Ein orientalisches Märchen
Scheherezade (vor dem Vorhang): ... und da nunmehr tausend Nächte und eine Nacht verstrichen sind und mein Herr und Gebieter, anstatt mich zu köpfen, wie er ursprünglich beabsichtigt hatte, vielmehr umwiegt von den sanften Klängen meiner Märchen selber in den Schoß des Propheten zurückgekehrt ist, wo ihn die ausgesuchtesten Huris erwarten; und da mir aber inzwischen das Märchenerzählen schlechthin zur Gewohnheit geworden ist, so daß mir die Kurzgeschichten von selber aus dem Mund hüpfen, wie die Springbrunnen in den Gärten Allahs, und da es sich also gefügt hat, so will ich euch, ihr Gläubigen und Mekkapilger, in der tausendundzweiten Nacht abermals ein Märchen erzählen.
Das Märchen heißt: »Der treueste Bürger Bagdads«; und wahrlich, es steht unter strengstem Copyright, einschließlich aller Rechte der Film- und Radioübertragung, so daß, wer von euch sich erkühnen sollte, seine gottlose Hand daraufzulegen, durch Rechtsspruch zu Schaden käme, an seinem Geld und seinem Vieh, an seinen Knechten, Mägden und Weibern, und verflucht soll er sein bis in die dritte und vierte Auflage. Und aber das Märchen beginnt also: Eines Tages beschloß der Kalif Harun al Radschid, Schützer aller Gläubigen und Schrecken aller Gläubiger, sich wieder einmal unerkannt unter das gemeine Volk zu mischen. Denn dies war ihm eine traute Gewohnheit geworden und ein lieber Komplex. In die aussätzigen Lumpen eines behördlich konzessionierten Eseltreibers gehüllt, verließ er in den Morgenstunden des Tages seinen Palast.
(Vorhang auf.)
(Die Szene stellt eine Straße Bagdads dar. Die Straße ist leer. Harun al Radschid, dessen Gesang in die letzten Worte der Erzählerin hereingeklungen hat, tritt auf.)
(Melodie: orientalisch-umgefärbter »kleiner Straßensänger«.)
Harun (singend): Ich bin ein armer kleiner Eseltreiber, hab einen Esel nur und gar kein Glück. Von lauter Armut hab ich nur zwei Weiber, zu denen kehrt die Jugend nie zurück.
Scheherezade: Der Muezzin schlug halb neun. (Man hört einen Gongschlag.) Das aber war die Stunde, da gerade der Bagdader Internationale Musterbasar eröffnet wurde. Noch tönten über die Straßen die letzten Eröffnungssuren, die der Großvezier wie zu jedem, so auch zu diesem Anlaß sprach –
Stimme des Großveziers: ... und so möge denn dieser Musterbasar der ganzen morgenländisch-islamitischen Welt voranleuchten als ein Musterbeispiel kleinasiatischen Handels, kleinasiatischen Wandels und kleinasiatischen Fatalismus!
Chor: Kismet!
Scheherezade: ... und das ohnehin schon typisch orientalische Straßenbild sich vollends bunt belebte. Zahllose Kaufleute strömten herbei und schlugen unter lebhaftem Wortwechsel ihre Zelte auf.
(Omar, Ruben und Suleika sind aufgetreten, die schlagen die Zelte auf und stellen die Waren zur Schau, hängen Geschäftsschilder heraus: z. B. Omar Gemischtwarenverschleiß, usw.)
Omar (melancholisch): Zeiten sind das!
Suleika: Preise sind das!
Ruben (melancholisch): Geschäfte sind das!
Scheherezade: Und also solches vernehmend, mengte sich Harun, der Gütige, alsogleich unter das Volk, um den Grund jenes Kummers zu erfahren und schleunigst Abhilfe zu schaffen ...
Harun: Salem!
Omar, Suleika, Ruben: Aleikum!
Omar: Was stehst du da herum und hältst Maulaffen feil, du Neffe eines Schakals und Sohn eines Gerichtsvollziehers?
Harun: Ich bin Eseltreiber, Herr –
Suleika: Nicht Eseltreiber heiß ich dich, sondern Kundenvertreiber will ich dich nennen. Trolle dich von hinnen und schere dich von dannen! Ein besseres Aushängeschild weiß ich mir als deine entartete Fratze und eine bessere Reklame als deine Stimme!
Harun: Ich nehm euch die harte Rede nicht übel, denn nicht umsonst heiße ich der Grundgütige. Und auch ich würde nicht anders zu einem Eseltreiber sprechen.
Suleika: Hast du überhaupt eine Konzession, gesegnet sei ihr Anblick?
Harun: Nein, ich gesteh's.
Ruben (sanft): Wie? Und treibst Esel ohne eine solche?
Harun: Ach! Doch ich bitt euch, daß euer Mitwissen mir nicht zum Verderben werde und eure Kenntnis nicht zur Vernaderei!
Suleika: Sieh mal einer! Also ein Schwarztreiber bist du! Und ein Eselpfuscher! Und ich als ehrbarer Kaufmann muß zusehen, wie die Zunftinspektoren, verflucht sei ihr Name, meinen Laden umkreisen als wie die Pleitegeier den Turm des Schweigens!
Ruben (sanft): Wem sagst du das?
Suleika: Daß dich der Scheitan foltere, du Erznebbich und Häuptling aller Steuerhinterzieher!
Harun: Wohlan! Nachdem ich mir dergestalt euer Vertrauen erworben habe, ihr guten, wenn auch gemeinen Leute, will ich euch drei Rätselfragen stellen.
Suleika: O über dich! Morgen geht mein Mann in Konkurs, und du willst mir Rätsel aufgeben! Aber die morgenländische Mentalität fordert ihre Rechte. Frage denn, da du nicht anders kannst.
Harun: Ei nun denn. Meine erste Frage lautet: Seid ihr glücklich?
Omar: O Himmel! Weißt du keine schwereren Rätsel, Schwarztreiber? Glücklich? So wenig bin ich's, daß nicht einmal deine verblödete Frage mich noch unglücklicher machen kann! Siebenmal hab ich meinen Sohn auf die Pilgerfahrt nach Mekka geschickt; keine Kosten hab ich gescheut, damit er was Besseres wird als sein Vater! Ein Vorzugshadschi ist er geworden! Und jetzt? Er geht neben den Sandalen und hat nicht zwei Rupien auf bisserl Haschisch!
Harun: Und du, Suleika, deren Mann morgen in Konkurs geht – bist du glücklich?
Suleika: Weinen könnte man über deine Dummheit, denn sie ist grenzenlos wie die Wüsten Arabiens und bitter wie die Gewässer des Toten Meeres! Weißt du, wie viele Frauen mein armer Mann hat?
Suleika: Eine! Und das bin ich! Nicht einmal eine zweite Frau können wir uns leisten heutzutage, als Kleingewerbetreibende! Sieben mal sieben Jahre sparen wir auf eine kleine Bucklige und können noch immer nicht aus dieser trostlosen Monogamie heraus! Ich, seine Einzige! O Gott, welche Schande!
Harun: Wohlan; und du, schweigsamer Ruben! Bist du glücklich?
Ruben: Mich fragst du, o Freund! Was soll ich dir sagen? Warum soll ich glücklich sein? Und aber wahrlich: warum soll ich unglücklich sein? Muß man heutzutage nicht froh sein, daß man lebt? Aber und siehe: wem sag ich das?
Harun: Deine Antwort dünkt mich die weiseste. Und nun dje zweite Frage. Was, mein ungeschlachter Omar, hältst du für die Wurzel allen Übels? Sind vielleicht die Steuern zu niedrig?
Omar: Selten, o Fremder, hab ich an einem idiotischeren Preisausschreiben teilgenommen! Zu niedrig? Selbst der Gerichtsvollzieher, verflucht sei sein Eintritt, würde sich ob solcher Dummheit vor Lachen schütteln, da ja doch, wie jeder in Bagdad weiß, die Steuern höher sind als die Pinien des Libanon und schwerer lasten als die Foltern der Dschehenna!
Harun: Ei sieh doch. Teilst du seine Meinung, geschwätzige Suleika?
Suleika: Keineswegs tu ich das. Nicht zu hoch sind die Steuern, und nicht zu schwer dünken sie mich, sondern gerade so hoch, daß sie einem über den Kopf wachsen, und gerade so schwer, daß man darunter erstickt. Ach, man hat seinen rechten Halbmond damit.
Harun: Das läßt sich schon eher hören. Und wie löst du das Rätsel, weiser Ruben?
Ruben: Was heißt, wie ich's löse, mein Freund? Was heißt, die Steuern sind zu hoch? Und aber auch: was heißt, die Steuern sind zu niedrig? Sind sie etwa mir zu niedrig und dem Herrn Finanz-Vezir zu hoch? Oder fügt es sich nicht vielmehr umgekehrt? In Wahrheit und so siehe denn: Wenn es sich umgekehrt fügt, was hätt ich davon, wollt ich verkünden, sie wären mir zu hoch? Was möcht es frommen und was kauft ich mir dafür? Und aber wahrlich: wem sag ich das?
Harun: Abermals hast du am weisesten gesprochen ...
Scheherezade: ... sagte der grundgütige Kalif in seiner geschickten Verkleidung. Und er stellt die dritte Rätselfrage. Diese aber war die Hauptfrage, und um ihretwillen hatte sich der Kalif unter das Volk gemischt, wo es am gemeinsten war. –
Harun: So sagt mir denn zum dritten, ihr Guten, wenn auch Ungeschliffenen! Was dünkt euch das Grundübel aller Übel, und welche Mittel würdet ihr vorschlagen, daß Glück und Zufriedenheit unter den Gläubigen einziehe?
Omar: Die erste vernünftige Rätselfrage! Nun: mein dezidierter Vorschlag zur Rettung des Volkes von Bagdad ist der, daß man dem grundgütigen Kalifen Harun al Radschid die Zunge abschneide. Denn fürwahr, er frißt viel zuviel, und fräße er weniger, so fiele auch für unsereins was ab, und das ist des Rätsels Lösung. Basta.
Harun: Ei potz –
Scheherezade: – murmelte der Kalif überrascht.
Harun: Teilst du seine Meinung, geschwätzige Suleika?
Suleika: Keineswegs, Eseltreiber. Ich nehme den genau entgegengesetzten Standpunkt ein. Meine Überzeugung ist die, daß man den grundgütigen Kalifen Harun al Radschid schleunigst entmannen müßte. Denn fürwahr, er hat zu viele Weiber, und hätte er weniger oder keine, so fiele für meinen Mann wohl eine ab. Da liegt der Hund begraben. Punktum.
Harun: Wohlan –
Scheherezade: – seufzte der Kalif, im Innersten berührt.
Harun: Und welcher Auffassung schließt du dich an, weiser Ruben?
Ruben: Was heißt, wem ich mich anschließe, mein Freund? Weiß ich denn nicht, daß es in Bagdad zwei Parteien gibt, die sich heftig streiten, ob der Kalif entmannt werden solle oder die Zunge zu verlieren hätte? Aber bin ich nicht erst kürzlich zugereist? Und steht es mir demnach zu, mich so oder so unliebsam bemerkbar zu machen? Schließ ich mich aber keinem der beiden Lager an, was folgt daraus? Folgt daraus, daß ich dafür eintrete, der Kalif solle weder entmannt werden noch Schaden nehmen an seiner Zunge? Oder folgt daraus, daß ich beide Maßnahmen billigen würde? Und aber: wie stünde es mir als Zugereistem zu, auch hier eine Entscheidung zu treffen? Ja und träfe ich sie – was folgte daraus? Nichts oder weniger als nichts? Oder gar beides? Und wenn schon? Und zum drittenmal: wem sag ich das?
Harun: Das war die tiefsinnigste deiner Antworten!
Scheherezade: – rief der Kalif entzückt aus.
Harun: Nicht nur den weisesten, nein, den treuesten Bürger Bagdads will ich dich nennen! Meinen Namen aber sollt ihr nie erfahren! Ich bin der Kalif Harun al Radschid!
Omar und Suleika: Weh uns! (Stürzen fort und ab.)
Harun: Das sowieso. Und nun zu dir, weiser Ruben. Als einziger von dreien nennst du jenen orientalischen Fatalismus dein Eigen, der so sehr der Eigenart des Volkes von Bagdad entspricht. Lehre mich das Geheimnis deiner Ergebenheit, und du sollst reichen Lohn haben an deinem Saldo bis ins dritte und vierte Ultimo.
Ruben: Das Geheimnis meines Fatalismus, Herr? Wie hätt ich anders sein können als fatalistisch, vor deinem Angesicht?
Harun: Wie das? War ich nicht Eseltreiber vor deinen Augen?
Ruben: Ei, warst du schon ein Eseltreiber? Groß ist das Reich des Kalifen und allmächtig seine Gewerbeordnung. Und sie reicht vom Aufgang zum Niedergang der Geschäfte und weist nicht Lücken auf noch Hintertür. Und so einer Esel treibt im Reich des Kalifen, und hat keine Konzession – wer könnte es anders sein als der Kalif selbst, Harun al Radschid der Gütige, Schützer aller Gläubigen und Schreck aller Gläubiger?
Harun: Nicht so uneben ...
Scheherezade: – erwiderte der Kalif schmunzelnd.
Harun: Zum zweitenmal erweist du dich als der Treueste meiner Untertanen. Und auf daß ich dich nach Gebühr belohne, sage mir nun: Welcher Sekte der Gläubigen gehörst du an? Denn bist du ein Sunnit, so will ich dir die Steuern auf ein Jahr erlassen. Bist du aber ein Schiit, der Abtrünnigen einer also, so will ich dir in meiner großen Toleranz alle Steuerrückstände streichen. Warum schweigst du, Ruben?
Ruben: No, warum schweig ich, Herr?
Harun: Gehörst du am Ende zu den Abtrünnigen der Abtrünnigen? Ach, das würde mich schmerzen in meiner Niere und würde mir peinlich sein in meiner Galle! Denn ganz und gar unbelohnt müßtest du von hinnen nach dannen ziehen, wie du kamst. Sag also schnell: Bist du ein Ismaelit?
Ruben: Mit »r«, Herr ...
Scheherezade: Da stutzte Harun, der Grundgütige, und versank in tiefes Sinnen.
Harun: Penibel ...
Scheherezade: – seufzte der nach einer Weile, um wieder in wehevolles Brüten zu verfallen.
Harun: Höchst penibel ...
Scheherezade: – stellt er sodann fest. Um wieder in schmerzliches Nachdenken zu geraten.
Harun: Äußerst penibel ...
Scheherezade: – verkündete er zuletzt.
Harun: Denn daß gerade du der treueste Bürger Bagdads bist, ist für mich eine Blamage ohne Ende und eine Bitternis ohne Boden. Dennoch will ich dir in meiner großen Gnade den Beinamen belassen. Aber kannst du mir zum drittenmal beweisen, daß du seiner würdig bist?
Ruben: Kann ich's, Herr?
Harun: Du kannst es, mein Getreuester. Rufe laut und schallend: Nieder mit Harun! Denn rufst du es, so wirst du mit Recht zur Bastonnade verschleppt, und mein penibel langes Beisammensein mit dir findet das einzig würdige Ende.
Ruben: Und wie ist's, Herr, wenn ich nicht rufen werde: Nieder mit Harun?
Harun: Dann wirst du ebenfalls mit Recht zur Bastonnade geschleppt. Denn du hast dich dem Gebot deines grundgütigen Herrn widersetzt, der gerecht ist und bleibt, wie sich die Sache auch wenden möge. Nun, wofür entscheidest du dich, mein Treuester? Verstehe doch, wie penibel mir das alles ist und daß ich nicht von hier fortkann, bevor der Fall sich so oder so entscheidet.
Scheherezade: Ehe er sich aber entscheiden konnte, fühlte der treueste Bürger Bagdads, daß ihm Tränen kamen, salzig und bitter wie die Gewässer des Toten Meeres. Und er weinte lange und anhaltend, bis Harun al Radschid in seiner übergroßen Güte ihn fragte:
Harun: Was bedrückt dich, mein Treuester? Und wann wirst du mich endlich aus dieser immer penibleren Situation erlösen?
Scheherezade: Da sagte Ruben, der Händler, und seine Worte stockten vor Gram, der finster war mit bitter gemischt –
Ruben: Schwer ...
Harun: Was ist schwer?
Ruben: Schwer zu sein ein Kalif ...
*