ab – es war nur zu sichtbar – mir wenigstens – wie mühsam er sich aus dem Sessel hob, welche Mühe er sich gab, beim Kommen und Gehen, seine Schwäche nicht zu verraten.

Von Frau Schmitz, die ihren alten Herrn mit nimmermüder Sorgfalt pflegte, war nicht viel zu erfahren: den ersten heftigen Schmerz nach dem Tode der Frau, dessen Zeuge ich ja noch gewesen war, 301 habe er verhältnismäßig bald überwunden. Seitdem lebe er in alter Weise still für sich, immer freundlich, rührend dankbar für jede kleinste Dienstleistung, noch anspruchsloser als schon sonst, nur darauf haltend, daß alles so bleibe, wie es die Mama bei Lebzeiten angeordnet. Sie habe wiederholt beobachtet, wie er einen Stuhl, der sich zufällig verschoben, in aller Stille wieder an seine alte Stelle gerückt habe. Er sei ja immer sehr ordnungsliebend gewesen; aber um die Ordnung als solche handle es sich dabei nicht, nur daß an die alte nicht im mindesten gerührt werde.

Ob er oft von der Verstorbenen spreche?

Sehr selten. Auch hüteten sich alle – sie selbst und die paar Freunde, die noch ins Haus kämen, die Rede auf sie zu bringen aus Furcht, an die alte Wunde zu rühren.

So sah ich mich denn auf meine eigne Beobachtung angewiesen. Die nicht lange gewährt hatte, bis ich das Richtige gefunden zu haben glaubte: ihn verzehrte die Sehnsucht nach ihr, die er verloren – verloren in das All, in das nach seiner Philosophie die natura creata wieder zurücktauchen mußte, wenn ihre ephemere Existenz zu Ende war.

Ich hatte in der Hauptsache richtig gesehen; in einem wesentlichen Punkte mich sehr geirrt.

Ohne mich an die Warnung der guten Frau Schmitz zu kehren, begann ich zu ihm von der Toten zu sprechen: von ihrer Bravheit, ihrem Edelsinn, ihrer völligen Freiheit von Menschenfurcht, ihrer unbestechlichen Wahrheitsliebe, ihrem köstlichen Humor. Ich sah, es war Musik für ihn, eine lange Zeit schmerzlich entbehrte. Er konnte sich daran nicht satt hören und seinerseits sich nicht ersättigen, sie zu rühmen und zu preisen, in tausend Zügen sich ihr Wesen bis in die scheinbar geringfügigste Einzelheit zu vergegenwärtigen. In dem eisigen künstlichen Schweigen, das 302 einsichtslose Rücksicht um ihn her geschaffen, war auch er verstummt, um nun eine ach! wie beredte Sprache wiederzugewinnen, mich an Münchhausens Posthorn mahnend, das in der Nähe des warmen Ofens die eingefrorenen Melodien willig und wohlig ausströmt.

Und wenn er dann erschöpft in seinen Sessel zurücksank, sagte mir sein seelenvoller Blick: Ich danke dir, daß du gekommen. Ich denke ja Tag und Nacht an sie, und man wollte mich nicht von ihr sprechen lassen. Sie gedachten mich zu schonen und haben mich fast getötet.

Wirklich schien, als ob neues Leben in ihm erwache. Er verlangte wieder von mir vorgelesen zu hören; nur durften es nicht, wie vormals oft, philosophische Dinge sein – Goethes Wahlverwandtschaften, Werthers Leiden, anderes, in denen eine starke, verzehrende Leidenschaft zum vollen Ausdruck kam, waren ihm das liebste. Es ist nur eines, sagte er dann wohl, wenn ich das Buch beiseite legte, warum es wert ist, daß der Mensch lebt: die Liebe zu einer andern wahlverwandten Seele; die Liebe, die nicht aufhört, auch nicht im Tode, der sie nur läutern, zu einer Höhe steigern wird, die wir nicht ermessen können, auch wenn, diese Höhe nur zu ahnen, uns schon jetzt mit wonnevollem Schaudern erfüllt.

Und nun vernahm ich, was ich für völlig unmöglich gehalten: er hatte sich von seinem geliebten Spinoza losgesagt aus Liebe zu der Verstorbenen, die nicht tot sein durfte, sollte sein Leben nicht wahnsinnige Verzweiflung sein, und deren Fortexistenz ihm nur ein persönlicher Gott garantieren konnte. Nein, sie durfte nicht als Blume auf dem Felde wiederkommen, als Vogel von Baum zu Baum flattern, als Wolke durch die Luft schweben, als Regen niedersinken – er mußte sie zurückhaben, wie sie war, wenn auch gesteigert in allen ihren herrlichen 303 Eigenschaften; mußte sie drüben finden als das, was sie ihm hier gewesen: seine Geliebte, Freundin, Trösterin, Beraterin in den Fährlichkeiten, an denen es auch im Jenseits nicht fehlen werde, wie sie sein sicherer Hort in allen Wirrnissen des Diesseits gewesen war.

Ich aber hütete mich, auch nur mit einem Zweifelswort den Träumer aus seinen Träumen zu reißen. Wenn sie ihn glücklich machten! Und das thaten sie. Und dennoch kam mir nicht ein einziges Mal der Wunsch: möchtest du auch so träumen können! Wußte ich doch nur zu sicher: er würde nicht in Erfüllung gehen.

Ich konnte so wenig für ihn thun, und er war für das wenige so dankbar!

Ich hatte sie ja nie verloren, sagte er; aber sie hatten sie mir durch das Schweigen, mit dem sie mich umgaben, doch ferner gerückt. Du, die du so lieb von ihr zu reden weißt, hast sie mir wieder beseligend nah gebracht. Durch deine Augen sehe ich jetzt ihre klaren Augen wieder; in deiner Stimme höre ich wieder ihre gute, brave Stimme. Und so, als liebende Tochter, werden wir dich drüben wieder finden, wenn du uns einst in ferner Zeit nachkommst. Ich stehe fest in diesem Glauben. Ein jeder muß es, der ein Teuerstes verloren hat.

Mir gab das Wort einen Stich ins Herz. Ein Teuerstes! Aber, um es zu verlieren, muß man es doch zuvor besessen haben! Wie bettelarm war ich in all meiner Jugendkraft im Vergleich zu diesem alten Mann, auf dessen Schwelle der Tod lauerte!

Auf meine Bitten hatte er aufgegeben, sein Comptoir zu besuchen, wohin er sich vorher noch täglich, wenn auch nur auf eine Stunde, hatte fahren lassen. Das Wetter war gar zu rauh. Er klagte über den Mangel an frischer Luft, der ihm das Atmen erschwere. An einem besonders milden Tage 304 erlaubten die Ärzte einen kurzen Ausflug in geschlossenem Wagen. Als wir einstiegen, sagte er dem alten Diener Friedrich ein paar leise Worte. Ich wußte, was er ihm gesagt, und was er meinte, als er, im Wagen, glückselig lächelnd, halb zu mir, halb vor sich hinflüsterte: Seit vierzehn Tagen! Sie wird mich tüchtig ausschelten, daß ich sie so lange allein gelassen habe.

Wir hielten am Friedhofsthor. Er stützte sich auf meinen Arm, während wir nach dem Grabe schritten. Die Wege waren gefegt; aber das Grab war, wie die andern auch, mit reinlichem Schnee, wie mit einem ungeheuren Leichentuche, zugedeckt; auf den Lebensbäumen an den Ecken lag er in dicken Klumpen und in feinen Streifen auf den herabhängenden Zweigen der Trauerweide zu Füßen des Grabes. Er stand zu dessen Häupten, nach Morgen gewandt. Die Hände gefaltet, war er in Gebet versunken, vielleicht in eine geisterhafte Ansprache an sie, die da unten ruhte. Tonlos bewegten sich die Lippen, während Thräne auf Thräne über die bleichen, tief eingesunkenen Wangen rann. Es konnten keine bitteren Thränen sein. Sein liebes, noch immer schönes Antlitz leuchtete wie verklärt, daß er förmlich wie verjüngt erschien. Ich, die ich still dabei stand, wagte nicht ihn zu stören, trotzdem mir sein langes Weilen Sorge machte: die Sonne, die vorhin matt geschienen, hatte sich hinter blauschwarzen Wolken verborgen. Große Flocken begannen vereinzelt zu fallen; ein paar Krähen schwingten, niedrig streifend, über uns hin. Die eine ließ sich auf einem hohen Baum in der Nähe nieder und erhob ein lautes heiseres Gekrächz.

Ob es ihn auf seinem seligen Traum geweckt? Er that die gefalteten Hände auseinander, lächelte mich freundlich an und sagte, tief aufatmend: Das war schön, wunderschön!

305 Während wir langsam den sanft abfallenden Weg zur Eingangspforte zurückschritten, lehnte er sich schwerer und immer schwerer auf meinen Arm. Friedrich, der am Schlage wartete, half mir ihn in den Wagen heben.

Die Pferde hatten sich kaum in Bewegung gesetzt, da sank sein Kopf auf meine Schulter. Ich schlang meinen Arm um ihn. Er war schon wiederholt in meiner Gegenwart so plötzlich eingeschlummert.

Es war der Schlummer, aus dem man nicht wieder erwacht.


Philipp war zum Begräbnis gekommen. Am folgenden Tag wurde das auf dem Stadtgericht deponierte Testament eröffnet. Es bereitete den beiden Brüdern, die zugegen waren, eine unerfreuliche Überraschung. »Es ist keine Enterbung im moralischen Sinn, wenn ich sie übergehe,« hieß es in dem Testament; »nur daß es keinen Sinn hätte, ihnen etwas zu vermachen, die viel reicher sind, als ich.« In der That hatte man das Barvermögen des alten Herrn weit überschätzt. Man hatte es auf mindestens sechs Millionen Thaler taxiert. Es stellte sich heraus. daß es nach Abzug einer längeren Reihe von Legaten, in welchen sämtliche Hausgenossen, voran die treffliche Frau Schmitz, reichlich bedacht waren, nur deren zwei betrug, die restlos an verschiedene Wohlthätigkeitsanstalten der Stadt fielen. Mir – »meiner geliebten Tochter, der ich für alles, was sie mir und meiner verstorbenen Frau gewesen, nicht dankbar genug sein kann« – waren die beiden Häuser: das Geschäftshaus in der Stadt und das Wohnhaus mit dem großen Garten in der Vorstadt nebst dem gesamten Mobiliar und Inventar zugesprochen. Als Exekutor 306 des Testaments war sein alter Freund, der Justizrat Piper in M., mein einstiger Vormund, eingesetzt.

Ich beeilte mich, Philipp zu versichern, daß ich, was auch bei dem Verkauf der Grundstücke herauskomme, in seine Bank geben würde. Er hatte bei der unliebsamen Entdeckung, daß er in dem Testament leer ausging, keine Miene verzogen, wie er denn – was ich ihm stets hoch anrechnete – in allem, was Geldangelegenheiten betraf, von seltener Noblesse war. Freilich hatte ich ihm schon bisher finanziell nicht zur Last gelegen, da ich von dem Schwiegerpapa ein so reichliches Jahrgeld erhielt, daß ich es, so wenig sparsam ich war, niemals aufbrauchen konnte. Er nahm mein Entgegenkommen freundlich auf und bemerkte nur galant, daß er es von mir nicht anders erwartet habe. Damit fuhr er nach Berlin zurück; ich blieb vorläufig in D., meine Angelegenheit mit Hilfe des alten Freundes zu ordnen, der auf meine Bitte sofort von M. herbeigeeilt war.

Ich fand ihn von der Last der Jahre gebeugt, sonst ganz der kluge, hilfsbereite, unermüdliche Mentor, als den ich ihn von Kindesbeinen an gekannt hatte. Alte Erinnerungen an meine Eltern, so manche gemeinschaftliche Bekannte, so manche Anekdote aus meiner frühesten Jugendzeit wurden aufgefrischt; mein Leben im Kloster, die Episode meines Aufenthalts im Hause von Professor R. tragischen Angedenkens rekapituliert. Mein Gott, wie weit das alles zurückzuliegen schien! wie alt ich mit meinen kaum fünfundzwanzig Jahren schon geworden war! Der alte liebenswürdige Herr sagte mir eine Schmeichelei über die andre: ich wisse, wie große Stücke er immer auf mich gehalten, mir stets eine glänzende Zukunft prophezeit habe. Aber daß eine so stolze Dame aus mir werden würde, wie ich da jetzt, schlank und elegant und – sans me flatter! – mit einem so, bei aller Noblesse, 307 anmutigen Gesicht, in das sich jeder verlieben müsse, vor ihm stehe – habe er doch nicht geglaubt. Zu solchen Vorzügen gehöre unbedingt ein stattliches eigenes Vermögen, und das werde er mir jetzt verschaffen.

Dank seiner hervorragenden geschäftlichen Intelligenz und einer überaus günstigen Konjunktur der lokalen Verhältnisse konnte er sein Wort halten. Auf das Stadthaus hatte schon längst ein sehr reicher Grubenbesitzer, der sich gern an der günstigen Stelle ein Palais gebaut hätte, ein Auge gehabt, auch bereits meinem Schwiegervater vergebens große Anerbietungen gemacht, die er jetzt meinem zähen Mandatar gegenüber noch bedeutend steigern mußte, bis dieser die Gnade hatte, das übertriebene Gebot anzunehmen. Und noch weit günstiger gestaltete sich der Verkauf des großen Grundstückes in der Vorstadt, auf das ein Konsortium spekulierte, welches auf dem mehrere Morgen umfassenden Areal eine Villenkolonie anlegen wollte. Wieder ließ sich der Justizrat lange bitten, um mir nach Berlin zu telegraphieren: Gratuliere Ihnen, Liebste, Beste, zu der runden Million, die ich, genau nach meinem Programm, für mein schlankes Mündelkind herausgewirtschaftet habe.

Ich war inzwischen heimgekehrt, nachdem ich von den Möbeln alles, was ein besonderes pretium affectionis für mich hatte, vorausgeschickt; von Haus und Garten, von den Zimmern, in welchen ich als Mädchen geträumt, von dem Hauspersonal gerührten Abschied genommen, das sich vollzählig zum letztenmal in dem großen Vestibül um mich versammelt und in seiner Trauerkleidung, weinend und meine Hände küssend, eine Scene bot, die mich, die ich mich ebensowenig der Thränen enthalten konnte, an die bekannte in Maria Stuart schmerzlich erinnerte.

Hatte ich auch nicht, wie jene, von dem Leben 308 zu scheiden, so doch von der Stätte, da sie geweilt, die mich, die ich von allen Menschen zumeist geliebt, und ich die Jahre verlebt, welche mir noch heute in der Erinnerung sind was dem Wanderer die grüne, schattige Oase, an deren kühlen Quellen er sich laben durfte, bevor er den Stab weiter setzte in die dürre Wüstenöde.

309 Viertes Buch.

Denn als solche erschien mir immer mehr das Leben.

Eine schwermutvolle Stimmung wollte nicht von mir weichen, an der die Trauer um den Verlust der lieben beiden, die mich so treu geliebt, gewiß ihren Anteil hatte, ohne den Grund zu erschöpfen. Den ich auch auf einen bestimmten Ausdruck zu bringen nicht vermocht hätte. Ich fühlte nur eine Leere in meiner Seele, die nichts ausfüllen zu können schien: nicht die Erwägung der glänzenden weltlichen Lage, in der ich mich befand; nicht die Huldigungen, die mir von allen Seiten gezollt wurden; nicht die verehrungsvolle Freundschaft von Männern, die man zu den ersten unsrer Nation zählen mußte; nicht das stolze Bewußtsein, diese Freundschaft einigermaßen zu verdienen. Ich hungerte und dürstete nach einer Liebe, von der ich mir sagte, daß sie ein unerfüllbarer Traum, und der mich darum nicht weniger quälte. Oder war es nicht die Qual des Tantalus, daß er die saftigen Früchte über sich, das krystallene Wasser unter sich sah, die er den verlangenden Händen ewig unerreichbar wußte? Es half nichts, daß ich versuchte, mich enger an meinen Gatten anzuschließen, der in der ritterlichen Höflichkeit seines Betragens gegen mich sich stets gleich blieb – aus dem engeren Anschluß wollte keine Innigkeit erwachsen; und immer wieder mußte ich des schrecklichen Wortes gedenken, das er auf der 312 Landungsbrücke von Helgoland so ruhig über jenes unglückselige Ehepaar sagte: sie verstehen sich eben nicht. Vergebens, daß ich meinen Kindern – im Laufe der nächsten Jahre war zu dem älteren ein zweiter Sohn geboren – eine gute Mutter zu sein mich bestrebte. Wenn ich mich über ihre Bettchen beugte, ich sah in kleine Gesichter, die – wären sie mir fremd gewesen, ich hätte mich zur Not hineindenken, hineinphantasieren können! Aber Arthur, der nun schon ins fünfte Jahr ging, war ganz er, nach dem er genannt war, und der mir immer als der unerfreuliche Typ seiner Rasse gegolten hatte, Zug für Zug mit beängstigender Genauigkeit; und der jüngere, der auf Philipps Wunsch nach einem Verwandten in England Leonor genannt wurde, sah ihm ähnlich, wie ein kleineres Ei dem größeren. Da wollte sich das alte stolze freiherrliche Blut in mir regen; da konnte ich vergessen, daß ihre beiden andern Großeltern die besten, edelsten Menschen gewesen, denen ich im Leben begegnet.

Es war eben alles, was sonst mein Halt in der Ungewißheit des Menschenloses gewesen, ins Schwanken und Wanken geraten. Ich hatte mich eine Schülerin Spinozas genannt und es gedurft, wenn ein eifrigstes Studium der Werke des Meisters, ein innigstes Überzeugtsein von der Unumstößlichkeit seiner Hauptsätze das Anrecht auf solchen Ehrentitel giebt. Und nun erleben müssen, daß ein von mir Hochverehrter, den ich noch weit tiefer in die Geheimnisse der Lehre eingedrungen glaubte; ein Mann von Scharf- und Tiefsinn, von der peinlichsten Gewissenhaftigkeit und skrupulösesten Wahrheitsliebe, der höchsten Geisteswissenschaft abtrünnig geworden und zum alten Kinderglauben nach der Wahrheit unsicher tastender Urväter zurückgekehrt war! Wie durfte ich hoffen, in einem gleichen Fall standhafter zu sein? Und war 313 nicht die verzehrende Sehnsucht meines Herzens, in den gleichen Fall zu kommen? ein Wesen zu finden, das ich lieben könnte mit einer Liebe, stärker als Vernunft und Wissenschaft? Stärker selbst, als der Tod?

Aber mochte doch Spinoza am Stein der Weisen vorbeigeirrt und ich irrend dem Irrenden gefolgt sein! Ich hatte schon früher mich in Plato, in Kant hineinzulesen versucht; jetzt machte ich mich ernstlich an ihr Studium. Vergebene Mühe: die träumerischen Phantasien und sophistischen Spielereien des einen; der scholastische Doktrinarismus des andern, der noch dazu in der Kritik der praktischen Vernunft wieder ängstlich aufbaute, was er in der Kritik der reinen Vernunft mit kühnem Wagemut niedergerissen – sie konnten mein Sehnen nicht stillen, meine Zweifel nicht lösen. Ich wandte mich auf den Rat eines jungen Gelehrten unsres Kreises zu Schopenhauer, für den er schwärmte, wie damals alle Welt. Sein Pessimismus war mir ein Greuel. Wollte ich doch eben von diesem Übel, an dem ich so schwer krankte, geheilt werden! mir beweisen lassen, daß, was da in meinen heißen Adern pulste, in meinem stürmischen Herzen so ungestüm sich regte, eine elementare Kraft sei, die ein Recht darauf habe, sich voll auszuleben! Der Schluß seiner Weisheit gar: die Abtötung des Willens zum Leben, erschien mir einfach absurd.

Den einzigen Trost gewährte mir Goethe, aber freilich auch nur, solange ich ihn las. Dann erschienen mir die Weltwirren geschlichtet; es war kein Paradies, in das ich blickte, aber doch ein Kosmos, in welchem alles nach großen ewigen Gesetzen zum Ganzen, Guten und Schönen einträchtiglich wirkte. Blickte ich nun wieder in das reale Leben, kamen graue Nebelschleier gekrochen und verhüllten mir das schöne Bild. Mir deuchte, er habe die Sonne und 314 die Sterne zu lieb gehabt und sei an dem Reich der Schatten, das Fürchterliche fürchtend, verhüllten Antlitzes vorübergegangen.

Die Politik, einst meine Leidenschaft, hatte alles Interesse für mich verloren. Von den beiden, in denen ich die Zähler vor den Nullen gesehen: Lassalle und Bismarck, hatte der erstere durch ein unrühmliches Ende den Zwiespalt, der in seiner Natur klaffte, kläglich offenbart. Es geht nicht an, Prophet und Don Juan in einer Person sein zu wollen; die Menschheit zur Freiheit führen zu wollen, während man selbst der Sklave seiner Begierden bleibt; von Eitelkeit und Selbstsucht zerfressen, eine Aufgabe in Angriff zu nehmen, zu deren auch nur annähernder Lösung ein hochherziger Altruismus die erste, unumgängliche Bedingung ist. In dem wüsten Streit und Zank, der unter seinen Nachfolgern sofort ausbrach, glaubte ich Kurzsichtige das Reich, das er in einem stürmischen Angriff hatte erobern wollen, gänzlich verloren, als ob ein tiefer Brunnen deshalb versiechte, weil ein irdenes Gefäß, mit dem man aus ihm schöpfen wollte, zerbrach! die Meeresflut deshalb nicht käme, weil seine ersten Wellen am Strande machtlos zerschellen!

Während nun hier ein unglücklicher Zufall sein böses Spiel getrieben, die Last, die der Mann über kurz oder lang doch hätte fallen lassen müssen, ihm roh und plump von der Schulter geschlagen zu haben schien, glaubte man die Kraft des andern täglich wachsen zu sehen, während er sich immer schwerere Bürde auf die breiten Schultern lud. Ich mußte den Gewaltigen bewundern und habe, ihn zu bewundern, niemals aufgehört; aber einen Standpunkt, von dem aus ich es mit ganzer Seele ohne Abzug hätte thun dürfen, konnte ich ihm gegenüber weder damals, noch später gewinnen. Zwar zu denen, welche sich in seine Größe ein für allemal nicht zu finden wußten; es 315 nicht satt bekamen, an ihm zu mäkeln und zu nörgeln; wo möglich die Verkörperung des bösen Prinzips, den leibhaftigen Gottseibeiuns in ihm sahen – zu ihnen habe ich nie gehört. Ich war mir immer bewußt, daß es ein Großes darum sei, ein zur Zeit Erreichbares anzustreben und ins Werk zu setzen mit kluger Zuhilfenahme aller der Mittel, welche der Augenblick bietet; aber das Größte sah ich darin nicht. Man kann, wie Christus, für die große That seines Lebens den Moment sehr übel gewählt, oder getroffen haben; an der Aufgabe, die man sich gestellt, jämmerlich zu Grunde gehen, und hat doch für die Ewigkeit geschaffen; weit vor seinem Ziel kraftlos zusammenbrechen, und hat es doch erreicht. Indem man in die Richtung wies, welche die Menschheit einschlagen muß, soll sie sich nach den Gesetzen ihrer Natur weiter entwickeln. Es mag ja sein – so dachte ich damals und denke ich noch heute – daß der Weg, auf den der gewaltige Mann uns gedrängt hat, nur scheinbar ein falscher, in Wahrheit nur eine ganz unvermeidliche Krümmung des durchaus richtigen ist. Daß wir erst gründliche Materialisten werden, gesteigertes Streber- und Junkertum, den Imperialismus und seinen greulichen Begleiter: den Byzantinismus in den Kauf nehmen mußten, bevor sich der Deutsche auf sein Bestes, auf das, was ihm den Vorrang unter allen Nationen garantiert: seinen hochherzigen, weltbürgerlichen Idealismus wieder besinnen und aus dem Traumland von früher in sonnenhelle Wirklichkeit hinüberretten konnte.

Doch ich vermische hier nachträgliche Gedanken mit dem, was ich jener Zeit dachte und empfand. Um so eher denken, um so schmerzlicher empfinden mußte, als ich mich von den Freunden verlassen sah, mit denen ich bis dahin, Schulter an Schulter, so zu sagen, in dem politischen Kampfe gestanden und Freud 316 und Leid gemeinsam getragen hatte. Nicht als ob ich daran schuld gewesen wäre, mir mein Verlassensein persönlich hätte anrechnen müssen – der Umschwung der Dinge, wie ihn Bismarck inauguriert und der sich nun unaufhaltsam vollzog, brachte es als notwendige Folge mit sich. Die früher so einige Partei war in sich zerfallen, thatsächlich zersplittert. Aus ehemaligen Freunden waren erbitterte Gegner geworden, die sich hinüber und herüber der schmachvollen Felonie, für welche Treu und Glauben Ammenmärchen sind, des blöden Stumpfsinns anklagten, der nichts lernen und nichts vergessen kann. Wie redlich und eifrig ich mich auch bemühte, zu vermitteln, zu beschwichtigen; den streitbaren Männern klar zu machen, wieviel des Gemeinsamen, gemeinsam zu Erstrebenden ihnen trotz aller Differenzen noch immer blieb; wie sie doch – ein später geflügeltes Wort zu gebrauchen – in Gottes Namen getrennt marschieren möchten, aber gemeinsam zu schlagen bereit und entschlossen sein müßten, sollte der Riese, der daher und schon zwischen ihnen wandelte, nicht eine Partei und eine Fraktion nach der andern unter seinen Riesenschritten zermalmen – ich konnte nichts erreichen. Höflich bedauerndes Achselzucken hier; unwirsche Zurückweisung da. Das Tischtuch war zwischen ihnen zerschnitten, zur Freude des großen Webers, der emsig, unverdrossen, erfinderisch, mit virtuosem Geschick weiter an dem deutschen Kaisermantel webte, den er seinen Hohenzollern um die königlich preußischen Schultern hängen wollte.

Ein besonderes Ereignis trug dazu bei, mich vollends aus der politischen Richtung zu drängen.

Als es zweifellos war, daß der norddeutsche Reichstag zusammentreten würde, hatte Philipp, sicher, in diesen gewählt zu werden, sein Mandat für das Abgeordnetenhaus niedergelegt. Sehr gegen meine 317 Ansicht und meinen Rat. Mir schien, daß er sich in einer Zuversicht wiegte, die keineswegs berechtigt war. Mochte ihm immerhin bei seinem täglich sich ausdehnenden Geschäft die Doppellast zu schwer fallen: es war noch immer Zeit, das unreine Wasser wegzuschütten, wenn man das reine hatte. Meine Warnung fand kein Gehör, und das von mir Befürchtete trat ein: er wurde in dem Wahlkreis von dem konservativen Gegner glänzend besiegt. Ich teilte seine Empörung. Die Partei hatte ihn, wie es jetzt zweifellos war, auf einen Posten gestellt, den man von vornherein verloren wußte. Das war eine Perfidie und der eklatante Beweis einer Mißachtung, die er nicht verdiente. Ich hielt ihn längst nicht mehr für ein großes politisches Licht. Aber seine pathetische Beredsamkeit war für öffentliche Versammlungen, in denen es auf scharfe Logik und strenge Beweisführung nicht eben ankommt, keineswegs zu unterschätzen; er hatte auch in der Kammer, wenn gerade die Koryphäen nicht zur Hand waren, die Sache der Partei wiederholt nicht ungeschickt vertreten; in den Kommissionen stets fleißig gearbeitet; vor allem für Parteizwecke stets willig und reichlich, ja, überreichlich gegeben. Einen solchen Mann durfte man nicht fallen lassen. Und ich war stolz genug, zu meinen: schon die Rücksicht auf mich hätte es verbieten müssen. Mein Salon war Jahre hindurch der Vereinigungspunkt der Partei gewesen; in ihm verkehren zu dürfen, galt als eine Auszeichnung, nach der jeder strebte. Hunderte von Malen hatte man mich in allen Tonarten versichert, ein wie großes Verdienst ich mir um die gemeinsame Sache erwerbe; wie man mir gar nicht genug dafür danken könne. Dies war der Dank.

Ich quittierte darüber, indem ich von Stund an meinen halb verödeten Salon vollends schloß; und als ich ihn im nächsten Herbst wieder eröffnete, 318 fand man eine völlig andere Gesellschaft. Wo sonst die Tw., die L., v. F., v. H. das große Wort geführt hatten, waren es jetzt berühmte Professoren, strebsame Docenten der Universität; an Stelle der Journalisten, der Korrespondenten auswärtiger Zeitungen sah man Schriftsteller und Künstler aller Gattungen. Sie waren auch wohl schon früher gekommen, aber doch mehr vereinzelt, und sie hatten an zweiter Stelle gestanden. Jetzt machte ihnen niemand die erste streitig. Als eiserner Bestand war nur geblieben und bildete heute wie früher den aufmerksamen, Beifall murmelnden Chor die haute finance, besonders in ihrer schöneren Hälfte.

Mein Gewinn bei diesem Tausch war gering, mein Verlust desto größer. Ich durfte, nicht bloß als Frau vom Hause, mitsprechen, denn ich hatte viel gelesen und Gebiete des Wissens mehr als durchstreift, die den meisten Frauen damals noch für unbetretbar galten. Aber ich war selten bei der Sache. Um an Kunst und Wissenschaft freudig lebhaften Anteil nehmen zu können, muß man in seiner Seele jenen Frieden haben, den Goethe sich so sorgsam zu bewahren wußte, und an dem es mir so ganz gebrach. Bei den oft stürmischen Debatten der Politiker hatte ich ihn weniger vermißt; um so schmerzlicher jetzt bei den harmlosen Diskussionen über ein neues Drama, einen eben erschienenen Roman. Es herrschte damals noch eine idyllische Ruhe auf allen diesen Gebieten: Gustav Freytag war noch der ganz große Dichter; man begann eben für Fritz Reuter zu schwärmen; überall wurden seine drolligen Verse, seine gemütvollen Geschichten vorgelesen, zumeist von Leuten, die nie zuvor ein lebendiges Wort plattdeutsch gehört hatten; Gustav Richter galt als ein Van Dyck; Cornelius' antiquierter Ruhm durfte nicht angezweifelt werden. Wollte jemand für Richard Wagner, für Schopenhauer eine 319 Lanze brechen, so that er es auf seine Gefahr; den Mozartianern war jener ein Schwindler, den Anhängern der alten Philosophenschulen dieser ein Charlatan. Doch waren das nur Spritzwellen, die der Sturm, der viele Jahre später losbrach, vor sich her trieb.

Ich kann nicht sagen, daß in der Gesellschaft, die mich jetzt umgab, weniger Geist und Witz konsumiert wurde, als in der früheren. Es war vielleicht das Gegenteil der Fall. Aber in meiner verstörten Seele wollte nichts rein mehr anklingen; in dem Kreis der neuen Freunde kam ich mir wie eine Expatriierte vor. Ich sprach ihre Sprache geläufig genug; es war nicht die Sprache meiner Seele, die immer stummer wurde. Ich fühlte ganz deutlich, daß da etwas in mir abstarb, ohne jemals zum wirklichen Leben erwacht zu sein.

Die Welt nennt das ›femme incomprise‹ – ein spöttisches Wort, das sein leichtfertiges Gespinst so oft über einen Abgrund von Jammer breitet!

Ich wollte in diesem Abgrund nicht versinken. Konnte ich in der Gesellschaft der Reichen und Satten, der Hoch- und Höchstgebildeten keine Linderung der Schmerzen einer Wunde finden, an der ich verbluten zu sollen schien, so vielleicht in dem Verkehr mit den Armen und Hungrigen an Leib und Seele. Ganz aufgegeben hatte ich meine privaten Wohlthätigkeitsbestrebungen nie, nur in letzter Zeit lässiger betrieben; ich nahm sie jetzt wieder auf mit erhöhtem Eifer und in größerem Umfang, entsprechend den bedeutenderen Mitteln, über die ich nun verfügte. Und ich ließ es nicht bei der Teilnahme an Vorstandssitzungen und ähnlichen Sinekuren, in denen geschäftiger Müßiggang bereits eine ernste Arbeit sieht; nicht bei der Gründung eines Vereins zur Unterstützung armer Wöchnerinnen, dessen Präsidentin natürlich ich mit meinen 320 siebenundzwanzig Jahren wurde – ich folgte dem Beispiel meiner herrlichen Pflegemutter, der keine Hintertreppe zu steil, keine Kellerhöhle zu dunkel war, wenn es galt, Hungrige zu speisen, Nackte zu kleiden, Verzweifelnde zu trösten. Ein harter Winter hatte in gewissen Quartieren der Stadt die Not aufs höchste getrieben. Wohl erkennend, daß die opferfreudigste Hilfe des einzelnen hier doch nur der Tropfen war auf einen heißen Stein, brandschatzte ich unbarmherzig die Börsen der reichen Freundinnen, trieb sie zu selbstthätigem Beistand an; setzte mich mit den Behörden in Verbindung, wurde ein Schrecken der offiziellen Armenverwaltungen und darf sagen, daß ich, so mit Entschlossenheit vorgehend, wohl hier und da in laienhaftem Übereifer Schaden angerichtet, im ganzen aber doch mein Mühen belohnt gesehen habe.

Und nur in meinem Herzen empfand ich den Lohn nicht. Erklärlich genug! war ich doch nicht mit ganzem Herzen bei der Sache; that, was ich that, im Grunde genommen, nur um mich über die grauenhafte Leere in meiner Seele wegzutäuschen! Wie ungleich ihr, deren leuchtendem Beispiel ich vergebens nachstrebte! Ob sie mit ihrer thätigen Nächstenliebe ein Gebot erfüllte, danach hatte ihre Kinderseele nie gefragt. Sie mußte wohlthun, wie der Seidenwurm spinnen. Wußte man ihr Dank, erntete sie Undank – wie so völlig gleichgültig ihr! Stellte es sich heraus, daß man sie schamlos betrogen, so lachte sie und sagte: Da bin ich einmal wieder die Dumme gewesen! Laßt mir die Leute! Haben sie doch keine andere Waffe, als ihre Schlauheit! Und sie schlang ihr verblichenes Tuch um die mageren Schultern, stülpte den zerknitterten Hut schief auf den ergrauenden Krauskopf, hing den großen Pompadour mit den klappernden Utensilien an den Arm, schulterte den defekten Regenschirm und ging unverdrossen wieder an ihre Arbeit.

321 Sie konnte auch heftig werden; die Leute grimmig schelten und ihnen die derbsten Wahrheiten sagen, während sie ihnen ihre Wunden verband, oder eine Suppe einlöffelte. Alles war an ihr heilige, elementare Kraft, wie eines Gewitters, das Feldern und Wäldern Segen spendend vorüberzieht, freilich nicht wehren kann, daß ihre Blitze wohl einmal einschlagen und zünden.

Gute, treue, brave Seele! Ich habe nie wieder deinesgleichen gesehen!

Wie so gar nicht war ich es, schon in Hinsicht der physischen Kraft! Wind und Wetter, der Jammer, den du täglich sahst, nichts konnte deinen stählernen Nerven etwas anhaben, bis die Gefahr der Ansteckung, der du Hunderte von Malen getrotzt, endlich die lange erlauerte Gelegenheit fand, dich tödlich zu umstricken. Als der Winter zu Ende war und der Frühling kam, sagten die Ärzte, ich müsse mir unbedingt Erholung gönnen, und schickten mich auf die Reise. Es war die erste große, die ich je gemacht hatte. Philipp, der vor seiner Heirat die halbe Welt gesehen, trieb es nicht in die Ferne; mich, die ich niemals weiter als bis an die Nordsee und an den Rhein gekommen, seltsamerweise ebensowenig. Zu reisen, weil es die Mode so mit sich brachte, wäre mir unmöglich gewesen. Zerstreuung suchte ich so gar nicht, daß ich in ihr vielmehr eine Beeinträchtigung dessen verabscheute, was mir von jeher als das Wichtigste, ja, als das einzig Wichtige erschienen war: die möglichst reiche Ausgestaltung meines inneren Lebens. Was mir die Menschen gewähren konnten, glaubte ich so ziemlich zu wissen und erschöpft zu haben: hatte ich ihrer doch seit Jahren die Hülle und Fülle um mich versammelt gesehen! Für die Kunst in ihren mannigfaltigen Erscheinungen sprach ich mir ein tieferes Verständnis ab; die Natur interessierte mich nur da, wo ich in 322 ihr etwas wie ein Spiegelbild meines Inneren zu sehen glaubte; und ich war ein so einseitig moderner Mensch, daß die Geschehnisse vergangener Zeiten und ihre auf uns gekommenen Dokumente für mich ebensogut auf dem Monde sich abgespielt haben und aufbewahrt sein konnten. Was hätte mir da das Reisen gesollt!

So gab ich jetzt nur einem Andringen von außen nach, überzeugt, daß von allem, was man sich für mich Gutes von dem Experiment versprach, nichts in Erfüllung gehen werde. Eine Dame meiner Bekanntschaft, die Witwe eines höheren adligen Offiziers in dürftigen Verhältnissen, nahm meine Aufforderung, mich zu begleiten, mit Freuden an, da sie nichts in ihrer engen kinderlosen Häuslichkeit hielt und nur ihre Garderobe einiger Nachhilfe bedurfte. Sie war eine stattliche Frau, noch in guten Jahren, mit etwas pretentiösen, sonst tadellosen Formen, leidlich sprachgewandt, stets heiter, voll neckischer Einfälle, durch nichts aus der Fassung zu bringen – eine Gefährtin, wie ich sie mir für meine Zwecke nicht geeigneter wünschen konnte. Man hielt sie allgemein für meine Mutter, worauf sie sehr stolz war, und wogegen ich nicht das mindeste hatte. Auf der langen Reise wurde der freundliche Himmel unsers Einvernehmens auch nicht einmal durch den leisesten Schatten einer Wolke getrübt.

Die Fahrt ging über Paris, Marseille, an der Riviera hin, durch Italien und Sicilien; weiter nach Malta und Ägypten bis zu den ersten Katarakten, zurück über Venedig, Wien, Prag, Dresden. Fast unausgesetzt hatten wir das schönste Wetter zur willkommenen Begleitung; und da die Bankiers allerorten sich beeiferten, meine stattlichen Kreditbriefe zu honorieren, durften wir uns jede Bequemlichkeit und Erleichterung gewähren. Hätten die gefälligen Herren 323 mir nur einmal zu den schweren Goldstücken ein leichteres Herz in den Kauf geben können! Das brachte mir die Reise nicht; selbst die wohlthätige Zerstreuung blieb aus, welche der bunte Wechsel der Umgebung auch schwer verdüsterten Gemütern zu gewähren pflegt. Das vielgestaltige Treiben auf den Straßen und Plätzen, den Bahnhöfen, in den Häfen mahnte mich nur immer an Fausts bitteres Wort: ».daß überall die Menschen sich gequält«. Und war hier und da ein Glücklicher unter ihnen – ich kannte ihn nicht. Und hätte ich ihn gekannt, ich würde ihn wohl nicht beneidet haben. Sein Glück wäre schwerlich das gewesen, nach dem sich meine Seele sehnte.

Was mir die Wirklichkeit des Lebens schuldig blieb, die Kunst konnte es mir nicht gewähren. Sie blieb mir eine schöne Lüge, die mich kalt ließ, ja, nicht selten anwiderte. Selbst Michel Angelo hielt nicht, was ich mir von ihm versprochen; ich fand ihn manieriert, übertrieben und mußte an das mephistophelische:›Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken‹ denken. Mit Raphael erging es mir, wie mit Goethe: die Glücklichen hatten für Glückliche geschaffen, für mich, die Unglückliche, nicht. Sie öffneten mir ihre Himmel – den Weg hinauf, wer wies mir ihn?

So flüchtete ich in die Natur. Sie redete in einer Sprache zu mir, die ich verstand, weil ich es selbst in sie hineingesprochen: ein Echo, das mir meine Stimme zurückgab. Und niemals deutlicher als da, wo die Geister der Öde und Verlassenheit sie durchschwebten: in den melancholischen Hügelwellen der Campagna; in der Wüstenei um die Tempelruinen von Paestum; an der Küste von Capri, wenn die Brandung haushoch an den Felsenschroffen hinaufbäumte und wieder hinabsank, während die Wasser, die sie in den Höhlen zurückgelassen, in wilden Bächen hinter ihr her stürzten; in der graugrünen Einöde, 324 wo einst das stolze Syrakus im Sonnen- und Ruhmesglanz sich badete, während der schneebedeckte Gipfel des Ätna aus der Ferne zu ihm herübergrüßte; in einer Nillandschaft, wenn der glühende Sonnenball hinter die kahlen Ufermauern tauchte, der breite Strom in stiller Majestät daherflutete, an seinem Rande ein Fellahdorf mit ein paar einsamen Palmen, und hoch drüberhin durch die klarste Luft eine Kette Flamingos in einer wollüstig-schönen Kurve, die sich hob und senkte wie ein Frauenbusen, auf ihren Purpurflügeln in der Purpurglut des Abendhimmels verschwebte.

Und an einem dieser wunderbaren Abende die Trümmer auf der Insel Philä durchschweifend, blieb ich auf einem Mauerstück stehen, das sich unmittelbar aus dem Strome hob. Zu meinen Füßen flossen seine Wasser so klar, daß ich die weißen Marmorfragmente auf seinem tiefen dunklen Grunde so deutlich sah, als hätte ich sie in der Hand. Da stieg es mit magischer Gewalt zu mir auf und wollte mich hinabziehen in die dunkelklare Tiefe. Und aus der lautlosen Stille um mich her sprach eine Stimme, die meine Stimme war, trotzdem sie wie das kaum hörbare Schwirren einer Cikade klang: Was zögerst du? Furcht vor dem Tode hast du nicht, nicht die mindeste, das weiß ich. Das Leben bietet dir nichts. Dein Hoffen und Harren, dein Suchen und Sehnen – es ist ja alles vergebens. So komm herab zu mir! Dann bist du der öden Qual für immer ledig.

In dem Moment raschelt es hinter mir. Unwillig, in meinem Vorhaben gestört zu werden, wende ich mich. Drei Schritte vor mir steht ein junger Mann, der mit seinem Boot auf der entgegengesetzten Seite der Insel gelandet sein mußte und, von mir nicht gehört, durch die Ruinen bis zu mir gekommen war. Er stutzte, als er sich plötzlich einer Dame gegenübersah, und grüßte höflich. Ich aber, die ich 325 noch eben zu sterben entschlossen gewesen, mußte lachen bei dem Gedanken, wie verdutzt der junge Mann dreinblicken würde, wenn ich seine Höflichkeit damit erwiderte, daß ich vor seinen großen blauen Augen ins Wasser sprang.

Wir wurden gute Bekannte. Es stellte sich heraus, daß er für seine Heimreise genau dieselbe Route gewählt hatte, die in unserm Plane lag. Wenigstens behauptete er es; ich mochte ihn nicht durch meine Zweifel kränken. Er war ein lieber, guter Junge, tapfer wie ein Löwe, frei von jeglicher Gelehrsamkeit, aber klar und verständig, anspruchslos, ritterlich dienstfertig, der angenehmste Begleiter. Wir blieben Gefährten. Erst in Dresden trennten wir uns – ich bin überzeugt, er riß sich los nur aus Furcht, ich möchte in Berlin bei der Ankunft von meinem Gatten in Empfang genommen werden. Wir schüttelten uns zum letztenmal die Hände. Als der Zug sich in Bewegung setzte, blickte ich noch einmal nach ihm zurück. Er stand auf dem Perron, abgewendet, und hatte das Taschentuch in die Augen gedrückt. Ich weiß, er hätte für mich freudig sein Leben gelassen. Nun blieben ihm nichts als Thränen um einen zerronnenen schönen Traum.


Mir aber sollte sich doch der Traum erfüllen, den ich als junges Mädchen im Kloster geträumt, und dessen Erinnerung mich durch das Leben begleitet hatte, bald näher, bald ferner, wie ein holder Duft von blumenreichen unsichtbaren Eilanden zu dem Schiffer herüberweht, während sein Kiel die öde Salzflut durchfurcht. Ich hoffe, die kurze, wonne- und trauervolle Periode, die ich eine Episode nennen würde, wenn sie nicht der Höhepunkt und die Quintessenz meines Daseins wäre, erzählen zu können mit der Ruhe, die 326 ein zwanzig Jahre lang still und geduldig ertragenes Leiden über die wildeste Leidenschaft breitet, und mit der Wahrhaftigkeit, welche mein heiliger Vorsatz war, als ich diese Aufzeichnungen begann.

Ich war im Spätherbst zurückgekehrt, physisch vielleicht gekräftigt, seelisch in demselben kläglichen Zustand der Teilnahmlosigkeit an allem, was um mich in der Nähe vorging, was draußen in der Welt geschah. Wohl hob sich aus der Fülle der Bilder, die auf der langen Reise an meinem Auge vorübergeglitten waren, eines und das andre deutlicher heraus; aber auch die farbenreichsten verblaßten nur allzubald. Am längsten und am lebendigsten blieb das des weinenden Jünglings auf dem Perron des Bahnhofes in Dresden; aber wohl nur, weil es mir symbolisch war für die ganze Reise, für mein ganzes Leben: Langen und Bangen nach einem Glück, das leuchtend vor uns herschwebt, uns entschwebt. Und dann ein Taschentuch vor die verdunkelten, brennenden, thränenden Augen.

Das Verhältnis zu meinem Gatten bewegte sich so fort in dem nun schon gewohnten Geleise eines höflichen laissez faire, laissez passer. Es schien mir, daß zu den alten Kränkungen, die ihm seine Partei bereitet hatte, neue hinzugekommen waren: er war verbittert, erbittert; wollte von ihr, von der ganzen Politik nichts mehr hören und sehen. Kam doch einmal die Rede auf politische Dinge, schwur er, der einstige Republikaner, Königs- und Adelshasser, auf Bismarck, der allein wisse, was er wolle, und wie man ein Volk von Sklaven regieren müsse. Und das alles, weil er in seiner Eitelkeit gröblich beleidigt war! Die hatte sich jetzt ein anderes Feld ausgesucht. Er wollte eine dominierende Stelle in der Geschäftswelt einnehmen, ungeheuer reich werden, alle Welt durch den Glanz seines Reichtums blenden. Sein altes Glück 327 schien ihm treu geblieben zu sein; es hätte einem schwindlig werden können bei den Zahlen, mit denen er rechnete. In unsern beiden Knaben, die früher hatten studieren sollen, sah er jetzt die geborenen Kaufleute. Ich konnte ihm nicht unrecht geben: sie hatten in der That Kaufmannsgesichter. Und dem Ausdruck der klugen, scharfen Züge, die immer deutlicher den mir so unsympathischen Typ Arthur annahmen, entsprachen völlig ihre seelischen Qualitäten: kleine matter-of-fact-men, die aller Träumerei ein Schnippchen schlugen, von der schärfsten Beobachtungsgabe, mit unheimlicher Sicherheit über weltliche Interessen, die doch weit jenseits eines kindlichen Horizonts zu liegen schienen, sprechend, absprechend. Sie hingen an dem Vater mit Zähigkeit und so viel Zärtlichkeit, wie ihre nüchterne Natur hergab; gegen mich hatten sie ganz des Vaters höflich-kühle Reserve. Sie gingen um mich herum, wie um ein Prunkmöbel, das rauh anzufassen streng verboten ist.

Philipp hatte neuerdings eine Leidenschaft für Prunkmöbel, kostbare Teppiche, venetianische Gläser, Bronzen, Nippes aller Art, besonders für Gemälde gefaßt, mit denen die Wände förmlich tapeziert wurden. Auch der Haushalt mußte in einem vornehmeren Stil eingerichtet, die Dienerschaft vermehrt, Wagenremise und Pferdestall vergrößert und dementsprechend gefüllt werden. Statt des früheren monatlichen Diners gaben wir jetzt jede Woche eines; und es kamen Abende, an denen sich zwei- und dreihundert Personen in unsern glänzenden Räumen versammelten. Dabei war das Merkwürdige, daß diese Anhäufungen von Menschen, die Philipp Unsummen kosteten, ihm offenbar nur geringes Vergnügen bereiteten. Wenigstens hielt er sich nach wie vor scheu im Hintergrunde und überließ es mir ausschließlich die Honneurs zu machen. Eine Aufgabe, die beständig schwieriger wurde, da sich 328 so viele herzudrängten, die ich nicht einmal vom Ansehen, geschweige denn bei Namen kannte.

Unter diesen Fremdlingen tauchten immer mehr Offiziere auf – kein Wunder, da unsre Gesellschaften nicht mit Unrecht sich des besten Rufes erfreuten, die üppige Bewirtung unsrer Gäste stadtbekannt war und Philipps aus dem radikalsten Liberalismus in orthodoxesten Konservatismus umgetaufte Gesinnung, die ihm denn auch sofort den längst begehrten Kommerzienrat-Titel eingetragen hatte, selbst den in der Wahl ihres Umganges und Verkehrs Vorsichtigsten nicht mehr im Wege stand, während sein Reichtum schier vergessen machte, daß er doch nur ein Bürgerlicher und schließlich sogar getaufter Jude war.

Ich freute mich gerade dieses Zuwachses. Die alte Vorliebe für des Königs bunten Rock war nicht erloschen; ich verkehrte gern mit Offizieren, deren Haltung und Benehmen meinem Geschmack wohlthat, und war durchaus mit Goethe der Meinung, daß der »gebildete Soldat« in der Gesellschaft eine Stellung einnimmt, um die ihn jeder andre Mann beneiden müßte.

Wie angenehm war ich nun gar überrascht, als eines Abends ein Oberstlieutenant aus dem großen Generalstab auf mich zutrat, in welchem ich auf den ersten Blick den Hauptmann von Gernot erkannte, der von L. her bei mir in so lieber Erinnerung stand. Es fehlte nicht viel, so hätte ich einen lauten Freudenschrei ausgestoßen; nun ging ich ihm wenigstens mit beiden ausgestreckten Händen entgegen zu größter Verwunderung der Umstehenden, denen freilich eine so warme Begrüßung nie zu teil geworden war. Die Erklärung, weshalb er mir so unerwartet kam, war bald gegeben. Erst seit kurzem in Berlin, hatte er in einer uns beiden bekannten Familie meinen Mädchennamen auf der Visitenkarte gelesen; sofort geschlossen, 329 ich müsse seine junge Freundin von damals sein; durch weitere Nachforschungen seine Prognose bestätigt gefunden; von mir nicht beachtete Visitenkarten bei uns abgegeben und zu heute eine der Einladungen erhalten, die Philipps Sekretär ausschrieb und um die ich mich nicht bekümmerte.

Seine Freude war nicht geringer als die meine; aber wir mußten es an diesem Abend bei der gegenseitigen Versicherung unveränderter herzlicher Gesinnung bewenden lassen: die übergroße Zahl der Gäste verhinderte jede längere Aussprache. Zu der ich ihm dann eine Stunde bezeichnete, in welcher er mich in meinem kleinen Salon allein finden würde.

Er kam und wir schwätzten uns redlich aus. Er war noch immer nicht verheiratet; hatte bei der in den letzten Jahren ungewöhnlich schnellen Karriere keine Zeit dazu gehabt. L. habe er nicht ungern verlassen; das traurige Nest sei ihm nach meinem geheimnisvollen Verschwinden ganz verleidet gewesen. Was mich fortgetrieben, habe er freilich geahnt; und der dann erfolgende Selbstmord des Professors seine Ahnung zur Gewißheit gemacht. Daß ich an dem tragischen Ausgang des wunderlichen Verhältnisses völlig schuldlos gewesen, habe bei ihm felsenfest gestanden; aber ich wisse ja, wie das in solchen Nestern sei: die Leute lebten da vom Skandal, wie die Schwalben von den Mücken. Nur das Offizierkorps habe treulich zu meiner Fahne gehalten, und öffentlich über mich zu lästern keiner wagen dürfen.

Ich fragte nach der Frau Professor und ihrer Tochter.

Sie lebten beide noch in L. in sehr dürftigen Verhältnissen. Eine Mädchenpension, die sie aufgethan, sei nach kurzer Zeit wieder eingegangen aus Mangel an Zuspruch. Sehr begreiflich! wer wolle denn sein Kind diesen insipiden Frauenzimmern 330 anvertrauen! Jetzt hätten sie nichts als ihre dürftige Pension und den kläglichen Ertrag ihrer Handarbeiten.

Ich schämte mich sehr. Dank hatten sich die beiden wahrlich nicht um mich verdient; doch wenn sie in mir ihre Feindin und später die Stifterin ihres Unglücks gesehen – wie mochte ich es ihnen verdenken? Aber in Not hätte ich sie nicht geraten lassen dürfen, nachdem ich in der Lage war, sie von ihnen abzuwehren. Ich verabredete mit Herrn v. G. sofort einen Plan, wie man ihnen auf diskrete Weise die nötige Unterstützung zukommen lassen könne.

Wir kamen wieder auf den Professor zu sprechen. Herr v. G. wollte von ihm nichts wissen. Ein selten begabter Mensch, zweifellos; aber in trauriger Weise überspannt: halb unbewußter Narr, halb bewußter Charlatan. Freilich habe er ihm ja nicht näher gestanden; vor allem nicht das fragliche Glück gehabt, sein Schüler zu sein. Auf junge Gemüter müsse er nach allem, was er höre, eine dämonische Anziehungskraft ausgeübt haben. Dafür sei ihm einmal ich ein Beweis, denn – gestehe ich es nur! – geschwärmt habe ich doch für den Sonderling; ein zweiter, den er einzufangen und ganz zu umstricken verstanden, sei ein Kamerad von ihm aus dem Generalstab: Graf Roderich Werneck, der, bevor der Professor nach L. kam, auf dem Gymnasium von M. sein Schüler in der Sekunda und Prima gewesen. Übrigens dürfe er nicht vergessen, zu sagen, daß Graf W. gebeten habe, bei mir eingeführt werden zu dürfen. Er habe selten jemand mit so gutem Gewissen empfehlen können: der Graf sei ein ganz ungewöhnlich liebenswürdiger Mann und werde gerade mir sicher gefallen.

Warum gerade mir? fragte ich unbefangen.

Ich weiß nicht, erwiderte Herr v. G. lachend; aber man hat so ein Gefühl dafür – wenigstens habe ich es – ob Menschen zu einander passen, oder nicht.

331 Da wären Sie in Goethes Wahlverwandtschaften an der richtigen Stelle gewesen, um Eduard vor Ottilien und umgekehrt zu warnen.

Im Gegenteil! Ich würde gesagt haben: liebe Kinder, was sperrt ihr euch? Seid doch vernünftiger als euer pedantischer Autor! Das bißchen Ehe, Herr Baron in den besten Jahren, mit Ihrer fischblütigen Frau Gemahlin kann euch doch wahrlich nicht genieren.

Der Oberstlieutenant bückte sich nach dem Helm, den er neben sich auf den Teppich gestellt hatte.

Denkt Ihr so warm empfohlener Freund über die Ehe ebenso leichtfertig, wie Sie?

Kann es nicht sagen. Ich will ihn fragen. Interessiert Sie das?

Einigermaßen. Einen ungewöhnlichen liebenswürdigen Herrn, der es mit der Ehe so leicht nimmt, bei sich einführen zu lassen, scheint mir nicht ganz ungefährlich für eine junge ehrbare Frau.

Im allgemeinen, ja; für Sie schwerlich.

Das heißt?

Er war aufgestanden, betrachtete seinen Helm und sah mir dann lächelnd ins Gesicht:

Das heißt: ich halte Sie für viel zu klug, um sich à la Ottilie auf Tod und Leben zu verlieben.

Also eine fischblütige Charlotte! Nun aber machen Sie, daß Sie fortkommen!

Ich gehe ja schon.

Er hatte mir die Hand geküßt und ein paar Schritte nach der Thür gemacht. Plötzlich kehrte er wieder um:

Wenn ich es recht bedenke – ich will meinen Grafen lieber zu Hause lassen. Die Sache könnte am Ende doch gefährlich werden; für Sie natürlich nicht, desto mehr aber für ihn. Er hat in seinen Augen – wie soll ich es nur ausdrücken? – ein verhaltenes Feuer, wie ich es nur immer bei Menschen 332 beobachtet habe, die im Leben und in der Liebe ihr alles an alles setzen. Und Sie zu lieben und keine Gegenliebe zu finden – na! spaßhaft kann ich mir das gerade nicht denken. Ich habe es ihm freilich fest versprochen; werde es ihm jetzt aber wieder ausreden. Ich finde schon einen Vorwand. Lassen Sie mich nur machen!

Sie werden nichts dergleichen thun, sondern ihm sagen, daß ich ihn mit Bestimmtheit erwarte!

Dann verstatten Sie wenigstens, daß ich meine Hände in Unschuld wasche!

So gründlich Sie wollen. Und bringen Sie ihn mir mit Ihren Unschuldshänden!

Zu Befehl, meine hohe Gebieterin!

Da bin ich doch neugierig, sagte ich bei mir, als er gegangen war.

Ich war es wirklich, und empfing den Freund etwas ungnädig, als er nach ein paar Tagen allein kam.

Er versicherte, seinen Auftrag ausgeführt zu haben. Der Graf lasse sich mir dankbarst zu Füßen legen; leider stecke er tief in einer dringenden Arbeit, die ihm Moltke speziell aufgetragen und an der der fähigste Kopf zwei Wochen lang Tag und Nacht zu kniffeln habe. Überhaupt gehe es jetzt im Generalstab zu wie in einem Bienenkorb. Es liege etwas in der Luft. Er glaube auch zu wissen, was; und daß das Jahr schwerlich zu Ende gehen werde, ohne das Gewitter zu entfesseln. Es fehle weiter nichts, als was die Ärzte eine Gelegenheitsursache nennen. Mehr dürfe er nicht sagen.

Ich erwiderte: ich sei gar nicht neugierig; und wir sprachen von anderen Dingen.

Auch in der Folge kam die Rede nicht wieder auf den Grafen. Der Oberstlieutenant mochte seine Gründe dazu haben. Wenn ich schwieg, so war es nicht aus gekränkter Eitelkeit: ich hatte seinen 333 Protégé, und was er mir von ihm gesagt, total vergessen. –

Inzwischen war der Frühling ins Land gekommen. Das Wetter war herrlich. Ich machte täglich lange Spazierritte, meistens in Begleitung des Herrn v. G. und anderer Offiziere, die er mir zugeführt hatte. Mein wildes, ja, tollkühnes Reiten trug mir nicht selten wohl und ernstlich gemeinte Vorwürfe ein, die ich nicht beachtete, wohl gar mit Spott erwiderte. Ich hatte nicht die Absicht, mir den Hals zu brechen; ich wollte mich nur über die Qual meines unbefriedigten Daseins forttäuschen. Auf Stunden gelang es mir. Dann konnte ich heiter, übermütig sein, wie in meinen Mädchenjahren. Die Herren fanden das charmant, entzückend, und sagten es mir unverhohlen. Einer oder der andre pflegte dann wohl bescheidentlich hinzuzufügen: wenn die Sache weniger gefährlich wäre, wäre sie noch hübscher.

Gustav Richter hatte in seiner gewissenhaften Weise bereits mehrere Monate an meinem Bild gemalt. Es war jetzt fertig geworden und ein paar Tage bei Lepke ausgestellt: ein lebensgroßes Kniestück, die Figur aufgerichtet, das Gesicht in scharfem Profil. Man fand es als Porträt sprechend ähnlich, als Kunstwerk unübertrefflich. Die Zeitungen konnten des Rühmens sich nicht genug thun; alle Welt drängte sich, es zu sehen; mit dem Namen des Künstlers war denn auch, wie das zu sein pflegt, der meine in aller Munde.

Niemand genoß diesen Erfolg mit mehr Behagen als Philipp. Er war immer sehr stolz über jede Anerkennung, die mir wurde. Mich rührte das wenig. Wußte ich doch längst nur zu gut, daß er mir gespendetes Lob getrost Wort für Wort sich auf die Rechnung schrieb! So ließ es mich auch sehr kühl, als er eifrig erklärte: wir seien es durchaus dem 334 Künstler schuldig, seinen Triumph durch eine große Gesellschaft zu feiern, als dessen ideeller Mittelpunkt sein auf einer Staffelei ausgestelltes Werk sich prächtig präsentieren werde. Die Saison sei freilich zu Ende, aber für einen solennen Kehraus sei es noch nicht zu spät. Was ich dazu meine?

Wie immer in solchen Fällen zuckte ich die Achseln und ersuchte ihn, sich meinethalben in keiner Weise zu genieren.

Ich erinnere mich nicht mehr, warum ich mir diesmal ausnahmsweise die Einladungsliste vorlegen ließ; ich glaube, einem allzugroßen Andrang, den ich fürchtete, zu steuern. Da stieß ich auch auf den Namen des Grafen, der mir nun zum erstenmal wieder in Erinnerung kam. Hatte er es so wenig eilig gehabt, sich mir vorzustellen., mochte er auch jetzt zu Hause bleiben. Schon hatte ich die Feder angesetzt, ihn auszustreichen, wie ich es bereits mit einer erklecklichen Anzahl anderer Namen gethan, als ich bei mir sagte: der gute Oberstlieutenant könnte glauben, ich fürchtete mich vor dem Märwunder. Lassen wir ihn passieren!

Und der Name blieb.

Shakespeare fragt: ›Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?‹

Gewiß. Aber ein Federstrich thut es gelegentlich auch.


Es mochten trotzdem noch immerhin an zweihundert Gäste sein, die am Abend unsre Gesellschaftsräume nach und nach füllten. Da es nominell ein Fest zu Ehren Gustav Richters sein sollte, war diesmal die Künstlerschaft besonders stark vertreten. Zu dem Programm gehörte eine Anzahl lebender Bilder nach berühmten Gemälden, die einer seiner Schüler 335 arrangiert und dabei des Meisters nicht vergessen hatte. Aber auch die Musik kam nicht zu kurz: Philipp hatte eine Gesangsvirtuosin, die gerade damals en vogue war, zum Vortrag einige Lieder gewonnen; für ein Streichquartett war ebenfalls gesorgt. Daß die materielle Verpflegung auch den weitestgehenden Ansprüchen gerecht werden würde, setzte jeder, der unser Haus kannte, voraus.

Die Erwartung so verschiedenartiger Genüsse – Philipp pflegte bei solchen Gelegenheiten gedruckte Programme verteilen zu lassen – hatte von vornherein die Temperatur der Gesellschaft um mehrere Grade erhöht. Lebhaft konversierend, wirrte und schwirrte sie durcheinander, oder umstand in Gruppen die besonders hervorragende Erscheinung eines berühmten Mannes, einer schönen Frau. Hier nahm Gustav Richter die Huldigungen seiner Bewunderer mit dem ihm eigenen vornehmen Anstande entgegen; dort wurde die Virtuosin von einer Menge umdrängt, die entzückt war, den bis dahin aus der Ferne der Parkett- und Logenplätze angejubelten star aus nächster Nähe betrachten zu dürfen, womöglich ein direktes französisches oder italienisches Wort von den melodischen Lippen zu erhaschen. Daß ich bei diesem Ovationseifer nicht leer ausging, durfte ich, als Wirtin, mir nicht besonders hoch anrechnen. Ich erfüllte meine Pflichten, wie immer, mit Gewissenhaftigkeit und mit jener spielenden Leichtigkeit, die als Folge fortgesetzter Übung selten ausbleibt, wenn sie durch einiges Talent unterstützt wird. Talent und Übung mußten heute abend für mich noch ein übriges thun; meine Seele war nicht bei der Sache. Diese geschminkten, mit Diamanten ausgeputzten, dekolletierten Damen; die banalen Schmeicheleien dieser Herren, von denen jeder, hier mit sichtbarer Selbstzufriedenheit, dort mit tastender Unsicherheit, eine eingelernte 336 Rolle spielte – wie hohl, wie geistlos mir diese hundertmal gesehene Maskerade erschien! wie erbärmlich ich mir vorkam, die ich mir sagen mußte, daß ich nicht besser sei, als die anderen auch! Wie sehnlich ich wünschte, es wäre aus und Schlafenzeit! Und sollte es der Schlaf sein, aus dem es kein Erwachen giebt – desto besser!

Und während mich so immer stärker die grausige Empfindung überkam, nichts weiter zu sein, als eine lächelnde, mit dem Kopf nickende, händereichende, Unsinn schwatzende Larve, that sich der Kreis, der mich umgab, ein wenig auseinander, und vor mir, an der Seite des Oberstlieutenants, der ihn eingeführt hatte, stand ein hoch- und schlankgewachsener Offizier:

Verstatten Sie, verehrte Frau, Ihnen meinen Freund, Graf Werneck, vorzustellen!

Der Graf verbeugte sich, zugleich meine ausgestreckte Hand berührend, und ich blickte in ein Paar großer, dunkler, mit respektvoller Neugier auf mich gerichteter Augen.

Man erzählt von experimentierenden Erfindern, daß sich nach vielen vergebenen Bemühungen ihr Problem vielleicht in einem Moment gelöst sehen, wo sie es am wenigsten erwarteten; ja, sie eben daran waren, die letzte Hoffnung des Gelingens für immer aufzugeben. Ich meine, daß, bei allem freudigen Erschrecken, die Lippen dann noch jedesmal ein stolzes: ich wußte es! gemurmelt haben.

Ein so ungeheurer Moment war für mich gekommen. Mir war, als stünde mein Herz still in dem wonnevollen Schrecken, der mich vom Scheitel bis in die Fußspitzen durchzuckte, während zugleich ein unbändiger Stolz meine ganze Seele füllte, und eine Stimme in mir sagte: ich wußte es!

Ja, ich hatte es gewußt, ohne es zu wissen; hatte durch all mein verzweifeltes Sehnen gewußt: 337 es würde doch kommen in aller seiner geahnten Herrlichkeit; ja, herrlich über alle Ahnung hinaus. Hatte es in meines Geistes Aug' gesehen, ein verträumtes Mädchen auf meiner Klosterterrasse; in meinem stillen Zimmer in D. bei den lieben toten beiden, wenn ich nächtens am offenen Fenster stand und auf den mondbeglänzten Garten hinabstarrte, in dessen dunkeln Bosketts die Nachtigallen schlugen; es gesehen in dem mystischen Dunkel des Coliseums, während aus einer der oberen Galerien ein roter Fackelschein kam und ging; auf dem Deck der Dahabieh, welche die halbnackten Fellahs mit monotonem Gesang stromaufwärts zogen, und von oben herab flimmerten und strahlten die südlichen Sterne.

Hatte gewußt, daß es kommen würde, und nun war es da! hatte gewußt, daß er kommen würde, und jetzt stand er vor mir!

Und in der tötlichen Gewißheit, hier sei, um was ich bisher gelebt: der unausdenkbar köstliche, nie wiederkehrende Silberblick meines Lebens – sagte ich ein paar obligate landläufige Phrasen, die mit anmutiger Höflichkeit erwidert wurden. Seine Worte verstand ich kaum; ich hörte nur den melodischen Klang der weichen Stimme.

Dann hatten die Freunde, bescheiden zurückweichend, andern, die herzudrängten, Platz gemacht; ich sah sie nur noch ein paarmal im Lauf des Abends, im Gedränge auftauchend und wieder verschwindend, immer Seite an Seite.

Dann sah ich sie nicht mehr, wie ich meine scharfen Augen auch umherschweifen ließ: sie mußten, gleich nach dem Konzert, vor dem Souper die Gesellschaft verlassen haben.

Wie unerträglich lang mir der Abend wurde!

Meine Gäste haben schwerlich noch viel von mir gehabt.

338 Und dann wanderte ich noch stundenlang ruhelos durch mein einsames Schlafgemach, in seliger Verzückung die Arme ausbreitend, um mich wieder in einen Fauteuil zu werfen und bitterlich zu weinen.

Gewiß! ich hatte mich kindisch, albern benommen! Er mußte mich für eine insipide Person halten, besten Falls für eine jener Dutzenddamen, die das Gesellschaftsleben abschleift, wie das Meer die Kiesel am Strande, daß man die eine kaum von der andern unterscheiden kann und die eine über der andern gleichmütig vergißt! Gewiß! er würde zu dem Freunde beim Nachhausegehen gesagt haben: Das verlohnte sich wahrlich nicht der Mühe; und – nicht wiederkommen.

Und dann?

Ich sagte mir: dann wirst du wahnsinnig, und fühlte schaudernd, daß ich es beinahe schon sei.

Der nächste Morgen fand mich matt, zerschlagen. Philipp, als er von der Börse zum Mittagsessen kam, fiel mein bleiches Gesicht auf mit den dunkeln Ringen unter den Augen.

Du hast dich gestern übernommen, sagte er; warst aber auch großartig; man hat mir die schmeichelhaftesten Dinge über dich gesagt: deine Toilette, dein Aussehen, deine Konversation – alles. Hast du zufällig dir den Grafen Werneck angesehen, den Herr von Gernot uns zugeführt hat? Er scheint ein angenehmer Mann, und ich wünschte wohl, daß du ihn ein bißchen protegiertest. Es ist mir gestern abend unangenehm aufgefallen, wie erbärmlich wenig Adlige in unsrer Gesellschaft sind. Sie können einem für gewisse Dinge doch von großem Nutzen sein. Es ist merkwürdig, wieviel schwerer es hier hält, zu einer Auszeichnung zu gelangen, als in der Provinz. Der Vater war in meinen Jahren schon längere Zeit Kommerzienrat. Nun jetzt bin ich es ja auch. Fehlt nur noch der obligate Orden. Aber davon ganz 339 abgesehen: ein Graf ist immer ein netter Schmuck für eine bürgerliche Gesellschaft. Und, wie gesagt, wenn er dir nicht etwa besonders mißfallen hat, so thust du mir die Liebe und sorgst dafür, daß er öfter zu uns kommt. Warum lachst du?

Du dekretierst dergleichen so ruhig, als ob es in meiner Gewalt stände! Es fragt sich doch unter anderm, wie ich und du, unsre ganze Gesellschaft dem Grafen gefallen hat. Er ist sehr früh weggegangen.

Vielleicht bist du nicht aufmerksam genug gegen ihn gewesen. Du mußt das bei allernächster Gelegenheit nachholen. –

Ich brach das Gespräch ab. Daß Philipp in meinem Herzen nicht zu lesen wußte, war mir nichts Neues. Aber es schien mir unwürdig, einen Blinden geflissentlich weiter in die Irre zu führen.


Bereits den nächsten Tag kam er, die obligate Visite abzustatten. Ich hatte gerade ein paar Damen bei mir, die man hundert Meilen entfernt wünscht, wenn man jemand empfängt, auf dessen gute Meinung man einen hohen Wert legt. Sie waren alle die Unbedeutendheit selbst: echteste Repräsentantinnen jener Talmi-Bildung, über die hinaus man es in gewissen Kreisen nicht bringt; dazu von einer zudringlichen Vertraulichkeit, daß ich mir mit Entsetzen sagte: er kann ja gar nicht anders, als diese Gänse für deine speziellen Freundinnen halten. Ich stand Höllenpein aus. Und dabei konnten sie kein Ende finden: man war eben nicht alle Tage in der Gesellschaft eines richtigen Grafen! Nachdem er eine Weile dem öden Geschwätz zugehört und ein Dutzend indiskretester Fragen höflich ausweichend beantwortet hatte, erhob er sich, um zu gehen. Mich packte die Verzweiflung: 340 Wenn Sie mir noch ein paar Minuten schenken könnten! Wir haben einen gemeinschaftlichen Freund gehabt, der mir sehr teuer war. Ich möchte so gern hören, ob unsre Urteile über ihn einigermaßen stimmen.

Der Wink war so deutlich, daß ihn selbst diese Damen verstanden. Sie verabschiedeten sich mit Freundschaftsversicherungen und verblüfften Gesichtern.

Er hatte sogleich den Helm wieder abgelegt. Offenbar war ihm meine verzweifelte Ungeduld nicht entgangen, und die energische Verabschiedung der Schnattergänse hatte ihm Spaß gemacht. Er lächelte verstohlen, wurde aber sofort wieder ernst und sagte, auf einem Fauteuil in meiner Nähe Platz nehmend:

Gnädige Frau sprechen von Professor Resber. Oberstlieutenant von Gernot hat Ihnen mitgeteilt, daß ich sein Schüler war; ich darf sagen: sein Lieblingsschüler. Sie wissen, wie bezaubernd er sein konnte, wenn er wollte. Mich hatte er bezaubert; ich liebte ihn, schwärmte für ihn; der erste große Schmerz meines Lebens war, als er uns verließ, um nach L. zu gehen – nicht freiwillig; es war so etwas wie eine Strafversetzung. Ich trat und blieb mit ihm in Korrespondenz während des Jahres, das ich noch auf der Schule war, und später – bis zu seinem Tode.

Er hatte die letzten Worte leise mit einer eigentümlichen Betonung gesprochen, die mich erschreckte.

Sie wissen, wie er gestorben ist? rief ich.

Und weiß noch mehr, erwiderte er, die Augen niederschlagend. Dann, sie wieder hebend und mich voll und warm anblickend:

Gnädige Frau, ich habe den Ehrgeiz, zu hoffen, Ihnen etwas mehr zu werden als ein Dutzendbekannter. Da darf ich denn kein Geheimnis aus etwas machen, was immer zwischen mir und Ihnen stehen würde, wenn ich es auf der Seele behielte: ich weiß auch, warum er 341 gestorben ist; nicht von andern – ich weiß es von ihm selbst: er hat mir vor seinem Tode geschrieben – unmittelbar, bevor er den verhängnisvollen Schritt that. Ich war auf einer Generalstabsreise und erhielt den Brief erst nach meiner Rückkehr in die Garnison – zwei Wochen später. Da war alles längst vorüber.

Und was hat er von mir geschrieben? fragte ich mit bebenden Lippen; hat er mich angeklagt?

Nein, gnädige Frau, das hat er nicht. Er schrieb: Sie wissen: es ist mir alles im Leben mißglückt: meine Carriere, meine Heirat – alles. Jetzt thut das Schicksal sein Letztes, um mich zu verderben. Es erfüllt mein Herz mit rasender Leidenschaft für ein Mädchen, das mich niemals wieder lieben wird. Das Leben war mir längst wertlos; jetzt bin ich es mir selbst. Wenn Sie dies lesen, habe ich den Strich durch eine Rechnung gemacht, deren Resultat für mich so tief beschämend ist. – Ich zog nun Erkundigungen ein und erfuhr, wer das Mädchen gewesen war. Seitdem haßte ich sie, die den geliebten Freund in den Tod getrieben, sicher dadurch, daß sie ihn erst anlockte, ihn eine Gegenliebe hoffen ließ, die dann ausblieb, ausbleiben mußte, weil herzlose Koketten überhaupt der Liebe unfähig sind. Verzeihen Sie, gnädige Frau! Ich kannte Sie ja nicht! Was redet sich ein junger Mensch nicht alles ein, dem ein geliebter Freund auf so schreckliche Weise entrissen wird!

Und jetzt? sagte ich; jetzt, nachdem Sie mich kennen gelernt haben – wie denken Sie jetzt darüber?

Er war aufgestanden und hatte seinen Helm zur Hand genommen. Seine schönen dunklen Augen ruhten auf mir, die ich mich nun auch erhoben hatte, mit einem großen, wundervollen Blick:

Jetzt weiß ich, daß Sie, um von einem Manne leidenschaftlich geliebt zu werden, keiner der Künste 342 der Koketterie bedürfen; daß Sie nichts weiter zu thun haben, als Sie selbst zu sein.

Eine ritterlich höfliche Verbeugung, und er hatte den Salon verlassen.

In dessen Mitte ich nun stand, die Hände auf das Herz pressend, das vor Wonne und Seligkeit springen zu wollen schien.

Wie frevelhaft vermessen es auch sein mochte: ich wußte, ich würde von dem Manne geliebt werden, den ich mir von allen einzig zum Geliebten wünschte, weil er der einzige war, den ich lieben konnte; den ich liebte, leidenschaftlich, wahnsinnig von dem ersten Moment, daß meine Augen ihn gesehen.


Und in dieser seligen Gewißheit machte es mich nicht irre, daß er zwei Wochen lang wiederholt kam und ging, und kein Wort zwischen uns gewechselt wurde, das ein dritter nicht hätte hören dürfen. Für mich sprach der Blick der dunklen Augen, der jetzt mich eben nur streifte, dann wieder selige Minuten hindurch auf mir haften blieb mit einem Ausdruck, für den ich nur eine Erklärung hatte, für den es keine andre gab. Freilich, wir waren seit jenem ersten Besuche nie wieder allein; immer in Gesellschaft, auch bei zwei Spazierritten, die wir in den Grunewald machten. Herr v. Gernot hatte sie arrangiert, und noch ein paar Offiziere und deren Damen mitgebracht. War er von Roderich ins Vertrauen gezogen? Schwerlich. Aber die Freundschaft ist hellsehend, wie die Liebe. So mochte er immerhin die Wahrheit ahnen. Jedenfalls war mir die Beflissenheit auffallend, mit der er unter diesem und jenem Vorwand mich und den geliebten Mann Seite an Seite zu bringen suchte. Das eine Mal sollten wir die Kavalkade, die er stets 343 kommandierte, schließen, bald sie anführen. So wurde wenigstens hin und wieder eine intimere Unterhaltung ermöglicht. Die Roderich benutzte, mir aus seinem Leben dies und jenes mitzuteilen: wie er die Kinder- und ersten Knabenjahre auf dem einsamen Gute seiner Eltern oben in Holstein verlebt habe, zur Gespielin nur eine um ein paar Jahre ältere, stets kränkliche Schwester. Wie er davon geträumt habe, ein großer Dichter zu werden und die Welt mit seinem Ruhme zu erfüllen. Wie dem Gymnasiasten, dem Fähnrich, dem jungen Offizier dieser Traum allmählich verblaßt sei, um ihn jetzt nur noch als Sehnsucht nach einem verlorenen Paradiese zu umschweben und ihn dafür sein militärisches Handwerk immer höher schätzen, immer wärmer lieben zu lassen, das denn freilich mit jenem Traum keine mindeste Ähnlichkeit habe. Höchstens gelegentlich im Kriege, wie der von sechsundsechzig, der ihn von einem jüngsten Premier zum Hauptmann gemacht, bloß weil er das Glück gehabt – für einen Offizier in niederem Grade sei das reine Glückssache – in der Schlacht von Königgrätz unter den Augen des Kronprinzen sich, nach dem landläufigen Ausdruck, auszuzeichnen, das heißt: etwas zu thun, was jeder andre an derselben Stelle genau ebenso gethan haben würde. –

Ich gebe das so wieder, wie es sich meinem treuen Gedächtnis für immer eingeprägt hat. Aber ich müßte ein Dichter sein – und ein großer dazu – um in den Worten den Ausdruck der Herzenswärme, der rührendsten Bescheidenheit durchklingen zu lassen, mit dem er alles sagte. Und ich hörte zu wie in einem seligen Traum, während meine trunkenen Blicke jetzt an seinem geliebten, schönen Antlitz hingen, jetzt über die Lichtung schweiften, auf der ein Rudel Damwild furchtlos aus geringer Entfernung auf die Vorübertrabenden äugte.

344 Und dann kam doch die Stunde, die uns die Zungen löste; uns aussprechen ließ, was wir bis dahin nur eines in des andern Augen stillbeglückt gelesen.

Philipp mochte nicht ohne Gesellschaft sein. Jetzt, da die Jahreszeit keine mehr bot, wollte er wenigstens seine abendliche Partie haben, die er entweder im Klub aufsuchte, oder bei sich zu Hause arrangierte. So hatte er denn heute ein paar Herren zusammengebeten, unter andern den Oberstlieutenant, der mit ihm in der Meisterschaft des Whistspiels rivalisierte, und den Grafen, von dem man freilich wußte, daß er nie eine Karte anrührte, der für ihn aber niemals fehlen durfte. Ich könne ihn ja, bis man zu Tisch gehe, unterhalten.

Die Herren erschienen; man setzte sich zu zwei Partien: Whist und L'hombre; Roderich und ich blieben, wie vorausgesehen war, übrig.

Was fange ich nun mit Ihnen an, Graf? fragte ich lachend.

Sie wollten mir immer die Photographien zeigen, die Sie von Ihrer Reise mitgebracht haben, erwiderte er. Ich habe so gar nichts von der Welt gesehen. Es würde mir ein großes Vergnügen sein. Besonders wenn Sie mir die Sachen ein wenig kommentieren, wobei Sie einen ebenso unwissenden, wie aufmerksamen Zuhörer haben würden.

Wir setzten uns in dem Nebenzimmer, das so etwas wie eine Bibliothek darstellen sollte, an einen großen mit gigantischen Mappen bedeckten Tisch. Philipp hatte sich, seitdem er die Politik aufgegeben, als Kunstmäcen, auf das Sammeln von seltenen Kupferstichen und anderen kostbaren Blättern gelegt. Ich suchte meine bescheidenen Mappen hervor. Sie waren reichhaltig genug, dank meiner Reisegefährtin, die von allem, was sich nur halbwegs als Sehenswürdigkeit bot, eine Ansicht haben mußte.

345 Über so viel Schönes und Herrliches, das diese Blätter wiederzugeben versuchten, war mein müdes Auge auf der Reise achtlos hinweggeglitten; wie gewann alles blühende Farbe, glühendes Leben jetzt, da ich mich immer tiefer in die Illusion hineindachte und hineinredete: ich hätte es an seiner Seite gesehen, genossen. Ich stieg Hand in Hand mit ihm die scala di Spagna in Rom hinauf; schaute in Capri mit ihm vom Tiberio hinüber nach der Felsenküste von Sorrent und dem Vesuv, dessen schlanke Rauchsäule oben in der blauen Luft sich zu einer Pinienkrone breitete; ruderte mit ihm über den einsamen, mondscheinbeglänzten Hafen von Syrakus; saß mit ihm am Nil im erhabenen Schweigen der Ruinen von Theben. Und eine seltsame Wehmut ergriff mich, als ich ein Blatt aufschlug mit den Tempeltrümmern von Philä. Ich mußte eines denken, der mich sehr geliebt – vielleicht, wie ich selbst jetzt liebte. Würde sein Schicksal auch das meine sein?

Ich finde es hier so schwül, sagte ich. Lassen Sie uns auf der Veranda ein wenig frische Luft schöpfen!

Ich hatte mich schnell erhoben; er war mir sofort gefolgt. Das große Speisezimmer, der Ballsaal waren hell beleuchtet; die Thüren standen sämtlich offen, auch die aus dem Speisesaal auf die Veranda.

Ein wundervoller Abend. Am wolkenlosen Himmel stand der volle Mond und goß magische Lichter über die Blumenbeete, von denen süße Düfte in weichen Wogen zu uns wallten; den Rasenplatz, in dessen Mitte die weißen Wasser des Springbrunnens leise plätscherten; die hellen Pfade, die sich im Dunkel der Bosketts verloren. Wir lehnten auf der Estrade. Es war so still – ich konnte das Klopfen meines Herzens hören. Wir schwiegen beide – ein seltsames banges Schweigen.

346 Dann sagte ich – und es war mir, als sei es gar nicht meine Stimme, die da sprach –

Sie erinnern sich nicht, daß wir schon einmal so auf einer Terrasse, die Arme angelehnt, in einen schönen Garten geblickt haben?

Nein, erwiderte er, ohne die Stellung zu verändern; wann und wo könnte das auch gewesen sein?

Vor Jahren; ich war noch ein passabel einfältiges, zu Schwärmereien geneigtes Mädchen. Und wo? irgendwo im Traumland.

Da weiß auch ich leidlich Bescheid. So träumte mir einst – ich war ebenfalls noch recht jung und der Schwärmerei nicht abhold – ich stand am Ufer des Meeres, das sich endlos im Abendschein vor mir breitete, und neben mir ein Mädchen, das ich nicht kannte, von dem ich aber jetzt mit voller Bestimmtheit weiß, daß Sie es gewesen sind.

Und haben Sie die Deutung dieser Träume?

Wir hatten uns beide aufgerichtet und blickten einander in die Augen.

Die des meinen ist sehr einfach, sagte er langsam, als koste es ihm Mühe, die bebende Stimme in der Gewalt zu behalten: Im Traum und Wachen – ich liebe dich!

Wie ich dich!

Dann hatten wir uns still die Hände gegeben und stiegen so die wenigen Stufen hinab in den Garten. Und sanken, als wir den verschwiegenen Schatten der Bosketts erreicht, einander in die Arme und küßten uns die trunkenen Seelen von den bebenden Lippen in langen, wonnevollen Küssen.


Trotz aller Glut der Leidenschaft, die uns erfüllte – wir waren beide zu nachdenkliche Naturen, als daß am nächsten Vormittage – wir hatten die 347 Stunde, in der ich ihn empfangen konnte, verabredet – uns nicht die schwere Frage hätte kommen sollen: was nun?

Daß wir uns mit einer Liebe, die sich vor den Menschen scheu verbergen muß, nimmer begnügen könnten, uns vor aller Welt ganz angehören müßten – darüber verloren wir kein Wort: es verstand sich von selbst.

Eine sogenannte Entführung ist in solchen Fällen nichts Seltenes: sie durchschneidet die Bande, die man zu lösen nicht hoffen darf. Für uns konnte von diesem Gewaltsmittel keine Rede sein. Zu ihm unsre Zuflucht zu nehmen, verbot uns unser Stolz; es waren da noch andre schwerwiegende Gegengründe, die freilich den Geliebten allein betrafen, aber bei mir das vollste Verständnis fanden.

Er war mit ganzer Seele Soldat. Wie durfte er einen Schritt wagen, der ihn als Offizier so stark kompromittiert, sehr wahrscheinlich unmöglich gemacht hätte. Und hätte ich ihm zugemutet – was ich keineswegs that – mir zu Liebe das ungeheure Opfer zu bringen und den Dienst zu quittieren, und er wäre schwach genug gewesen, blindlings dem Zuge des Herzens zu folgen – hier stand nicht nur seine militärische Laufbahn – seine Ehre stand auf dem Spiel. Ob man damit recht hatte, oder nicht – in den Offizierskreisen galt es als ausgemacht, daß es in aller Kürze zu einem Kriege mit Frankreich kommen müsse, der, um auszubrechen, nur auf eine Gelegenheitsursache warte, die jeder Augenblick bringen könne, wenn Napoleon es nicht vorzöge, sie vom Zaun zu brechen, bevor ihm die Verlegenheiten seiner Regierung vollends über den Kopf wuchsen. In einem solchen Augenblicke den Abschied zu fordern, wäre einfach Felonie gewesen, würde ihn in den Augen der Kameraden mit ewiger Schmach bedeckt haben.

348 So denn der dornige Weg einer legitimen Scheidung, zu der Philipp freiwillig sich niemals verstehen würde. Und wäre es auch nur, die Frau nicht zu verlieren, die ihm die Honneurs seiner Gesellschaften machte. Und sich sagen lassen zu müssen: du, der schöne Mann, bist dem ersten besten Nebenbuhler nicht gewachsen? und wie sonst die Spottreden seiner Börsenfreunde lauten mochten! Nimmermehr! Und hatte er nicht das Recht, zu sagen, weshalb soll ich mich öffentlich zu einer Abneigung bekennen, die ich nicht empfinde? die mir zu imputieren, ich meiner Frau niemals Veranlassung gegeben habe? oder hätte sie je auch nur über unfreundliche Behandlung Klage führen können? nicht stets thun und lassen dürfen, was und wie es ihr beliebte? Wagt sie, auf ihren Eid zu nehmen, daß es anders war?

Auf das alles hätte ich keine Erwiderung gehabt.

Also: böswillige Verlassung.

Und die sichere Folge, daß mir, dem schuldigen Teil, die Kinder abgesprochen wurden.

Da würde ich eine Verantwortung auf mich nehmen, die ich nicht tragen und ertragen könnte; sagte Roderich mit leiser Stimme, durch die doch die Festigkeit seiner Überzeugung hindurchklang.

Ich war in der peinlichsten Lage; aber einer Entscheidung aus dem Wege zu gehen, lag nicht in meinem Temperament und Charakter. Ich sagte:

Die Liebe zu ihren Kindern soll die feinste Blüte der Liebe eines Weibes sein. Gewiß giebt es viele Frauen, auf die das zutrifft; und es wäre wohl ein Glück, wenn es ihrer noch mehr gäbe. Ich bin anders gesinnt. Die Kinder gehören nicht der Frau allein; sie gehören auch dem Vater. Ob sie sich in ihnen wiederfindet – wer weiß es? Vielleicht ist es der Fall? vielleicht auch nicht. Vielleicht sind sie physisch und seelisch des Vaters Ebenbild; und sie 349 hat sie eben nur zur Welt bringen dürfen. Auch dann wohl ihr, liebt sie den Gatten. Roderich, ich liebe dich. Dich habe ich mir gewonnen, erobert – ich sage es stolz: durch eigene Kraft. Du bist ganz mein Eigen, mein allein, wie ich das deine bin. Davor muß jede andere Stimme der Natur, der Sitte, des Rechtes, und wie sie sonst noch laute, schweigen. In mir schweigen sie alle. Urteile darüber, wie du willst. Eines mußt du mir lassen: ich liebe dich, liebe dich über alles. Ich meine, das müsse deine Skrupel besiegen.

Ich muß lächeln, wie ich hier in pragmatischer Folge den Inhalt einer Unterredung wiedergebe, die in hundert, durch glühende Küsse und feurige Liebesversicherungen unterbrochenen Absätzen geführt wurde.

War es bereits an diesem Morgen, oder später, daß ein anderes, für Roderich schwerwiegendes Bedenken zur Sprache kam.

Seine Eltern hatten nach langen und schweren Hinderungen spät eine Heirat aus innigster, unverwüstlicher Liebe geschlossen. Die Mutter, aus uralt adligem Geschlecht, war blutarm, der Vater nichts weniger als reich gewesen, ganz abhängig von seinem Vater, der es zu sehr hohen Jahren brachte. Nach dessen Tode hatten sie auf dem verwüsteten Gute ein von Sorgen erfülltes mühevolles Leben geführt, das sie nur noch enger aneinanderschloß, auf Tod und Leben fest verkittete. Nie würden sie es fassen und begreifen, daß Gatten, die sich am Altare Treue geschworen, ein anderes scheiden könne, als der Tod; nie, daß der einzige Sohn, ihr Stolz und ihre Zuversicht, eine Geschiedene zu seinem Weibe mache. Und ohne ihren Segen?

Armer Roderich! Seine fromme Seele schauderte bei dem Gedanken.

Aber hatte ich nicht in Philipps Eltern ein 350 Ehepaar gekannt, dessen gegenseitige Liebe an herrlicher Kraft es wohl mit der seiner Eltern aufnehmen konnte? Und waren sie einander nicht so alles gewesen, daß sie der Liebe ihrer beiden Söhne wohl entraten und den einen eine Heirat schließen sehen mochten, die ihnen verhaßt und, schlimmer als das, verächtlich war? Sprach das nicht für mich? Gab dann in der Ehe die Liebe der Gatten zu einander nicht den Ausschlag? war nicht alles andre dagegen nur von relativem Gewicht? Würden dann nicht auch seine Eltern, die sich so liebten, über das Unglück, eine ihnen leidige Schwiegertochter zu haben, wohl hinwegkommen?

Hier war ein zartester Punkt, den zu berühren ich aus Sorge, Roderichs Pietät allzuherb zu verletzen, mich trotz meiner Entschlossenheit scheute.

Und so tauchte im Lauf der folgenden Tage und Wochen noch manch anderes nicht Diskutierbares auf!

Doch was will das bedeuten in dem Sturm der Leidenschaft, von dem zwei junge lebensfreudige Herzen ergriffen sind, die sich sehnen, für immer aneinander zu schlagen? Ein Blick in die geliebten Augen, ein verheißendes Lächeln der teuren Lippen, und es ist verweht wie federleichte Flocken.

Und es blieb uns so wenig Zeit zu ängstlich langem Wägen. Sollte doch unser Lieben, das, ohne heiter lockenden Frühling, gleich als strahlender Hochsommer gekommen war, ohne die wehmütig tröstende Vermittelung eines Herbstes in den rauhesten, erbarmungslosen Winter übergehen!


Ein Liebespaar, das, wie sehr sich auch sein Stolz dagegen aufbäumt, durch die Verhältnisse zur Geheimhaltung seiner Liebe gezwungen ist, kann, auch für kürzere Frist, der Mitwisser und Vertrauten nicht wohl entbehren.

351 Der Oberstlieutenant brauchte kaum ins Vertrauen gezogen zu werden: er hatte alles mehr als geahnt, bevor Roderich ihm ein Geständnis machte. Den Freund liebte er wie einen jüngeren Bruder; mich hatte er, nach seiner eigenen Aussage, noch als ich kaum ein Backfisch war, in sein allzeit offenes und doch so warmes Herz geschlossen – kein Wunder da, daß er sich sofort für unsre Liebe enthusiasmierte; sie für so notwendig erklärte, wie Essen und Trinken, so selbstverständlich, wie zwei mal zwei vier, und uns jede Hilfe, die in seinen Kräften stehe, zusagte – ein Versprechen, das er dann treulich gehalten hat, der liebe, leichtlebige Mensch, dem nichts Menschliches fremd war.

Wichtiger für uns wurde uns meine Reisegefährtin, die, hätte sie auch keine Verpflichtungen gegen mich gehabt, aus reiner Liebe zu mir alles gethan und gewagt hätte. Sie durfte unbeanstandet so oft sie wollte zu mir kommen, wie ich zu ihr. Ohne Verdacht zu erregen konnten Roderich und ich uns in ihrer Wohnung sehen, sprechen mit größerer Freiheit, vor allem auch häufiger, als es bei mir möglich gewesen wäre, schon der vielen Dienstboten wegen, jener fürchterlichen Hüter der Tugend ihrer Herrschaften. –

Selige Stunden in ihrem Gartenhäuschen: »so nieder und klein, so rings bedeckt, der Sonne versteckt« – sonnigste Sommerstunden, denen es doch auch an Wolken nicht fehlte! Wolken, die über die Stirn des Geliebten zogen, und die ich ihm scherzend und schmeichelnd wegküßte. Nicht immer gelang es. Eine erwies sich als besonders hartnäckig.

Als er noch ein halber Knabe war, hatte ihm eine Zigeunerin, wie deren viele in seiner Heimat umherziehen, aus den Linien seiner Hand geweissagt: er werde noch einmal sehr geliebt werden, mehr, als es sonst den Männern beschieden. Aber, wo viel 352 Licht, da sei auch viel Schatten; und ein früher Tod stehe hinter der großen Liebe.

Nie wieder hatte er an das kleine Abenteuer da oben am Buchwaldrand gedacht die langen Jahre hindurch; jetzt war es ihm, als sei es gestern gewesen. Er erinnerte sich des Ortes, der Stunde, der Züge des braunen Weibes mit den schwarzen Augen und den weißen Zähnen, jedes ihrer Worte.

Der erste Teil der Prophezeiung ist eingetroffen, sagte er: die Erfüllung des zweiten wird nicht ausbleiben.

Dann sterbe ich dir nach, sagte ich. Das ist doch selbstverständlich.

Er war erschrocken, entsetzt.

Das wirst du nicht! rief er. Ich habe bei Königgrätz, als die Granaten rings um mich her einschlugen, nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn das wäre, ich das mit Bestimmtheit wüßte, ich könnte dem Tod fürder nicht ins Auge blicken wie ein braver Soldat. Ja, zum Feigling würde mich der Gedanke machen: du kannst nicht sterben, ohne ihr geliebtes Leben mit dem deinen zu zerstören.

Auch wenn mir das Leben ohne dich nicht mehr lebenswert wäre? sagte ich. Kein antiker Mensch, der edel dachte, ertrug das seine darüber hinaus.

Er sann einen Moment nach und erwiderte im Tone inniger Überzeugung:

Das ist wahr: kein antiker Mensch. Aber sie gehörten sich, niemand sonst, und so mochten sie auch ihrem Leben ein Ende machen, wenn ihnen Unwürdiges zu ertragen blieb. Wir Christen sind Gottes. Er ist unser Lehnsherr, wir sind seine Vasallen, ihm zu jeder Zeit hold und gewärtig. Wohin er uns stellt, da müssen wir ausharren, er rufe uns denn selber ab. Und Unwürdiges giebt es in seinem Dienste nicht.

Wie seltsam, wie völlig unvereinbar mit meinen 353 Überzeugungen solche Worte aus dem Munde des Geliebten mir erschienen wären, hätte ich Zeit gehabt, darüber nachzudenken! Ich hatte sie nicht; nicht die Ruhe des Gemütes, welche dem Geiste die Freiheit giebt, zu wägen, zu urteilen, das Wahre vom Falschen zu sondern. Der Schatten, den die ungeheuren Ereignisse der nächsten Wochen und Monate vor sich herwarfen, lastete zu schwer auf meiner Seele. Noch war der Krieg nicht erklärt; von den Offizieren zweifelte keiner, auch Roderich nicht, daß es sich bis dahin nur um Tage, vielleicht Stunden handeln könne. Und hier gab es nicht, wie vor dem böhmischen Feldzuge, eine Friedens- und eine Kriegspartei; hier sah jeder, was damals nur die Scharfsichtigen gesehen hatten, daß von Wollen oder Nichtwollen nicht mehr die Rede sei; diese Sache zum Austrag gebracht werden müsse und nur durch Blut und Eisen so weit gebracht werden könne.

Hatte ich damals die so viel kompliziertere Lage der Dinge sofort und durchaus begriffen, wie hätte mir sie jetzt, wo sie so einfach war, unverständlich bleiben sollen!

Aber damals hatte ich an die Erreichung eines Zieles, das mir politischer Verstand und patriotisches Gemeingefühl als erstrebenswert zeigten, nichts mir persönlich Teueres zu setzen gehabt. Nun sollte ich dem so viel Höheren sogleich ein Höchstes weihen, vielleicht opfern: eine erste wahrhafte Liebe, die meine Seele um so gewaltsamer ergriffen hatte, um so fester in ihrem Bann hielt, als sie mir so spät gekommen war. Die erste Liebe eines jungen Mädchens ist eine entzückende Morgendämmerung, die einer Frau, die alles im Leben kennen gelernt hat, und nur eben die Liebe nicht, ein glutvoller Tag. Sie fühlt und, ist sie intelligent genug, weiß, daß hier für sie alles auf 354 dem Spiel steht; verschließt sich ihr diese Pforte, sie nun und nimmer den Eingang in das erträumte Paradies findet.

Ich fühlte und wußte: wurde Roderich mir entrissen, war mein Liebesleben ein Sonnenstrahl gewesen, so schnell erloschen, wie aufgeflammt, um sich nie wieder zu entzünden.

Bedenke ich, wie völlig klar mir das war, muß ich mir das Zeugnis ausstellen: ich habe mich in jenen furchtbaren Tagen brav gehalten. Und ich hatte es so viel schwerer, als er, der, als Kompagniechef, jetzt vom frühesten Morgen bis spät in die Nacht nicht zu Atem kam, und sahen wir uns dann auf flüchtige Minuten, sein volles Herz ausschütten durfte, während ich das meine mit beiden Händen halten, meine Thränen verschlucken, eine heiter-gefaßte Miene zeigen mußte, während meine Seele zum Sterben traurig war.

Und dann kam die Trennungsstunde. Mag ein Dichter so Furchtbares zu schildern wagen – es ist sein Metier. Ich würde vergeblich nach dem rechten Ausdruck ringen, mein Herz in der Erinnerung nur noch einmal zerreißen. Nach so vielen Jahren! Es hätte keinen Sinn.

Und so, verhüllten Antlitzes, will ich auch vorübergehen an der Qual der Tage, die folgten. Oder waren es Wochen? Ich weiß es nicht mehr. Nur an dies und jenes besonders Schreckenvolle erinnere ich mich. So an die Tage des fünfzehnten und sechzehnten August, als keine Nachricht von dem Stand der Dinge im Felde nach Berlin kam; man selbst im Generalstab – der Oberstlieutenant war in Berlin geblieben und hielt mich, soweit er konnte, auf dem Laufenden – nichts weiter wußte, als daß Steinmetz den Feind von Metz abzudrängen und festzuhalten suche, bis unsre von allen Seiten in Eilmärschen 355 herannahenden Korps eingetroffen wären, und es dann sicher zu einer entscheidenden Schlacht kommen würde. Schlug man die Schlacht bereits? War sie gewonnen? verloren?

Niemand konnte es sagen; niemand hatte Ruhe; auf allen Seelen lastete der Alp der fürchterlichen Ungewißheit. Ich sehe noch die dunklen Menschengruppen auf den nächtlichen Straßen, die ich, meine treue Freundin an der Seite, durchirrte. Wie sie mit bleichen Gesichtern flüsternd zusammenstanden; sich auflösten, um sich wieder um einen zu sammeln, der Auskunft geben zu können schien, die doch keiner geben konnte.

Endlich die lange Depesche des Königs an die Königin von Rezonville, den neunzehnten August:

»Gestern früh ging das XII., Garde und IX. Korps« –

Das Gardekorps! sein Korps! So war er in der Schlacht gewesen!

»Das war ein neuer Siegestag gestern« –

Sie war gewonnen! Er hatte sie gewinnen helfen! mein Geliebter! mein Held!

»Ich scheue mich, nach den Verlusten zu fragen und Namen zu nennen, da nur zu viele Bekannte genannt werden, oft unverbürgt« –

Der gute alte Mann! Er hatte so viele Bekannte; da mochten die Überlebenden ihm über den Verlust der Gebliebenen weghelfen, und scheute sich doch zu fragen!

Ich hatte nur den einen, den ich kannte, liebte bis zur Raserei. Da durfte ich wohl fragen. Und, wie Leonore in der Ballade, verzweifeln, als keine Antwort kam.

Tagelang, die mir zu Marterjahren wurden –

So daß sich tiefe Falten in meine junge Stirn gruben, die nie wieder verschwunden sind; und mein 356 Haar an beiden Schläfen grau wurde, und nie wieder braun geworden ist.

Du nimmst die Sache zu tragisch, sagte Philipp. Wir scheinen ja kolossale Verluste gehabt zu haben. Aber schließlich ist doch die Schlacht zu unsern Gunsten entschieden.

Ich lächelte ihn blödsinnig an.

Herr Oberstlieutenant von Gernot! meldete der Diener, als ich wieder auf meinem Zimmer war.

Ich flog ihm entgegen, ihn, halbtoll, wie ich war, an beiden Schultern packend:

Reden Sie!

Ruhe, liebe Freundin, Ruhe! Wie soll ich es sonst sagen? Sie es hören? Er ist verwundet, schwer verwundet –

Er ist tot!

Der starke Mann schwankte nach einem Stuhl und verbarg das Gesicht in den Händen.

Ich schlug, wie ich da stand, auf den Teppich hin.


Acht Tage lang lag ich in wütendem Fieber, bewußtlos, sprachlos: nur Schmerzgestöhn soll durch die zusammengepreßten Zähne, über die bleichen Lippen gekommen sein.

Eine höchst gewaltsame Nervenattacke, sagten die Ärzte. Sehr begreiflich! Bei dem feurigen Temperament der Patientin, war ihre Sympathie für die große Sache zu einer krankhaften Höhe gediehen. Dazu die peinigende Ungewißheit der letzten Tage über den Stand der Dinge. Man hätte fast voraussagen können, daß eine Katastrophe bei ihr eintreten würde. Ihr Aussehen verschlimmerte sich ja von Stunde zu Stunde.

Dann, als ich endlich erwachte, glaubte ich einen bösen Traum geträumt zu haben. Und allmählich 357 kam das Bewußtsein der Wirklichkeit zurück, die doch keine sein konnte. Was wirklich ist, läßt sich fassen und begreifen. Dies war unfaßbar, unbegreiflich. Wie denn? Er sollte tot sein, an dessen Lippen vor noch so kurzer Zeit die meinen in seliger Lust gehangen? Der mich in seinen Armen gehalten, an seine Brust gepreßt hatte, während mein Bild sich in dem dunkeln Stern seiner Augen spiegelte? Sollte starr und kalt im Grabe liegen da oben auf dem Gut seiner Eltern, wohin man ihn, sagte man mir, gebracht habe? Diese Seele voll Güte, Liebe, Edelmut, lauter wie Gold, rein wie das Herz der Wasser, sollte dahin und ein Nichts sein, weil eine dumme Kugel durch das edle Herz geschlagen?

Das konnte, durfte nicht sein. Oder die Welt war eine Spottgeburt, ein blödsinniger Hohn in das Gesicht der Vernunft.

Und ich, die ich die Geschichte der Auferstehung Christi und sein Erscheinen in Emmaus und im Kreise der Jünger nie für etwas anderes, als eine liebliche, tiefsinnige Legende gehalten hatte, bei welcher der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen, begann das Unmögliche für möglich zu halten. Alles hing von der Stärke der sehnsüchtigen Liebe ab. War sie groß genug, würde er mir erscheinen; ich in dem Augenblicke von seinem Tod nichts wissen, ihn für den Lebenden nehmen, der unversehrt aus dem Krieg zu mir zurückkam, mich in seine Arme, an seine Brust stürzen, meine Lippen auf seine Lippen drücken und in eben dem Moment daniedersinken, tot, vom Schlage getroffen, wie er bei Gravelotte von der Kugel durch sein Herz.

Diese Phantasie verfolgte mich wochenlang. Ich bin sogar nicht sicher, ob ich an einen verklärten Leib glaubte, oder mir darüber klar war, daß, ging es in Erfüllung, es eine aus meinem Gehirn geborene 358 Illusion sein müßte. In den ersten Tagen war wohl das erstere der Fall; dann, als ich wieder klarer denken konnte, trat die Vorstellung der Illusion in ihre Rechte, an der ich um so zäher festhielt, als sie ja mein Werk sein würde, nur von mir abhing; die Stärke meiner Liebe und Sehnsucht den Ausschlag gab.

Aber anstatt der Erfüllung meines Wunsches teilhaftig zu werden, der in seiner Leidenschaftlichkeit und Ausschließlichkeit bereits an Monomanie grenzte, geschah ein Anderes, Furchtbares. Sein Bild begann aus meiner Erinnerung zu schwinden, mein inneres Ohr den Klang seiner Stimme zu vergessen. Das ängstigte mich entsetzlich; und je höher meine Angst wuchs, je mehr ich mich mühte, ihn mir zu vergegenwärtigen, um so weniger gelang es mir, um so treuloser schien mich mein Gedächtnis in Stich zu lassen. Wäre ich eine bessere Psychologin gewesen, würde ich gewußt haben, daß mein Fall kein seltener war; die Erinnerung gerade die Erscheinung uns völlig gleichgültiger Personen, denen wir selten, vielleicht nur einmal im Leben begegneten, mit dankesunwerter Zähigkeit festhält, und uns um die deutliche Vorstellung der Körperlichkeit der geliebtesten betrügt, eben, weil wir sie so sehr liebten und in dem Zusammenlodern der Seelenflammen das Körperliche verzehrt wurde.

Aber ich wußte und bedachte es nicht. Dafür trat zu mir mein Gesell von frühester Jugend, der grüblerische Zweifel. Der sprach zu mir: eine Erklärung hat alles, auch dies; du hast sie nur am falschen Orte gesucht. Die mangelhafte Kraft deines Gedächtnisses ist es nicht; du solltest wissen, wie groß und zäh sie ist. Aber prüfe einmal deine Liebe jetzt, wo dein Blut ruhiger fließt! Vielleicht war sie gar nicht so gewaltig, wie du dir eingeredet hast. Vielleicht – du weißt, wie empfänglich du für Schönheit und Anmut bist! – waren es gerade diese seine 359 Schönheit und Anmut, sein vornehm-ritterliches Wesen, der weiche Glanz seiner dunklen Augen, die Süßigkeit seines Lächelns, was dich berauschte. Ein Rausch der verfeinerten Sinnlichkeit – nichts weiter! Aber die große, echte Liebe ist kein Sinnenrausch; sie ist der Gleichklang zweier Seelen. Wie stand es da mit euch? Wie war dir, wenn er von Gott sprach, an den er glaubte, und den du für ein Wort erklärst, von den Menschen erfunden, sich über ihre Unwissenheit wegzutäuschen? Von Jesus sprach, der ihm Gottes Sohn war, und dir ein Mensch ist, den die Menschen auf einen himmlischen Thron setzten, auf daß er, so sie nur an ihn glauben, für die Sünden, die sie auf Erden begangen, die Strafe erlasse in einem Jenseits, das dir wiederum nur leerer Schall ist? So weit irrten eure Überzeugungen voneinander, und nichts scheidet zwei Menschen sicherer, als die Scheidung ihrer Gedanken.

Es hat einen gegeben, den du hättest lieben dürfen in wahrer, intellektualer Liebe: deinen Lehrer. Er dachte deine Gedanken, er sprach deine Sprache. Nur er war stärker, als du; hob dich zu Geisteshöhen, in die du aus eigener Kraft niemals gelangt wärest. Aber er blühte nicht mehr in stolzer Manneskraft; die bleiche Denkerstirn, die über tausend Büchern glanzlos gewordenen Augen, die von der Sorge um das tägliche Brot durchfurchten Wangen – sie konnten deinen Sinnen nicht schmeicheln; da stießest du ihn von dir, und er ging in den Tod.

Der andre, der letzte, in seiner Schönheit und Anmut, war deinen begehrlichen Sinnen eine üppige Weide, deinem Geiste sagte er nichts. Und du wähnst, er wäre dein Glück geworden? Wie lange hätte es wohl gedauert? Kürzeste Frist. Dann würdest du über den bigotten Träumer spöttisch gelächelt, er die Atheistin verabscheut haben.

360 Willst du die Wahrheit hören?

Du kannst nicht lieben, weil du niemand liebst als dich selbst. Weil du mit dir selbst allein bleiben willst; jeder zweite dich in deiner Selbstherrlichkeit nur stören würde.

So denn: lerne allein sein! Es ist dein Los.


Die Wahrheitssucherin hatte an den Schleier der Isis gerührt, ein Zipfelchen gelüftet. Aber noch war sie in der harten Schule des Lebens nicht so gestählt, den Anblick ertragen zu können. Entsetzt ließ sie den Schleier wieder fallen und floh.

Wohin anders, als in das Leben, weiter in die Schule zu gehen. Vorerst das Grausen zu überkommen, das sie vor dem eigenen Ich erfaßt hatte.

Vergessen! vergessen! sich selbst in den anderen!

Da war zuerst mein Gatte. Ich hatte nie wahrhaft versucht, ihn zu lieben, seine Liebe zu gewinnen. Und konnte es keine Liebe hinüber und herüber sein – es gab doch etwas, das man Freundschaft nannte, und Weise sagten: sie sei der Liebe bester Teil. Daraufhin war ja auch meine Hoffnung gerichtet gewesen, als er um mich warb, ich ihm die Hand bot. Freilich, er hatte sich in den zehn Jahren unsrer Ehe sehr verändert und nicht zu seinem Vorteil. Von der Wärme, mit der er früher die öffentlichen Dinge erfaßte, war wenig oder nichts geblieben. Er sah sie nicht mehr unter dem Punkt des Gemeinwohls, sondern nur unter dem des persönlichen Vorteils. Von dem Politiker und Kaufmann, die Hand in Hand gehen sollten, war der erstere aus der Firma geschieden, der letztere allein geblieben. Nicht zum Nachteil des Geschäftes, das immer kräftiger gediehen, jetzt eines der ersten auf dem Markte war.

361 Und war er auch nie ein origineller Geist gewesen; hatte er doch mit Fleiß und nicht ohne Erfolg sich in die Gedanken anderer hineinzudenken, an ein Ganzes sich anzuschließen gesucht. Andenkern und Anempfindern aber gelingt so manches Wort, das, ist es nicht goldecht, wenigstens den Anschein davon hat. Ich wäre jetzt auch mit dieser Münze zufrieden gewesen. Er hatte keine mehr, oder hielt es nicht mehr der Mühe wert, sie zu verausgaben.

Längst war ich dahintergekommen, daß seine scheinbare große Gutmütigkeit im Grunde nur Charakterschwäche war, und er so leicht Ja sagte, weil er nicht den Mut zu einem entschiedenen Nein hatte. Aber sie stand ihm gut, diese Bonhomie. Besser noch die gentlemännische Höflichkeit, mit der er mir vom ersten Augenblick an begegnet und von der er niemals abgewichen war.

Daran ließ sich anknüpfen. Ich that es; begegnete dem Höflichen höflich, was ich wohl bis dahin nicht selten versäumt; hatte eine früher nicht geübte Nachsicht mit den häufigen Regungen seiner prickelnden Eitelkeit; zeigte ein Interesse an seinen Angelegenheiten, das mir sonst recht fremd gewesen war.

Und mußte lächeln über die Verwunderung, die ihm mein verändertes Benehmen einflößte. Jetzt freilich weiß ich: er fürchtete, in einen Hinterhalt gelockt werden zu sollen, und daß seine anfängliche Zurückhaltung, die ich nach einer so langen, immer deutlicher hervorgetretenen Entfremdung sehr begreiflich fand, nichts anderes als kluge Vorsicht war. Dann aber meinte ich, er habe meine ehrliche Absicht herausgefunden. Er schien zutraulicher zu werden, mir für mein Entgegenkommen ehrlich Dank zu wissen. Wir kamen auf einen ganz leidlichen, ja, guten Fuß.

Dann waren da die Kinder. Hier galt es ähnliche Schwierigkeiten zu überwinden, vor allem mir 362 ihr Vertrauen – ich kann nicht sagen: zurückzugewinnen, denn ich hatte es nie im eigentlichen Sinne besessen – so denn: zu erwerben. Aber, wieviel Mühe ich mir nach dieser Seite gab, sie hatte wenig Erfolg; bei jeder Gelegenheit trat auf alle Weise die Grundverschiedenheit unsrer Naturen hervor. Wie in ihren hübschen Gesichtern kein Zug von mir war, so in ihren jugendlichen Neigungen und Strebungen. Märchen, die Wonne meiner Kinderjahre, waren ihnen langweilig, selbst dem Robinson konnten sie keinen Geschmack abgewinnen: er war ein dummer Kerl, der alles ungeschickt anfing; sie würden die Sache viel besser gemacht haben. Dafür studierten sie mit Ausdauer die Geschichte des letzten Krieges und erwogen eifrig, ob Steinmetz, als er die Spicherer-Höhen forcierte, nicht einen groben Fehler begangen. Von dem, was man Gemüt nennt, kaum eine Regung. Ob und wieviel Geld man bei dieser oder jener Hantierung, diesem oder jenem Geschäft verdiene, war ihre beständige Frage. Arme waren ihnen von vornherein höchst verdächtig: kluge Leute wären niemals arm.

Mir gab es immer einen Stich durchs Herz, wenn ich sie so mit einer Ernsthaftigkeit reden hörte, die in häßlichem Widerspruch mit ihrem kindlichen Alter stand. Aber ich ließ mich nicht abschrecken: wollte in ihre kleinen Herzen keine freundliche Sonne scheinen, in ihren kleinen Köpfen war es desto heller. Besonders der ältere: Arthur, der dem jüngeren Leonor um anderthalb Jahre voraus war, galt als ein Phänomen von scharfem Verstande und Schnelligkeit des Fassens; die Lehrer weissagten ihm die glänzendste Zukunft. Sein Talent für Sprachen war bewunderungswürdig. Ich hatte den Kindern erst eine französische, dann eine englische Bonne gehalten; er plapperte geläufig in beiden Idiomen; jetzt war er beim Latein, das er ebenso spielend lernte. Er brauchte keine 363 Nachhilfe weder hier noch dort; aber weshalb sollte ich nicht mit ihm lernen, arbeiten und zur Erhöhung seines Schülerruhms beitragen? Auch mochte, wenn ich ihnen so im Wissen voraus war und wo möglich noch für Jahre blieb, es immerhin meine Autorität stützen helfen, mit der es bereits jetzt, so frühreifen Kindern gegenüber, manchmal mißlich aussah.

Ich hatte die soliden Studien im Latein, die ich bei dem Professor gemacht, später nie ganz fallen lassen; jetzt nahm ich sie mit verdoppeltem Eifer wieder auf. Einen leichteren Autor konnte ich schon damals mühelos lesen; ich machte mich jetzt an die schwierigeren, und lernte auch sie mit Zuhilfenahme von Lexikon und Grammatik bald bewältigen. Den sehr tüchtigen jungen Philologen, der mir bei meinen Studien half, hätte ich jetzt wohl entlassen können; ich behielt ihn, um mich von ihm in die griechische Sprache einführen zu lassen. Er machte mir Komplimente über meine rapiden Fortschritte und versicherte, nie einen besseren Schüler gehabt zu haben.

So gestaltete sich das häusliche Leben leidlich; von dem Gesellschaftstreiben, das früher meine Zeit und Kraft übermäßig in Anspruch genommen, suchte ich mich allmählich zurückzuziehen. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Sein ewiges Einerlei ekelte mich an. Freilich war dies eine Neuerung, die Philipp übel vermerkte; doch fand er sich darein, als er sah, daß mein Widerstand nicht zu brechen war; ich ihm überdies eine bestimmte Zahl von Diners garantierte, die während der Saison in unserm Hause gegeben werden sollten, und erklärte, nichts dagegen zu haben, wenn er außerhalb des Hauses so viele Gesellschaften besuche, als er nur immer wolle. Eine Nervenreizbarkeit, die von meiner Krankheit zurückgeblieben, mußte für mein Ausbleiben als Entschuldigung dienen. Genügte sie den Leuten nicht, sollte es mir auch recht 364 sein. Ich hatte auf dem Eitelkeitsmarkt, dem ich den Rücken wandte, nichts mehr zu suchen, nachdem ich in den langen Jahren nichts gefunden, was des Mitnehmens und des Aufbewahrens wert gewesen wäre.

Eine Frau, die einen liebenswerten Mann sehr liebt und so von ihm wiedergeliebt wird, bedarf keines Freundes und kann selbst einer Freundin entraten. Der geliebte Mann ersetzt ihr, entschädigt sie für alles. Sie mag ihm ihre tiefsten Gedanken anvertrauen, wie ihre geringfügigsten Wirtschaftssorgen. Jene großherrlichen Ehe-Prätoren, die es für ihrer unwürdig halten, sich um die minima zu kümmern, habe ich immer gefunden, sind nicht die großen und klugen Männer, sondern gerade die kleinen und die Dummköpfe. Dem großen klugen Goethe war nichts in seinem Haushalte verborgen; er wußte in seinem Wäscheschrank so gut Bescheid, wie in seinem Antikenkabinett, und revidierte seine Weinrechnungen so sorgfältig, wie seinen Faust.

So denn hätte ich wohl in der Freundschaft, in freundschaftlichen Beziehungen eine Entschädigung für das suchen müssen, was mir die zu meinem Gatten nicht gewähren wollten. Es war nicht der Fall. Man sagte, weil ich zu stolz, zu anspruchsvoll sei; und that mir damit unrecht. Wählerisch, ja. Aber das darf und muß jeder sein, der etwas auf sich hält; nur die gemeinen Naturen sind es nicht und sehen in jeder Badebekanntschaft, mit der sie eine müßige Stunde in ihrer Weise angenehm verthan, einen neuen lieben Freund. Ich hatte in den ersten Jahren meines Berliner Lebens Freunde gehabt; meine Schuld war es nicht, wenn die Heftigkeit der politischen Strömung uns auseinandergetrieben. Nicht meine Schuld, wenn ein unglückseliger Zufall mir meinen lieben träumerischen R. raubte, den ich wie einen Bruder liebte. Und es war mir ein Schmerz, als es jetzt dem 365 Militärkabinett beliebte, meinem braven Gernot ein Regiment in der Provinz zu geben und ihn wieder vor die Front zu rufen. Daß es nun gar meiner treuen Reisegefährtin einfiel, mit ihren fünfzig Jahren eine zweite Ehe einzugehen und von Berlin nach Posen überzusiedeln, konnte ich der ewig Jungen, ewig Heiteren, das Leben wie ein Fastnachtsspiel Nehmenden und Genießenden nicht verdenken; aber ich verlor mit ihr das letzte der alten bekannten lieben Gesichter.

Es war doch wohl ein gewisses Gefühl der Vereinsamung, was mich jetzt die Beziehungen zu meinen auswärtigen Verwandten und Freunden lebhafter pflegen ließ. Mit meiner Schwester war ich immer in Verbindung geblieben; dafür hatte sie selbst eifrig gesorgt, wenn auch nicht gerade Schwesterliebe sie zu einer so gewissenhaften Korrespondentin machte. Die Wahrheit ist: der schwanke Kahn, auf dem sie sich mit ihrem Dillingen eingeschifft, hatte das Unglück, sich nur zu oft auf Sandbänken festzufahren, oder in Strudel zu geraten, in welchen Fällen ich dann immer der Pilot sein mußte, der das Fahrzeug wieder flott machte, oder in glattes Wasser lenkte. Dillingen hatte es mittlerweile zum Major gebracht, aber war sonst der flotte Lieutenant geblieben, der nun einmal »an ein gutes Leben gewöhnt war«, und dem immer eine »Kleinigkeit« fehlte, wenn sie sich auch meistens auf einige Tausende belief. Dazu hatte sich Kind auf Kind in raschester Folge eingefunden. »Ich kann sie nächstens schon in Sektionen einteilen«, schrieb Lida, die ihr guter Humor so wenig verlassen hatte, wie ihr naiver Egoismus. »Und zu der kleinen Schwefelbande habe ich nun auch noch die teure Tante Anna auf dem Halse, die bekanntlich nicht direkt von den himmlischen Heerscharen abstammt, vielmehr einen sehr verdächtigen Duft um sich breitet, der auf ganz andere Regionen hindeutet, und die 366 sich in den Kopf gesetzt hat, daß sie den Schmerz um des Onkels Tod an dem Busen der geliebten Kinder ausweinen müsse. Von den verheißenen Thränen habe ich freilich noch keine gesehen, aber auch noch keinen Heller von der Pension, die uns quartaliter zahlen zu wollen, sie hoch und heilig versichert. Und das will eine Christin sein! Da sind deine jüdischen Leute doch bessere Menschen.« –

Harmloses Geschöpf! Harmlos, wie Anakreons Cicade; nur daß der Trank, an dem sie sich begeisterte, nicht immer ganz »gering« sein durfte: –

War das Leben, das Herr und Frau Major führten, trotz der tragischen Wendung, die es zur Abwechselung hin und wieder nehmen zu wollen schien, alles in allem die ausgesprochene Komödie, wollte sich die Falkenburger Idylle immer mehr zu einer Tragödie anlassen von jener herzbeklemmenden Art, in welcher die Helden schuldlos Arges und das Ärgste zu erleiden haben. Schuldlos er und sie, wie nur Menschen es sein können. Ich hatte Carola in dem ersten Jahre meiner Ehe hier gesehen in ihrem strahlenden Gattin- und Mutterglück. Überquillend von Dankbarkeit gegen den lieben Gott, der ihr den Himmel schon auf Erden bereitet! Als sie nach ein paar Jahren wiederkam, waren an dem Himmel bereits Wolken aufgezogen; die großen blauen Augen blickten wie durch einen leichten Schleier, und um den süßen Mund schwebte manchmal ein melancholisches Lächeln, das mir durch die Seele schnitt. Zwar war ihr Gatte jetzt nach dem Tode des Vaters der regierende Herr und sie Fürstin Durchlaucht. Ihr Schloß blickte von seiner waldigen Höhe stolz ins Land; aber auf seiner Schwelle kauerte die Sorge. Der leichtsinnige Vater hatte eine ungeheure Schuldenmasse aufgehäuft, die abzutragen, obgleich kein gesetzlicher Zwang es heischte, die Familienehre dem jungen Fürsten, wie 367 er nun einmal gesinnt war, zur gebieterischen Pflicht machte. Dabei galt es, für Carola zurückzulegen, da das Familiengesetz der Witwe nur eine sehr mäßige Apanage gewährte, und für den zweiten, ein Jahr nach dem ersten geborenen Sohn, der nach dem Tode des Vaters so gut wie leer ausging. Und die Gesundheit des Fürsten, die niemals sehr fest gewesen war, hatte unter den schweren Sorgen, die auf ihm lasteten und der endlosen Mühe und Arbeit, die sie im Gefolge hatten, schon sehr gelitten. In der That waren sie nach Berlin gekommen, einen berühmten Arzt zu konsultieren. Er fand den Zustand nicht bedenklich; aber sorgsame Schonung sei dringend geboten. Ich sah Carolas guten, unendlich liebenswürdigen Gemahl bei dieser Gelegenheit zum ersten und letzten Mal. Ein halbes Jahr später kam die Todesnachricht: ein Blutsturz hatte seinem jungen Leben das jähe Ende bereitet. Man schrieb mir aus Carolas Umgebung: sie sei völlig verzweifelt; man müsse für ihr Leben fürchten.

Die Furcht war allzu wohl begründet. Als ich zu ihr nach Falkenburg geeilt war, fand ich nur noch einen Schatten ihrer selbst. Hier wäre der beredteste Trost vergeblich gewesen, und bei solchem Weh verstummt, wenn nicht mein Herz, so doch mein Mund.

Mit den trübsten Ahnungen war ich nach Hause zurückgekehrt. –


In Falkenburg hatte ich Adele angetroffen und die kurze Zeit, die wir unter so traurigen Verhältnissen dort verlebt, uns wieder ein wenig näher gebracht. In Berlin suchte ich sie dann auf. Wir hatten ja jetzt ein gemeinschaftliches Interesse: ihre kranke Schwester. Vor allem lag mir daran, über 368 die ökonomische Situation Carolas, von der ich nur im allgemeinen wußte, Genaueres zu erfahren.

Auch Adele war Witwe, bereits seit fünf Jahren. Ihr betagter Gatte war in seiner Weise ein verdienstvoller Mann gewesen, und die hohe Achtung, die man ihm im Leben gezollt, kam nun der Witwe zu gute. Nach wie vor war ihr Salon der Versammlungsort einer ausgewählten Schar von Gelehrten und Schöngeistern, als deren Mittelpunkt die Wirtin selbst anerkannt wurde. Man rühmte ihre ungewöhnliche Belesenheit, ihr feines Kunstverständnis, das große Geschick, mit dem sie eine litterarische Debatte zu leiten verstand, ihre ganz hervorragende rednerische Begabung. Alle diese Vorzüge beeinträchtigte es gewiß nicht, daß der notorisch sehr reiche Geheimrat sie zu seiner Universalerbin eingesetzt hatte.

Ich wußte dies alles nur von Hörensagen. Unsre Kreise berührten sich nicht, und unser persönlicher Verkehr war damals auf die formellen Visiten, die wir uns gegenseitig gemacht hatten, beschränkt geblieben.

Sie empfing mich mit einer Art herablassender, übrigens gern gewährter Güte, ungefähr wie eine Generalin eine Lieutenantsfrau; unsre Annäherung auf dem neutralen Boden von Schloß Falkenburg sollte offenbar auf dem kritischen von Berlin verhältnismäßig abgemindert werden. Mein Temperament war längst nicht mehr das alte streitbare; für die menschlichen Schwächen hatte ich nur noch ein verständnisvolles Lächeln. So nahm ich die mir zugeteilte bescheidene Rolle willig hin und ließ sie in ihrer pompösen ruhig gewähren. Sie mochte das nicht erwartet haben und durfte nun zum Lohn für meine Bescheidenheit den Ton ein wenig herabstimmen.

Von Carola waren keine guten Nachrichten eingetroffen; ihre Schwäche schien eher zu- als 369 abgenommen zu haben. Adele sprach von ihrem bald zu erwartenden Ende mit der Ruhe eines Weisen, für den der Tod keine Schrecken hat, vorausgesetzt, daß es sich nicht um den eigenen handelt.

Sie ist eine Ottiliennatur, sagte sie, die schlanken weißen Hände, wie ein für allemal in das Schicksal ergeben, sanft aufeinanderlegend; sie leben ausschließlich in dem Geliebten; kein Wunder, daß sie mit ihm sterben. Man hat den Ausgang der Wahlverwandtschaften romantisch genannt; ich finde ihn einfach sublim, würdig des Meisters, der, wie kein anderer, der Menschennatur bis auf den tiefsten Grund geschaut hat, da, wo die Mütter ihr dunkles Gespinst weben.

Adele mußte diese Phrase erst eine kurze Weile still für sich genießen, bis sie fortfahren konnte:

Der Tod des lieben Kindes wird mir eine Verantwortung auferlegen, die, wie schwer sie auch ist, ich mit Freuden acceptiere. Du weißt, oder weißt wohl auch nicht, daß, während der älteste der beiden Söhne, Dagobert, sobald er majorenn ist, den Gesamtbesitz antritt, der jüngere, Wilfried, leer ausgeht. Hier nun greife ich in das Schicksal der Familie ein: ich mache ihn zu meinem Sohn und dereinst meinem Erben. Er ist jetzt zehn Jahre – die rechte Zeit, um aus der lauen Atmosphäre, die ihn bisher umgeben und bereits zu einem Träumer verweichlicht hat, heraus- und emporgehoben zu werden in die energische Höhenluft wahrer Herzens- und Geistesbildung, die ich mit Hilfe gleichgesinnter Freunde und Freundinnen um mich her geschaffen habe. Versuche nicht, mich von meinem Plane abzubringen! Er ist groß und kühn, ich weiß es. Aber ebenso rühmlich wird das Vollbringen sein.

Ich habe nicht im mindesten die Absicht, sagte ich, dir einen Vorsatz auszureden, den ich in jeder 370 Beziehung vortrefflich finde und zu dem ich dir von Herzen Glück wünsche. Ich habe nur ein Bedenken –

Bitte, äußere es frei!

Du bist jetzt in der Lage, über dein Thun und Lassen frei verfügen zu können; wirst du es auch in Zukunft sein? Es ist wohl keine Beleidigung, wenn ich dich darauf aufmerksam mache, wie jung du noch bist und gerade in dem Alter stehst, wo wir Frauen eigentlich erst anfangen zu wissen, daß wir ein Herz haben und was unser Herz will.

Sie lächelte mich mild an, wie eine Mutter ihr Kind, wenn es so rechten Unsinn geschwatzt hat:

Du hast dich gewundert, mich unmittelbar nach dem Tode eines teuren Familiengliedes nicht in Trauerkleidung zu sehen – gestehe es nur! Aber siehe! wie Carola aus dem Geschlecht der Ottilien, bin ich aus dem der Mignon:

So laßt mich scheinen, bis ich werde!
Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!

Es ist das Symbol eines Herzens, dem irdische Leidenschaften nichts anhaben können, wie das Feuer nicht dem Asbest. Ich war vermählt – ja; aber mit einem Manne, der mein Vater sein konnte, mir nie etwas anderes gewesen ist. Nur so durfte ich eine Ehe eingehen, ohne meinen moralischen Sinn, mein ästhetisches Empfinden zu beleidigen. Eine solche Verschmelzung des Irdischen und des Himmlischen erscheint wohl einmal im Leben und niemals wieder; ewig glänzt ihr vereinter Strahl nur auf der Stirn des hohen Uraniden. Ein glückliches Schillersches Wort, weil ausnahmsweise in ihm ein tiefer Sinn liegt, um den sich dieser geborene Manierist und Phraseur sonst leider wenig kümmert. Ich lese jetzt fast nur noch Goethe. Was treibst du denn in deinen Mußestunden, deren du, als reiche Bankierfrau, gewiß viele hast?

371 Ich lese eben mit meinem Lehrer im Griechischen die Antigone.

In der Ursprache?

Wie sonst?

Hier machte Adele genau das Gesicht, wie in der Klosterschule, wenn ich sie durch eine besonders gelungene Arbeit wieder einmal in Schatten gestellt hatte. Aber so leicht ließ sie eine Nebenbuhlerin schon damals nicht neben sich aufkommen. Sie hatte den Schlag sofort verwunden.

Das ist recht, sagte sie in autoritativem Ton – ›wer immer strebend sich bemüht‹ – Dennoch möchte ich dir raten, dich an Goethe zu halten. Du kannst dann Griechisch und Latein gern entbehren. Ist doch seine Poesie das Produkt der Verschmelzung antiker und moderner Bildung zu einem nicht mehr analysierbaren korinthischen Erz.

Ich glaubte, aus der Quelle der Weisheit für einmal genug geschöpft zu haben, und erhob mich:

Das vereinfacht die Sache allerdings erheblich und erspart viel Mühe und Zeit; ich will es mir gesagt sein lassen.

Sie hatte mich an die Portiere-Thür begleitet, die aus dem großen Salon, in welchem wir uns befanden, zu den Vorgemächern führte. Offenbar hatte ich mein Examen nicht übel bestanden. Sie sagte, während sie meine Hand festhielt, in ihrem gütigsten Ton:

Möchte sie, die das Land der Griechen mit der Seele sucht, nicht einmal einen Ausflug in meine Gefilde wagen? Sie mag versichert sein, daß sie da keinen Barbaren begegnet.

Sehr lieb von dir! Nur habe ich mich bereits seit längerer Zeit aus der Gesellschaft fast ganz zurückgezogen.

Aber ›Ein edler Mensch kann einem engen Kreise 372 nicht seine Bildung danken‹, ist ein bedeutendes Wort des Meisters.

Ich bewege mich viel in einem nur allzuweiten: dem der Armen, die mit Rat und That zu unterstützen, ich mich eifrig und, ich darf sagen, nicht ohne allen Erfolg bemühe.

Adele starrte mich an, als habe ich soeben die Quadratur des Zirkels entdeckt. Doch der gute Geist des Citierens kam der Treuesten seiner Getreuen auch in dieser ihrer Verblüfftheit zu Hilfe.

Ja, ja, sagte sie, mit vagem Blick zerstreut lächelnd: ›Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!‹

So gesegnet, war ich entlassen.


Ich hatte gegen Adele nicht geprahlt: seit dem Tode des Geliebten war ich eine eifrigere Armen- und Krankenpflegerin, als je vorher. Auch eine erfolgreichere, da ich jetzt nach einem dreizehnjährigen Aufenthalte die Berliner Verhältnisse weit besser kannte, die Art der Leute, ihre Sitten, ihre Sprache genauer studiert hatte. Auch standen mir nach dem Tode des Schwiegervaters so viel reichlichere Mittel zu Gebote. Das Kapital war nach meinem Tode zur Errichtung eines großen Asyls für arme Wöchnerinnen, eines andern für verwahrloste Kinder bestimmt; mit den betreffenden maßgebenden Stellen alles abgesprochen und festgesetzt; vorläufig arbeitete es in der Bank meines Mannes und trug reichliche Zinsen, die ich fast ausschließlich für Wohlthätigkeitszwecke verwandte.

Ich that mir wahrlich nichts auf meine Bemühungen zu gute. Die Anerkennung, die ich von Seite der Behörden und in den Zeitungen fand, ließ mich gleichgültig; den Dank meiner Pfleglinge begehrte ich nicht. Ich schuldete ihnen mehr, als sie mir, die 373 sie mich vor dem gänzlichen Versinken in Verzweiflung und Stumpfsinn retteten. Mir täglich zuriefen: So sieht das wahre Elend aus: so verwahrlost, so schmutzig und gemein! Was du so nennst, das ist zum kleineren Teil wirkliches Leid, zum größeren ein Spielen mit dem Leid, ein Kokettieren mit dem Schmerz, eine Ausschweifung der Phantasie, die in erdichtetem tragischen Jammer schwelgt, während man behaglich in seinem weichen Parkettsitz sich dehnt. Dir ist es in deiner Liebe mißlich ergangen; eine feindliche Kugel hat dir den geliebten Mann geraubt. Was ist denn das? Hier der Mann – er war ein braver Junge und liebte mich und ich ihn. Wir kamen zusammen und haben gearbeitet, daß uns das Blut aus den Nägeln spritzte, und blieben so arm, wie wir waren. Dann ein paar schwere Krankheiten, die wachsende Kinderschar, die junge Kraft vor der Zeit erschöpft, der Mut zerbrochen, die Hoffnung verloren. Nun bin ich ein schlumpiges, keifendes Weib, er ein brutaler Kerl, der mich schlägt, wenn er betrunken ist. Geh mir mit deinem parfümierten Jammer! Und geh auch mit deiner Hilfe, die doch keine ist! ein Pflaster nur auf die Wunde, die nach innen so weiter brennt und frißt –

Und während mir so beständig die klägliche Unzulänglichkeit individueller Hilfsbereitschaft schmerzlich zu Gemüte geführt wurde, und ich zürnend beobachtete, mit welch' unzulänglichen Mitteln Stadt und Staat dem Gemeinübel beizukommen versuchten, feierte die durch den Milliardenunsegen der Kriegsentschädigung entfachte Gründungswut ihre wüsten Orgien; wurden in schwindelhaften Unternehmungen Millionen verpufft, Millionen an der Börse in einer Stunde gewonnen und verloren; bauten die Gewinner sich Paläste und blickten von den seidenen Kissen ihrer Gummiräder-Equipagen höhnisch herab auf die 374 Verlierer, die im Staube trotteten – würdelos die einen, wie die andern.

Daß hier nur ein durch die ungeheuerste Erschütterung bis zu seinem Grunde erregtes Meer aufgewühlte Schlammmassen an das Ufer warf; wenn der Sturm ausgetobt, das Herrliche hervortreten würde, das nur in so wildem Aufruhr der Elemente gewonnen werden konnte: ein freier Grund für ein mächtiges und dermaleinst auch wohl freies Volk – es mochte dem beschränkten Blick des einzelnen verborgen bleiben, die Zukunft ihm ebenso trostlos erscheinen, wie die Gegenwart. Und dafür nun hatten auf den Schlachtfeldern so viel tausend brave Herzen verbluten, hatte auch der Geliebte sein mir heiliges Leben lassen müssen! War es da ein Wunder, war es nicht unausbleibliche logische Folge, daß auch dem Geduldigeren die Geduld riß; er sich sagte: so kann, so darf es nicht länger gehen; wollen die Reichen, Satten durchaus nicht hören, mögen sie fühlen; mag die soziale Revolution sie lehren, was sie in dem verruchten, ihnen so bequemen Schlendrian des laissez faire, laissez passer nun und nimmer lernen würden.

So ward ich zum zweitenmal Sozialdemokratin und bin es geblieben; keine Utopistin, aber lebend und, ich denke, sterbend in der Überzeugung, daß eine Zeit kommt und wohl schon angebrochen ist, in der eine rein menschliche, von keiner Offenbarung und keinem Dogma beschränkte Wissenschaft mit den Überresten mittelalterlicher Pfäfferei und feudaler Herrlichkeit, wie pomphaft sie sich auch noch heute spreizen und wieviel geistesdumpfe Hörige vor ihnen knieen, aufräumen und das einzig menschenwürdige Ideal: alles durch das Volk und alles für das Volk zur Wirklichkeit machen wird, soweit die Unvollkommenheit es zuläßt, die nun einmal allem Menschlichen ewig anhaftet.

375 Während ich so der Unordnung, die mir in der großen Welt zu herrschen schien, nach Kräften zu steuern suchte – ohne mich doch entschließen zu können, meine Kammerjungfer zu entlassen und meine beiden Reitpferde abzuschaffen – trat etwas ein, das die kleine Welt: mein Ich physisch und moralisch vernichten zu wollen schien.

Es stellte sich heraus, daß ich zum drittenmal Mutter werden sollte.

Entsetzen erfaßte mich, als ich nicht länger daran zweifeln konnte. Ich hatte meine beiden ersten Kinder ohne Liebe empfangen, und gemeint, es müsse eben sein. Und da ich die Liebe nicht kannte, an sie nicht glaubte, sie für eine Illusion hielt, die nur schwache Seelen befallen und täuschen mochte, durfte es auch wohl sein. Dies nicht! dies nun und nimmer! Wußte ich doch jetzt, was es für ein Weib bedeutet, einen Mann zu lieben, der ihr alles ist, wie sie ihm; und dem deshalb ohne Scham alles zu geben und zu gewähren ihr stolzes Recht und ihre süße Pflicht. Wohin war hier die Scham geflohen, die meine Hüterin hätte sein, mir hätte ins Herz schreien sollen: dies ist Verrat an dem edlen Toten; Verrat an ihm, der dich in seinen Armen hält, wenn er in dir keine Buhlerin, sondern sein Weib sieht! Vergebens, daß ich mir sagte: du wolltest ja, er solle eine Gattin haben; wolltest seinen Kindern eine Mutter sein! So sträube dich nicht gegen eine Konsequenz deiner ehrlichen Absicht, mit deren Möglichkeit du immerhin rechnen mußtest! Und bedenke, wie müde du es warst, deinem verlorenen Glücke nachzustarren! wie oft du dir das Wort Mephistos wiederholtest: ›Hör auf, mit deinem Gram zu spielen!‹ Kein Sehnen bringt dir die versunkene Sonne zurück! So nimm das Leben, dunkel und öde, wie es ist; und wie sicher du bist, 376 daß es dir auch nicht einen Blütentraum jemals wieder reifen wird!

Der sittliche Instinkt verfügt über stärkere Argumente, als das subtilste Räsonnement. Alles Grübeln schien nur die Überzeugung zu befestigen: dies durfte nicht sein!

Aber es war. Und die Überlegung, wieviel edlere Frauen sich schon vor diese fürchterliche Wirklichkeit gestellt sahen und noch sehen werden, war kein Trost; nur eine Bestätigung der uralten Wahrheit, daß der Frauen Schicksal beklagenswert ist; beklagenswerter schwerlich jemals, als in diesem, in meinem Fall.

Es war mir schon damals, wie heute, unzweifelhaft: es steht dem Menschen das Recht über sein Leben zu, und er darf es sich nehmen, wenn ihm Unwürdiges aufgezwungen wird, und sein selbstgewählter Tod nicht Rechte verletzt, welche die Welt oder einzelne Individuen an ihn haben. Hier nun handelte es sich nicht um mein Leben allein; auch um das, welches da unter meinem Herzen klopfte, und das ich nicht um sein Dasein bringen, bevor es noch das Licht erblickt, in das Nichts zurückschicken durfte. Und das Unwürdige, das mir zu tragen war – niemand hatte mich unter das Joch gezwungen. nur ich mich selbst, die ich mein Haupt so tief gebeugt, meines Stolzes so gar vergessen hatte.

Das Joch sollte furchtbar schwer auf mir lasten.

Ich hatte bei meinen ersten beiden Kindern von dem, was Jules Michelet le travail de la maternité nennt, so wenig zu leiden gehabt, daß es den Weisen beiderlei Geschlechts ein Erstaunen gewesen war. Es schien, als wolle die Natur, was sie damals versäumt, diesmal um so gründlicher nachholen. Ich verfiel in Zustände, von denen sonst nur schwächliche Frauen heimgesucht werden. Das war so ganz gegen meine Natur; das konnte nicht mit rechten Dingen 377 zugehen. Und der alte Wahn wollte über mich kommen, der den Tod zu der Sünde Sold und jedes Leid, das uns befällt, zur Strafe irgend eines Vergehens macht. Und ich hatte wahrlich nach dem, das ich etwa begangen, nicht weit zu suchen! Aber von dieser Seite war mir doch zu schwer beizukommen; so ganz hatte ich meinen Spinoza nicht vergessen: ich wies dergleichen zurück als einen Spuk, mit dem sich Narren bange machen oder von Leuten, zu deren Metier es gehört, bange machen lassen. Unbehaglich genug blieb die Sache auch ohne das. Ich wurde zum Stillliegen verurteilt und wiederholt von Schmerzen heimgesucht, die ich meinte nicht ertragen zu können. Seitdem habe ich lernen müssen, daß der Mensch, wie an alles, sich an Schmerzen gewöhnen kann, und sie sogar vermißt, wenn sie einmal ausbleiben.

Natürlich war ärztliche Kunst fortwährend sorgsam um mich bemüht, und es fehlte nichts an dem Komfort, den Reichtum um ein Krankenlager breitet. Philipp schien ernstlich besorgt und erschöpfte sich in kostspieligen Aufmerksamkeiten. Er beklagte sich bitter darüber, daß er mir so wenig Zeit widmen könne: die Geschäftswogen gingen wieder besonders hoch; es stand für ihn viel auf dem Spiel, das er in hergebrachter Weise zu gewinnen denke. Ob ich denn niemand wisse, dessen Gesellschaft mir einige Zerstreuung gewähren könne? Wie ich über Jane denke? Sie sei so lange nicht in Berlin gewesen und komme jetzt, wo sie nach dem Tode der Mutter ganz frei sei, gewiß mit tausend Freuden. Ihr Plaudertalent zeichne sich ja allerdings mehr durch Quantität als Qualität aus, und biete nicht gerade das, was er mir an Unterhaltung wünsche; aber auch eine harmlos-oberflächliche sei am Ende immer noch besser, als gar keine. Was ich dazu sage? Ob er an Jane schreiben solle?

378 Er kam so oft darauf zurück, nicht so dringend, daß ich, wäre ich auch eifersüchtig gewesen, hätte Verdacht schöpfen können, sondern wie jemand, der sich etwas in den Kopf gesetzt hat, wovon er sich für den andern große Vorteile verspricht. Ich versprach mir von Janes Anwesenheit nicht die geringsten für mich, eher noch für ihn, der sich fraglos zu Hause gründlich langweilte, und dem man eine allezeit muntere Gesellschafterin, wie Jane es war, immerhin gönnen mochte.

So willigte ich endlich ein, diktierte ihm sogar den Brief an sie, die denn auch fast umgehend kam mit obligater Kammerjungfer und einer Mustersammlung von Koffern Londoner Provenienz, zu deren Abholung vom Bahnhof, wie Philipp mir lachend erzählte, ein stattlicher Möbelwagen eben hingereicht habe.

Es schien, daß ich meine Nachgiebigkeit nicht zu bereuen brauchte. Janes Anblick allein mußte ein ästhetisches Auge erquicken. Sie war womöglich noch schöner geworden, und der herrliche Wuchs kam jetzt, da die häßliche Krinoline ihn nicht mehr entstellte, zur vollen Geltung. Ihr Plaudern hielt sich noch immer von Geist und Witz gänzlich frei, ja, sie konnte zeitweis kompletten Unsinn reden; aber aus ihrem hübschen Munde mit den üppigen Lippen und den blendend weißen Zähnen klang es ganz leidlich, wie die Gassenhauer einer besonders feinen Spieluhr; und sie hatte nichts dagegen, zeigte wenigstens nie die geringste Empfindlichkeit, wenn man gelegentlich darüber einschlief. Philipp triumphierte, das heißt: lächelte wohlgefällig in seinen mächtigen Bart und meinte: alles in allem, sie ist ein guter Kerl. Ich habe es immer gesagt.

Es stimmte das nicht ganz mit seinen früheren Äußerungen über die schöne Schwägerin; aber Zeiten und Menschen ändern sich. War ich doch auch mit 379 den Jahren um so viel geduldiger und nachsichtiger geworden, redete ich mir ein; und verwechselte Geduld und Nachsicht mit der stumpfen Gleichgültigkeit, in die der Mensch versinkt, dem im Strudel des Lebens sein Glücksschiff gescheitert ist.

Über den wahren Zustand meiner Seele sollte ich bald aufgeklärt werden.


Meine Stunde war bereits nahe herangekommen; doch befand ich mich besser als die Monate vorher. Die Schmerzen hatten aufgehört; ich fühlte mich wohl und empfand es um so peinlicher, daß man mich durchaus, in Kissen verpackt, auf der Chaiselongue festhalten wollte. Besonders eifrig in dieser Beziehung war Jane. Sie that, als habe sie allein die Verantwortung zu tragen, wenn durch irgend eine Unvorsichtigkeit das Resultat meiner langen Geduldprobe schließlich doch noch in Frage gestellt würde. Ich sah in ihrer lästigen Hartnäckigkeit nur die Pedanterie, mit welcher Laien an ärztlichen Verordnungen festhalten, die sie halb verstanden haben; aber da ich keine Veranlassung hatte, an ihrer guten Absicht zu zweifeln, that ich ihr den Willen, wie schwer es mir auch manchmal wurde.

Nur eines Spätnachmittags war meine Geduld erschöpft. Ich war allein. Der Kammerjungfer hatte ich ein paar erbetene Freistunden gegeben; die Wärterin war zu irgend einer Besorgung in die Küche hinabgegangen; Jane hatte sich beurlaubt, endlich einen lange aufgeschobenen Besuch bei einer ihr von London her befreundeten Dame zu machen. Durch die zugezogenen Vorhänge, die ein Lufthauch sanft bewegte, kam dann und wann ein roter Schein; von der stillen Verbindungsstraße her, auf welche die Fenster meiner Zimmer gingen, klang in kurzen 380 Unterbrechungen der Sang einer Amsel und das gedämpfte Jauchzen spielender Kinder in einem benachbarten Garten.

Ein Etwas der alten Lebenslust regte sich in mir. Ich warf die leichte Decke ab, richtete mich empor, ließ die Füße von der Chaiselongue auf den Teppich gleiten und machte ein paar Schritte. Was wollten nur die Leute? ich konnte mich ja ohne alle Anstrengung bewegen! Davon mußte ich ihnen den Beweis liefern. Vor allen Jane, die mich mit ihrer Pedanterie so gequält hatte!

Durch den Kopf schoß mir ein übermütiger Einfall. Wenn ich hinüberging und ihr auf ihren Schreibtisch einen Zettel legte: »p. f. v.. Bedauere sehr, Madame nicht getroffen zu haben!« oder einen Unsinn der Art, der mir unterwegs wohl einfallen würde.

Der Weg war nicht lang: nur über den breiten Korridor nach der entgegengesetzten, unserm Garten zugewandten Seite des Hauses, in welcher Janes Zimmer sich befanden. Die einzige Schwierigkeit bot vielleicht ein Treppchen von drei Stufen, das zu meiner Wohnung führte, die in einem Anbau lag, den auf meinen Wunsch und nach meinem Plan in dem zweiten Jahre unsrer Ehe Philipp dem Haupthause hatte hinzufügen lassen. Aber auf dem Treppchen lagen auf den Marmorstufen wie überall Teppichläufer, und ich würde mich, wenn es überhaupt nötig war, nur auf die dicke Messingstange des Geländers zu stützen brauchen.

Ich schlang mir noch einen leichten Shawl um die Schultern und verließ mein Zimmer, höchlich amüsiert über mein kleines Abenteuer und bei dem Gedanken der Überraschung, die ich Jane zugedacht hatte.

Das Treppchen gelangte ich sehr gut hinab und ging nun vorsichtig langsam über den Korridor. In 381 dem Hause regte sich nichts; von unten herauf kein Laut. Die große Stille, mein geräuschloses Schreiten hatten etwas Beängstigendes; unwillkürlich begann mir das Herz zu schlagen, und es fehlte nicht viel, so wäre ich umgekehrt. Dann aber schämte ich mich einer so kindischen Regung, und schon stand ich vor Janes Thür, die ich, als ob es jemand hören könnte, vorsichtig leise aufmachte. Ich hatte einen Augenblick gefürchtet, Janes Kammerjungfer zu begegnen, bis ich mich darauf besann, daß sie sich der meinen zu dem Nachmittagsausflug angeschlossen. So war denn natürlich niemand im Zimmer. Aber die Thür zu dem daran stoßenden Schlafgemach war geöffnet, und von dort her hörte ich, ich weiß nicht welches Geräusch. Ich mußte mich verhört haben: es war wohl das Blut in meinen Schläfen gewesen. Nur, um mich zu überzeugen, daß es sich so verhielt und ich meine Nerven in der Gewalt hatte, näherte ich mich der Thür, stand ich in der Thür und sah, was ich denn doch im ersten Moment für ein Produkt der aufgeregten Sinne halten mußte.

Sah auf dem runden Diwan in der Mitte des Zimmers Philipp, auf seinen Knien Jane, in innigster Umarmung, sie, das mir abgewandte Gesicht an seiner Brust und Schulter verborgen, er, den rechten Arm um ihren Leib schlingend, mit der linken Hand in ihrem aufgelösten Haar wühlend, das in blonden Kaskaden über ihren schlanken Rücken floß.

Ich weiß nicht, hatte die Schwelle geknarrt, oder ich doch wider meinen Willen einen Laut der Überraschung ausgestoßen – Philipp hatte mich erblickt und war, Jane unsanft von den Knien drängend, in die Höhe gefahren.

Da standen nun die beiden Ärmsten, mich mit entsetzten Blicken anstierend: Philipp, wie im Schreck versteinert, unendlich albern aussehend, während Jane, 382 von Röte übergossen, das herabgeglittene weite Gewand auf die nackte weiße Schulter hinaufzuziehen vergeblich bemüht war.

Sie hätten nicht so entsetzt zu sein brauchen: ich fand die Situation vor allem komisch und sagte mit lächelnder Ruhe:

Ich bitte um Entschuldigung; aber ihr solltet ein nächstes Mal lieber die Thüren schließen!

Dann war ich wieder auf dem Korridor, überzeugt, daß mir zu folgen keiner von beiden den Mut hatte.

Wahrscheinlich war ich innerlich doch erregter, als ich wußte. Ich erinnere mich dunkel, daß ich den Korridor, zurück nach meinen Zimmern, ohne alle Vorsicht eilig durchschritt. Auf dem Treppchen kann ich mich nicht, wie beim Hinabsteigen, an der Messingstange gehalten haben, denn, als ich auf der obersten Stufe über eine Falte im Läufer strauchelte, griff ich, schwankend, ins Leere und schlug rücklings hinab. Ich raffte mich mit dem letzten Rest meiner alten elastischen Kraft sofort wieder auf, gelangte auch wirklich bis zur Thür und fiel dort der Wärterin, die inzwischen zurückgekommen war, und, erschrocken über mein ihr unerklärliches Verschwinden, sich eiligst auf den Weg machen wollte, mich zu suchen, ohnmächtig in die Arme.

383 Epilog.

Die Geschichte meines Lebens – wenn ich diese bescheidenen Aufzeichnungen so nennen darf – ist mit dem bösen Fall von dem Treppchen zu Ende. Der Rest – nun schon achtzehn Jahre – spinnt sich einförmig und eintönig innerhalb der vier Wände dieses Zimmers ab, das ich nur als eine Tote verlassen werde. Geschehnisse in irgend einem annehmbaren Sinne kommen nicht mehr vor; die Personen, die meine Einsamkeit teilen, oder sie von Zeit zu Zeit durch ihren Besuch erheitern, kann ich an den Fingern einer Hand herzählen.

Da ist zuerst meine liebe Lent, die sich schrecklich sperren wird, niederzuschreiben – aber ich kann ihr nicht helfen – daß sie seit ebenso lange meine beste, treueste Freundin ist von einer Opferfähigkeit, die schlechterdings keine Grenzen kennt, und ohne deren einsichtsvolle, nimmermüde Pflege bei Tag und Nacht ich meinen Leiden binnen vierundzwanzig Stunden erliegen müßte.

Da ist Wilfried Falkenau, meiner holden Carola schöner Sohn, der nur zu selten kommt, mir in seiner anmutigen Weise von seinem Bruder, dem Fürsten, zu erzählen, den er sehr liebt; seiner edlen Schwägerin, die er, glaube ich, in aller Stille anbetet; den entzückenden Neffen und Nichten, die er onkelhaft verzieht; von Tante Adele, seiner Pflegemutter, über 386 deren groteske Schrullen er harmlos spottet, und von der politischen und sozialen Welt, mit der er gar nicht zufrieden ist.

Weiter meine herzige Friederike Ülbach, die mir Tante Adele großmütig von ihrem intimen Kreise abläßt und sich dadurch von dem Schrecknis loskauft, eine Kranke anstandshalber doch einmal besuchen und eine nach Karbol und Äther riechende Luft zehn Minuten lang einatmen zu müssen.

Seltsam und beweinenswert, wie oft die Menschen an dem höchsten Glück, das ihnen das Leben zu bieten hat, ahnungslos vorübergehen! Auf der weiten Erde giebt es keine zweite, die Wilfried so versteht, seiner so in jeder Beziehung würdig ist und ihn so liebt, wie Friederike. Und er weiß es nicht; und da ist niemand, der es ihm sagen könnte, außer mir, der sie ihr traurig süßes Geheimnis anvertraut hat, und die schweigen würde, auch wenn sie es der Guten nicht gelobt hätte. Sie hat recht: sagt es Wilfried nicht das eigene Herz, würde die Entdeckung für sie selbst nur eine tiefe Beschämung, für ihn einen mitleidsvollen Kummer bedeuten. Hätten sie sich später im Leben getroffen, gewiß, es wäre anders gekommen: er hätte wohl sicher den echten Diamanten unter so viel böhmischem Glas entdeckt. Nun haben sie sich kennen gelernt, als sie beide noch halbe Kinder waren, und da ist er, stumpfsinnig, wie die Männer sind, über ein herzlich brüderliches Wohlwollen nicht hinausgelangt. Ich sage Friederiken nicht, daß ihr damit von der nicht zu stande gekommenen Ehe der weitaus beste Teil geworden ist. Sie würde es nicht verstehen.

An meiner sogenannten Ehe könnte ich es ihr nicht klar machen. Wie es ein Hohn sein würde, von einer Liebe zu sprechen, die zwischen mir und Philipp jemals bestanden, kann wenigstens ihm der Vorwurf 387 der ehrlichen Dummheit nicht gemacht werden, mit der ich im Anfang an die Möglichkeit einer beiderseitigen Freundschaft glaubte. Davor schützt ihn das schlechte Gewissen gegen mich, das er mit in die Ehe brachte.

Ich will gerecht gegen ihn sein: er hat vielleicht, als er mich heiratete, geglaubt, dadurch von Jane freizukommen, die er und die ihn geliebt hatte, bevor sie in einem Anfall toller Eifersucht, zu der er ihr ausreichende Veranlassung gegeben, par dépit seines Bruders Frau wurde, wenn er ihr auch vorgespiegelt, es sei das einzige Mittel, ihn und sie vor Arthurs längst erwachter, stets wachsender Eifersucht zu retten, und er so sie und mich zugleich betrog. Ein so kleinliches Spiel konnte den großen Spieler nicht lange fesseln; er schlüpfte schnell genug in die alten Bande zurück; Janes üppige Schönheit hatte es ihm einmal angethan; er war und blieb ihr Sklave. Die immer sterben wollende Mutter war für sie ein so bequemer Vorwand zu ihren häufigen Reisen nach London, wohin er ihr dann unter dem einen und dem andern Vorwand folgte. Für ein ungestörtes Beisammensein sorgte ein kleines verschwiegenes Haus, das er in einer Vorstadt gekauft und, wie es sich für eine so verwöhnte Dame schickt, hatte ausstatten lassen.

Dies alles erfuhr ich nachträglich von Frau Sidonie Bernstein.

Ich erinnerte mich von den Hamburger Tagen her ihres auffallend kühlen Betragens gegen Philipp und gewisser Anspielungen, die ich damals nicht verstanden hatte und jetzt zu verstehen glaubte. Wenn jemand, so mußte sie, als Janes Cousine und genaue Kennerin der Londoner Verhältnisse, mir Auskunft geben können. Ihre ausführliche Antwort auf meine Anfrage kam umgehend. Es sei ihr Grundsatz, sich niemals freiwillig in andrer Leute Angelegenheiten 388 zu mischen; sie habe deshalb, so leid ich ihr gethan, bei unserm Zusammentreffen damals nicht weiter herausgehen können. Nun, da ich mich mit dem Gedanken einer Scheidung zu tragen scheine – die sie in aller und jeder Hinsicht befürworte – sei sie mir natürlich die ganze traurige Wahrheit schuldig. Von der sie sich nebenbei wundern müsse, daß ich sie nicht längst in Erfahrung gebracht. Die Sache sei in dem großen Londoner Kreise, in welchem sie sich bewege, ein mehr oder weniger notorischer Skandal.

In der That hatte ich, als ich nach der Katastrophe so weit wieder denken konnte, eine Scheidung in Erwägung gezogen, war aber bald davon zurückgekommen.

Von einem Treubruch in tieferem Sinne ließ sich nicht wohl sprechen. Der findet nur da statt, wo vorher Liebe war. Was wußten sein und mein Herz voneinander? Das meine hatte mir wahrlich nicht geschlagen und mein Gewissen mich nicht gewarnt, als ich Roderich liebte und ihm ganz gehören wollte, sobald er aus dem Feldzuge zurückkam. In meinen Augen bestand das Unsittliche von Philipps Verhalten in der so lange fortgesetzten feigen Lüge, die noch dazu einen ganz ordinären materiellen Hintergrund hatte: ein so glücklicher Spieler er war, es konnten Konjunkturen eintreten und waren wiederholt eingetreten, in welchen mit dem betrogenen Bruder auf einem guten Fuß zu stehen, keine schlechte Philosophie war; und wenn Arthur seinerseits den Schein einer brüderlichen Entente aufrecht erhielt, und im übrigen durch alle fünf Finger sah, that er es Janes halber, die er bei Strafe der Einbuße ihrer vielen Millionen nicht erzürnen durfte.

Hielt mich so die tiefe Verachtung dieser moralischen Misere; die Erwägung, daß mein Fall ja keineswegs vereinzelt stehe, vielmehr in so vielen 389 Familien der upper ten thousand mutatis mutandis sich wiederhole; die gelegentliche Erinnerung an Schopenhauers bissiges Wort: er reflektiere nicht weiter über die monogame Ehe, weil er sie nicht kenne – ich sage: hielt mich das alles von einem energischen Schritt zurück, war es außerdem die Überlegung, daß eine Scheidung da keinen rechten Sinn habe, wo den Betreffenden im Grunde nur an einer vollständigen Trennung gelegen sei, und diese sich in unserm Falle aufs beste durchführen lasse. Ich hatte, dank der Güte meines Schwiegervaters, materiell nie von Philipp abgehangen; jetzt brauchten wir nur noch unsre Wirtschaften strikte auseinanderzuhalten, was in dem sehr großen Hause nicht im geringsten schwierig war. So konnten wir nebeneinander leben, als lägen Meilen zwischen uns.

Und nun ein Letztes, das mir die volle Sicherheit gab – nicht, es könne sich für mich jene schwächste Stunde wiederholen, deren Erinnerung mir noch jetzt nach so vielen Jahren, trotz meines Spinozismus, die Schamröte auf die Stirn treibt – vor solcher Schmach war ich sicher – wohl aber, daß für alle Zukunft nie wieder in mir ein Gefühl der Liebe für einen Mann, Gefallsucht, Eifersucht, Eitelkeit, oder was immer den Busen des Weibes schwellen macht, sich regen; ich nie wieder das Herz eines Mannes für mich höher schlagen machen würde.

In meinen Augen war ich kein Weib mehr; ich würde es bald in keines Mannes Augen mehr sein.

Ich war nach jenem Sturz von dem Treppchen und einem verfrühten fürchterlichen Wochenbett in ein Siechtum verfallen, von dem sich voraussagen ließ, daß es mich zu dem machen müsse, was ich jetzt bin: ein armseliges, von Schmerzen Tag und Nacht fast beständig heimgesuchtes Wesen, das nur noch eine Karikatur der menschlichen Wohlgestalt ist: mit 390 gekrümmtem Rückgrat, zusammengeschrumpften Gliedmaßen, Händen, wie Kinderhändchen, einem Gesicht so klein – man kann es völlig mit der Hand zudecken, wenn man seine Entstellung nicht länger ertragen will.

Meine Kinder wollen sie nicht ertragen, oder können es nicht – es kommt beides auf eines heraus. Jedenfalls wuchs ihr Unbehagen bei meinem Anblick mit jedem Jahr, bis ich endlich kurzen Prozeß machte und, unter dem Vorwand meiner angegriffenen Nerven, ihre Besuche einzustellen bat, so ihnen und mir peinliche Minuten ersparend. Um die Söhne that es mir kaum leid: sie entwickelten sich immer weniger verkennbar zu würdigen Mitgliedern der Berliner jeunesse dorée – eine Species, die mir seit den Tagen, als sie meine Salons durchschwärmte, besonders widerwärtig war. Else hätte ich gern behalten. Daß sie die indirekte erste Ursache zu meinem späteren Leiden war, ließ ich sie nicht entgelten, und ebensowenig, was ich, als ich sie noch unter dem Herzen trug, an seelischen Qualen erduldet. War sie doch an dem einen so unschuldig, wie an dem andern! Und ihr munterer Witz und drolliger Humor machten mir Spaß, wenn auch schwerlich in dem Schädel unter ihrem schwarzen Lockenkopf ein Gedanke steckte und jemals stecken würde, mit dem ich mich hätte befreunden können. Aber ich wußte nur zu gut, weshalb sie stets das pikante Gesichtchen abwandte, wenn sie mit mir sprach. Sie sollte dann, sagte mir meine Lent, ein recht hübsches Fräulein geworden sein, das sicher in der Gesellschaft sehr bewundert würde. Davon habe ich mich denn endlich vor acht Tagen überzeugen können, als sie mir ihre Cousine Chlotilde, die jetzt hier zum Besuch ist und darauf bestanden hatte, zuführen mußte.

Als man durch meine Lent um Erlaubnis zu 391 diesem Besuche bat, zögerte ich einen Augenblick, sie zu erteilen. Ihre schöne Mutter war seit zwei Jahren tot. Ich hatte, solange sie lebte, es nicht fertig gebracht, ihr gram zu sein – man haßt oder liebt doch nur die Menschen, die man, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, als sich ebenbürtig ansieht – und ihr Tod war mir fast schmerzlich gewesen. Ein wunderschönes Menschenexemplar weniger auf der Welt! Eine wundervolle Rose weniger im Garten! So wäre mir auch ihre Tochter, die nicht minder schön sein sollte, willkommen gewesen, nur daß ich triftigste Gründe zu der Annahme hatte, sie sei ihr und – Philipps Kind. Die Frau eines türkischen Paschas würde darin nichts Anstößiges gefunden haben. Im Grunde war es nur ein Unterschied der Landessitten und eine wohl aufzuwerfende Frage, ob die Heuchelei, mit der wir uns öffentlich zu ehelichen Idealen bekennen, denen man heimlich eine Nase dreht, sittlicher ist als ein ehrliches Eingeständnis recht natürlicher, wenn auch recht brutaler Verhältnisse.

So ließ ich denn die beiden Mädchen kommen und habe es nicht bereut. Else freilich blieb nur einige Minuten – sie hatte eine Anprobe bei Gerson, die sie durchaus nicht versäumen durfte – aber Chlotilde ist wohl eine Stunde neben meinem Lager sitzen geblieben, und ich habe sie in der kurzen Zeit ordentlich lieb gewonnen. Sie ist vielleicht noch schöner als ihre Mutter, wieviel das auch sagen will, und – mindestens ebenso geistlos. Aber aus ihrem freundlich müden Lächeln und dem milden Leuchten ihrer Gazellenaugen spricht eine unendliche Herzensgüte, von der ich freilich fürchte, daß sie den Glücksjägern, welche ihr Reichtum in Scharen herbeilocken muß, den wohlfeilen Sieg noch erleichtern wird. – Armes reiches Mädchen! Der Kuß, den du der traurigen 392 Menschenruine zum Abschied auf die bleiche Stirn drücktest, wäre es allein wert, daß es ein Paradies gäbe, in der ich die Plätze zu verteilen hätte. Dir wäre ein allererster gewiß.


Wehmut wollte mich beschleichen, als das prachtvolle Geschöpf mich verlassen hatte, bei dem Gedanken, daß ich auch einmal eine junge schlanke Frauengestalt gewesen und es jetzt nur – noch im Traum bin: wenn ich wieder auf meinem braunen Renner durch den morgenfrischen Wald jage; die Dahabieh, auf deren Deck unter dem bunten Zeltdach ich stehe, im Abendschein den breiten, stillen Strom hinabgleitet; ich im Glanzlicht der Kerzen durch den Saal wirble am Arm meines Tänzers, der mir dann atemlos einen Sessel zurechtrückt, auf dem ich mich lachend niederlasse, um schon im nächsten Augenblick mit einem andern davonzurasen –

Und könnte ich mit dem glücklichen Dichter sagen:

»Weg du Traum, so gold du bist!
Hier auch Lieb' und Leben ist« –

Liebe, um die es sich einzig zu verlohnen scheint, daß wir die Mühsal des Lebens ertragen! Und ist sie im besten Falle mehr als ein goldener Traum? Habe ein Wesen lieb, wie immer du vermagst: wahrhaft, innig, aus deiner Seele tiefstem Grund; glaube festiglich, daß es dein alles, dein Leben ohne die geliebte Nähe völlig wertlos ist, und – der Tod raubt es dir. Wahnsinniger Schmerz zerreißt dein Herz; du rasest gegen die brutale Gewalt, die mit kaltem Hohn auf dich herabblickt; du bietest ihr die nackte Brust: so nimm wenigstens auch mich, den du ärmer gemacht hast, als den verlaufenen Hund auf der 393 Straße! Dann kommt die Zeit, deren Macht du gespottet hast, wenn andere sie dir als Trösterin in deinem Jammer prophezeiten; kommt auf leisen Sohlen und stiehlt dir aus der Schatzkammer deines Kummers eines der dir heiligen Kleinode nach dem andern. Schon kannst du Reliquien des teuren Schattens sinnend zur Hand nehmen, die du vor einem Jahr nicht betrachten konntest, ohne daß dir die Thränen aus den Augen stürzten. Und noch ein Jahr vergeht – du läßt sie wochenlang unbetrachtet im wohlverschlossenen Schrein. Du liebst ihn noch, den teuren Schatten – gewiß! Nur ist er blasser geworden und umschwebt dich seltener; immer kräftiger drängt sich das bunte, vielgestaltige Leben zwischen dich und ihn. Du empfindest es als eine Schmach, ohne es ändern, ohne verhindern zu können, daß es dich mit jedem Jahre energischer in seine Frone zwingt. Und dann kommen heiße, arbeit-mühevolle Tage, Wochen – ist es nicht erklärlich und verzeihlich, daß du keine Zeit fandest, seiner auch nur zu gedenken? Und dann kommen wohlige Stunden, in denen dein einst gramverzerrter Mund wieder lachen und – wieder küssen kann.

Such is life, sagt der Engländer; und ich meine: mit cynischerer Geringschätzung läßt sich von dem Leben nicht sprechen.

Aber wir sollen ja auch immer zum Ganzen streben, ins Ganze zu wirken suchen! Das trägt uns auf Adlerflügeln hoch empor über das ganze Gemeine und ewig Gestrige; und in der Höhenluft verflüchtigt sich die Eigenliebe; vergeistigt, verklärt sich der schwere individuelle Kummer!

Nur daß der König Salomo vielleicht zuerst gesagt, sicher nicht als der erste entdeckt hat, daß alles eitel ist; der große Alexander sehr wahrscheinlich lange vor dem großen Friedrich es müde war, über Sklaven 394 zu herrschen; Voltaire sicher geniale Vorgänger hatte, die, wie er, in der Todesstunde klagten, daß sie die Welt genau so dumm zurückließen, wie sie sie vorgefunden. Und wenn Napoleon die Menschenverachtung schon auf sein wüstes Eiland mitbrachte, und Bismarck, der jetzt, fern von Berlin, Zeit hat, über das Ungeheure, das er für Deutschland gethan, und über den bekannten Lohn der Welt weiter nachzudenken, als Menschenverächter sterben wird – ich wäre die letzte, die sich darüber wunderte.

Aber sie waren, oder sind, wie Wallenstein, mehr oder weniger im Bann der finsteren Mächte, die keines Menschen Kunst vertraulich macht; nicht immer willig, oder auch nur im stande, Gott zu geben, was Gottes ist.

Nur daß er, den sie Gottes Sohn nennen, am Kreuz, brechenden Auges auf den Schwarm herabsehend, der es gaffend umstand, mit todesbleichen Lippen seufzte: Sie wissen nicht, was sie thun.

War er sicher, daß sie es niemals wieder thun; niemals wieder den kreuzigen würden, der den frommen Wahn nährte, sie aus Heloten der Sünde zu freien Tugendmenschen machen zu können?

So denn blieben dem Menschen in seiner hilflosen Not nur die beiden: Kunst und Philosophie.

Nur daß auch sie mit nichten Rettung bringen, höchstens Linderung eines Zustandes, der ohne sie ganz unerträglich wäre.

Und es ist immerhin ein Großes, wenn jene die drückende Enge unsers Kerkers erweitert, indem sie bunte Bilder auf die rauhen Wände zaubert, so daß wir in hohe Königshallen, oder anmutige Landschaften zu blicken glauben.

Und die andre unsre qualvolle Unwissenheit mit einem gnädigen Schleier verhüllt.

395 Ich habe, ohne jegliche Kunstbegabung ins Leben entlassen, die Gunst der ersteren nur aus zweiter Hand erfahren; doch bin ich ihr zu tiefer Dankbarkeit verpflichtet.

Und bin auch dankbar gegen die zweite, trotzdem ihr Schleier für mich mit der Zeit immer durchsichtiger wurde, bis ich zu der Überzeugung kommen mußte, daß hinter ihm nichts war, als eben der blutlose Schemen unsrer bodenlosen Ignoranz.

Es müßte denn das eine sein, dessen wir uns als sicherer Erkenntnis rühmen dürfen, und das allerdings ein höchst Solides, völlig Unzweifelhaftes ist: wir wissen, wir werden sterben.

Und da wäre es, als Ausgleich dieser melancholischen, für die meisten fürchterlichen Einsicht, vielleicht nur billig, wir erführen auch, warum wir geboren wurden, warum wir leben.

Darüber schweigt sich leider die metaphysische Philosophie aus; denn Worte, hochtrabende, scheinbar äußerst tiefsinnige, bei denen man sich bald dies und bald das, und meistens, recht betrachtet, gar nichts denken kann – die thun es nicht.

Und gäbe es eine Zukunft, in welcher, was hier nur skizziert erscheint, ausgeführt; was hier angefangen, vollendet, zum wenigsten der Vollendung näher gebracht werden könnte – es wäre noch immer nicht durchweg erfreulich, denn der rauhe Beginn verspricht keine glatte Folge. Doch ließe sich darüber sprechen, und besonders sanguinische, oder für Hoffen und Harren talentierte Naturen hätten immerhin einige Chance.

Wie aber die Sache für den Verstand liegt, der sich nicht durch Selbstbetrug um seine Gesundheit gebracht hat, oder von betrogenen Betrügern hat bringen lassen: daß, wie wir als Individuen nicht waren, bevor wir gezeugt und geboren wurden, so, der 396 Individualität entkleidet, in das All zurücksinken werden, wenn wir gestorben sind, sieht es mit den Blütenträumen einer sich immer nur steigernden Fortexistenz des lieben Ich mißlich aus.

Doch an dem Individuum ist auch wohl nicht eben viel gelegen: ein winzig Rädchen in dem ungeheuren Mechanismus, das, wenn verbraucht, unschwer zu ersetzen, während das Ganze rastlos weiter arbeitet, weiter wirkt zu immer herrlicheren Resultaten.

Erziehung, Perfektibilität des Menschengeschlechts!

Gewiß! Die Daseinsmittel werden sich noch immer steigern; so vielen Millionen Menschen mehr zu gleicher Zeit Raum auf der Erde schaffen; ihnen die Existenz erleichtern; wohl auch verlängern; dem einzelnen mehr Ellbogenraum geben, die Reibungsflächen zwischen den Völkern abschleifen –

Und dann?

Dann sind es eben so viele Millionen mehr, die, ohne es gewollt zu haben, an einer ihnen wildfremden Küste landen, unter tausend Sorgen und Mühen die Insel durchziehen, um drüben abermals an ein grenzenloses Unbekanntes zu gelangen, in das hinein sie fahren – wiederum, ohne es zu wollen.

Sorgen und Mühen für den einzelnen immer dieselben, mag eine noch so verfeinerte Technik ihm alle Mühe abzunehmen, ein sorgenfreies Leben zu bereiten scheinen! Mit der größeren Lust, die er sich schaffen kann, wird die Unlust, der er nicht zu entgehen vermag, gleichen Schritt halten. Dafür übernehmen seine so viel sensibleren Nerven, seine so viel höher geschraubten Ansprüche an das Leben die sichere Bürgschaft.

Und für den Tod, der all der Herrlichkeit Knall und Fall ein Ende macht, ist nach wie vor kein Kraut gewachsen.

397 Aber die Menschheit! Wer mag ihr Ende absehen?

Gewiß: niemand. Nur daß es auch mit ihr einmal zu Ende sein wird, wie mit dem Individuum.

Und bleibt für das Individuum die ihm zugeteilte Summe von Lust und Unlust immer dieselbe, so bleibt sie es auch für die Menschheit, wie, nach des klugen Ranke Ausspruch, das Niveau ihrer Intelligenz und Moral durch alle Jahrhunderte sich nicht verändert hat.

So denn wären wir glücklich – oder unglücklich, wie man will – bei unsrer Monadenexistenz angelangt, bei unserm lieben Ich – dem verschämten Fichtes, dem brutalen Max Stirners – über das wir es nicht hinaus bringen, wir mögen uns stellen und drehen und wenden, wie wir wollen. Wir sind uns die Welt; ja, recht verstanden sind wir die Welt, die mit uns anfängt und mit uns aufhört. Was sonst noch etwa ist, oder nicht ist, hat uns gar nicht zu kümmern. Ob ein Gott existiert oder nicht, was gilt es uns, die wir ihn uns nicht vorstellen können, ohne einem kindischen Anthropomorphismus zu verfallen? Daß unsre Denk- und Vorstellungskraft nicht höher fliegt, unsre Schuld ist es nicht.

Und so begnügen wir uns – was wir ja ohnehin müssen – mit dem, was wir sind. Geben wir das thörichte Verlangen auf, mehr sein zu wollen; aber wollen wir, was wir sind, auch ganz sein: unser Sein zur höchstmöglichen Energie steigern! Nicht im Sinne Nietzsches, dessen »blonde Bestie« ernsthaft zu nehmen, ich mich nicht entschließen kann, wohl aber in dem von Spinozas Suum esse conservare, dessen letztes feinstes Produkt »der freie Mensch« ist.

Dabei steht sich denn auch die Menschheit am besten. Es ist nicht zu sagen, wie groß das wohlthätige Wirken eines einzigen freien Menschen ist, wie 398 weit es reicht. Er ist der Zähler, der den vielen Nullen erst Wert und Bedeutung verleiht.

Es giebt solche, die sich unter tausend Mühen zur Freiheit durchringen. Moralisch muß man sie wohl am höchsten bewerten. Glücklicher daran sind jedenfalls sie, die sich von vornherein durch keine sakrosankte Überlieferung früherer Geschlechter gebunden, durch kein Dogma beschränkt fühlen; in der Menschenwelt niemand über sich, aber auch niemand unter sich sehen; und denen die Furcht vor Gott, ist sie ernstlich gemeint, ein trauriges Armutszeugnis, ist sie es nicht, eine häßliche Phrase ist.

Wenn ich mich zu den letzteren rechnen zu dürfen glaube, die ich frei Geborene nennen möchte, so mag es objektiv eine Überschätzung sein, eine subjektive Überhebung ist es wohl kaum. Ein Glück, das man mit auf die Welt bringt, ist kein Verdienst, dessen sich zu rühmen, nicht bare Thorheit wäre. Wohl aber darf man sich seiner freuen.

Wie ich es freudig empfinde, daß ich, der alles geraubt ist, worauf sonst die Menschen mit Recht den höchsten Wert legen: Jugend, Schönheit, Leibeskraft, Liebe, Ansehen, Verehrung bei den Menschen, die Fähigkeit, sich der Mittel, die der Reichtum gewährt, nicht bloß für andere, sondern auch für sich selbst in edlem Sinne auszunutzen – in meinem Hirn, dem einzigen, was von mir noch wirklich lebt, in der Welt meiner Gedanken eine Entschädigung für das alles entdeckt habe und eine Quelle, deren kräftiges, ewig frisches Wasser mich alle meine grausamen körperlichen Qualen vergessen macht.

Du wirst sagen, liebe Lent: mit Zuhilfenahme von vielem, nur allzuvielem Morphium.

Schilt nicht, du Gute! Es ist wahr: wir haben in den letzten Monaten und Wochen etwas viel von dem dämonischen Zeug verbraucht; dies Diktieren hat 399 mich doch mehr als billig aufgeregt. Aber jetzt, nachdem ich dich schließlich noch mit meiner leidigen Philosophie gequält habe, sind wir ja zu Ende. Ich habe meinem treuen Beichtiger alles ehrlich gesagt, was mir auf der Seele lag.

Nun hat sie Ruhe.

Und deine liebe Seele auch.

 

 

Ende.