Die vorliegende Untersuchung gilt der Frage, in welcher Weise und nach welchem Maßstab sich Lust und Leid des Lebens gegeneinander abwägen lassen und welche Folgen sich daraus für die Berechtigung aller jener Behauptungen ergeben, daß das Quantum der auf Erden vorhandenen Unlust das der Lust – oder umgekehrt – überwiege.
I. Zunächst sei das Selbstverständliche erwähnt, daß das Bewußtsein, das Quantum eines gewissen Schmerzes übersteige dasjenige einer gewissen Lust, niemals in der Empfindung selbst unmittelbar liegt, sondern ein verstandesmäßiges, wie auch immer verdichtetes und dunkles Urteilen voraussetzt, das in den Empfindungen nur seine an sich verbundenen Elemente vorfindet; schon die Thatsache, daß wir die Intensität der einen Empfindung mit der Dauer einer andern kompensiren, zeigt hinreichend die Spontaneität, den vermittelten Charakter eines derartigen Urteils. Und diese Synthese ist noch anderer Art als etwa in dem Bewußtsein, daß der Grad einer Lust A den einer andern B übersteigt. Denn so wenig selbst hier der Inhalt der einen Empfindung bloß als solcher etwas über sein Verhältnis zur andern aussagte, so bedarf es doch außer den synthetischen Funktionen überhaupt keines außerhalb jener beiden Empfindungen gelegenen Momentes, um ihr quantitatives Verhältnis zu beurteilen; die eine wird zum Maße für die andere, weil wir in der reproduktiven Synthesis wahrnehmen: im Quantum von A ist das Quantum von B enthalten und außerdem noch etwas; während etwa B uns noch im Bewußtsein ist, erleben wir A und sehen, wie es gleichsam über den Teilstrich der Skala hinaussteigt, den die Grenze von B gezeichnet hat, so daß wir mit unmittelbarer Bestimmtheit urteilen können: der Lustwert von A ist größer als der von B; und so verhält es sich selbstverständlich auch mit den Unlustsummen untereinander.
Anders aber, wenn ich die Quanta einer Lust und einer Unlust mit einander vergleichen soll. Es handle sich hier noch nicht um eine genauere Graduirung, sondern nur um die Bestimmung, daß sie überhaupt gleich, resp. welches von ihnen das in seiner Art überwiegende sei. Von einer unmittelbaren gegenseitigen Messung von Lust und Leid ließe sich etwa dann sprechen, wenn sie sich so aufhöben, daß ein gleichgiltiger Zustand resultirte; allein das Sichaufheben zweier entgegengesetzter Empfindungen ist immer nur ein bildlicher Ausdruck, und nie paralysiren sie sich wie entgegengesetzt gerichtete Kräfte, die auf einen Punkt wirken; vielmehr werden selbst bei völliger Gleichzeitigkeit beide nebeneinander empfunden – recht deutlich ist dieses bei der Wollust des Schmerzes und dem Schmerze der Wollust –, ohne daß anders als in der nachfolgenden Reflexion ein wirkliches Subtrahiren der einen von der andern stattfände. Ich kann hier offenbar nicht wie bei zwei gleichartigen Empfindungen unmittelbar das Quantum der einen als in dem der andern enthalten erkennen. Selten wird ein Mensch, auch der unerfahrenste, im Zweifel sein, welche von zwei Freuden die größere ist – wenn er auf das bloße aktuelle Empfindungsquantum achtet und von allen mitspielenden nicht-eudämonistischen Momenten absieht; denken wir uns dagegen ein Wesen, das noch keine Erfahrung über die Verteilung von Lust und Leid im Leben hat, so wird es völlig ungewiß sein, ob es eine Freude bestimmten (als ihm bekannt vorausgesetzten) Grades opfern soll, um einem bestimmten Leiden zu entgehen, ob es dies und das Leiden freiwillig auf sich nehmen soll, um dafür eine bestimmte Freude zu gewinnen, ob es andern einen gewissen Schmerz zufügen darf, weil er die conditio sine qua non einer bestimmten Freude ist; kurz, wir können a priori und ohne aus der bloßen Synthesis der bloßen Lust- und Schmerzempfindung herauszugehen, unmöglich wissen, welches Quantum Leid durch ein bestimmtes Quantum Freude aufgewogen wird. Es könnten in dieser Abwägung nicht so große Schwankungen, sowohl unter den Individuen wie im Laufe eines Einzellebens stattfinden, wenn jede Lustempfindung das Bewußtsein eines bestimmten Grades mit sich führte, der ohne weitres sein Plus oder Minus einer gewissen Leidempfindung gegenüber bestimmte.
Völlig mißverständlich wäre hier der Einwurf, daß doch auch die Abschätzung der Freuden untereinander und der Leiden untereinander den größten Schwankungen unterliegt. Denn nicht ob ein schon als solches bestimmtes Freudenquantum größer oder kleiner sei als ein andres, ist die Frage für den, der sie nebeneinander vorstellt; alle Differenz betrifft vielmehr die Frage, welches Objekt als Ursache die größere oder die kleinere Freude erzeugt; nur darum wird gestritten, nur darüber wechselt der Geschmack und die Schätzung, ob der Vorgang m oder der Vorgang n die größere Freude zur Folge hat. Liegen dagegen zwei Lustquanta rein als solche schon vor, so ist ceteris paribus mit ihnen unmittelbar gegeben, welches das größere sei. Hier aber sprechen wir von dem Abschätzen der relativen Werte der Empfindungen selbst, nicht von dem Empfindungswert gewisser Ursachen. Jene, erst im Lauf des Lebens und Erfahrens allmählig weichende Unsicherheit darüber, wo der Nullpunkt zwischen einem Lustquantum und einem Schmerzquantum liege, beweist, daß er sich nicht selbstverständlich aus dem bloßen Nebeneinanderhalten beider Empfindungen ergiebt, sondern sich erst auf Grund von Erfahrungen entwickelt. – Zu den wichtigsten Entdeckungen der neueren Erkenntnistheorie und Psychologie gehört die Erkenntnis, daß Vorstellungen, die sonst für unmittelbar sinnliche, mit der Empfindung eo ipso gegebene gehalten wurden, komplizirte Resultate verstandesmäßiger Operationen, Urteile und Schlüsse, sind; auch in der Axiologie müssen wir durchaus vor Augen behalten, daß zwar Lust und Leid, aber nicht ihr wechselseitiges Plus und Minus Empfindungssache ist, sondern ein Abmessen an einem durch Erfahrung und Reflexion gewonnenen Maßstabe bedeutet; nach diesem eben ist hier die Frage.
II. Denken wir uns ein allwissendes Wesen nach Art des Laplaceschen Universalgeistes, welches die gesamten Lustempfindungen und die gesamten Leidempfindungen der Welt überblickt und durch passende mathematische Operationen feststellen kann, wieviel von dem einen und dem andern im Durchschnitt auf jedes empfindende Individuum kommt. Ein solcher lediglich beobachtender Geist würde von seinem objektiv-realistischen Standpunkt aus nur von denjenigen Individuen, deren thatsächliches Empfindungsquantum ein Minus von Lust gegenüber diesem Durchschnitt zeigt, behaupten, daß ihre Lustbilanz negativ sei; wer den genauen Durchschnitt aufweist, dessen Leben hätte genau soviel Lust, wie seiner Unlust äquivalent ist, etc. Da er keinen idealen Maßstab besitzt, aus dem sich a priori ergäbe, wieviel Lust da sein müßte, um das Leidquantum auszugleichen, so ist für ihn die Behauptung ganz sinnlos, daß es mehr Leid als Lust auf Erden gäbe. Da sich Lust und Leid nicht unmittelbar aneinander messen, da es ferner keinen dritten formalen Maßstab für sie giebt – wie er für Körpergrößen der verschiedensten Art der Meterstock ist –, so ist für ihn keine Schätzung der relativen Werte der Leid- und Lustquanta denkbar, als eine solche, die sich am Vergleich des einzelnen eudämonistischen Schicksals mit dem Durchschnitt ergiebt. Diesen Durchschnitt selbst groß oder klein zu finden, hätte für ihn keine andre logische Berechtigung als das Urteil, daß der Durchschnitt der Menschen in körperlicher Beziehung groß oder klein ist; der einzelne Mensch kann wohl groß oder klein sein, aber das heißt eben, daß er über oder unter dem Durchschnitt steht; dieser selbst ist weder groß noch klein, weil er dasjenige ist, an dem überhaupt erst Größe oder Kleinheit bestimmt werden kann. Die Erfahrungen, von denen wir am Schlusse von I. gesprochen haben, sind für diesen Geist also beschlossen in dem Wissen des wirklichen Verhältnisses zwischen Lust und Leid im Ganzen der Welt; so daß jede Lust genau soviel Schmerz aufwiegt, wie im Durchschnitt thatsächlich auf sie kommt und nur diejenige Lust zu teuer bezahlt ist, für die das erlittne Unlustquantum unter jenem realen Durchschnitt bleibt. Wir wollen nun untersuchen, ob der Axiolog, der über das Verhältnis von Lust und Leid für den Menschen überhaupt meditirt, mit Recht einen andern Maßstab annimmt, als ihn dieser Geist in absoluter Vollendung besitzt.
III. Die ganze Frage nach dem Quantitätsverhältnis von Lust und Leid, das erforderlich wäre um sie sich gegenseitig ausgleichen zu lassen, kann man betrachten unter dem Bilde des Kaufes eines bestimmten Wertgegenstandes gegen ein bestimmtes dafür zu bringendes Opfer; nicht als ob dies ein bloßes Gleichnis und deshalb ohne stringente Beziehung wäre, sondern es drückt vielmehr das allgemeine Verhältnis aus, von dem jene Abwägung ein Spezialfall ist und dessen Gesetze und Bestimmungen deshalb auch für diesen bindend sind. Wir fingiren den absoluten Durchschnittsmenschen (dem eudämonistischen Schicksal nach), dem die Gesamtfreudensumme seines Lebens zum Kauf angeboten wird für die bestimmte Leidsumme, die er dafür zu übernehmen hat; der Pessimist sagt ihm nun: »Wenn du dies Geschäft machst, so kommst du nicht auf deine Kosten; du müßtest ein viel größeres Lustquantum erhalten, damit die Bilanz stimmt; die Freuden, die dir angeboten werden, sind mit dem geforderten Preis an Leiden zu teuer bezahlt.«
Die so ausgesprochene Behauptung, man müsse die Freuden des Lebens mit mehr Schmerzen bezahlen als sie wert sind, ist also methodologisch ebenso zu behandeln wie die Klage, man sei mit einem gekauften Gegenstand überteuert worden. Offenbar aber habe ich zu dieser nur dann das Recht, wenn ich denselben Gegenstand von einem andern Verkäufer billiger bekommen kann; a priori und rein sachlich existirt nicht der geringste Zusammenhang zwischen dem gekauften Gegenstand und irgend einem Preise, sondern ganz allein die Konvention samt den auf sie einwirkenden äußern Bedingungen bestimmt einen Preis als den richtigen, als den, den die Sache wert ist; man kann deshalb – weder vom Standpunkt des Kaufmanns noch von dem des Konsumenten – von ihr sagen, sie sei mehr oder weniger wert, als durchschnittlich unter den bestimmten Umständen für sie bezahlt wird oder etwa aus der Analogie mit andern gleichfalls konventionell fixirten Warenpreisen zu erschließen ist. Es ist also nie eine Sache schlechthin billig oder teuer, sondern nur durch den Vergleich mit dem Preise, für den sie durchschnittlich zu bekommen ist; weder ist ein Diamant für 5000 Mark teuer, wenn er eben nirgends billiger zu haben ist, noch ein Kommißbrod für 10 Pfennige billig, wenn es überall so geliefert wird; andre Preise als die so real fixirten, resp. nach realen Analogieen zu fixirenden sich auszudenken und für die »richtigen« zu halten, ist eitel Phantasterei. Demgemäß ist die Klage, daß man die Freuden des Lebens mit zu vielen Schmerzen, also zu teuer, bezahlen müsse, nur dann gerechtfertigt, wenn dieselben Freuden allgemein und im Durchschnitt billiger zu haben sind; dieser Durchschnitt selbst ist aber weder teuer noch billig, weil er vielmehr das ist, woran die Teuerkeit oder Billigkeit des einzelnen Falles erst gemessen wird. Wie wir also – um bei dem in II. angeführten Beispiele zu bleiben – erst dann sagen dürften, der Durchschnittsmensch sei klein, wenn wir etwa von größern Menschenwesen auf andern Planeten wüßten, so können wir mit objektivem und logischem Recht erst dann sagen, der Mensch habe im Durchschnitt zu wenig Freuden im Verhältnis zu seinen Leiden, wenn dasselbe Freudenquantum irgendwo für ein geringeres Leidensquantum zu haben wäre. Aber ein solches darf nicht blos gedacht werden, sondern muß »mögliche Erfahrung« sein; andernfalls ist jene Behauptung eine bloße Erdichtung und zerstört völlig den Begriff des Wertes als einer an objektivem Maaßstab festzustellenden Größe. Der Satz: es gebe mehr Schmerzen in der Welt, als durch die in ihr vorhandnen Freuden aufgewogen würde, gleicht mit einer leicht vorzunehmenden mutatio mutandorum dem: es gebe mehr Diamanten in der Welt, als je bezahlt werden könnten. Der Preis der Diamanten richtet sich ja eben nach der Quantität, in der er existirt; und das Urteil, daß es – im Ganzen der Welt und unter Vernachlässigung der durch äußern Zufall entstehenden Ausnahmen – immer so viel kaufendes Geld gibt wie es zu kaufende Ware gibt, ist ein analytischer, weil der Preis überhaupt nichts ist als der analytische Ausdruck für das Verhältnis zwischen vorhandenem Geld und vorhandener Ware. Sowie der Schmerz in Abwägung gegen die Lust tritt, sowie nur ein einziges Mal zugegeben ist, daß ein gewisser Grad, von ihm durch irgend einen Grad von Lust aufgewogen werden könne – so unterliegen beide den allgemeinen methodologischen Grundsätzen und Bestimmungen über das Verhältnis einander ausgleichender Werte.
IV. Die folgende Möglichkeit indeß scheint sich noch darzubieten, um die Negativität der Lustbilanz im Ganzen und Durchschnitt des Erdenlebens aufrecht zu erhalten. Man könnte den Lustwert des Lebens ungenügend finden gegenüber einem bestimmten Ideal, das das Leben erst lebenswert machte, wie man die vorhandne Sittlichkeit unzureichend findet gegenüber dem ethischen Ideal, das die Welt überhaupt erst zu einer wirklich wertvollen machen würde; so wenig der ideale Ethiker an dem Durchschnitt der menschlichen Handlungen den positiven oder negativen Wert einer Handlung ermißt, so wenig brauche es der Axiolog. Allein mit diesem Gleichnis begibt man sich der Möglichkeit, überhaupt je irgend einen Grad von Schmerz durch irgend einen Grad von Lust ausgleichen zu lassen. Denn vom Standpunkt des Ideals aus kann eine Unsittlichkeit nie »ausgeglichen« werden, das ethische Ideal kennt nicht jenen »Bauhorizont«, den Hartmann für die eudämonistische Axiologie annimmt, über den ein solches Herausschreiten möglich ist, daß das Zurückbleiben unter ihm dadurch ausgeglichen wird. Wollten wir dies in das ethische Gleichnis einführen, wollten wir so das Vorkommen von etwas, was schlechthin nicht sein sollte, durch etwas, was schlechthin sein soll, ausgleichen lassen, so würden wir damit zu jener sittlich rohen Vorstellung greifen, als gäbe es überverdienstliche Handlungen, deren über das zu verlangende Maaß hinausreichende Sittlichkeit anderweitige Unsittlichkeit kompensiren könne. Jede reinere Sittenlehre weiß, daß noch mit dem höchsten, was der Mensch thut, er nicht über seine einfache Pflicht und Schuldigkeit hinausgeht und daß auch das Ideal des Handelns nichts andres bezeichnet als das, was wir wirklich sollen und können. Es gibt keinen Grad der Sittlichkeit, der eine unter der idealen Anforderung gebliebene Handlung wieder gutmachen könne, weil es keine gibt, welche über diese Anforderung etwa um denselben Grad hinausragte, um den jene hinter ihm zurückstand. Am Ideal gemessen, ist demnach jeder Kompromiß unmöglich. Und doch findet empirisch so etwas statt; wir haben die Vorstellung, als könne jemand durch eine ungewöhnlich edle That eine vorhergegangene unsittliche auslöschen. Hier ist also offenbar nicht mehr das Ideal der Maßstab, sondern die empirische Beobachtung, das durchschnittliche sittliche Wesen des Menschen; dieses ist dann als Nullpunkt gesetzt, über den hinaus zu gehen allerdings es ausgleichen mag, daß man ein anderes Mal um ebensoviel Grade unter ihm geblieben. Wir kommen also selbst von der Vergleichung mit dem Ethischen aus auf unsre Behauptung: wenn es überhaupt eine Ausgleichung zwischen Lust- und Unlustquanten geben soll, so bezeichnet ganz allein das thatsächliche Durchschnittsverhältnis beider den Nullpunkt, von dem aus der positive oder negative Wert des einzelnen Menschenlebens gemessen werden kann.
Diese Wahrheit kommt auch in der ab und zu gehörten Vorstellung zum Durchbruch, daß dieser und jener eine Freude zu billig erkauft habe. Es ist nicht anzunehmen, daß dies immer nur vom Neide diktirt sei, um so weniger, als man bei eignem besonders leichtem und mühelosem Gelingen und Gewinnen oft selbst die Vorstellung hat, man hätte es eigentlich garnicht verdient, die Mühe und Last sei in diesem Fall zu gering gegenüber dem reichen Gewinn an Freude. Hier wird offenbar ein Maßstab für das Sichentsprechen der Lust- und Leidquanta als der richtige anerkannt, der aus der Beobachtung ihres thatsächlichen Verhältnisses, des durchschnittlich gezahlten Schmerzenspreises für die bestimmte Lust geschöpft ist.
V. Viel häufiger ist freilich das Gegenteil, die Klage, man habe die Freude zu teuer erkauft, und diese entsprießt, wie wir nach allgemeinen psychologischen Gesetzen und mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, viel seltener einer objektiven Abschätzung als der in's Unendliche gehenden Glückssehnsucht des Menschen, welche überhaupt durch kein ausdenkbares Verhältnis zwischen Lust- und Leidquanten zu befriedigen wäre. Dante sagte einmal, der Mensch pflege wie ein betrügerischer Kaufmann seine Tugenden mit der kleinen und seine Fehler mit der großen Elle zu messen; ohne weiteres läßt sich dies auf die subjektive Taxirung der Leiden und Freuden des Lebens übertragen, weil wir natürlich immer mehr Freuden haben möchten, als wir wirklich haben und diesen Wunsch zu einer sachlichen Gerechtigkeitsforderung objektiviren, der gemäß wir im Ganzen viel mehr Freuden und viel weniger Leiden haben müßten, um die richtige Proportion zwischen beiden, zu erreichen. Um noch einmal auf die typische Analogie in III. zurückzukommen: so wünscht gewiß jeder Kaufende, er möchte mehr Waare für sein Geld bekommen, als er wirklich bekommt; allein ob er ein objektives Recht dazu hat, das hängt ausschließlich von den realen Verhältnissen des Marktes ab. Der Pessimismus darf nicht behaupten, daß wir im Verhältnis zur Lust zu viel Schmerzen hätten; weil, wenn wir noch viel weniger hätten, es noch immer zu viel wären. Jene Forderung steht logisch auf gleicher Stufe mit der Bemerkung eines Schwurgerichtspräsidenten bei Eröffnung der Session: »Es lägen wieder viel mehr Meineide vor, als man wünschen könnte« – worauf er interpellirt wurde, wie viele er denn eigentlich für wünschenswert hielte? Eine richtige Proportion zwischen beiden, eine bei der der absolute Eudämonismus sich befriedigen könnte, ist ebenso ein contradictio in adjecto wie eine richtige Proportion zwischen Recht und Unrecht, Sittlichkeit und Unsittlichkeit.
Und hierin macht es keinen Unterschied, daß, wie unsre Natur einmal beschaffen ist, das Leid vielfach zum Segen wird, und Bedingung des Glücks ist; man wünscht eben eine andre Einrichtung unsrer Natur, in der es dieser Bedingung nicht bedürfe. Soviel Nutzen wir auch aus dem Leiden ziehen: die Warnung vor anrückenden Zerstörern, die Erhöhung des Denkens und Vertiefung des Fühlens – es wäre überflüssig, wenn die Welt so eingerichtet wäre, daß die Vorteile des Leides von selbst erreicht würden – eine Möglichkeit, die a priori durchaus nicht undenkbar und in der Vorstellung himmlischer Seligkeit auch realisirt ist. – Denn es ist nichts als ein barockes Paradoxon, daß der Himmel langweilig sein müßte; wenn man überhaupt die Idee eines solchen nur durch Wunder möglichen Zustandes faßt, so kann man auch ohne weitre Schwierigkeit zugeben, daß auch das Leiden der Langenweile mit allen andern Erdenleiden zugleich aufgehoben sei, sei es durch Suspendirung des Weber'schen Gesetzes, sei es durch eine in's Unendliche gehende Steigerung der lusterregenden Momente.
VI. Wenn die Forderung einer andern als der wirklichen Proportion zwischen dem Gesamtleid und der Gesamtlust keine objektive Berechtigung besitzt, wenn der Vorzug des Nichtseins vor dem Sein also nicht auf den zu hohen Schmerzenspreis der Freuden gegründet werden kann, so bleibt dem Pessimisten doch noch ein logisch möglicher Standpunkt: nämlich der von Schopenhauer eingenommene, nach dem nicht das quantitative Verhältnis von Lust und Leid, sondern das Vorkommen des Leides überhaupt dem Nichtsein den Vorzug vor dem Sein verschaffte, weil keine noch so große Wonne einen noch so kleinen Schmerz aufwöge. Dies ist nun freilich Sache persönlichen Gefühls oder metaphysischen Glaubens; allein methodisch widerlegbar scheint es mir nicht – so wenig wie seine direkte Umkehrung im optimistischen Sinne. –
Es hat eine gewisse Berechtigung, den Begriff des Aufwiegens von Freude und Leid gegeneinander überhaupt aus der philosophischen Axiologie zu streichen. Nehmen wir ihn aber hinein, machen wir den Wert des Lebens abhängig von dem Verhältnis zwischen seinem Lust- und seinem Leidquantum, so kann diese Abwägung immer nur das einzelne Leben treffen und der Nullpunkt der Skala wird durch den Durchschnitt der menschlichen Existenzen bezeichnet. Anders gelegene Nullpunkte sind Sache des Wunsches, aber nicht objektiver Berechtigung; da Lust und Schmerz sich nie unmittelbar an einander messen, sondern erst ein empirischer Maßstab für sie kreirt werden muß, so kann offenbar das Verhältnis ihrer Totalsummen weder als groß noch als klein bezeichnet werden, weil es das Absolute ist, das das in ihm enthaltene Relative bestimmt, aber nicht selbst den unter diesem geltenden Relationen unterliegt. Es bleibt also nur der Standpunkt des in II. gezeichneten Geistes, der das Ideal theoretischer und praktischer axiologischer Bestimmung bildet. – Es versteht sich von selbst, daß für ihn die optimistischen Behauptungen über das Gesamtverhältnis von Lust und Leid ebenso sinnlos sind wie die pessimistischen.
VII. Daß in der psychologischen Abwägung von Lust und Schmerz diese Norm weder zum Bewußtsein kommt noch auch in vielen Fällen sich als unbewußt wirkende nachweisen läßt, dies kann gerade vom Pessimismus nicht als Einwurf gegen sie geltend gemacht werden. Denn die Frage ist hier nur die philosophisch axiologische: welches die Beurteilung der Empfindungswerte sein müßte, um eine richtige zu sein; der Pessimismus selbst muß ja die Möglichkeit voraussetzen, daß das Urteil der meisten Menschen über die eudämonistischen Werte ihres Lebens ein falsches sei. Die menschliche Glückssehnsucht kann diese Fälschung nach zwei entgegengesetzten Seiten hin veranlassen: einmal kann sie die optimistische Illusion erregen, der Gegenstand dieser Sehnsucht sei schon mehr oder weniger erreicht; dann kann sie aber auch umgekehrt eine Unterschätzung des schon Erreichten zuwege bringen; diese beiden psychologischen Klippen bedrohen gleichmäßig die Fahrt desjenigen, der nach einem praktischen Ideale steuert.
Im Übrigen dürfen wir wohl mit Recht annehmen, daß die Urteile über gegenseitiges Aufwiegen von Lust und Schmerz, ebenso wie diese Empfindungen selbst, Resultate angehäufter und vererbter Geschlechtserfahrung und der Anpassung an die physisch-psychischen Lebensbedingungen sind, wodurch sich die verhältnismäßige Schnelligkeit, mit der sich die Fähigkeit zu solchen Urteilen ausbildet und die verhältnismäßige Geringfügigkeit der persönlichen Erfahrung erklärt, die dazu gehört – obgleich doch auch besonders bei der Jugend und bei unerfahrenen Menschen die starken Schwankungen, Ungleichheiten und offenbaren Falschheiten des eudämonologischen Maßstabes zu beobachten sind. Daß dieser Maßstab etwa bei düstern, freudearmen Indianern ein anderer sein wird, als bei den Bewohnern heiterer und mehr Freuden bietender Zonen liegt auf der Hand und bestätigt es, daß es doch die Beobachtung des thatsächlichen empirischen Verhältnisses von Lust und Leid – und nicht ihre vorgeblich absolute, an sich selbst festzustellende Größe – sein muß, von der die Beurteilung ihrer relativen Werte ausgeht.