August Sperl
Der Faquin
August Sperl

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August Sperl.

Der Faquin.

Eine gruselige Schlossgeschichte.

 


 

Es war sehr heiß, ja es war ganz außerordentlich heiß. Sie hatten sich vom Schlosse, dessen rostbraune Ziegeldächer unter den Sonnenstrahlen zu glühen schienen, herabgeflüchtet auf die erlenumsäumte Flußinsel und saßen im Schatten; doch es war auch hier drückend heiß.

Freifräulein Dorothea arbeitete an einer Stickerei; aber es ging nur langsam vorwärts. Ihre Schwester Sabina las in einem zierlichen Buche; aber sie gähnte häufig. Die große Wolfhündin Passanda, die sich ganz nahe an die Kleidchen ihrer Herrinnen geschmiegt hatte, ließ die Zunge aus dem Maule hängen und atmete heftig. Drüben über dem Flusse auf der staubigen Straße zogen knarrend die hochbeladenen Getreidewagen vorbei. Leise plätscherten die Wellen. Dann und wann schnellte ein Fisch aus der Flut.

Freifräulein Dorothea legte ihren Stickrahmen auf die Bank, erhob sich seufzend, ging hinter die Bank und sah lange zwischen den Baumstämmen hindurch in die Ferne.

»Binchen, es ist entsetzlich heiß!«

Freifräulein Sabina hob den Kopf nicht und 38 sagte gleichgültig: »Einmal ist's kalt, ein andermal heiß und ein drittes Mal wieder kalt, und das ist das Leben.«

»Aber ein Erntewetter ist's, daß man die Hitze gern erträgt,« begann Dorothea aufs neue. »Schau nur, da drüben die hochbeladenen Erntewagen! Welcher Segen!«

Sabina hob den Kopf noch immer nicht und bemerkte weise: »Erst wird's gesät, dann muß es wachsen in Sonnenschein und Regen, und endlich führt man's heim, und das ist das Leben.«

»Ach, Binchen, wie kannst du nur so leichtsinnig reden! Hast du unsern Herrn Vater nie erzählen hören von der entsetzlichen Kriegszeit? Denk doch – wo die Felder zertreten waren dreißig Jahre lang, wo nichts mehr wuchs und keine Ernte kam dreißig Jahre lang, wo die Menschen umfielen wie die Mücken dreißig Jahre lang – denk doch!«

»Das ist das Leben,« sagte Freifräulein Sabina und zuckte mit den Achseln.

»Aber, Binchen, wie kannst du nur so gräßlich reden?«

Sabina lachte: »Nein, Dorchen, du hast recht, das ist der Tod.«

Verzweiflungsvoll schlug Dorothea die Händchen zusammen: »Bine!«

Freifräulein Sabina blickte nun endlich auf: »Aber Dore, ich kann ja doch nicht gleich außer mir geraten, wenn da drüben etliche Getreidewagen rumpeln, wo früher mal eine Zeitlang keiner gerumpelt ist –«

»– und die Menschen Schuhleder gegessen haben, Binchen?«

39 »– Schuhleder gegessen haben, Dorchen –

»– und umgefallen sind wie die Mücken, Binchen –!«

»– wie die Mücken, Dorchen –«

»– dreißig Jahre lang, Binchen!«

Freifräulein Sabina dehnte sich und gähnte. »Na, Dore, immer werden ja die Felder in den dreißig Jahren auch nicht ausgesehen haben wie so 'n Reitplatz, und also werden auch die Menschen nicht immer Schuhleder gegessen haben. Sonst wären doch wohl Herrn Vaters große Reitstiefel, die er vor Jankan getragen hat, auch nicht heil geblieben. Und laufen ja heute noch viele Leute herum, die mitten im Kriege aufgewachsen sind, gleich der Herr Vater und der Peter und die Muhme. Warum soll ich also flennen, wenn du 'n Getreidewagen auf der Straße siehst?«

Freifräulein Dorothea seufzte nachdenklich: »Meinst du wirklich, Binchen? Ich nehm' eben alles so schwer.«

Freifräulein Sabina hatte sich schon wieder auf ihr Büchlein gebeugt. »Na, wenn du den Dreißigjährigen Krieg auch noch schwer nimmst, wo er doch schon achtzehn Jahre vorbei ist!«

»Aber der Segen nun nach all dem Unglück, der Gottessegen, Binchen!« rief Dorothea.

Freifräulein Sabina blickte auf, und ein liebliches Lächeln huschte über ihre feinen Züge: »Den nimmt man wie er kommt, Dorchen, dankt dem lieben Gott dafür und bittet ihn, daß er weiter sorge.«

Freifräulein Dorothea murmelte: »Zuweilen kannst du so nett reden, Binchen!«

40 »Zuweilen nett, zuweilen nicht, das ist das Leben,« sagte Sabina, schon wieder lesend.

Langsam ging Dorothea aus dem Schatten der Bäume hinaus auf die sonnige Reitbahn, deren mächtiges Oval den größten Teil der Insel bedeckte.

Zweifelnd sah die kluge Hündin bald auf die eine, bald auf die andre der Schwestern. Sie kämpfte augenscheinlich einen harten Kampf. Sie stand auf, wandte sich und äugte ihrer Herrin mit gesenktem Schweife nach. Dann beschrieb sie einen kleinen Kreis, sah ihre andre Herrin freundlich an und wedelte zutraulich, stöhnte behaglich und streckte sich zu ihren Füßen hin. Das Böse hatte gesiegt in dieser Hundeseele.

Inzwischen war Freifräulein Dorothea mit verschlungenen Händen über die sonnenbeglänzte, sandbestreute Reitbahn gegangen und nahe an die Brücke gekommen, die von der Insel über den Fluß führte. Und in dem Augenblick, als der Hund nach einer großen Brummfliege schnappte, die ihn sehr belästigte, Freifräulein Sabina aber an eine so interessante und lustige Stelle ihres Büchleins gekommen war, daß sie herzlich auflachen mußte, in diesem Augenblicke gellte von der Brücke her in das Stillleben unter den Bäumen ein wilder Aufschrei.

Die Hündin fuhr empor und raste in großen Sätzen über die Bahn. Sabinchen fuhr empor, sah die Schwester mit hocherhobenen Armen weit drüben an der Brücke stehen, warf das Büchlein in den Sand und lief, was sie laufen konnte.

»Aber was ist denn? Dorchen, sag nur, sag nur!« rief sie keuchend.

41 Freifräulein Dorothea stand geisterbleich und starrte auf einen Punkt unter den Bäumen.

»Aber so sprich doch!« bat Sabinchen und schlang die Arme um die Schwester. »Sprich doch – hast du mich erschreckt!«

»O ciel!« stieß die andre hervor. »So sieh nur, der gräßliche Kerl!«

Freifräulein Sabina zog aus der Tasche ihres duftigen Kleides einen kleinen Dolch, nahm ihren ganzen Mut zusammen und ging gegen das Gebüsch vor.

»Sabinchen, o, ich bitte dich, bleib!« jammerte Dorothea und schlug die weißen Händchen vor das entsetzte Gesicht.

»Faß, Passanda, faß!« befahl Sabina und murmelte: »Ein deutsches Fräulein fürcht't sich nit!«

Passanda hatte soeben das Ufer abreviert; nun kam sie wedelnd heran und machte ein ganz dummes Gesicht.

»Faß, Passanda, faß!« zischte Sabinchen, ging mit erhobener Waffe Schritt vor Schritt auf das Gebüsch los und war großartig anzusehen, wie eine zum Sprung gerüstete Tigerin. Gefährlich nahe plätscherten die Wellen des Flusses.

»O ciel!« stöhnte Dorchen und getraute sich nicht, die Hände vom Gesicht zu nehmen.

Sabina stand vor dem Gebüsch, ließ die Hand mit dem Dolche sinken, warf den Kopf zurück, daß ihre goldigen Locken zitterten und – lachte hell auf, so hell, so laut, so lustig, daß Passanda trotz aller wirklich drückenden Hitze bellend an ihr emporsprang: »Dorchen! Dorchen!«

»Aber was hast du nur, Binchen?« rief 42 Dorchen ängstlich herüber und getraute sich noch immer nicht, die Hand vom Gesicht zu nehmen.

Sabina steckte erst den scharfen Dolch in die Scheide und ließ ihn wieder in ihrer Tasche verschwinden. Dann hüpfte sie zur Schwester, nahm ihr die Hände vom Gesicht, zog ein Riechfläschchen aus ihrer unerschöpflichen Rocktasche, hielt ihr's unter die Nase und sagte, während sie sich kaum zu fassen wußte vor Lachen: »Aber Dorchen, es ist ja nur Vaters Faquin, Dorchen!«

»Was?« fragte Freifräulein Dorothea erleichtert, aber etwas verlegen und als hätte sie's nicht ganz verstanden. Dabei sog sie eifrig den stärkenden Geruch aus dem Fläschlein.

»Ach was, Dorchen! Der alte Faquin, der halbverfaulte, der dem Vater vorige Woche beim Speerstechen abgebrochen ist, der Faquin, zum Donner, der Faquin von der Reitbahn – komm doch!« lachte Sabina, hüpfte in das Gebüsch und hob die abgebrochene Büste eines lebensgroßen Holztürken aus dem Grase. »Der Faquin!« Sie hielt der Schwester das gelbgestrichene Gesicht des schrecklichen Turbanträgers mit den schwarzen, glotzenden Augen entgegen, tanzte ein paar zierliche Schritte, warf die Holzpuppe wieder in das Gebüsch und hüpfte zu ihrer Schwester.

Diese drückte die Hand aufs Herz, machte nun ein sehr verlegenes Gesicht und flüsterte: »Der Faquin, Binchen? Schnaufen muß ich aber doch noch recht.«

»Komm Dore, verschnaufe dich!« riet ihr Freifräulein Sabina und zog sie mit sich über die Reitbahn zurück zur Bank.

43 Eng umschlungen saßen die Schwestern wieder im Schatten der Bäume.

Freifräulein Dorothea war schlank gewachsen, hatte große, dunkle, schwermütige Augen und erfreute sich gerade jetzt eines besonders weißen Teints, zu dem die dunkelbraunen Haare vortrefflich paßten. Sabinchen war eine kleine, blonde Hexe mit einem wahren Engelsgesicht, aus dem nur leider zwei Koboldäuglein blitzten. Die eng umschlungenen Schwestern wären demnach ein lieblicher Anblick gewesen. Aber Passanda hatte für weibliche Schönheit keinen Sinn, und der abgefaulte Türke lag weit drüben im hohen Gras. Sonst war weit und breit niemand zu sehen oder zu hören.

»O ciel!« seufzte Dorothea. »Je ne fus jamais si effrayée de ma vie. Es war ganz entsetzlich. Aber mein Gemüte ist ja ohnehin so gedrückt all die Tage her.«

»Du bist eben in eine neue Phase getreten wie der Mond, ma chère, und das bedrückt dich,« sagte die Kleine und machte ein altkluges Gesicht. »In eine neue Phase, ma chère, und das ist das Leben – weiter nichts.«

»Ach, das ist's ja!« brach die andre in gutem Deutsch los, und heiße Thränen rollten ihr aus den Augen.

»I Dorchen, wer wird denn weinen!« tröstete die Kleine und sah erschrocken auf das todunglückliche Antlitz. »Und heute abend – denk nur, da mußt du klare Augen haben!«

»Ach, das ist's ja! Wenn nur der Abend schon vorüber wäre!« schluchzte die Große. »Und gerade heute, wo doch – du weißt ja, wo doch 44 die Muhme purgiert – o, wenn er doch nicht gerade heute käme!«

Binchen lachte verschmitzt: »Ei, wie sagt doch die Muhme immer? – Ce jeune homme donne des grandes espérances, er ist vorzüglich angeschrieben bei Hofe, der Graf, du machst dein Glück, ma chère!«

Nun sah sie forschend auf das schöne Antlitz der Schwester.

»Ach, das ist's ja!« rief Dorothea und rang ihre Hände. »Diese neue Verbindung der seit alter Zeit versippten Häuser – furchtbar ehrenvoll – Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle – unmenschlich reich, hat den Hofmarschall in der Tasche – so heißt's den ganzen Tag. Was aber mein Herz dazu sagt, danach fragt der Herr Vater nicht und nicht die Muhme und – überhaupt niemand!«

»Das ist das Leben,« bemerkte die Kleine gleichmütig und strich die Falten ihres Kleidchens zurecht.

»Ach, geh doch mit deinem ledernen ›das ist das Leben‹!« bat Dorchen.

»O bitte, ma chère, der Graf hat erst neulich gesagt – wie hat er doch gesagt? – vous avez non-seulement les qualités du corps, mais encore les dons de l'esprit.« Die Kleine machte ein triumphierendes Gesicht. »Er hat mich von wegen meiner Lieblingsdevise für geistreich erklärt!«

Dorothea jammerte: »O bitte, sei ernsthaft, Binchen, wo mir doch das Herze so schwer ist!«

»War noch niemals ernsthafter als jetzt,« sagte die Kleine nachdenklich, und ihre klugen Augen straften sie mit nichten Lügen.

45 »Schau, Binchen,« fuhr die andre fort und schmiegte sich enger an das Schwesterlein, »schau, es ist doch für uns junge Dinger ein rechtes Elend, daß unsre gute Mutter so früh hat sterben müssen!«

Freifräulein Sabina sagte diesmal nicht »das ist das Leben«, sondern guckte betrübt in ihren Schoß und nickte kräftig.

»Schau, Binchen, nun ginge ich eben zur Mutter, hinge mich an ihren Hals und klagte ihr so manches, was mich drückt.«

»So klage mir's!« bat die Kleine und setzte sich erwartungsvoll zurecht.

»Dir? Ach, Binchen, das geht doch nicht recht,« kam's zögernd von den Lippen der Großen; »du bist zu jung, Binchen.«

»Das ist das Leben,« bemerkte Freifräulein Sabina würdevoll. »Der eine wird früher geboren und wird früher alt; der andre wird später geboren und wird später alt. Du bist geboren Anno 1648 – der Engel des Friedens, sagt der Graf –, also bist du achtzehn unter Brüdern; ich bin geboren auf diese jammervolle Erde Anno 1650, also zähle ich sechzehn Lenze, denn wir schreiben 1666. Und wem das zu jung vorkommt, dem kann ich auch nicht helfen; denn das ist das Leben.«

»Und es geht eben doch nicht,« sagte die andre und lächelte unter Thränen.

»Ich denke mir's aber doch furchtbar interessant,« begann Freifräulein Sabina und schielte ein wenig auf die Schwester, »furchtbar, sozusagen hart vor dem Verspruche! Und binnen kurzem wird es im Lande hin und her heißen: 46 elle va se marier! O« setzte sie emphatisch hinzu, »elle s'est mariée par amour – aus purer, purer Liebe – so wird's über ein kleines heißen. Es muß dir im Grunde doch das Herz klopfen, wenn du ihn nur von weitem siehst, Liebste! Nein hüpfen, wenn du's auch nicht namens haben willst.«

Dorothea schlug die Händchen vors Gesicht und schluchzte, daß es sie stieß. –

Weit drüben über dem Reitplatze, von der Brücke her, kam eine hohe, hagere Frauengestalt in mächtiger Bänderhaube.

»Ach da, da seid ihr, süße Kinder?« tönte es hoch und kreischend herüber.

»Die Muhme!« flüsterte Freifräulein Sabina und rührte sich nicht.

»Nur ein paar Worte, meine lieben Kinder!« rief das alte Fräulein und kam mit langen Schritten herzu. »Habe euch gesucht wie mein Riechfläschchen –!«

»Oder wie meine Hornbrille,« murmelte Binchen.

»Schwebe in größter Aufregung!« keuchte die Muhme.

»Wann nicht?« lispelte Binchen.

Hastig trocknete Freifräulein Dorothea die Augen.

»O, diese fatalen Leibesumstände!« klagte nun das alte Fräulein mit gerungenen Händen dicht vor den Mädchen. »Ich weiß gar nicht – gerade heute!«

»Ja, Muhme, das habt Ihr Euch freilich gar nicht ganz geschickt eingerichtet,« kicherte Binchen.

47 »Setzt Ihr Euch nicht ein wenig zu uns?« fragte Dorothea und rückte von der Schwester weg.

»Nicht, nicht, Dorchen. Keine Zeit. Nur geschwind 'n paar Worte! – Eingerichtet, Binchen? Aber ich bitte dich! Zustände des Leibes überfallen den Menschen wie Zustände des Gemütes. Wie sagt doch der Dichter –?«

»Ei, Muhme, besingen die Dichter auch Schröpfkopfsetzen und Purgieren?« fragte Freifräulein Sabina und machte ein unschuldiges Gesicht.

»Bine –« Das alte Fräulein richtete sich starr auf. »Wer wird so häßliche Worte – so 'was sieht man nicht, so 'was weiß man nicht, so 'was giebt's einfach nicht für 'n junges Fräulein vom Adel. – Nu, Dorchen, süßes Dorchen, wie ist dir's denn zu Mute in der Truhe deines Herzchens? Den ganzen Tag flattern meine Gedanken im Blumengarten deiner Zukunft. Nu, Dorchen? Doch was frag' ich viel? Stak mir der Pfeil doch einstens auch im Busen! Ich fühl' es noch. 's ist zwar 'n Geheimnis, ich sollt's mit in die Grube nehmen, aber ach –!«

»Ist das schon lange her, Muhme?« fragte Freifräulein Sabina.

»Kind, was ist die Zeit in Amors Reiche?« Das alte Fräulein blickte traumverloren zwischen den Bäumen ins Land hinaus. »Ich seh' ihn Tag und Nacht in all seiner Schöne. Und so sangen seine Purpurlippen:

»Wer kommt herangeflogen
Mit seinem gold'nen Bogen?
Halt still – der Flügelknabe
Bringt dir der Liebe Labe!
Nun spannt er seinen Bogen –
Ei schau, wie ungezogen: 48
Da steckt des Pfeiles Spitze
In roter Fleischesritze.
Pfui, kleiner Flügelknabe,
Ist das der Liebe Labe? –
Nun ist er fortgeflogen,
Die Lilienhügel wogen,
In wonniglichem Schmerze
Poppert ein kleines Herze –
Ach ja, du Amorknabe,
Es ist der Liebe Labe.«

In Verzückung stand die Muhme, Freifräulein Dorothea schluchzte heftig, Binchen aber verbiß krampfhaft ein Lachen. Dann stieß sie heraus: »Es ist dem Dorchen augenscheinlich gar nicht recht wohl im wonnigsüßen Liebelabeschmerze, Muhme.«

»Ach, Bine,« hauchte die Muhme, »was weißt du von diesen Lenzgefühlen? Ganz so ist's, ganz so muß es sein. Dorchen, ich werde wieder jung mit dir, meine Seele flutet in deinen Busen. Süßes Dorchen, laß den Tau der Liebe, laß ihn rinnen!«

»Ei, Muhme, das thut sie ja ohnedies reichlich im Schmerz der Liebelabe!« erlaubte sich Freifräulein Sabina zu bemerken.

Aber mit Hoheit wehrte ihr das alte Fräulein. »Die Hände weg, die rauhen Alltagshände weg von den elfenhaften Kindern des Dichters und seiner Muse!« Dann sank ihre Stimme aus der Erhabenheit in die Niederungen der Prosa: »Nur geschwinde noch eines – daß ihr euch fein die Ohren wascht für heute abend und die Hälse!«

»Aber Muhme –!« riefen die Freifräulein in gerechter Empörung wie aus einem Munde.

»Na, na!« Die Muhme zwinkerte ein wenig mit den Augen. Dann tätschelte sie die Wange 49 ihres Lieblings und hauchte: »Laß nur immer den Tau fallen auf das Beet deines Glückes!« Und mit Strenge wandte sie sich an die andre: »Habt ihr denn die Kleider schon parat, Bine? Und den Schmuck? O Himmel, an allen Enden sollt' ich sein! Und wenig Schmuck, ihr süßen Kinder! Hört ihr? Wie sagt doch der Dichter?

»Die Schneck' ihr enges Haus
Mit sich herumerleitet –
So soll die Tugend auch
Von dir stets sein begleitet.«

»Euer Schmuck sei die Tugend – hört ihr? Du die Perlen, Dorchen, du die Korallen, Binchen! – Da sollt' ich sein, dort sollt' ich sein, an allen Enden sollt' ich sein. Und gerade heute muß er sich so plötzlich anmelden, der süße Graf! O Himmel, wie werdet ihr euch benehmen ohne mich? – Aber, es wird mir wieder – nicht ganz – wohl, Kinderchen – ich – muß – fort – ich seh' euch noch –!«

Sie trippelte schleunig über den Sand.

Lachend bog sich Freifräulein Sabina zurück: »Die gute Muhme!«

Da wandte sich diese und rief von ferne her: »Und gerade sitzen, Bine, und einen Diskurs führen, süßes Dorchen, regiert euch mit dem Zaume der wohlanständigen Höflichkeit! Ein Frauenzimmer muß in allen Lagen –. Ich muß fort! Binchen, Dorchen, nur immer diskurieren, nur immer, immer, immer fortdiskurieren –!« Und eilig verschwand sie über die Brücke.

»Ach, ich will ja doch alles thun!« murmelte Freifräulein Dorothea geknickt und ergeben.

50 Binchen aber lachte: »Die gute Muhme ist zuweilen recht wunderlich. Von ganz natürlichen Sachen darf man nichts reden, hören, wissen, und dann deklamiert sie wieder ganz unanständige Sachen.«

»Ach, das wird eben auch zur Komplimentierkunst gehören – meinst du nicht, Binchen?« – Freifräulein Dorothea griff nach der Hand der Schwester: »O Binchen, mir ist so weh!«

»So sag's der Muhme, Dorchen!«

Verzweiflungsvoll schlug Dorothea die Hände zusammen:

»Der Muhme, Binchen?«

Diese blickte nachdenklich auf die Schwester, murmelte etwas vor sich hin und sprach dann sehr bestimmt: »A quoi bon tant de paroles? Du magst ihn eben nicht und damit basta, sagt Peter!«

»Aber um Himmels willen, Binchen, wenn das der Herr Vater gehört hätte!« rief Dorothea, ließ die Hände sinken und sah entsetzt auf die Schwester.

»I was,« murmelte diese, zuckte die feinen Schultern und bückte sich nach dem Buche, das zu ihren Füßen im Sande lag. »Soll ihn der Herr Vater heiraten oder du?«

Sie blätterte in dem Büchlein und lachte: »Paß auf, Dorchen, da hab' ich vorhin einen schönen Vers gefunden. Magst du ihn hören?«

Freifräulein Dorothea nickte und sah trübselig vor sich hin.

Die Kleine lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander, wippte mit dem Fuße und begann:

»Du grober Eselskopf –«

51 »Himmel, wie du nun wieder dasitzest!« fuhr Freifräulein Dorothea seufzend auf. »O, welch ein Unglück, wenn man keine Mutter hat!«

»Jetzt lese ich etwas Deutsches, und dazu setze ich mich just so und nicht anders; hernach sollst du deinen Willen haben. Es ist nämlich etwas ganz Deutsches, paß recht auf, Dorchen!

Du grober Eselskopf: du hast dich zwar geziert
Mit Seide und mit Samt, mit breiten goldnen Spitzen,
Hast aber auch bei dir den größten Unflat sitzen –
Ich schau' dich durch und durch! Pfui, Schlingel, Grobian!
Versilberter Klausnarr, geputzter Pavian!«

»Himmel, Binchen, wer wird denn so abscheulich vom Grafen reden!« jammerte Freifräulein Dorothea und schlug die Hände zusammen.

»Vom Grafen, Dorchen?« sagte Freifräulein Sabina und setzte sich gerade, als wäre sie bei Hofe, und sah der Schwester mit klugen Augen voll ins verstörte Angesicht. »An den Grafen hast du dabei gedacht? Ei! Und das Verslein steht ja doch im poetisch-musikalischen Lustwäldchen von Anno – warte nur« – sie blätterte – »von Anno 1652.«

»Ach, Binchen, freilich; aber ich bin eben ganz desperat.«

»Hm,« sagte die Kleine. –

Hoch oben auf der Burg öffnete sich ein Fenster; eine Pistole, eine Hand und ein Arm schoben sich heraus in die Höhe, und ein Schuß krachte.

»O ciel!« riefen die Freifräulein Dorothea und Sabina wie aus einem Munde und sprangen auf.

»Der Vater ruft uns, Binchen!«

»Das ist das Leben, Dorchen!«

52 Sie eilten flüchtig über den großen Reitplatz, vorbei an dem schrecklichen Kerl im Gebüsche, hinaus über die Brücke, und Passanda machte weite Sätze und bellte lustig.

Er hatte eine etwas sonderbare Manier, seine Mädels zu rufen, der alte Freiherr.

*

Ja, da saß nun der Graf am Abend richtig auf dem Ehrenplatz neben dem Hausherrn.

Es war sehr schwül in der großen, hellerleuchteten Wohnstube, und weit offen standen die Fenster. Der Nachtwind flüsterte in den Erlen, aus der Ferne plätscherte der Fluß, und um die Flammen der Wachskerzen tanzte das Ungeziefer und verbrannte sich die Flügel. Von den Wänden lächelten die braunen Ahnenbilder, und zwischen ihnen reckten die riesigen Hirschgeweihe ihre Enden ins Leere, langweilig und spitzig. Es war sehr schwül!

Vor dem alten Freiherrn und seinem Gaste standen hohe silberne Becher, und der tapfere Obristwachtmeister trank tapfer wie allabendlich, paffte kräftig aus seiner langen Thonpfeife und wurde nicht müde, dem Grafen zuzureden.

»Une chaleur étouffante,« bemerkte der Graf soeben.

»Il a fait très chaud toute la journée,« antwortete Sabina.

»Was, Bine?« fragte der Freiherr halblaut, ärgerlich.

»Zum Ersticken heiß, hat der Herr Vetter gesagt. Es war schon den ganzen Tag über so schwül, habe ich gesagt, Herr Vater.«

53 »Na, dann trinkt man eben!« rief der alte Herr und that einen langen Zug. »Ist ja ein außerordentlich trinkbares Wetter, das. Ei, so trinkt doch, Herr Vetter. Aber warum trinkt denn der Herr Vetter nicht mehr?«

»O, vous avez trop de bonté, monsieur mon cousin!« antwortete der Graf.

»Ei, er trinkt ja doch wie 'n Trompeter,« flüsterte das Binchen dem Dorchen ins Ohr. Das Dorchen aber sah das Binchen so flehend an, daß das Binchen die Augen niederschlug und emsig an seiner Arbeit weiterstichelte.

Es war sehr schwül.

Dorchens Wänglein hatten eine bleiche Farbe. Wenn sie aber aufblickte und des Grafen große, schwarze Froschaugen auf sich gerichtet sah, wurde sie immer sehr rot.

Binchen hatte ohnedies sehr rote Wänglein; denn sie war ganz ärgerlich.

›Es ist doch unnötig, daß sich meine Schwester wegen des Grafen so verunköstigt wie das fremde Tier Chamäleon; bald sieht sie aus wie die bleiche Königin aus dem Märlein, bald wie eine Klatschrose; und klatschrosenrote Backen passen nun einmal ganz und gar nicht zu unsern rosaroten Kleidern,‹ dachte sie heimlich und war doch selbst so rot.

Der alte Freiherr hatte sich behaglich zurückgelehnt und paffte mächtige Wolken aus seiner Pfeife: »Könnte mir gar kein trinkbareres Wetter vorstellen. Oder doch – wenn im Spätherbste der Abend frühzeitig hereinbricht und in der warmen Stube die Fenster dick anlaufen – dann enge zusammenrücken mit guten Gesellen und den 54 Becher heben, ja, im Spätherbst ist eine trinkbare Zeit. Könnte mir keine trinkbarere Zeit vorstellen als den Spätherbst im Jahre!«

Aus weiter Ferne war das Horn des Nachtwächters zu vernehmen; der Freiherr paffte und fuhr fort zu philosophieren: »Oder doch: wenn im Winter die Jagdgesellen abends in der warmen Stube enge zusammenrücken und die Becher heben – ja, im Winter ist eine trinkbare Zeit. Könnte mir gar keine trinkbarere Zeit vorstellen als den Winter im Jahre –. Oder doch! Wenn der trockene Märzwind weht und der Märzenstaub wandert auf den Straßen, dann abends in der warmen Stube enge zusammenrücken mit guten Gesellen und den Becher heben – ha, wenn der Märzwind weht, ist eine trinkbare Zeit! Giebt gar keine trinkbarere Zeit, als wenn der Märzwind weht im Jahre!«

Unter den Fenstern tutete der Nachtwächter dreimal und sang mit rauher Stimme in eindringlicher Weise:

»Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen :
Unser Glock' hat eilfe g'schlagen,
Hat eilfe g'schlagen.
Löschet Feuer und Lichter aus
Und habt acht auf euer Haus!
Tut! Tut! Tut!«

»Aber so trinkt doch, Herr Vetter! Ihr trinkt ja gar nicht, Herr Vetter!« rief der Freiherr und war martialisch anzusehen mit seinem großen, schneeweißen Schnurr- und Knebelbarte und seinem kurzgeschorenen, grauen Haupthaare.

»O, vous avez trop de bonté, monsieur mon cousin. Wir sitzen schon so lange, und es geht stark auf Mitternacht,« näselte der Graf.

55 »Ja, dies ist doch die allertrinkbarste Zeit!« rief der Freiherr mit tiefer Ueberzeugung. »Und was habt denn nur ihr, Mädels? Donnerwetter nochmal, wie die Stockfische sitzt ihr da! Müßt eben entschuldigen, Herr Vetter, sind Landfräulein, schlecht und recht. Sind sie allein unter sich, ha, da geht's nicht aus von früh bis nacht, wie auf'm Gänsewasen –«

»Aber –!« kam's zu gleicher Zeit aus zwei niedlichen Mäulchen.

»– reden sich sozusagen das Maul fransig,« fuhr der alte Herr ganz unbeirrt fort. »Sitzt aber 'mal 'n Fremder am Tisch, schwub, ist's, als hätt' sie einer aufs Maul geschlagen, Weibervolk!«

»Aber Herr Vater!« riefen Freifräulein Dorothea und Sabina wie aus einem Munde.

»Maul halten! 's ist ganz wie ich sage.«

»Maul ha–?« fragte Freifräulein Sabina. »Aber Maul, Herr Vater, Maul halten und reden zu gleicher Zeit können wir doch auch nicht?«

»I was, alles zu seiner Zeit! Gelbschnabel!« polterte der Freiherr.

Lächelnd zwirbelte der gelbe Graf an seinem Schnurrbärtchen.

»Na, warte!« murmelte Freifräulein Sabina, und sowie der Vater seine Nase wieder in den Becher steckte, fragte sie: »Sagt, Herr Vetter, ich bin zu neugierig, was habt Ihr denn da für einen großen Klunker am Halse hängen?«

»Kluun–keer?« Der Graf sah sehr hochmütig aus. »Comment appelez-vous donc cela en français – Kluun–keer? Das ist mein Ordenskleinod. J'ai l'honneur d'être de la 56 société - comment appelez-vous donc cela en français – fruchtbringende Gesellßaft?«

»Mädels,« rief der Freiherr, »das ist eine große Ehre. Der Herr Vetter ist 'n Mitglied vom Palmbaum.«

In diesem Augenblicke kam die Muhme, festlich gekleidet, in die Stube. Der Graf sprang auf und verneigte sich tief. Brummend erhob sich der Freiherr.

»Il me tardait de vous voir. Quelle aimable surprise, mon cher cousin!« flötete die alte Dame und reichte dem Gaste die Hand. Dieser drückte einen umständlichen Kuß auf die blitzenden Ringe.

»O, c'est trop de bonté, c'est mille fois trop de bonté, mademoiselle ma cousine. Permettez, que je vous demande de vos nouvelles?«

Die Muhme senkte den Kopf ein wenig zur Seite, machte ein zuckersüßes Gesicht und flüsterte: »O, nicht gut, nicht gut. Merkwürdige Zustände, lieber Graf. Bin heute gar nicht recht wohl. Aber konnte mir's nicht versagen, nur einen Moment, nur in Eure Augen zu sehen! Ach ja, in die Augen der dahingeschiedenen vertrauten Freundin, die Augen, aus denen die goldenen Tage der Jugend emporquellen. Süßes Dorchen – wie sie dasitzt!«

»O, zu viel Güte, zu viel!« murmelte der Graf und verneigte sich.

»Wie singt auch der göttliche Opitz?« rief die alte Dame und verdrehte kunstvoll ihre Augen.

»Heiliger Strohsack!« murmelte der Freiherr und ließ sich sachte nieder vor seinem Becher.

Die Muhme aber begann unbeirrt: 57

»Dies sind die Augen! Was? Die Götter! Sie gewinnen
Der Helden Kraft und Mut mit ihrer Schönheit Macht.
Nicht Götter! Himmel mehr – denn ihrer Farbe Pracht
Ist himmelblau, ihr Lauf ist über Menschen Sinnen!«

»Aber Muhme, der Herr Vetter hat ja schwarze Augen!« platzte Freifräulein Sabina heraus.

»Aber Bine,« rief die Muhme mit starker Mißbilligung, »ich muß dir wieder und immer wieder sagen, die Hände weg von den elfenhaften Kindern des Dichters und seiner Muse!«

»Ich finde diese Poesie erhaben ßön!« näselte der Graf.

»Süßes Dorchen!« wandte sich die alte Dame an die Nichte und lächelte ihr ermunternd zu. Diese getraute sich nicht die Augen aufzuschlagen.

»Setz dich oder setz dich nicht, Ursel!« brummte der Freiherr.

Die Muhme strafte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, den er aber nicht sah; doch plötzlich ging es wie schmerzliches Zucken über ihr Gesicht: »Mais excusez, monsieur mon cousin: es wird – mir – wieder recht – unwohl. Excusez, permettez, que je me retire!« Und damit bewegte sie sich schleunig rückwärts zur Thür hinaus.

Der Graf stand inmitten der Stube und starrte ihr verblüfft nach: »La visite a été bien courte!«

»Setzt Euch, wenn's gefällig ist!« brummte der Freiherr. »Sie wird schon wiederkommen. – Aber, wenn mir recht ist, so seid Ihr ja doch als Mitglied vom Palmbaum sozusagen verpflichtet, immer alles auf gut Deutsch an den Mann zu bringen?«

58 Der Graf setzte sich, verzog das Gesicht und antwortete nachlässig: »Jeder Gesellßafter hat sich ehrbar, nützlich und ergötzlich zu bezeigen und die hochdeutße Sprache in ihrem rechten Wesen und Stande, ohne Einmissung fremder Wörter zu erhalten, so befehlen die Statuten.«

»Das ist 'n gesundes Gesetz. Merkt's euch, Mädels, mit euerm welschen Piepsen!« rief der Freiherr, und seine Stimme dröhnte. »Aber warum befolgt Ihr's dann nicht, Herr Vetter?«

Der Graf lachte spöttisch: ›»Les fous serrent les noeuds, et les sages les dénouent. Wir haben wenig deutß gesprochen bei meiner Reception, nicht daß ich mir erinnern könnte, aber um so deutßer getrunken, meiner Treu! Ueberhaupt, wenn man so lange in Paris gelebt hat, pardon, monsieur mon cousin, dann eignet der deutßen Sprache eine verzweifelte odeur de la vacherie - comment appelez-vous donc cela? – Kuhstallodeur!«

Der Freiherr brummte: »Kuhstall?« Und Freifräulein Sabina fuhr auf: »Ei, hat nicht einer vom Palmbaum gesungen –

»Seht eure schönste Sprach', ein Zeichen der Freiheiten,
Voll Pracht, voll Süßigkeit und voll Glückseligkeiten,
Die jemals eine Sprach' gehabt hat in der Welt,
Wird so geschändet und von euch hintangestellt!

Wer Fremdes kann mit halber Zunge lallen,
Der ist gar hoch geehrt. Es kitzelt euch vor allen,
Wenn ihr aus Unverstand die deutsche Zier beschmiert,
Aufsuchend fremden Kot, und euch bei euch verliert.«

Sie sah den Grafen mit blitzenden Augen an. »Abgeschmackter als heute ist mir das welsche Wesen in meinem ganzen Leben noch nicht erschienen. Nicht, Dorchen?«

59 Der Graf sagte zuerst kein Wort, sondern starrte ihr mit einem so frechen Lächeln ins Gesicht, daß sie die Augen senkte. »Eh – eh! Meiner Treu, ganz heißblütige Patriotin. Eh – eh – na, ßon gut. Aber auch die größte Hitze kühlt sich ab. Doch Kuhstallsprache, doch, doch!«

»Da führt aber, wenn mir recht ist, jedes Mitglied einen besonderen Namen – nicht?« fragte nun Freifräulein Dorothea schüchtern.

»Certainement, ma chère. Je suis heureux«« – er warf einen Blick auf den Freiherrn –, »ich schätze mich glücklich, Euch Auskunft geben zu können: jeder bekommt einen Namen, eine Pflanze und einen Spruch auf seinen Lebensweg.«

»Und wie lautet dann Euer Name, Herr Vetter?« fragte Freifräulein Sabina und sah nicht von ihrer Arbeit auf.

»Der Mildanblinkende,« sagte der Graf mit vornehmem Lächeln und lehnte sich zurück.

»Aber das ist ja der abnehmende Mond – ich finde das außerordentlich passend,« platzte Freifräulein Sabina heraus.

»Nicht daß ich wüßte!« murmelte der Graf und fuhr sachte über seine rabenschwarze, gewaltige Staatsperücke. »Das Wort hat eine ganz andre Bedeutung.«

Die Thür öffnete sich, und der alte Lakai trat, ehrerbietig flüsternd, an den Stuhl seines Herrn.

»Zum Kuckuck! Der Amormio?« fuhr der Freiherr auf. »Ich komme, ich komme! Decken drauf! 'raus aus dem Stall – marsch, marsch! 60 Entschuldigt mich, Herr Vetter, es ist mir 'n Roß krank geworden.«

Und eilig ging er aus der Stube.

*

»Eh, eh,« flüsterte der Graf und zwinkerte Dorchen vertraulich zu, »je comprends, monsieur mon cousin, il n'a jamais parlé français -? Oder doch, doch? Alles ausgeßwitzt? Fatal! Verstehe, verstehe vollkommen.«

Freifräulein Dorothea wurde sehr rot und bückte sich tiefer auf ihre Arbeit.

Freifräulein Sabina schnitt ein grimmiges Gesicht, als wollte sie sagen: »Was brauchst du dich lustig zu machen über meinen guten alten Herrn Vater!« Und sie antwortete sehr bestimmt: »O, Ihr täuscht Euch, Herr Vetter, unser Herr Vater kann alles, was er will, denn er ist 'n heroischer Mann, der diesen und jenen noch heute zwischen den Fingern zerdrücken könnte. Und wenn er sich der französischen Sprache nicht bedient, so ist's eben, weil er das Welsche haßt. Und er hat recht, ich hasse es auch.«

»Eh – eh!« machte der Graf. »Ist aber doch eine erhaben ßöne Sprache!«

Sabina schwieg, der Graf trank, Freifräulein Dorothea aber nahm einen sichtlichen Anlauf: »Ihr habt lange in Paris gelebt, Herr Vetter?«

»Jahr und Tag.«

»Ich – ich denke mir das Leben in einer so entsetzlich großen Stadt schrecklich anregend für Geist und Gemüt.«

Sie warf einen Seitenblick auf ihre Schwester, als wollte sie sagen: »Sieh nur, wie tapfer ich 61 bin!« Freifräulein Sabina aber wandte keinen Blick von den Froschaugen. ›Das war ja doch ganz nett, was Dorchen gerade gesagt hat,‹ dachte sie; ›aber warum nun der Kerl nichts antwortet als ››eh, eh‹‹ und 'n Gesicht macht, daß man ihm, ratsch, 'reinfahren möchte?‹

»Von wem habt Ihr den herrlichen Perlenkollier?« fragte der Graf das Freifräulein Dorothea.

»Von meiner seligen Mutter, Herr Vetter,« antwortete Dorchen.

»Eh – eh – merveilleux!«

»Könnt Ihr Euch meiner seligen Mutter eigentlich noch erinnern?« fragte sie nun ganz kühn und sah den Grafen zutraulich an. »Ihr seid ja doch nur als kleiner Junge 'mal bei uns gewesen, höre ich.«

Der Graf verneinte: »Seltsamerweise jede Erinnerung an jenen Aufenthalt verloren, obwohl sonst sehr gutes Gedächtnis. Nur ganz hochbegabte Menßen haben Erinnerungen aus ihrem dritten Lebensjahre. Ich sehe mich heute noch als Zweijährigen. – Aber, was ich sagen wollte, jedermann spricht mit Ehrerbietung von der Seligen – eh.« Hier verneigte er sich graziös.

Dorchens Augen leuchteten bei den letzten Worten des Grafen auf: »O, wie freundlich, Herr Vetter. Ja, unsre Mutter! Dürft's glauben, wenn irgend etwas gut ist an uns, die Mutter hat's uns eingepflanzt. Und wie liebreich war sie gegen jedermann! Nie ein Scheltwort, und doch ging alles wie am Schnürchen. Wäre aber auch der letzte Knecht für die Frau Mutter ins Feuer gesprungen. Da fragt nur den alten Peter, 62 der wird's Euch sagen! – Und wenn ich vielleicht, nein, sicher nicht so lustig bin wie die Jungfrauen in Paris« – Dorchen lächelte schalkhaft –, »so macht's,« fuhr sie traurig fort, »weil mir die Mutter gar früh gestorben ist. Hab' ja dann auch seither immer ein Mütterchen machen müssen für unser Binchen.«

Freifräulein Sabina legte liebkosend den Arm um die Taille der Schwester: »Gutes, liebes Dorchen – das ist aber jetzt doch schon lange nicht mehr nötig!«

»Und die Mutter ist auch noch gar nicht ganz von uns gegangen,« fuhr Dorchen mit frohem Lächeln fort. »Dürft's glauben! Freilich, sie schläft ja da drüben in der Kirche unter dem schweren Steine – aber was thut's? Sie hat mich schon oft besucht in der Nacht vom Himmel her, und da steht sie dann immer so groß und schön an meinem Bette, spricht mit mir und legt mir die Hand, die weiche, kühle Hand auf die Stirn, daß ich beim Erwachen bitterlich weinen muß, aber doch auch wieder so glücklich bin. – Und Ihr wißt ja gar nicht wie sie ausgesehen hat! Geh Binchen, hol doch einmal das schöne Bild!«

Widerwillig erhob sich Freifräulein Sabina, trat an die Wand und nahm ein kleines Oelbild herunter.

Der Graf aber rückte hin und her auf seinem Stuhle, zwirbelte das Bärtchen und sagte: »Eh – eh – ist aber doch etwas erßrecklich Unheimliches um solche Gespenstererßeinungen!«

»Unheimlich, wenn einen die Mutter besucht?« Dorchen machte große, verwunderte Augen.

»Eh, was ich nicht fassen kann« – der Graf 63 lächelte frech –, »in die Arme fassen, en un mot, das ist 'n Gespenst.«

Dorchen sprang auf, nahm der Schwester das Bild ab und reichte es dem Grafen mit strahlendem Gesichtchen: »O, kein Gespenst!«

Der Graf nahm das Bild, besah sich's und – brach in ein Gelächter aus.

Dorchen wurde totenbleich, preßte die Hand aufs Herz und blickte entsetzt auf den Grafen. Freifräulein Sabina sagte drohend: »'s ist unsre Mutter, Herr Graf!«

Der Graf meckerte und betrachtete unverwandt das Bild.

Mit bebenden Lippen flüsterte Dorchen: »Meine Mutter ist's!«

Sabina ballte die Hände.

Da sagte der Graf: »Was man doch Anno dazumal für ßrecklich komiße Halskrausen getragen hat! Comment appelez-vous donc cela - épouvantail? Vogelßeuche!«

Er blickte lachend auf und sah in ein totenbleiches und in ein glührotes Gesicht und funkelnde Augen.

»Eh – eh,« stotterte er, »muß übrigens prachtvolles Weib gewesen sein, wunderßöne Stirn, ßwellende Lippen, feine Nüstern – diese – diese Szultern – eh!«

Freifräulein Sabina riß ihm das Bild aus den Händen und sagte: »Pfui Teufel!«

Dorchen drückte, laut schluchzend, ihr Tüchlein ans Gesicht und ging ins Nebenzimmer.

»Na, zum Donner, was hat denn das Mädel? Hält ihr Tüchel an die Nase und rotzelt!« sagte der Freiherr in der Thür.

64 Der Graf stotterte: »Die teure Cousine – eh – die Teure hat, eh – sie hat soeben über heftigen Sßnupfen geklagt.«

»Na, so geschwind angeflogen, mir nichts, dir nichts, ihm nichts? Und ist ja doch nicht Heuernte, da kriegt man gerne solch geschwinden Schnupfen.« Der Freiherr lachte behaglich. »Weibervolk! Na, der Amormio! Pah, 'n bißchen Kolik, sonst nichts. Aber merkwürdig – lügen muß der Pöbel immer, gerade als ob er's zum Vergnügen thäte. Frag' ich den Stallkerl so nebenher: ›Bist du den ganzen Abend im Stall gewesen?‹ Und wie ich frage, fällt mir ein, vor 'ner halben Stunde hab' ich ihn ja in der Küche 'rumtalken sehen. Natürlich sagt er: ›Seit dem Futtern keinen Schritt aus 'm Stall gekommen.‹ Schrei ich: ›Mußt ja gar nicht im Stall bleiben! Aber nur lügen!‹ Und hau' ihm eine hinters Ohr, daß er aufs Stroh kugelt. Aber nur lügen, das verfluchte Lügen! Ist ihm offenbar nicht wohl, wenn er nicht lügen kann, der Pöbel! – Na, Herr Vetter, nu wollen wir aber –! Giebt doch gar keine trinkbarere Zeit als solch heiße Sommernacht. – Kommt das Mädel nicht, die Dore?«

Sabina hatte das Bild der Mutter bedächtig an die Wand gehängt. Jetzt ging sie langsam heran.

»Ich will's Euch sagen, Herr Vater: sie hat eine Perle verworfen.«

»Verloren?« fragte der Freiherr ärgerlich.

»Verloren!«

»Ja, glaubt ihr denn, die Perlen wachsen auf'm Erbsenacker? Na, daß sie nur nicht 65 zertreten wird, die Perle!« rief der Alte und bückte sich ein wenig.

Eilig bückte sich der Graf: »Eine Perle? Habe gar keine Ahnung gehabt.«

»Ist wohl schon zertreten,« meinte Sabina ernsthaft.

»Na, setzen wir uns, Herr Vetter! – Perlen besser in acht nehmen!« sagte der Freiherr mit erhobener Stimme.

»Das wäre wohl schon in der Bibel zu lesen, Herr Vater.«

»Morgen suchen, Bine!« befahl der Alte. »Na, nu wollen wir aber –! Schmeckt Euch der Wein, Herr Vetter? Giebt doch gar keine trinkbarere –«

Eilig glitt Peter, der Lakai, in die Stube: »Halten zu Gnaden, Herr Baron, nu liegt der Amormio auf dem Rücken und schlägt mit allen vieren.«

»Ei, da soll doch –!« Der Freiherr sprang auf. »Potz Stern! Entschuldigt mich zum zweitenmal, Herr Graf! Wo bleibt denn aber die Dore? Bine, hersetzen, Diskurs führen! Potz Strahl! Potz hundert Gift! Ich bin gleich wieder da.«

»Mit Eurer Erlaubnis!« rief der Graf und eilte ihm nach. »Es ist hier augenblicklich so ßwül – 'n wenig frisse Luft ßöpfen. Interessiere mich ungeheuer für kranke Rösser!«

*

Freifräulein Sabina und Peter, der alte, eisgraue Lakai, waren allein in der Stube.

Freifräulein Sabina legte die Hände auf den 66 Rücken und ging langsam zu dem alten Mann, der gelangweilt am Fenster lehnte: »Du, Peter!«

»Euer Gnädchen befehlen?« sagte der Lakai und richtete sich ein wenig auf.

»Du, Peter, meinst du nicht, die zwei besaufen sich?« fragte sie sehr energisch.

»Seine Gnaden der Herr Baron ergötzen sich an einem ergiebigen Abendtrunke,« antwortete das Faktotum vorsichtig und machte dazu ein ehrerbietiges Gesicht; »wohl bekomm's ihm! Der andre aber« – der Alte zog nun sein glattes, graues Gesicht in verächtliche Falten –, »na, da ist's vorläufig noch hm – der andre, mit Respekt vor Euer Gnädchen, der besäuft sich wie – wie 'n –«

»Sßwein!« sagte Freifräulein Sabina und zeigte die glitzernden Zähnchen. »Und wir müssen zugucken, Peter!« Sie stampfte.

»Zugucken,« bestätigte der Alte und zuckte mit den Achseln.

»Meinst du nicht auch, Peter, es ist ein Unglück, daß wir armen Dinger keine Mutter mehr haben?« fragte das Freifräulein und sah den Alten ernsthaft an.

»Ein schweres Unglück, Euer Gnädchen,« sagte der Lakai. Aber es war, als stünde nun kein Lakai da, sondern es stand nur ein alter, ehrlicher, treuer Mensch vor einem jungen, schönen, übermütigen Ding, das plötzlich etwas ernsthafte Anwandlungen hatte.

Doch dies junge Ding warf schon wieder sein Köpflein in den Nacken und sagte mit einer großartigen Betonung: »C'est dans les grands malheurs, qu'on apprend ses ressources!«

67 »Da haben Euer Gnädchen recht,« antwortete der Lakai und lächelte wohlwollend. »Not bricht Eisen und so weiter.«

»Aber Peter, du bist wirklich – ach, ich wollte ja niemals mehr französisch –, aber Peter, du kannst doch nicht französisch, oder du bist wirklich, der Herr Vater hat recht, 'n alter Duckmäuser bist du!«

»I, wo werd' ich!« beruhigte sie der Bediente. »So 'n Lakai darf doch beileibe nicht französisch verstehen, da wär's ja aus. Ich habe das wohl auch nur so erraten an einer gewissen Großartigkeit in Euer Gnädchen Mienen und Gebärden.«

»Peter?!« Freifräulein Sabina hob den Zeigefinger.

»I wo!« sagte der Alte mit treuherzigem Gesicht. »Aber, Euer Gnädchen, wenn die Frag' erlaubt wäre – hm – Euer Gnädchen, was da unser lieb's, gut's Dorchen ist, wollt' sagen, das gnädige Freifräulein Dorothea, und der – der – na, der Graf – hm! Euer Gnädchen, is es da wirklich schon in Richtigkeit?«

Der alte Mann machte ein sehr bekümmertes, Freifräulein Sabina ein würdevolles und wohlwollendes Gesicht. »Aber ich bitte dich, Peter, bedenke doch, ich kann doch – das sind ja gewissermaßen unsre intimsten Familienangelegenheiten – über die kann ich doch nicht mit dir plauschen, Peter!«

»Verzeihen nur Euer Gnädchen, es war nicht bös gemeint; aber unsereiner gehört doch auch so 'n bißchen zur Familie, wie – nu, wie sag' ich gleich? – wie der alte Lehnstuhl vom gnädigen Herrn, und unsereiner hat doch auch 'n Herz 68 unterm Brustlatz, und in dem Herzen macht er sich seine Gedanken, und in dem Herzen graust's ihm, Euer Gnädchen.«

»Graust's ihm?« sagte Freifräulein Sabina und nickte etliche Male. Dann fragte sie plötzlich: »Aber eines, Peter, ist mir wirklich mißfällig – warum sagst du nur immer zu mir ›Euer Gnädchen‹?«

»I wo!« murmelte der Alte.

»Nein, Peter,« sagte das Freifräulein sehr energisch und hatte ein hoheitsvolles Aussehen, »das ist einfach despektierlich und gar nirgends gebräuchlich!«

»I, wo!«

»Nein, Peter, das ist, wie ich sage. Es klingt auch so dumm: Gnädchen, Gnädchen, fast wie Mädchen, Mädchen. Ich verlange deinen vollen Respekt!«

»I, wo werd' ich, Euer Gnaden?« sagte der Alte und lachte ein ganz klein wenig. »Das kommt mir nur immer so in den Mund, ich denke mir gar nichts Besonderes dabei.«

»Du sollst dir aber sehr wohl etwas dabei denken! Was nützt mich sonst der Respekt?« behauptete Freifräulein Sabina.

»Ei freilich denk' ich etwas dabei, Euer Gnaden, ich werd' eben dabei an die Zeit denken, wo ich Euer Gnaden noch als eine ganz kleine, kleine, wichtige Familienangelegenheit oft auf diesen meinen Armen getragen habe – so groß!« Der Alte streckte die runzlige Rechte aus, schlug mit der Linken auf das Gelenk, als wollte er die Hand abhauen, und wiederholte treuherzig: »Nur so groß!«

69 »Nur so groß war das Freifräulein niemals,« entschied Sabina.

Der Alte schmunzelte und strich mit der Hand über seinen Mund. »Eiapopeia!«

Freifräulein Sabina stampfte mit dem zierlichen Füßchen: »Ueberhaupt, Peter, wenn es auch vielleicht einmal so gewesen sein sollte oder ähnlich, so mußt du's eben von jetzt an einfach vergessen. Verstanden?«

»I wo, Euer Gnäd – wollt' sagen Euer Gnaden, wie werd' ich das? So 'was kann doch unsereiner gar nicht vergessen, so 'n kleines, liebes Dingelchen!«

»Du mußt, Peter!«

»I was, ich hab's ja schon vergessen.«

»Ganz?«

»Ganz, Euer Gnaden.«

»Peter, kannst du schweigen?« fragte Freifräulein Sabina und kreuzte die Arme unter der Brust.

»Wie Euer Gnaden Papagei, wenn er frißt,« beteuerte Peter.

»Ach was, Peter, du bist unausstehlich! Kannst du über etwas Ernsthaftes schweigen? Es ist etwas ganz Ernsthaftes.«

»Glaub's nicht.«

»Aber Peter!«

»Aber, Euer Gnaden, 'was Ernsthaftes haben mir Euer Gnaden ja noch nie anvertraut.«

»Peter, von heute ab wird unser Verhältnis überhaupt ein ganz andres, es wird eben einfach ein ernsthaftes!«

»Wie Euer Gnaden befehlen,« sagte der Lakai und fuhr sich wiederum über den Mund.

70 »Peter, magst du mal 'n Windlicht nehmen und hinuntergehen – kannst ja den Anton derweil zum Aufwarten schicken –, weißt du, auf die Insel hinuntergehen –?«

»Da ist Euer Gnaden sicherlich etwas liegen geblieben. Das wollen wir gleich haben,« sagte der Lakai.

»Aber, Peter, so laß mich doch ausreden! Was hilft's mir, wenn du sagst ›Euer Gnaden‹ hin und ›Euer Gnaden‹ her, als wär' ich eine alte Schachtel, und hast doch nicht den richtigen Respekt?«

»I wo, Euer Gnädchen!«

»Also, Peter, da liegt rechter Hand von der Brücke im Graf der Faquin, du weißt doch, der kleine Türke mit dem dummen Gesicht, nach dem der Herr Vater immer sticht auf der Reitbahn, der neulich abgebrochen ist. Und den bringst du mir ganz heimlich!«

Der Alte verzog seine Lippen.

»Ernsthaft, Peter, bitt' ich mir aus!«

»Aber, Euer Gnaden, das ist doch nichts Ernsthaftes!«

Freifräulein Sabina stampfte: »Und den bringst du mir ganz ernsthaft und heimlich. Auf der Stiege warte ich, weißt du, auf der hinteren Stiege in der vierten Nische, dann murmelst du nur: ›Vollzogen!‹ Ich gehe voran, du folgst mir stumm auf dem Fuße, wohin ich gehe, thust, was ich sage, fragst gar nichts –!«

»Euer Gnaden« – der Lakai machte ein mißtrauisches Gesicht –, »hat die Sache, ich meine nur, ob die Sache 'was zu thun hat mit dem gnädigen Herrn Vater –?«

71 »Nein, Peter,« beruhigte ihn das Freifräulein.

»Na, dann nur immer voran, Euer Gnaden! Und wenn Euer Gnaden zuletzt aufs Dach hinausspazieren, ich spaziere mit meinem Türken hinterdrein. Das giebt 'n Mordspaß!«

»Peter, ich habe dir wohl schon gesagt, es handelt sich um etwas Ernsthaftes. Und jetzt geh!«

»Euer Gnaden, nur noch eins, hm. Euer Gnaden, der – der Herr Graf – nichts für ungut, der ist – Euer Gnaden, gefällt Euch der Herr Graf?«

»Dem Herrn Vater gefällt er ganz ausgezeichnet, Peter,« sagte das Freifräulein und lächelte pfiffig. »Ich hab's schon oft von ihm gehört, wie gut er sich unterhalte mit dem Grafen.«

»Seine Gnaden der Herr Baron,« erklärte der Lakai, »erzählen alte Kriegsgeschichten, und der andre muß ihm stillhalten. Ob er nun dabei so 'n Gesicht macht oder so 'n Gesicht, ist Seiner Gnaden ein Ding. Und wenn dann Seine Gnaden zu Bette gehen, haben sie sich ausgesprochen und also eine angenehme Empfindung und sagen: ›Feiner Kavalier, der Graf!‹ – Das ist's. Aber Euer Gnaden dürfen's mir glauben, der Graf ist 'n – ist 'n ganz häßlicher Mensch.«

»Das sind alle Mannsleute,« entschied das Freifräulein.

»I wo, Euer Gnaden, so arg ist's ja doch nicht. Aber der Graf, Euer Gnaden – in der Kutscherstube weiß man oft mehr als im Herrschaftszimmer –, ich kann's ja nicht deutlich sagen, Gott bewahre mich, aber es ist mir immer, als müßt' ich's doch jemand sagen, was ich weiß. 72 Nicht mit der Beißzange möcht' ich ihn anrühren, den!«

»Und gelt, Peter,« fragte Binchen und schüttelte sich, »wenn die nu einander geheiratet haben, ich meine nur – Peter, wenn er dann sagt: ›Dorrotheea, 'n Kuß!‹ – schwub, muß sie laufen und muß ihm seinen Kuß geben? Muß –?«

»Muß, Euer Gnaden.«

»Und wenn er dann sagt: ›Dorrotheea, noch 'n Kuß!‹ schwub – muß –?«

»Muß!«

»Und wenn sie nu nicht will, Peter?«

»Muß!«

»So sag's dem Herrn Vater!« schlug das Freifräulein ängstlich vor.

»Daß er mir 'n alten Schuh an den Kopf wirft!« sagte der Lakai im Tone tiefster Ueberzeugung. »Nein, Euer Gnaden! – Ja, wenn die selige Frau Mutter noch leben thun thäte, zu der ging' ich so zwischen Lichten und spräche: ›Euer Gnaden,‹ spräch' ich, ›entschuldigen, aber das ist nicht nur 'n häßlicher Mensch, nein, das ist 'n durch und durch wüster Kerl, Euer Gnaden.‹«

Freifräulein Sabina hatte die Händchen wieder auf den Rücken gelegt und sah dem Alten steif ins Gesicht: »Und wenn ich die gnädige Frau Mutter wäre, so thäte ich antworten: ›Peter, das alles habe ich ja doch selber schon lange gesehen mit meinen leibhaftigen Augen. Da brauch' ich doch dich nicht 'zu, alter Peter!‹«

»Euer Gnaden,« sagte der Lakai, legte die Hand aufs Herz und verbeugte sich tief, »wenn ich Euer Gnaden vielleicht irgend einmal als ein 73 kleines Dingelchen gesehen hätte, das hätt' ich jetzt wahrhaftig rein ganz vergessen.«

»Ich wollt's dir auch geraten haben!« sagte Freifräulein Sabina.


»Ganz die selige Gnädige!« murmelte der Alte und folgte seiner Herrin durch die Thür. »Aber wenn ich mir nu vorstelle, es käme eines Tages auch so 'n Kerl angeritten, so 'n abgelebter Kater, und streckte seine schmutzige Pfote aus und sagte: ›Das Binchen? Ei, nur her damit, das ist nach all den andern gerade noch gut genug zum Heiraten!‹ – raufen könnt' ich mit einem solchen. – Aber was das Gnädchen nur will mit dem angemalenen Kerle, dem Türken?« –

Binchen huschte durch die dunkeln Gänge der Burg bis zur hinteren Stiege im alten, engen Turm. Da drückte sie sich in die vierte Nische und wartete.

*

Leise öffnete sich die Thür der Nebenstube und Freifräulein Dorothea trat auf die Schwelle: »Gute Mutter, nicht einmal dein Bild soll er noch sehen! Ich will's von der Wand nehmen, er darf's nicht beschmutzen mit seinen garstigen Augen!« Und sie eilte auf flüchtigen Sohlen durch das Gemach.

»Süßes Dorchen!«

Erschrocken stand das Freifräulein stille und wandte sich zur Thür.

»Süßes Dorchen!« flötete die Muhme und trat vom Korridor herein. »Nur 'n Augenblick, Ach, mir ist's noch sehr unwohl. Aber – nu. 74 Dorchen, süßes Dorchen, wie ist's dir denn zu Mute?«

»Ach, Muhme–!« stöhnte Freifräulein Dorothea und rang die Hände.

»Ganz so, ganz so, süßes Dorchen!« rief die alte Dame hocherfreut in ihren höchsten Tönen. »Anders könnt' es gar nicht sein. O, ich kenne das! Wie singt doch der Dichter? Nu – Dorchen?«

»Ach, ich weiß es ja nicht, Muhme!«

»Nicht, süßes Dorchen? Ach, alle Dichter singen von diesen Zuständen der Seele, alle! Aber, was ich sagen will, Dorchen – horch, sie kommen! – es ist mir noch immer nicht wohl. Diskurieren, Dorchen, immer, immer, immerfort, süßes Dorchen – immer, immer, immerfort –!«

Vom Korridor ertönte lautes Sprechen. Mit einem Aufschrei stürzte Freifräulein Dorothea ins Nebengemach; hinter ihr die Muhme.

Ein Lakai öffnete die Thür.

»Na, ich denke, es wird sich machen bis morgen,« sagte der Freiherr. »Aber nu hört weiter, Herr Vetter! Ich das sehen und mit meinen Reitern 'raus aus dem Busch, 'raus wie's Donnerwetter und – na, zum Henker –!«

Eine Ratte war über die Dielen gehuscht.

»Habt Ihr's gesehen, Herr Vetter?« rief der Graf und kletterte auf den nächsten Stuhl und machte ein entsetztes Gesicht.

»Wieder mal so 'n verfluchtes Vieh?« brummte der alte Herr und begab sich auf die Rattenjagd. »Verfluchtes Vieh!« wiederholte er keuchend und patschte in seine Hände. »Na da!« Die Ratte pfiff unter seinem schweren Stiefel. »Da – da 75 – nu langt's!« rief der Freiherr und stieß den Kadaver in die Mitte der Stube. »'s ist eigentlich 'n Kummer und 'n Spott –« keuchte er, da fiel sein Blick von ungefähr auf den Grafen: »Aber wo steht Ihr denn, Herr Vetter?«

Mit verlegenem Lachen stieg der Graf umständlich vom Stuhle: »Nur – eh – eh – nur um Euch frei Feld zu lassen. Immer frei Feld, ist meine Losung. Eh – großartige Jagd gewesen« – er lachte gezwungen – »Hetzjagd – eh!«

Der alte Herr sah seinen Gast etwas bedenklich an. Und ärgerlich vollendete er: »'n Spott ist's für den Hausherrn. Lebe sozusagen im dreißigjährigen Krieg mit den Viechern, und immer wenn ich meine, nun sind sie alle – da! Ist eben recht lange Zeit öde gestanden, das alte Gemäuer. 'n rechter Aerger. Hm, was müßt Ihr Euch denken! Aber beliebt's Euch, so setzen wir uns. Und trinkt doch, Herr Vetter! – Ja, das dürft Ihr mir glauben – in meinem Leben vergesse ich die Affaire von damals nicht. Habe auch heute noch die zerschossenen Stiefel, die muß ich Euch gleich morgen zeigen. Also – ich das sehen und aber auch gleich mit meinen Reitern 'raus aus –«

»Na, was liegt denn da?« fragte Freifräulein Sabina unter der offenen Thür und wies auf die Ratte.

»Das Vieh – es ist 'n Spott!« brummte der Freiherr.

»Eine Ratte?« Freifräulein Sabina schloß die Thür.

»Ratten sind ßändliche Tiere,« bemerkte der Graf.

76 »O – Ratten?« fragte Binchen und hob das tote Tier mit spitzen Fingern am Schweife auf, lachte leise und trat nahe an den Grafen heran. »Bei uns wimmelt's von Ratten.«

»Eh – eh –!« lallte der Graf und versuchte zu lächeln, bog sich zurück, so weit er konnte, und machte ein entsetztes Gesicht. Immer näher hielt ihm Freifräulein Sabina den Kadaver an die Nase.

»Na, ich bitt' mir's aus, Bine! Wimmeln? Dann und wann eine. Aber wirf das Vieh zum Fenster hinaus!«

»Dann und wann?« Freifräulein Sabina ließ die Ratte pendeln und ging langsam zum Fenster. »In allen Gängen, in allen Kammern, in allen Stuben, in allen Betten – o, ich habe sie ganz gern, sind putzige Tierlein.«

»Eh, eh –!« machte der Graf und zog sein Taschentuch.

»Und erst das Dorchen, Herr – Graf! Das Dorchen herzt so 'n junges Rättchen wie – wie 'n Schoßhündchen,« lachte Freifräulein Sabina.

»Schnickschnack!« brummte der Freiherr.

»Das Dorchen –?« stieß der Graf hervor.

»Das Freifräulein Dorothea, Herr – Graf!« korrigierte Binchen mit Nachdruck und warf die Ratte aus dem Fenster. »Darf ich mich noch 'n wenig hersetzen, Herr Vater?«

»Na und ob!« knurrte der Freiherr. »Wo ist denn aber die andre?«

»Die andre ist wirklich ganz verschnupft, Herr Vater.«

»Weibervolk! – Bine, stopf mir eine frische Pfeife!«

77 »Gleich, Herr Vater!«

»Bedaure unendlich, die gnädige Cousine – verßnupft? Eh –!« murmelte der Graf.

Sabina stopfte eifrig des Vaters Pfeife: »Verßnupft, Herr – Graf!«

»Na, was ich habe sagen wollen, Herr Vetter,« begann der alte Herr, »ich das sehen und mit meinen Dragonern – ssst – drauf, und eh's die andern ahnen – niedergeritten, wie 'n Hagelschauer über 'n Kornfeld geht –!«

»Eminente Bravour!« lallte der Graf.

»Nun aber ich den Säbel hoch –« rief der Freiherr mit blitzenden Augen. »Anzünden, Bine!«

Freifräulein Sabina entzündete an der Kerze den Fidibus und steckte die Pfeife in Brand.

Unverwandt starrte ihr der Graf ins Gesicht: »Eh – eh – magnifique! Seh' ich für mein Leben gern, wenn ßöne Weiber – pardon – wenn ßöne Jungfern rauchen.«

»Gieb her, Bine!« sagte der Freiherr und lehnte sich zurück. »Nu also, ich den Säbel hoch –«

»Herr Vater,« unterbrach ihn die Tochter, »habt Ihr dem Grafen schon die Geschichte vom Franzosen erzählt? Ihr wißt ja, von dem Franzosen, den Ihr mal mitten im kalten Winter des Nachts drüben aus den Marodebrüdern 'rausgehauen habt – wann war's doch? Wohl im letzten Kriegsjahr? Die Geschichte von dem todwunden Franzosen – wißt Ihr's denn nimmer?«

»Ach laß!« brummte der alte Herr. »Ich den Säbel hoch und –«

»O nein, Herr Vater, die Geschichte von dem todwunden Franzosen – das war eine 78 Heldenthat, Herr Vater. Die selige Frau Mutter hat oft davon gesprochen. Der todwunde Franzose, Herr Vater, den man drei Monate gepflegt –«

»Ach laß!«

»– gepflegt hat, Ihr wißt ja, droben in der grünen Stube, wo der Herr – Graf heute nacht schlafen wird!«

»Ach laß!« knurrte der Freiherr. »Ich den Säbel hoch –«

»Was – wo – ich –?« fragte der Graf und machte ein entsetztes Gesicht.

»Ja, so ist der Herr Vater!« lachte Binchen. »Was er zusammengeritten und in die Luft gesprengt und niedergeschossen hat, das erzählt er haarklein; die Geschichte aber, die heroische That, wie er allein gegen vier den armen Franzosen herausgehauen hat – ja, ja! Freilich, geholfen hat's ihm nichts, dem armen Kerl, er hat doch sterben müssen an seiner schrecklichen Kopfwunde –«

»Ach, das ist aber doch ganz und gar nicht interessant,« brach der Freiherr los. »Ich wollte dem Herrn Vetter gerade noch erzählen, wie ich dann habe Kehrt machen lassen und wie dann aus der Schlucht 'n ganzes Regiment –«

»Und in meinem Bett ist der Menß gestorben?« stotterte der Graf.

Binchen streifte mit einem funkelnden Blick über ihn: »Beruhigt Euch, Herr – Graf, das Bett ist tadellos überzogen, und die Geschichte ist auch schon ihre achtzehn Jahre alt. Interessant aber ist sie doch, Herr Vater, das könnt Ihr nicht leugnen. Und wenn er jetzt nur wenigstens im Grabe Ruhe hätte, der arme Tropf. So aber – na – mit den Ratten um die Wette –!«

79 »Dummes Zeug!« knurrte der Freiherr.

»Aber, Herr Vater, an wem ist er denn noch nicht vorbeigehuscht – mit den kohlschwarzen Augen, mit dem blutbefleckten Tuche um den Kopf, mit dem eiskalten Atem?«

»Erßienen?« fragte der Graf mit schwimmenden Augen.

»Ammenmärchen!« grollte der alte Soldat. »Wenn du nichts Gescheiteres weißt, kannst du's bei dir behalten! Also, ich sehen, daß da aus der Schlucht 'n ganzes frisches Regiment hervorbricht –!«

Freifräulein Sabina erhob sich: »Verzeiht, Herr Vater, ich möchte nun doch das Dorchen nicht länger allein lassen. Gute Nacht!«

»Na, zum Donnerwetter auch,« grollte der paffende Freiherr, »wenn man keinen ganzen Satz mehr aussprechen kann!«

Binchen knickste und küßte Vaters Hand: »Gute Nacht, Herr Vater, liebes Herzensväterchen!«

Dann verneigte sich das Freifräulein leicht vor dem Grafen, der in ehrerbietiger Stellung schwankend hinter seinem Stuhle stand: »Au plaisir de vous revoir monsieur mon - comte!«

Und gerade als sie das qualmerfüllte Gemach verließ, tutete drunten im Dorfe der Nachtwächter und sang mit rauher Stimme:

»Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen:
Unser Glock' hat zwölfe g'schlagen.
Zwölf Uhr ist das Ziel der Zeit,
Mensch, o pfleg die Mäßigkeit!«

»Nein, Binchen, ich weiß gar nicht, was du hast! Nun dauert's schon eine halbe Stunde. Warum 80 muß ich denn noch aufbleiben?« klagte Dorchen droben im gemeinsamen Schlafzimmer. »Möchte mich so von Herzen gern niederlegen und gar nichts mehr denken. Bin todunglücklich!«

»Nur noch 'n ganz klein wenig!« bat Binchen, trippelte zur Thür, öffnete sie, lauschte hinaus in die Dunkelheit, kam wieder und setzte sich zur Schwester auf den Bettrand. »Nur noch 'n ganz, ganz klein wenig, Dorchen!«

*

Es hatte ein ganz klein wenig sehr lange gedauert, und Dorchen war sachte an die Brust der Schwester hinübergesunken und schlief. Freifräulein Sabina hielt ihre Augen weit offen und lauschte.

»Endlich!« murmelte sie. »Dorchen, Dorchen! Sie kommen – hörst du nichts?«

»Ach, und ich habe doch so schön geträumt,« klagte Dorchen und rieb sich die Augen.

»Paß auf, Dorchen!«

Draußen von der Stiege her waren Schritte zu vernehmen, und nun rief der Freiherr mit seiner schmetternden Stimme: »Auf mein Wort, habe mich ganz ausgezeichnet unterhalten! Hoffe noch öfter – noch recht oft die Ehre – morgen um zehn Uhr? – mit größtem Vergnügen – wohl zu ruhen unter meinem Dache! – Euer Bedienter? Na, Peter, wo steckt denn der Kerl? Stockbesoffen? Ei, da hört sich aber doch alles auf. Meinen die Halunken, wenn's 'n bißchen heiß ist –. Peter dalassen? Nein? Allein? – Also, morgen um zehn Uhr. Wird mich von Herzen –!«

»Bleib ganz ruhig!« flüsterte Binchen.

81 Die Schritte verklangen. Binchen schlüpfte zur Thür, öffnete sie ein wenig und lauschte. »Pst! Alles finster und stille.«

»Wenn ich nur wüßte, was du willst?« fragte Dorchen.

»Gleich – da – nein, es ist noch nichts!«

Ein Stuhl war umgefallen in einem der Zimmer am andern Ende des Korridors, und es hallte unter den Gewölben. Dann war wieder alles ruhig. Nur in der Tiefe ging irgendwo eine Thür. Todesstille.

»Braucht der lang!« flüsterte Binchen. »Nein, horch, jetzt –! Jetzt kommt der Graf!«

Und Binchen drückte die Thür zu, schob den Riegel vor und warf sich auf ihr Bett.

Draußen aber schlug krachend eine Thür, und es lief einer mit patschenden Sohlen den Gang hinunter und brüllte so über alle Maßen schrecklich, so mark- und beinerschütternd, daß Freifräulein Dorothea entsetzt emporfuhr, die Hände auf die Ohren preßte und nur immer jammerte: »Ja, was ist denn, ja was ist denn, Binchen, was ist denn?«

Freifräulein Sabina hatte einen Lachkrampf und konnte nicht antworten. Der draußen aber brüllte in einem einzigen, langgezogenen Tone fort und fort, und Dorchen klagte: »Ja, was ist denn, was ist denn? Binchen, da muß man doch helfen!«

»Untersteh dich, Dore!« sagte Freifräulein Sabina energisch und sprang empor.

»Ja, wenn er nur einmal aufhörte, Binchen!«

Freifräulein Sabina strich ihre Locken aus dem Gesichte und sagte ganz kühl: »Aufhören? Weißt du, Dore, das kann er nun eben gerade 82 nicht; das ist genau so wie bei einem Nußknacker, wenn ihm das Maul offen bleibt, und wie bei unsrer alten Turmuhr, wenn sich im Schlagwerk etwas ausgehängt hat.«

»Aber Binchen, ich vergehe vor Angst! Was hast du denn dem armen Menschen angethan?«

»Sei nur immer ruhig, Liebste, und horche!«

Aus dem ganzen Schlosse hörte man die Leute zusammenrennen, und von der Stiege herauf tönte die keuchende Stimme des Freiherrn. Das Geschrei auf dem Gang aber war zu einem heulenden Jammern geworden.

»Was giebt's denn? Ei, so redet doch nur!« rief der Alte.

Binchen öffnete ganz leise die Thür ein wenig, fuhr mit einem Aufschrei zurück und biß in ihr zerknülltes Taschentuch, faßte die Schwester rundum und zog sie mit sich in die Ecke hinter der Thür.

Mit Windlichtern, Wachsstöcken und Stalllaternen standen sie alle im Kreise um den Grafen. Der aber stöhnte: »Ganz und gewiß, ich beschwör's, in meinem Bett liegt er, schrecklich anzuschauen!«

»Zum Henker, wer denn?« fragte der Freiherr.

»Der Franzos!« jammerte der Graf.

»Dummes Zeug!« brummte der alte Herr. »Da, nehmt meinen Arm, Herr Graf, es ist ja Schand' und Spott, wenn Ihr da im Hemd –!«

»Ich beschwör's! Bleiches Gesicht, schreckliche Augen, weiße, blutbefleckte Binden um die Stirn!« jammerte der Graf.

Binchen schloß die Thür, schob den Riegel vor und lachte, daß es sie stieß.

83 Dann horchte sie, schob den Riegel wieder zurück, öffnete einen schmalen Spalt und sah dem Haufen nach, der sich den Gang hinunterwälzte.

»Ei, und wie gut er nur auf einmal die deutschen ›esch‹ ausspricht! Und jetzt weiß ich auch, Dore, warum er im Orden der ›Mildanblinkende‹ heißt,« flüsterte sie zurück über die Schulter; »eine Glatze so groß wie 'n Reitplatz hat er unter seiner Staatsperücke.«

Vom Ende des Ganges tönte lautes Gelächter. Dann aber hörte man die scheltende Stimme des Freiherrn: »Dummes, dummes Zeug, dummes!« Und zugleich polterte etwas hart und schwer auf die Ziegelplatten des Korridors.

Freifräulein Dorothea saß ganz still auf dem Rande ihres Bettes. Binchen aber schloß behende die Thür, schob den Riegel vor, tanzte wie toll in der Stube umher, umarmte die Schwester, tanzte wieder und warf sich endlich auf ihr Bett: »Dorchen, nun hat ihn der Herr Vater eigenhändig herausgeworfen!«

»Den Grafen, Binchen? Sag doch!«

»Den vorerst noch nicht, Dorchen. Pst – ganz still!«

Es pochte laut an die Thür. Freifräulein Sabina hielt der Schwester den Mund zu. »I – wo – ja –?« machte sie schlaftrunken.

»Bine!« grollte der Freiherr.

»Peter, bist du's? Ist's denn – schon – Zeit zum – Aufstehen?«

»Na, warte!« sprach der Freiherr und ging.

»Aber Binchen –?« versuchte sich Dorchen zu äußern.

»Pst – rein ganz still, Dore!«

84 Es pochte leise an die Thür: »Süßes Dorchen, Binchen, aber was war denn? Bin ganz aufgeregt! Laßt mich doch ein! So aus dem Schlafe! Was war denn für 'n schrecklicher Lärm?«

»Frau Muh–,« wollte Dorchen beginnen. Aber die Schwester hielt ihr abermals den Mund zu. »Es geht nicht, Herr Vater, wir sind nicht so ganz angezogen,« sagte sie laut und freundlich; dem Dorchen aber raunte sie befehlend ins Ohr: »Untersteh dich –!«

»Aber Binchen, ich bin's, die Muhme!« klagte es vor der Thür in hohen Tönen. »Macht nur 'n bißchen auf!«

»Herr Vater, es geht wirklich nicht, wir wollen gerade zu Bette. Könnt Ihr's uns nicht auch morgen sagen?« antwortete Binchen.

»Dorchen, süßes Dorchen, wie ist dir denn zu Mute?« flötete die alte Dame.

Sabina preßte die Hand wieder auf den Mund der Schwester: »O, ganz ausgezeichnet, Herr Vater.«

»Bine, du bist 'n Strick! Wart nur!« brach nun die Muhme los. »O Himmel, mir wird wieder nicht recht wohl –!«

»Aber Binchen!« flüsterte Freifräulein Dorothea.

»Pst!«

»Aber Binchen, ich verstehe das alles ganz und gar nicht!«

»Dorchen, wirklich nicht?«

Freifräulein Sabina begann lautlos zu tanzen.

»Keine Ahnung, Binchen.«

»O du heilige Unschuld! Dorchen, ich hatte 85 ihm aber doch den Faquin ins Bett legen lassen, deinem heroischen Grafen!«

Und Freifräulein Sabina saß nun vor lauterem Vergnügen urplötzlich platt auf den Dielen.

*

Das Wetter hatte sich geändert über Nacht, tief herab hingen die grauen Wolken, in den Dachrinnen rieselte das Regenwasser. Doch es war sehr angenehm kühl.

Der alte Freiherr ging mißmutig in seiner Stube auf und ab. An der Thür stand Peter.

»So 'n Umschlag, Euer Gnaden, wer hätte das gestern gedacht!« bemerkte der alte Lakai.

»Geht's dich vielleicht 'was an, Peter?«

»I wo, Euer Gnaden, 'n bißchen wird's mich doch wohl auch angehen! So 'n vollkommenen Wetterumschlag spür' ich immer in allen Knochen. Regnet ja in Schnürchen, Euer Gnaden.«

»Ach, wer redet denn vom Wetter!« brummte der Freiherr. »Die gnädigen Fräuleins noch nicht aus den Federn?«

»Ich höre gar nichts, Euer Gnaden.«

»Und geht ja doch schon auf elf Uhr!« brummte der Freiherr.

Der Lakai lächelte ein wenig: »Vorhin hätt' ich schon 'was gehört, Euer Gnaden.«

»Was?«

»Ich weiß nicht, ob's Euer Gnaden genehm ist –? 'n Wispern und Lachen in der Schlafstube der gnädigen Fräulein und –«

»Was – und?«

»– und dann ist 'n lustiges Gesicht aus der Thür gekommen und hat mich jemand gefragt – ›Peter‹ – hm –«

86 »'raus!« drängte der Freiherr.

»›Peter, ist der Hasenfuß, der –‹« nun hob der Lakai seine Stimme, »›– der wüste Kerl noch da?‹«

»Und was ist denn mit dem Grafen?« polterte der Freiherr. »Um zehn Uhr wollt' er mir doch aufwarten?«

Der Alte lachte unhörbar: »Seine Gnaden der Herr Graf haben sich vor einer Stunde warmes Wasser bringen lassen.«

»Warmes Wasser in den Hundstagen!« brummte der Freiherr.

»Halten zu Gnaden, jetzt hör' ich 'was!« murmelte der Lakai und öffnete die Thür. –

Der Graf stand vor dem Freiherrn, tadellos gekleidet, aber noch etwas gelber im Gesicht als sonst.

»Je ne vous dérange pas, monsieur mon cousin?« lispelte er. »Pardon! Verspätet. Kopfschmerzen – eh. Meine Pferde warten. Fatale Affaire gestern, etwas viel getrunken – aufgeregt. Uebrigens unanständiger Spaß – comment appelez-vous donc cela en français? Habe so meine Gedanken – na, will nicht weiter nachfragen. Und in solch derangierter Toilette!«

Der Freiherr winkte ab: »Laßt's Euch nicht anfechten, Herr Vetter; das vergessen wir alle am besten so geschwind als möglich.«

»Und was ich sagen wollte,« der Graf stockte und zwirbelte sein Bärtchen, »weshalb ich eigentlich hierher geritten bin, einmal muß es doch zur Sprache kommen. Ich für meine Person kann nur sagen,« er legte die Hand aufs Herz und 87 verneigte sich graziös, »je serai heureux avec une fille si belle, si accomplie, pardon – ich – eh, ich brenne.«

Der Alte ging etliche Male in der Stube auf und ab. Dann blieb er hart vor dem Freier stehen und sah ihn beinahe mitleidig an: »Bei Gott, Herr Vetter, es sind mir doch heut' über Nacht seltsame Gedanken durch meinen alten Schädel gegangen. Aber wollen wir uns nicht setzen? Nein? Also, überlegt Euch das Ding zweimal und dreimal! Ich bin 'n angejahrter Knabe, und rumpelt mir gar oft so mahnerisch in den mürben Knochen. Da käm's dann wohl, daß Ihr bald mit der Dorothee allein haustet in dem alten Gemäuer. Hm. Denkt nur, wie – es ist doch 'n recht unheimlicher, weitläufiger Bau, und wie schlecht sind die Zeiten, was für Gesindel streift auf den Straßen! Tag und Nacht hab' ich meine geladenen Pistolen und Flinten bei der Hand. Muß sie haben. Wißt Ihr, Herr Vetter – nehmt nur aber 'n freies Wort nicht krumm! –, könnt Ihr's einem alten Vater verdenken, wenn er 'mal aus dem Himmel 'runterschauen möchte« – der Freiherr wischte sich die Augen –, »und möchte sein Kind, so 'n gutes, sanftes Kind, wenn er's eben so recht geborgen sehen möchte bei einem, nu, bei einem, der so ganz fest auf seinen Beinen stünde und auch, nehmt's mir nicht übel, Herr Vetter, in jeder Toilette –«

Der Graf wich einen Schritt zurück.

»– und in jeder Lage, bei Tag und bei Nacht – hm –? So, nun ist's heraußen. Wollen wir's uns noch dreimal überlegen. 's ist 88 doch 'n ernsthaftes Ding ums Freien und Ja sagen – nicht?«

Der Graf reckte die dürre Gestalt und machte eine großartige Handbewegung. »O, ich versteh' Euch, Herr Vetter. Aber glaubt nur nicht, daß mich die Rede grämt. Im Gegenteil, kostet mich auch 'n verfluchten Entschluß, wenn ich mich binden soll. Und seht, da mach' ich ›wuitt!‹, da pfeife ich, und dann kommen sie nur so angetanzt – zehn – zwanzig – ja, was weiß ich, wie viele?«

Der Freiherr stand hochaufgerichtet, und seine buschigen Brauen waren finster zusammengezogen: »Na, da pfeifet eben wuitt! und wählet Euch eine von den zehn oder zwanzig!«

»Je vous prie de faire mes compliments à - à - permettez que je me retire, monsieur mon baron!« sagte der Graf, machte ein pfiffiges Gesicht und ging rückwärts zur Thür hinaus.

Der Freiherr blickte ihm zornig nach: »Und da kann mir nun der Kerl die größten Grobheiten gesagt haben, und ich hab's nicht verstanden!« –

Wieder öffnete sich die Thür, und die Muhme stand auf der Schwelle: »Er ist an mir vorüber, er hat mich nicht angesehen – er geht fort?«

»Fort,« schnaubte der Freiherr.

»Und reitet weg auf seinem stolzen Rosse?« jammerte die Muhme.

»Von mir aus auf 'm Palmbaum,« knurrte der Freiherr.

»O du – du – du –!« Die Stimme der alten Dame überschlug sich. Dann deklamierte sie: »Wie sagt doch der Dichter? 89

»Zerbrochen ist der Becher,
Fluch dir, du Herzensbrecher,
Es mög ein kaltes Schauern
Auf deinem Rücken kauern!
Fluch dir, du Herzensbrecher,
Zerbrochen ist der Becher!

Du hast ihn vor den Kopf gestoßen, Eustachius!«

»Vor den Kopf, vor die Brust, vor den Bauch, vor den –,« schrie der Freiherr, hob den Fuß und stieß ihn ins Leere.

»O Himmel!« jammerte die Muhme entsetzt und stürzte hinaus.

*

Der Freiherr ging auf und ab in seinem Gemache. An der Thür stand Peter, der Lakai.

»Was macht das Wetter, alte Haut?«

Peter schmunzelte: »O, ich glaub', es wird jetzt bald sehr helle, Euer Gnaden.«

»Ist ja nicht wahr, regnet noch immer in Schnürchen, hat sich nichts geändert, Peter.«

»Nicht, Euer Gnaden? Und ist mir doch so leicht in meinen Knochen – tanzen könnt' ich, Euer Gnaden.«

»Peter, stell dich 'mal ans Fenster da!«

»Wie Euer Gnaden befehlen.«

Der Freiherr nahm eine Pistole von der Wand, ging an das entgegengesetzte Fenster und öffnete es. »Peter, ist der – Graf schon drunten?«

»Nu steigt er gerade in den Sattel, Euer Gnaden,« berichtete Peter und drückte sich die Nase platt an einer grünen Scheibe. »Und, Euer Gnaden –«

»Was – und –?«

»Euer Gnaden, er macht, mit Verlaub, er macht so 'n verregnetes Gesicht.«

90 »Das geht dich nichts an, Peter.«

»Und jetzt reitet der Herr Graf ab, Euer Gnaden.« Der alte Lakai faltete andächtig die Hände.

Da hielt der Freiherr die Pistole hoch aus seinem Fenster und schoß gegen die grauen Wolken: »Und so pfeif' ich, Herr Graf!«

Die Thür öffnete sich ein wenig, und Freifräulein Sabina steckte den Kopf herein: »Hat mich der Herr Vater gerufen?«

Der Freiherr wandte sich, wischte den Pistolenlauf am Rockärmel ab und trat mitten in die Stube. Das Freifräulein kam ganz herein, schloß leise die Thür und senkte die Augen.

»Eigentlich nicht,« sagte der Alte. »Weil du aber gerade da bist –« Er hielt inne, dann donnerte er: »Welcher Kerl – hat dem Kerl – den Kerl ins Bett gelegt?«

»Aber, Herr Vater!« sagte Binchen, schluckte ein wenig und faltete züchtig die Hände unter der Brust.

»Du Racker, das hast du gut gemacht,« brummte der Freiherr. Dann streckte er den Arm aus, wies nach der Thür, schnitt sein grimmigstes Gesicht und rief: »Aber nu – marsch!«