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An dem langen, glattgebohnten Eichentische in der grauen, rauchdurchqualmten Gaststube des Adlerwirtshauses zu N. ging es gewöhnlich recht lebhaft zu. Lebenslustige Offiziere und eifrige Beamte saßen mit wohlhabenden Bürgern und Honoratioren aller Farben in trauter Eintracht beisammen und unterhielten das mannigfaltigste Gespräch, das man sich nur wünschen kann. Was der eine nicht wußte, gab der andere zum besten. Kriegsabenteuer und Marschfatalitäten wechselten mit Bureauanekdoten und Stadtneuigkeiten ab; manches Wort über Landwirtschaft, Obstbaumzucht, Viehhandel, Güterverkauf und Wetterschaden scholl dazwischen; manchmal stahl sich sogar eine geistreiche Kunstansicht, ein guter Witz, oder ein pikantes Quid pro quo mit ein, und mitunter gab es wohl auch Momente, wo ein Anflug von einer poetischen Stimmung die verschiedenartigsten Köpfe unter einen Hut brachte.
Eine stereotype Figur in diesem bunten Menschenquodlibet bildete der Postmeister Droschke, ein starker Fünfziger, mit mehr Leben in Sprechweise und Benehmen, als man seinem altjungen, verwitterten Gesicht und seinen wehmütigen Beinchen, welchen man die eindringlichen Mahnungen des Podagra von weitem ansah, beim ersten Anblicke zugetraut hätte. Er legte viel Gewicht auf seine hohen Steifstiefel mit den gewaltigen Klirrsporen, auf seinen blankgeknöpften, nach Uniformart geschnittenen Überrock, auf seine samtene reichlich mit Gold verbrämte Kappe, und tat überhaupt gar sehr militärisch. In seinem Hause ging es schmal her, er besaß die Post erst im zweiten Jahre, und, wie viele wissen wollten, nicht schuldenfrei. Droschke war, was man einen herumgehetzten Hasen nennt, der in seinem Leben gar manches versucht, erfahren, unternommen und teils aus Unbeständigkeit, teils durch Verhältnisse gezwungen, wieder aufgegeben hatte. Das letzte Geschäft, welches er betrieben, war eine Krämerei in einer Grenzstadt, welche erst durch die letzten Friedensbestimmungen dem Nachbarlande bleibend zugesprochen wurde. Sein Unternehmen hätte ihm vielleicht dort Konto tourniert, wenn er sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, den Bankier zu spielen, und wenn nicht die Chancen des Kriegsglückes, welches von den verbündeten Heeren ganz in der Nähe versucht wurde, für ihn die Quelle mancher verunglückten Spekulation und manches freiwilligen Opfers geworden wäre. Die Trümmer seines schiffbrüchigen Vermögens, von einigen mitleidigen Freunden zu einem mäßigen Sümmchen arrondiert, bildeten das Fundament, auf welchem er das Gebäude seiner Postmeisterschaft aufführte, welches jedoch auch nicht fest genug stand, um ihm nicht allerlei bedenkliche Sorgen für die Zukunft zu erwecken. Allein er besaß die Tugend des Hineinlebens in den Tag in hohem Grade, nahm jeden Taler als baren Gewinn hin und kümmerte sich eben um nicht viel mehr, als wie er behaglich auskommen und etwa seiner liebenswürdigen neunzehnjährigen Tochter Adolfine vor dem Eintritt in ihr zweites Lebensdezennium eine annehmbare Partie verschaffen könnte. Dem Vater schien es übrigens weit mehr darum zu tun, als der Tochter selbst, welche zu still und eingezogen war, um ihm die Schritte zu diesem Ziele zu erleichtern. Adolfine lebte nur für das Haus, welches sie seit dem Tode ihrer Mutter weit ersprießlicher leitete, als es je bisher der Fall war. Nur selten zeigte sie sich in der sogenannten großen Welt des kleinen Städtchens, in deren Freuden und Zerstreuungen sie wenig Befriedigung zu finden schien. Sie tat nicht mehr dazu, als was hinreichte, um sich von dem Rufe einer Sonderlingsnatur zu bewahren, hinter welchem sich gar oft nur die Eitelkeit versteckt, und wußte selbst bei den wenigen Gelegenheiten, wo sie in größeren Kreisen auftrat, einen so würdigen Ernst, eine so sanftmütige Ruhe zu bewahren, daß ihr nicht nur alle Männer, sondern sogar alle Frauen und Mädchen der Stadt volle Gerechtigkeit widerfahren ließen. Ohne abstoßend zu sein, verbreitete sie durch den Adel ihrer Mienen und durch den Anstand ihrer Reden und Handlungen einen solchen Nimbus um sich her, daß selbst die frivolsten Dandys sie mit ihren zweideutigen Galanterien verschonten und sich, um in ihrer Nähe weilen zu dürfen, anstrengten, doch bisweilen etwas Vernünftiges zu denken und zu sprechen. So viele Männer daher sich auch bewarben, bei einem so liebenswürdigen weiblichen Wesen etwas zu gelten, so wußte die allzeit fertige Kombinationsgabe der Kaffeeplauderinnen, trotz aller Anstrengung, doch nicht einen Mann in der Stadt zu bezeichnen, auf welchen sich die beliebte Redensart: »Dem gehört sie zu!« hätte anwenden lassen.
Ein einziger Mann, und dazu eben nicht der liebenswürdigste, rühmte sich, die schöne Adolfine doch einmal noch als Braut nach Hause zu führen. Es war der allbekannte Rittmeister Starinsky, ein wilder Haudegen, dem alle Philosophie und alles Studium in den Sarraß gefahren zu sein schien, indem er ihn als letzte Instanz in allen Gesprächen und Situationen betrachtete. Er besaß etwas Vermögen und konnte auf die nächst erledigte Stelle eines Eskadronschefs mit Sicherheit rechnen; zudem stand er in dem Rufe eines tüchtigen Fechters, und auch sein Äußeres hatte zwar viel Martialisches, aber eben nichts Widerliches oder Abschreckendes an sich; Gründe genug, um ihm Mut zur kühnsten Bewerbung zu geben, wofür er den Antrag, eine wenig bemittelte Postmeisterstochter zu heiraten, denn doch nicht hielt. Als guter Taktiker sah er es aber zuerst auf den Vater ab, – und diesen zu gewinnen, war eben nicht schwer. Ein paar Abende bei Champagner und Karten, eine fidele Bruderschaft, durch einen kleinen Geldvorschuß betätigt, – und Droschke kannte nun keinen herzlicheren, solideren, achtungswerteren und liebenswürdigeren Menschen mehr, als den Rittmeister.
»Mädchen, Mädchen,« sprach er oft hingeworfen zu seiner Tochter, »wenn du nicht meine rechte Hand im Hause wärest, – so wüßte ich dir einen Bräutigam, einen Bräutigam, der für dich wie geschaffen ist!«
Adolfine lächelte wehmütig zu solchen Reden und suchte sie als Scherz auszulegen, wiewohl sie wenig Grund hatte, der Charakterstärke ihres Vaters etwas zuzutrauen. Dieser rückte auch immer näher und näher und wiederholte seine Anspielungen immer eindringlicher, bis er zuletzt gar einen Namen nannte, welchen Adolfine lange schon zu hören gefürchtet hatte.
»Nun, Mädchen, was sagst du zu diesem Namen?« sprach Droschke wohlgefällig schmunzelnd. »Frau Rittmeisterin, bald ohne Zweifel Frau eines Eskadronchefs! – Wie manchem Mädchen würde das Herz bei diesen Titeln hüpfen! Ich denke, du könntest dir keine vorteilhaftere Partie wünschen!«
»Lieber Vater!« wiederholte das Mädchen, »das ist alles wohl nur Ihr Scherz! Das Schicksal hat mich zu Ihrer Haushälterin gemacht; so traurig der Umstand war, welcher mir diese Verpflichtung übertrug, so sehr fühle ich mich durch das Bewußtsein befriedigt, Ihnen gewissermaßen unentbehrlich geworden zu sein. Nicht als ob ich meine geringen Dienste so hoch anschlüge; – aber die Gewohnheit dürfte sie vielleicht in Ihren Augen höher stellen, als sie es verdienen! Ich kenne Ihre Bedürfnisse, Ihre Neigungen und Antipathien, Ihre Stimmungen und Launen, und fühle mich glücklich durch den Gedanken, Ihnen doch manches besser tun und leisten zu können, als es eine Fremde vermöchte. Ich müßte glauben, daß Sie mit meinem Bestreben nicht mehr zufrieden seien, daß Sie mich aus dem Hause haben wollen, oder daß Ihnen eine Tochter unmöglich die Stelle einer Gattin ersetzen könne, – wenn das Ihr Ernst wäre, was Sie mir seit einiger Zeit schon zu verstehen geben –!«
»Ei nicht doch, nicht doch, Töchterlein!« versetzte Droschke mit lebhafter Rührung, in welche sein bewegliches Gemüt gar leicht geriet, »so war es nicht gemeint! Du bist mein alles, und alles, was du mir tust und machst, könnte mir kein Engel aus dem Himmel besser nach Wunsch und Willen tun. Gott wolle verhüten, daß ich dich je von meiner Seite ließe, oder dir von der Seite ginge! – Dafür müßte vor allen gesorgt sein! – Aber sieh! Ich bin nicht mehr jung, die leidige Gicht fährt mir manchmal ganz unsanft in die Beine; – über kurz und lang würdest du allein in der Welt stehen!«
»Ich bin nie allein,« seufzte Adolfine halblaut, »der liebe Gott wird wohl dafür sorgen, daß es nie dahin komme!«
»Das sind schwärmerische Ideen,« fuhr Droschke fort, »die nicht ins praktische Leben passen! Freilich wird der liebe Gott dafür sorgen, aber durch wen? Durch deinen Vater! So ist es der Welt Lauf. Was das Wohl der Kinder betrifft, so sind die Eltern die Vollstrecker des göttlichen Willens, und als solcher muß ich, so schwer es mir auch fällt, gegen deine Neigung zu sprechen, dir rund heraus sagen, daß ich ernstlich daran denke, dir einen braven Mann zuzuführen. Wäre dein Herz nicht mehr frei, könntest du mir einen nennen, – eh bien! – mit Freuden gäb' ich meinen Segen dazu, überzeugt, daß du eine gute Wahl trafest. Aber da du frei bist und mir keinen nennen kannst, so nenne ich ihn dir, – meinen wackeren Freund und Bruder Starinsky!«
Adolfine verhüllte ihr Gesicht mit beiden Händen und sank halb ohnmächtig auf einen Stuhl zurück. »Fasse dich, Töchterlein!« tröstete sie der Vater, zärtlich mit ihr beschäftigt, »das ist Gewitterregen, Streifhagel! Geht bald vorüber, – ist bei euch allen so! Auch deine selige Mutter fiel in Ohnmacht, als mich ihre Mama ihr als Bräutigam vorstellte, und doch war sie in vierzehn Tagen darauf meine Frau, lebte zwanzig Jahre mit mir in gutem Einvernehmen, und brachte mir zwar nur ein Pfand der Liebe, aber ein köstliches, unvergleichliches, dich – Adolfine! überlege die Sache ruhig, erwäge alles dafür und dawider, und du wirst sehen, daß dein Vater nichts von dir fordert, wozu er nicht das Recht und die Pflicht hätte!«
Adolfine hatte sich erholt und hörte die Worte ihres Vaters schweigend und gedankenvoll an. Lange saß sie noch, wie eine Statue mit tränenlosen Augen vor sich hinstarrend, als der Alte schon fort war, und schien in ihrem Geiste Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrachtend zu durchwandern.
»Sie ist versorgt!« rief Droschke eines Abends mit ungewöhnlicher Begeisterung aus, stürzte seinen perlenden Champagner hastig hinunter, und forderte die ganze Gesellschaft an dem langen, glattgebohnten Eichentische, die er heute bewirtete, zur Nagelprobe auf.
»Ja, sie ist versorgt!« wiederholte er freudig, »und ich wünsche jedem Vater, der eine Tochter hat, wie meine Adolfine, daß er recht bald auch seine Freunde so um sich versammeln und mit ihnen auf das Wohl eines lieben Bräutchens anstoßen könne!«
»Also wirklich? Ihre Adolfine ist Braut?« scholl es aus zehn Kehlen zugleich, und niemand wollte recht glauben, daß eine Sache wahr sein könne, von welcher nicht schon wenigstens ein halbes Jahr vorher in der ganzen Stadt geplaudert worden. Mit gesteigerter Neugierde fragte man um den Namen des vielbeneideten Bräutigams.
»Raten Sie, meine Herren,« erwiderte Droschke, seelenfroh die Hände reibend, »raten Sie, Sie kennen ihn alle! Er ist oft in unserer Gesellschaft und wäre auch heute hier, wenn er nicht wegen Familienangelegenheiten eilends bei Nacht und Nebel hätte abreisen müssen.«
»Rittmeister Starinsky?« scholl es von allen Seiten.
»Getroffen!« versetzte Droschke lachend. »Wenigstens hab' ich Ihnen das Rätsel nicht allzu schwer gemacht; man weiß hier so gut, wer abreist, als wer ankommt, und wenn's um Mitternacht geschähe. Der martialische Herr Rittmeister streckte vor meiner Tochter die Waffen und will jetzt in den Armen der Liebe sein wildes Heldenfeuer zu sanfteren Trieben ermäßigen! Nun, meine Herren, hab' ich die Sache nicht gut gemacht?«
Die Akklamationen der Gesellschaft auf diese Frage waren weder einstimmig, noch lebhaft. Aber Droschke war so sehr in seinem Freude versunken, daß er, alle mangelnden Stimmen ersetzend, ausrief: »Trefflich hab' ich's gemacht, trefflich! – Ja, wenn ein Postmeister nicht wüßte, wie man vorwärts kommt, das wär' übel! Anfangs wollt' es freilich nicht vom Flecke; das Mädchen legte manches Wenn und Aber als Radschuh an; allein ich rief die Vorspann der väterlichen Autorität zu Hilfe, und nun ging's im gestreckten Galopp ans Ziel! Wie gesagt, eine Hauptaufgabe meines Lebens ist gelöst, Starinsky ist mein Schwiegersohn, meine Adolfine ist versorgt!«
Man wollte den guten Mann nicht aus seinem Himmel herabwerfen, zumal da man wußte, wie hartnäckig er, trotz seines Wankelmutes im allgemeinen, auf Lieblingsideen bestand, sobald man sie ihm anfocht. Einige wünschten ihm daher höflichkeitshalber Glück zu seiner Wahl, andere fragten ihn aus Neugierde um das Wie und Wann, die meisten aber steckten die Köpfe zusammen, und wählten das aufgeworfene Hochzeitsthema zum Gegenstande ihrer Privatunterhaltung. Hätte er diese mit belauscht, so würde ihm vielleicht mancher Skrupel in betreff der Wahl seines Schwiegersohnes aufgefahren sein. Wenigstens lautete das allgemeine Urteil über den Rittmeister nicht am günstigsten. Daß er ein guter Soldat sei, konnte niemand leugnen, allein im ganzen galt er für einen raschen, rauhen Mann ohne feinere Bildung, ohne feste Grundsätze, gewöhnt an ein vielbewegtes Abenteurerleben, welches sich in der Regel nur schwer gegen das stille, einförmige Treiben der Häuslichkeit vertauschen läßt. Selbst Starinskys Kameraden wußten wohl viele Beispiele von seiner Unerschrockenheit, seiner Keckheit und seiner Bravour, aber wenige oder keine Züge von Herzlichkeit, Edelmut und Zartgefühl herzuzählen. – »Für einen solchen Eisenfresser hätte eher,« hieß es, »eine Amazone gepaßt, als so ein gemütliches, stilles Wesen wie Adolfine! Nun, – die Liebe wirkt ja Wunder,« – so setzte der fromme Wunsch hinzu, – »vielleicht kann eine Frau von so sanftmütigem Charakter auch dem Rittmeister einige Sanftmut beibringen, und sich eben in diesem Bewußtsein glücklich fühlen!«
Droschke nahm von allen diesen Bemerkungen, die ihm wenigstens bruchstückweise zu Ohren kamen, keine Notiz, denn vor seinen Augen schimmerten nur die Worte: »Sie ist versorgt, sie ist versorgt!« – Er selbst konnte kaum begreifen, wie schnell das gegangen war, und wie bald sich das Mädchen, trotz seines anfänglichen Weigerns, gefügt hatte. Allein er sah, wie alle eigensinnigen Menschen, nur auf das Resultat und forschte nicht nach den schweren Kämpfen, die es seiner armen Tochter kostete, bis der Entschluß, sich blind dem väterlichen Willen zu fügen, zur Reife kam.
Es waren die bittersten Stunden ihres Lebens, welche sie nach jenem Tage zubrachte, an welchem sich ihr Vater hinsichtlich des Rittmeisters entschieden geäußert hatte. In der Einsamkeit ihres Stübchens, im Laubdunkel des Gartens, in der Stille der Nacht hielt sie mit ihrem Herzen und mit ihrem Kopfe Rat und unterzog ihre ganze Gefühlswelt der gewissenhaftesten Musterung; – aber wo sie auch immer anfragte, überall klang es zurück: »Lieber sterben, als ohne Neigung heiraten!« – Ein eisiger Schauder, wofür sie keinen hinreichenden Grund fand, durchrieselte sie bei dem Gedanken, ihre Tage, so kurz auch deren Zahl wäre, in Zukunft an des Rittmeisters Seite zubringen zu müssen. Ihr Entschluß schien gefaßt, er lautete: »Nie, nie!« – Allein der Wille ihres Vaters sprach ja entschieden dagegen, und ihr Vater liebte sie innig, das wußte sie, und ein Kind, das man innig liebt, wird man ja doch nicht absichtlich zugrunde richten wollen! – Dieser Zweifel drängte sich ihrem edlen Gemüte zu ungestüm auf, als daß sie ihn geradezu hätte abweisen können. – »Wohlan,« sprach sie zu sich selbst, »mein eigenes Herz hab' ich gehört, ich will auch noch die Stimme der Freundschaft hören!«
Die achtbare Frau des Stadtarztes, eine wackere Hausfrau und zärtliche Mutter, war das einzige Wesen, welchem sich Adolfine näher angeschlossen hatte. In der Angst ihres Herzens eilte sie daher zu ihrer guten Amalie, fest entschlossen, sich unbedingt den Aussprüchen derselben zu unterwerfen, indem sie als gewiß voraussetzte, daß er mit dem ihres eigenen Herzens harmonieren werde. Mit inniger Offenheit legte sie das rückhaltslose Bekenntnis ihrer Seele ab.
»Und was gedenkst du nun zu tun?« fragte Amalie, nachdem sie mit großer Aufmerksamkeit dem Geständnisse zugehört hatte.
»Ich will ledig bleiben!« versetzte Adolfine fest. »Lieber sterben, als ein Verhältnis eingehen, welches dem Drange des Herzens widerstrebt!«
Amalie faßte ihre Freundin zutraulich bei der Hand, sah ihr forschend ins Auge, und sprach: »Liebe Freundin, bedenke wohl, was du sprichst. Man soll auf einen Schritt, der zur Erreichung eines Lebenszweckes führt, nicht so leicht verzichten, wie auf eine Einladung zu einem Balle oder zu einer andern gleichgültigen Handlung. Du bist ein Mädchen; Gattin und Mutter zu werden, ist deine Bestimmung hienieden. Tausende, die es wünschen, können sie nicht erreichen, dir führt der eigene Vater den Mann zu, an dessen Seite du den Anforderungen des Lebens an dich entsprechen kannst; einen Mann, welcher seine Fehler und Schwächen hat wie jeder Mensch, aber einem ehrenvollen Stande angehört, männlichen Sinn mit gereifter Erfahrung verbindet und auch die Mittel besitzt, um dich anständig zu erhalten. Für seinen moralischen Wert mag dir der Umstand bürgen, daß ihn ein Vater wählte, der in jedem Falle an seiner Tochter mehr verliert, als er an seinem Eidam gewinnen kann. Er bringt ein Opfer, um dich zur Frau zu machen, und das tut er sicherlich nicht ohne Grund. Ich an deiner Stelle schlüge ein!«
»Aber ich liebe ihn nicht, kenne ihn ja kaum!« schluchzte Adolfine, durch den unerwarteten Rat ihrer Freundin schmerzlich überrascht.
»Vielleicht liebtest du ihn, wenn du ihn näher kenntest!« fuhr jene fort. »Ach! Liebe, Liebe, vieldeutiges Wort, und eben in seinem unhaltbarsten Sinne am leidenschaftlichsten gesucht und gepriesen! Und wenn uns nun die Liebe zur Ehe geführt hat, da müssen wir uns durch manches lange Jahr erst gewöhnen, es mit einem andern Wort und Gefühle zu vertauschen, welches besser ins Leben paßt. Warum sollte eine Ehe, die schon da beginnt, wohin es andere erst bringen müssen, schlechterdings unglücklich sein? Ich lebe fünfzehn Jahre mit meinem Gatten, ich liebe ihn inniger als je, er ist mein wahrer Freund; – aber jene schwärmerische Liebe, welche man fast ausschließend zur Bedingung einer glücklichen Ehe macht, ist längst vorüber. Hältst du es denn für unumgänglich notwendig, früher zu träumen, um dann zu erwachen? – Ich denke, man könne ja auch wach vom ersten Augenblicke an in ein Verhältnis treten, in welchem Wachsein so nötig ist. Der Mann, den dir dein Vater gewählt, ist nicht mehr zu jung, desto ernster wird er das Leben nehmen; – ein großer Vorteil! Er hat nichts Abstoßendes in seinem Äußeren; – was braucht es mehr? – Schönheit ist vergänglich und verführerisch. Für seine Herzensgüte und alles übrige ist, wie gesagt, die Sorgfalt eines Vaters hinreichende Bürgschaft. Hat er Mängel an sich, so bleibt dir das befriedigende Bewußtsein vorbehalten, dir einmal sagen zu können: ›Mein Mann ist durch mich besser geworden!‹ – Und heiratet man denn nur, um eine Frau zu sein? Sieh her, liebe Adolfine, – hier mein Karl, hier mein Heinrich, dort meine Cölestine, – wo wären sie, wenn ich einst so gesprochen hätte wie du? – Gleiche Früchte hofft die Welt von jeder unseres Geschlechtes; wie willst du es nennen, wenn wir Gelegenheit haben, dieser Forderung der Welt an unser Herz zu entsprechen und wir sie täuschen? – Ich möchte es Sünde nennen; wo nicht einen Raub, doch wenigstens ein sträfliches Versäumnis! – Obwohl ich manche trübe Stunde, manchen Tag der Angst und der Entbehrung verlebt habe, so bereue ich es doch nie, geheiratet zu haben! – Die Sache ist so klar, so offen, so ohne alle Hindernis, daß ich nicht begreife, warum du zögern solltest. – Wir sind keine Engel und haben auch daher keine Ansprüche auf Engel; wir leben auf einer Erde, wo man sich mit seinen Wünschen fein bescheiden muß, wenn man nicht bitter enttäuscht werden will. Wenn du von diesem Gesichtspunkte ausgehest, so sehe ich nicht ein, wie du mit der Wahl deines Vaters unzufrieden sein könntest; – es wäre denn, daß du mir nicht alles gestanden hättest, was dir auf der Seele liegt.«
Adolfine errötete; tiefe Bewegung malte sich in ihrem sprechenden Auge; allein ihre Zunge sträubte sich, ein Geständnis zu tun, welches sie noch keiner sterblichen Seele gemacht hatte.
»Du bist vielleicht nicht mehr frei?« forschte Amalie, in den Herzenstiefen ihrer Freundin lesend. – »Du liebst schon? Hast du schon gewählt?«
Adolfine sank weinend ihrer Freundin um den Hals.
»Hier?« fragte Amalie.
»Dort!« – erwiderte Adolfine, gegen Himmel deutend, indem ihr tränenumflortes Auge der Bewegung ihrer Hand nachfolgte.
»Dort?« wiederholte Amalie überrascht. »Du hast also schon geliebt, und deine Liebe folgte dem entrissenen Gegenstande nach jenseits?«
Adolfine nickte schweigend und lag lange schluchzend in Amaliens Armen. Erst nach einer feierlichen Pause wechselseitiger Rührung gestand sie ihrer Freundin folgendes. – Vor drei Jahren, als noch feindliche Invasionen die Grenze beunruhigten und ihr Vater im äußersten Orte der Provinz seine Krämerei betrieb, gab es Truppendurchzüge ohne Ende. Eine Seltenheit war es, wenn ein Militärkörper länger als einige Tage in der Grenzstadt lag. Unter die Ausnahmen dieser Art gehörte der Aufenthalt eines Jäger-Bataillons von der befreundeten Armee des Nachbarlandes, welches mit einem heimischen Artillerie-Train einige Monate hindurch die stabile Besatzung des nicht unwichtigen Punktes bildete. Ein Hauptmann des Jäger-Bataillons, welches größtenteils aus Freiwillige gebildet war und viele Studenten unter seinen Führern zählte, war bei Droschke einquartiert. Das Erscheinen des jungen, liebenswürdigen Offiziers, welcher ebenfalls erst durch den Drang der neuesten Ereignisse bewogen, das Banner der Minerva mit der Fahne des Mars vertauscht hatte, fiel eben in Adolfinens ersten Lebensfestmond, wo ihr erwachendes Gefühl nach Idealen haschte. Sie schien es an dem männlich schönen Ernest Heim, dem mutvollen Vorkämpfer seiner patriotischen Kriegerschar, gefunden zu haben. Kurze Wochen reichten hin, um einen Bund für die Ewigkeit zu knüpfen. Die Macht der ersten Liebe wirkte in zwei Herzen gleich gewaltig, und nach beendigtem Kriege versprach Ernest, als der einzige Sohn wohlhabender Eltern, seiner schönen Adolfine, sie als Braut nach Hause zu führen. Damals lebte noch Adolfinens Mutter; sie wußte allein um diese Liebe, für welche Droschke, in Spekulationen aller Art bis über die Ohren vertieft, zu jener Zeit wenig Interesse gehabt haben würde. Aber ein Ereignis der traurigsten Art zerstörte diesen innigen Verein. Eines Morgens war der Hauptmann aus seinem Zimmer verschwunden; ein Zettel, den er zurückgelassen, meldete, daß er durch das Los bestimmt worden sei, die Ehre des Bataillons gegen die kecken Anmaßungen eines gereizten Herausforderers zu verteidigen. Zugleich enthielt der Zettel die Bitte, was zu geschehen habe, wenn das Duell mit seinem Tode enden sollte, nebst einer kurzen, überaus herzlichen Zeile an Adolfine, welche seinen Abschied und den Schwur ewiger Liebe aussprach. In verzweifelter Angst erwartete diese den Ausgang des Tages. Aber noch war es nicht Mittag, als man den Hauptmann tödlich verwundet zurückbrachte. Der Stich seines Gegners, eines Offiziers von dem Korps der Feuerwerker, war ihm durch die Brust gegangen; er war wohl noch der Sinne, aber nicht der Stimme mehr mächtig. Adolfine sah ihn verscheiden; sein letzter Blick drang ihr unvergeßlich in das Innerste der Seele.
»Und diesen Blick,« schloß Adolfine, »kann ich nicht vergessen; er band mich fester als der lauteste Schwur. In Ernest hab' ich mein Ideal gefunden; ich weiß, ich werde keinen Mann je finden, der mir das sein könnte, was er mir war. Meine Liebe ist mit ihm gestorben für diese Welt; sie lebt jenseits in der Erinnerung an ihn!«
»Wohl dir, liebe Freundin!« versetzte Amalie, »du hast deine Jugendliebe, rein und heilig, für alle Zeit bewahrt und gesichert! Sie bleibt als ein abgeschlossenes Ganzes, unangetastet und unentweiht, ein schönes Eigentum deiner Seele. So unglücklich du warst, so beneidenswert stehst du in dieser Beziehung vor Tausenden, deren erste Liebe abglimmt und verflackert wie Kerzenlicht oder durch nachfolgende Enttäuschungen getrübt und ihres ätherischen Lichtglanzes beraubt wird. Du hast in der Erinnerung an den Verklärten einen Trost für alle Fälle des Lebens, ein Asyl in Leiden, einen Stern in jeder Nacht. Aber um so sträflicher wär' es, dem Leben ganz entsagen, jede Anforderung der Welt an dich zurückweisen, jede Pflicht von dir abschütteln zu wollen. Was du deinem Ernest warst, ist übertragen auf ein anderes Gebiet, auf das Gebiet geistiger Erhebung; er ist der Schutzgeist, der dich hienieden umschweben wird, wo du weilest; – was er dir im Leben hätte werden können, hat er durch seinen Tod auf jenen vererbt, der bestimmt ist, dein Gatte zu werden, der durch deines Vaters Mund dir angezeigt ist. Darum, Adolfine, rate ich dir nochmals, schlag ein! Der Schatten deines verblichenen Ernest wird dir gewiß nicht zürnen, wenn du ihm beweisest, wie schön du die Rolle des Schauspieles zu Ende führen kannst, dessen Vorspiel du mit ihm durchlebtest!«
Lange sträubte sich Adolfine gegen Amaliens Vorstellungen; aber diese war zu sehr Meisterin des Wortes, um ein so schwärmerisches Gemüt nicht gänzlich zu bewältigen.
Adolfinens Worte, als sie kam, waren: »Nie, nie! Lieber sterben als heiraten!« – Als sie ging, umarmte sie ihre Freundin mit dem Ausrufe: »Da hast du mein Wort, Amalie, – der Rittmeister wird mein Gatte; – aber du hast es auf deinem Gewissen!«
Amalie war in ihrer Ehe als Gattin und Mutter zu glücklich, um zu fürchten, daß ein braves Mädchen als Gattin und Mutter unglücklich werden könnte.
Vierzehn Tage nach dieser Unterredung läuteten eines Abends die Glocken des Pfarrturmes zur Trauung. So wenig man es auch darauf abgesehen hatte, so war doch die Kirche gedrängt voll, denn alles nahm an der schönen braven Braut innigen Anteil, und vielleicht hatte sich mancher junge Mann, der jetzt einen unbemerkten Zuseher abgab, vor kurzem noch mit der Hoffnung geschmeichelt, einmal an der Stelle zu stehen, welche jetzt der Rittmeister im stolzen Bewußtsein des errungenen Sieges einnahm.
Einfach und anspruchslos, in nettem, weißem Kleide, eine weiße Rose in ihren dunklen Locken, schritt Adolfine an der Seite ihres Bräutigams durch das Spalier der Neugierigen. Manche wollten behaupten, daß sie eher einem Schlachtopfer gliche, als einer Braut, denn nur wenige waren der Meinung, daß sie sich als Gattin des Rittmeisters glücklich fühlen würde. Ihr Blick war ernst und ruhig, allein es war mehr die gleichgültige Ruhe entschiedener Resignation, als jene ungetrübte heitere Spiegelung erfüllter Sehnsucht, welche über das Antlitz glücklicher Bräute solch einen ätherischen Schimmer haucht. Wie ein Werkzeug fremder Willkür ließ sie alles mit sich geschehen, was die Zeremonie erforderte. Sie verriet weder eine Spur von Freude, noch von Leid, und selbst das Jawort, diese verhängnisvolle Silbe, welcher das Ohr aller Neugierigen, als einem truglosen Prognostikum der Zukunft, mit reger Spannung lauscht, klang weder rasch, in ungeduldiger Freude sich überstürzend, noch weinerlich zitternd vor banger Ahnung, sondern deutlich und bestimmt, wie der Ausdruck der besonnensten Überlegung. Nur der Blick schien der Szene untreu und blieb, während des ganzen Trauungsaktes, starr zur Gottesmutter emporgeheftet, welche von dem Altarblatte lächelnd auf die Geopferte herabsah.
So ruhig aber die Tochter blieb, so bewegt gebärdete sich der Vater. Aus dem seligsten Lachen in das lauteste Schluchzen der Rührung überspringend, streifte er mehr als einmal ans Lächerliche und machte endlich nach vollzogener Feierlichkeit seinem Entzücken mit dem wiederholten Ausrufe: »Sie ist versorgt, sie ist versorgt!« in verschwenderischen Küssen und Umarmungen Luft.
Der Rittmeister war in bezug auf das weibliche Geschlecht kein Neuling. Er mochte es daher gar wohl eingesehen haben, daß ihn Adolfine nicht aus Liebe heirate, sondern nur, weil es ihr Vater wünschte und weil sie eben nichts gegen die Person ihres Bräutigams einwenden konnte. Er begnügte sich vorderhand mit dieser negativen Haltung, und gedachte sich durch nachgiebige Aufmerksamkeit gerechte Ansprüche auf eine gleiche Begegnung von seiten seiner Gattin zu begründen. Ohne daher mit ungestümer Zudringlichkeit gleich im ersten Augenblicke alles geltend machen zu wollen, was der Ehering in seinem goldenen Reifen einschließt, ließ er sie ohne Widerrede gewähren, um sie nach und nach an ihren Stand zu gewöhnen. Der günstige Eindruck konnte nicht fehlen. – Adolfine, welche in des Rittmeisters Wohnung mit dem Gefühle einer Sklavin einzog, die das Harem ihres neuen Herrn betritt, erkannte diese zarte Schonung ihrer Freiheit mit Dank an und erwiderte sie mit Beweisen herzlicher Achtung. Als der Rittmeister sah, daß die Behandlung wirke, setzte er sie mit lobenswerter Geduld fort und dachte sich: »Die Weiber muß man selbst kommen lassen. Sie gewähren uns nach und nach alles, was wir wollen, wenn wir nur tun, als ob uns nichts daran läge. Ein Fabius manöveriert gegen sie wirksamer, als ein Hannibal!«Quintus Fabius Maximus, genannt cunctator, der Zauderer, erkannte, daß er Hannibal in offener Feldschlacht nicht überwinden könne, und suchte ihn daher durch kleine Gefechte und andere Schachzüge zu ermüden.
Wenn ihm etwas an ihr unangenehm auffiel, so war es ihr momentanes Versinken in sich selbst, ein unerklärbarer Tiefsinn, der oft in völlige Verlorenheit überging. – »Dagegen hilft nur Zerstreuung, – und eine Reise zerstreut am besten!« – Er machte ihr daher den Vorschlag, mit ihm einen Ausflug zu seinen Verwandten zu unternehmen, welchen er ohnehin versprochen habe, seine liebe junge Frau ihnen vorzustellen. Es war das erstemal, daß sie sich auf länger von ihrem Vater trennen sollte; es war aber auch das erstemal, daß sie ihr Gatte um etwas bat. Er hatte ihr in so vielen Dingen bis jetzt nachgegeben; das Gefühl der Billigkeit forderte es von ihr, dieses Opfer zu bringen, so schwer es ihr auch ankäme. Starinsky stellte sich entzückt über Adolfinens Einwilligung, und in wenigen Tagen darauf rollte der Reisewagen über die Grenze der Nachbarprovinz.
Bei des Rittmeisters Verwandten fand Adolfine eine überaus herzliche Aufnahme, welche ganz geeignet war, sie heiterer zu stimmen. Unterhaltungen, Spazierfahrten, Besuche in der Residenz, wo Schauspiel, Oper, militärische Aufzüge und Merkwürdigkeiten aller Art die Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, wechselten mit häuslichen Festen und traulichen Familienzirkeln, und jenes herzliche Sichgehenlassen, jene ungezwungene Behaglichkeit, welcher sich jeder Mensch im Schoße der Heimat und im Kreise der Seinigen rückhaltloser hingibt, ließen Adolfinen auch an ihrem Gatten manchen Zug entdecken, der sie ihm geneigter machte und näher rückte, als es sonst vielleicht in Monaten geschehen wäre. Sie fing allmählich an, sich in ihr Verhältnis leichter und zwangloser zu finden, und gestand sich mehr als einmal selbst, daß sie es denn doch nicht so schlimm getroffen habe, als sie fürchtete. Nur wenn an manchem stillen Abende sich das Bild des armen Ernest vor ihre Seele drängte, da stieg es ihr heiß in die Wangen und unruhiger rang sie dann mit dem quälenden Zweifel, ob es Untreue gegen ihren Gatten sei, wenn sie an Ernest denke, oder Frevel an Ernests Schatten, wenn sie jenem hielte, was sie ihm doch vor dem Altare zugelobt. Nur die Erinnerung an Amaliens Reden konnte sie dann beschwichtigen und das Pflichtgefühl zu jener Stärke steigern, mit welcher es in einem unverdorbenen Herzen den Sieg über alle anderen Empfindungen davonzutragen imstande ist.
Adolfinens Rückkehr verursachte sowohl ihrem Vater, als Amalien die innigste Freude. Sie fanden sie viel heiterer, viel lebhafter, viel zufriedener als vor ihrer Abreise, und wenn Droschke nun um so freudiger sich schmeichelte, seine Tochter gut versorgt zu haben, so fühlte sich Amalie getröstet durch das Bewußtsein, daß sie ihrer Freundin wenigstens nicht allzuübel geraten. Der nächste Sonntag wurde dazu bestimmt, durch ein kleines Festmahl im Freien mit guten Freunden und Bekannten die Zurückkunft des Ehepaares herzlich zu feiern.
Auf einem schattigen Hügel vor der Stadt war der Tisch gedeckt, an welchem sich Droschke mit Adolfinen, deren Gatten und einer gewählten Anzahl frohgestimmter Herren und Frauen ungezwungener Heiterkeit hingab. Im üppigsten Schmucke des Frühlings dehnte sich die Ebene mit ihren Saatfeldern, Dörfern, Wäldchen und Gehöften bis an den Fuß der nördlichen Hügelreihen hin, über welche das Hochgebirge, vom Höhenrauche des Mittags bläulich umduftet, in undeutlichen Umrissen hereinragte. In hundert und abermal hundert Krümmungen wand sich das bläuliche Flüßchen von dem westlichen Fichtengehölze her über die buntgeschachte Fläche des Tales. Seinen Windungen bald sich nähernd, bald sie fliehend, lief die Heerstraße wie ein braunes, straffgezogenes Band dem fernen Süden zu. Ein erquickliches Lüftchen wehte bisweilen durch die säuselnden Buchenwipfel, die der Gesellschaft zum grünen Schirmdache dienten, und lüstern äugelte der Sonnenstrahl durch das bewegte Laub auf die Kristallflaschen herab, deren würziger Inhalt bald dazu dienen sollte, die Zungen der Männer gesprächiger zu machen, als sie bis nun schon waren. Droschke war in seinem Seelenvergnügen und blickte auf sein Töchterlein, welches zwischen einem Kameraden Starinskys und Amalien saß, oft so zärtlich hinüber, als ob er seinen Tischnachbar, den Rittmeister, zum Wettstreite auffordern wollte. Aber je lustiger die Tischgesellschaft wurde, desto sinnender blickte Adolfine vor sich hin, und Amalie hatte viele Mühe, ihrer Freundin Teilnahme an einem Vergnügen einzuflößen, wofür sie von jeher nur wenig Interesse zeigte. Erst mehrmaliger Aufforderung, über dieses oder jenes, was sie auf ihrer Reise gesehen, sich zu äußern, gab sie endlich nach und entfaltete, einmal ins Gespräch verflochten, eine solche Fülle gemütlicher Züge und treffender Bemerkungen, daß Starinsky selbst gestehen mußte, es sei gar vieles von dem, was er jetzt höre, spurlos an ihm vorübergegangen.
Das Thema war nun gegeben und wurde im mannigfaltigsten Wechsel durchgeführt. Reiseabenteuer aller Art kamen an die Reihe, und da mehrere Herren vom Militärstande an der Tafel saßen, so sprang das Gespräch gar bald vom Reisen aufs Marschieren und vom Gebiete des Friedens auf das des Krieges über. Gleichzeitig ging es auch an die Toaste, und je öfter die Gläser klangen und je lauter die auf Ordre der Herren Offiziere herbeigekommene Bataillonsbande ihre lieblichen Tonstücke anstimmte, desto lebhafter wurde erzählt und geschildert und mitunter auch – extemporiert.
Adolfine war indes wieder in sich selbst zurückgesunken und gab ihrer Nachbarin, der es nicht entging, nur halbe, wohl gar ironische Antworten, womit sie nicht verwunden, sondern einem verwandten Herzen nur andeuten wollte, wie sehr sie selbst verwundet sei. Den übrigen Gästen fiel es weniger auf, da jetzt die militärische Partei die Oberhand in der Konversation behauptete, und Vater Droschke meinte, seine Tochter horche der Musik so aufmerksam zu, für welche sie immer eine besondere Vorliebe hatte. Das war wohl auch der Fall, aber was für Empfindungen mit den Klängen in Adolfinens Herz einzogen, wie mancher Ton durch alle ihre Nerven schmerzlich nachzitterte, davon hatte vielleicht niemand außer Amalien eine Ahnung.
Eben wurde wieder ein lustiges Jägerstückchen aufgespielt, in welchem die Waldhörner die Hauptstimme führten, als dem Rittmeister, dem der Champagner schon ziemlich feurig aus den Augen leuchtete, eine Erinnerung zündend durch den Kopf zu fliegen schien. Adolfine bildete ihm gegenüber den völligen Kontrast. Regungslos und starr saß sie, als ob die Töne der Melodie sie ganz umstrickt und gefesselt hätten, während Starinsky einen kräftigen Schluck tat und sich den Schnurrbart strich, was so viel hieß, als daß er das Wort verlange.
»Kameraden,« begann er, »weil wir denn eben so fröhlich beisammensitzen, so muß ich euch doch auch etwas aus meinem Leben zum besten geben, was ich nicht nur euch, sondern auch meinem wackern Herrn Schwiegerpapa und meiner herzliebsten Adolfine längst schon schuldig war.«
»Heraus damit!« scholl es aus dem Munde aller Männer, indes Amalie Miene machte, als ob sie etwas für weibliche Ohren Unliebsames befürchtete.
»Nu, nu,« rief der Rittmeister, – »es ist nicht so, wie die Gnädige vielleicht glaubt! Freilich ist's kein Kinderscherz, – aber ich meine, deutschen Frauen bringt's keine Unehre zu hören, daß deutschen Männern das Herz auf dem rechten Flecke sitzt!«
Adolfine zuckte unwillkürlich zusammen. Gerne wäre sie aufgestanden, um ihrem gepreßten Herzen Luft zu machen; allein ein Blick auf Starinskys erhitztes Antlitz benahm ihr wieder alle Kraft, etwas zu wagen, was ihr vielleicht in diesem Augenblicke das erste rauhe Wort hätte zuziehen können.
»Ich bin euch noch allen den Bericht schuldig,« fuhr Starinsky fort, »wie ich denn eigentlich zu meiner dermaligen Charge gekommen bin. Ich habe die Sache immer als eine Art von Geheimnis betrachtet, aber da ich hier unter guten Freunden bin, welche sie nehmen werden, wie sie zu nehmen ist, so glaub' ich frei von der Leber sprechen zu können. Vor kaum vier Jahren war ich noch an der Militärschule der Hauptstadt als Fechtmeister placiert. Mein Fach verstand ich wie keiner weit und breit, und wer aus meiner Schule hervorging, hatte keinen wackern Gegner zu scheuen. Das Arkanum meiner Kunst bestand, außer all den gewöhnlichen Handgriffen und Fertigkeiten, namentlich in dem Studium des menschlichen Auges. Nur den Blick meines Widerparts brauchte ich zu fixieren, und ich wußte genau, wohin sein nächster Stoß oder Hieb berechnet war, während ich ihn teils durch meine Ruhe, teils durch kühne Ausfälle dekontenancierte und unfehlbar – desarmierte, wenn ihm nichts Ärgeres widerfuhr. Der Ruf meiner Schüler, welche gewöhnlich die besten Raufer ihres Korps wurden, verschaffte mir ein ausgebreitetes Renommee. Gewiß jeder meiner jetzigen Kameraden wird von dem Meister Furioso gehört haben, unter welchem Namen ich damals in der Armee besser bekannt war, als unter meinem wahren Namen. Als der Krieg ausbrach, gab es vollauf zu tun. Alles wollte sich von mir hieb- und stichfest machen lassen, um dem Feinde kühn die Stirne bieten zu können. Übrigens stand ich damals noch bescheiden im Hintergrunde, und schickte nur meine Schüler in die Welt hinaus, welche rechts und links die glatten Muttersöhnchen zeichneten, daß ihnen die Gesichter aus dem Leime gingen. Um diese Zeit war's, wo in den Grenzorten Truppen verschiedener Nationen, welche mit uns alliiert waren, zusammen garnisonierten. Da gab es denn gar manche Reibung. Jeder wollte seine Nationalität auf Kosten der übrigen geltend machen, und so war's denn kein Wunder, daß oft mancher arme Teufel das Bad ausgießen mußte. So lag denn auch in einer dieser Ortschaften durch längere Zeit ein Artillerie-Train, welchem ein Bataillon Freiwilliger aus dem uns verbündeten Nachbarstaate zur Verstärkung beigegeben wurde. Diese beiden Truppenkörper wollten durchaus nicht zusammensehen. Unsere Bombardiers, tüchtig gebildete, ruhige Männer, von mehr Studium als Agilität, bedienten ihre Geschütze, daß es eine Freude war, führten aber ihre Degen mehr zur Zierde, als zum Gebrauch, und bildeten eine geschlossene Gesellschaft, welche sich um die übrigen wenig kümmerte. Die fremden Jäger hingegen, blutjunge Feuerteufel, welche kaum den Hörsälen der Universität entschlüpft, ihre Hieber eben mit dem Säbel vertauscht hatten und nun vor Übermut nicht wo aus, wo ein wußten, ärgerten sich gar gewaltig über unsere gesetzten Herren und spöttelten und neckten sie, wann und wo sie konnten. Trotz aller Mäßigung von seite der Unsrigen kam's nur allzubald zu ärgerlichen Auftritten, welche mehrere Herausforderungen zur Folge hatten. Daß die Unsrigen dabei im Nachteile blieben, ist natürlich; sie waren an etwas Ernsteres gewöhnt, als an renommistische Fuchteleien. Ein paar tüchtige Offiziere kamen mit bedeutenden Schmarren davon. Einer, ein Familienvater, nebstdem ein trefflicher Mann vom Fache, blieb auf dem Platze. Die jungen Raufbolde wurden dadurch nur kühner und erlaubten sich die empörendsten Insolenzen. Da wendeten sich die Offiziere des schwer gekränkten Korps unmittelbar an den Kommandanten, und eine List gab der ganzen Sache eine andere Wendung. Der Kommandant, der mich wohl kannte und mir in diesem Punkte viel zutraute, schrieb mir zu und machte mir den Antrag: ›Ob ich nicht die Ehre jenes Korps retten, und wenn es mir gelänge, eine Leutnantsstelle in einem beliebigen Truppenkörper als Lohn für meine Dienste annehmen wolle,‹ – Das war mir ein gefundener Handel. Ich sage ihm vorläufig zu, mache mich eilends auf den Weg, komme bei Nacht und Nebel an und sitze bereits am nächsten Mittag, verkappt in die Uniform eines Bombardiers, an der Table d'hote so breit und keck, als ob ich mein Lebtag nichts anderes gewesen wäre. Schon am Abende des ersten Tages gab es einen kleinen Auftritt; allein der ausländische Zungenfechter, auf den es abgesehen war, befand es für gut, das Feld zu räumen, eh' ich mit dem schweren Geschütz anrückte. Die Sturmglocke mochte er gewaltig gezogen haben, denn des andern Tages wimmelte an den Nebentischen alles von grünen Herrchen, welche so trotzige Reden führten, als ob sie die ganze Welt par force jagen wollten. Mir juckte und zuckte es in den Fingern, daß ich mehr als einmal nach der Klinge fuhr, aber meine Quasi-Kameraden wollten nicht der angreifende Teil sein und hielten mich gewaltsam zurück. Das kitzelte die Herren nebenan zur Übergebühr, und von Seitenblicken kam es zu Stichreden, von Stichreden zu Anspielungen, bis endlich ein zwanzigjähriger Enkel Teuts, welcher vielleicht kaum vor einigen Monaten aus dem Flausrocke gekrochen war, sich ganz breit und vierschrötig auf einen Stuhl neben uns hinwarf und den vor ihm liegenden Degen eines unserer Offiziere mit den Worten: ›Weg mit der Nadel da!‹ unsanft beiseite schob.
›Die Nadel bleibt da!‹ schrie ich auf, und schob den Degen auf seine vorige Stelle zurück. –›Es könnte noch eine Fliege zu spießen geben! –‹
›Seht mal! Das ist doch gar zu drollig!‹ scholl es unter wildem, ungebärdigem Gelächter durcheinander.
›Wenn's beliebt, so können es die Herren noch drolliger haben!‹ rief ich drohend. ›Unser Spiel ist ohnedies noch nicht im reinen; vielleicht schlägt diesmal unsere Karte!‹
›Va banque!‹ spöttelte der Keckste unter ihnen. ›Es gilt, gilt!‹ lärmten alle zusammen, als ob sie uns samt Haut und Haaren fressen wollten.
›Wie's beliebt, meine Herren!‹ entgegnete ich. ›Wollen Sie mir ein jeder einzeln die Ehre geben, oder wollen Sie lieber Ihren besten Mann stellen, – mir ist es gleich! Aber das sag' ich Ihnen, daß wir uns nicht eher wieder in dieser Stube finden, als bis Sie uns eingestehen, daß auch wir den Degen zu führen wissen!‹
Mit diesen Worten stand ich auf; alle meine Scheinkameraden folgten mir; ruhig schnallten wir unsere Degen um und verließen das Zimmer und die staunenden Großsprecher, welche nun wahrscheinlich gar furchtbar erbittert die Köpfe zusammensteckten und Rat hielten.
Ich schlief ganz ruhig; denn ich war meiner Sache gewiß. Am andern Morgen weckte mich mein Bursche und übergab mir einen Zettel mit dem Bedeuten, daß es Eile damit habe. Er enthielt die Antwort auf meine Herausforderung. – »Um 6 Uhr werden Sie im Eichenwäldchen Ihren Gegner finden. Es gilt die Ehre des Degens. Wir scheuen keine Zeugen.« – Unterschrieben war das sämtliche Offizierkorps des fremden Jägerbataillons. Ich sprang in aller Hast aus dem Bett, ließ in der Eile unsere Offiziere zusammenholen und schnallte meinen Degen in voller Überzeugung um, daß ich es mit all den Eisenfressern der Reihe nach zu tun haben würde. Aber sei es, daß sie gelost oder daß sie die ganze Sache ihrem anerkannt besten Fechter übertragen hatten, kurz, ich fand, als ich auf den Platz kam, nur einen einzigen Gegner, welcher für die übrigen Anwesenden den Gang tun zu wollen erklärte. Mich dauerte fast der junge, hübsche Mann, welcher nicht ganz unbefangen schien, und daher um so gewisser ein Opfer des gefährlichen Spieles zu werden versprach. Die Stellung wurde genommen; erblassend bis ins Innerste trat der bildschöne Junge mir gegenüber. Als aber die Degen klirrten und aller Augen auf unsere Klingen gerichtet waren, da wuchs er plötzlich empor, rollte ganz wild die Augen, als ob ihm die Courage mit einem Male in die Glieder gefahren wäre, und drang wütend auf mich ein, daß ich in der Tat Mühe hatte mich zu decken. Allein eben in seinem übertriebenen Feuer gab er manche Blößen, die ich anfangs nicht benützte, um ihn irre zu führen. Mein Auge scheinbar gegen seine Kehle richtend, auf die er es daher zunächst abgesehen wähnte, erwartete ich nur den Augenblick, wo er bei einem Ausfalle die Brust bloß gäbe. Meine Berechnung war gut, der hitzige Neuling ging dem Meister Furioso in die Falle. Eben glaubte er mich kalt zu machen, als er, wie eine Leipziger Lerche gespießt, auf meiner Nadel stak. Der Stich war ihm durch die Brust gegangen, nach wenigen Stunden ging er zu unserem getöteten Kameraden hinüber, um ihm zu sagen, wie die Herren von der Kanone die Ehre des Degens gerächt hatten. Von dieser Zeit an ließen uns die jungen Raufbolde Ruhe, und bald darauf marschierten wir vereint der Schlacht entgegen. Der Kommandant hielt getreulich Wort; als Leutnant einrangiert, zog ich aus, nach der ersten Schlacht war ich Kapitän, und ein Jahr darauf trat ich infolge eines vorteilhaften Tausches zu der Husaren-Eskadron über, welche ich bald als Chef zu kommandieren gedenke.
Starinsky hatte geendet, und alles wünschte ihm Glück zu seiner glänzenden Karriere, als plötzlich ein Schreckensruf Amaliens die Aufmerksamkeit unterbrach, mit welcher man bisher des Rittmeisters Berichte gefolgt war. Adolfine lag ohnmächtig in den Armen ihrer Freundin.
»Um Gottes willen, was haben Sie gemacht?« rief Amalie, welche die Fortsetzung einer Erzählung, deren Beginn sie schon mit der ängstlichen Besorgnis vernommen, nicht mehr zu hindern vermocht hatte. Adolfine gewann mit jedem Worte, das aus dem Munde ihres Gatten kam, die volle Gewißheit, daß er der Mörder ihres unvergeßlichen Ernest Heim war. In höchster Aufregung, mit atemloser Spannung lauschte sie seinen Reden, bis bei der traurigen Katastrophe ihre ganze Kraft mit einem Male zusammenbrach, und sie leblos, wie eine geknickte Blume, zurücksank.
»Herr Schwiegersohn,« stotterte Droschke, seiner Tochter beispringend, »das ist eine fatale Geschichte! Wir haben vergessen, daß wir's mit zarten Nerven zu tun haben!«
»Wird sich geben!« entgegnete Starinsky, ebenfalls mit Adolfinen beschäftigt, »als Frau eines Kriegers muß sie sich an dergleichen Abenteuer gewöhnen!«
»Ach! Sie verstehen sie alle nicht!« seufzte Amalie und suchte die Leichenblasse durch stärkende Mittel zur Besinnung zurückzubringen »Gehen Sie, gehen Sie,« sprach sie zu dem Rittmeister, »lassen Sie mich mit ihr allein. In solchen Fällen wissen wir Frauen besser, was frommt!«
»Was?« versetzte Starinsky mit einiger Heftigkeit, welche die Wirkungen des Champagners zu verraten schien. »Ich sollte meine Frau verlassen, wenn sie der Hilfe bedarf? – Potz Blitz, so wenig als meine Standarte!«
Mit diesen Worten faßte er sie ganz kräftig um die Mitte und hob sie vom Stuhle auf, um sie in das nahe Gartenhaus zu tragen.
Adolfine öffnete langsam die Augen, aber ein lauter Schrei des Entsetzens entfuhr ihren Lippen, als sie ihres Gatten Blicken begegnete und sich von seinen Armen umschlungen fühlte. – »Fort, fort!« ächzte sie mit sterbender Stimme und verfiel in einen Starrkrampf, der ihr zum zweiten Male Wärme und Besinnung raubte.
Das fröhliche Festmahl endigte mit einer Szene allgemeiner Bestürzung. Trotz aller angewendeten Versuche war Adolfine nicht zu erwecken. Zum Glücke war Amaliens Gatte, der Stadtarzt, auch mit an der Tafel: allein selbst dieser konnte dem besorgten Vater keine andere Beruhigung gewähren, als daß eben nichts versäumt worden sei. Übrigens schüttelte er bedächtig den Kopf und erklärte den Zustand für so bedenklich, daß es durchaus unzulässig wäre, sie in die Stadt zu bringen. Nur auf sein Zureden entfernte sich der Rittmeister, und auch die übrige Gesellschaft zerstreute sich, um der Erkrankten die nötige Ruhe zu gönnen.
Erst spät in der Nacht kam Adolfine zu sich. Ihre Nerven waren so sehr angegriffen, daß eine schwere Krankheit zu befürchten stand. Am frühen Morgen wurde sie in einer Sänfte in die Stadt zurückgebracht.
Jetzt ließ sich Starinsky durch die Vorstellungen des Arztes nicht länger abhalten, an Adolfinens Lager zu treten. Die Wirkung seines Erscheinens war die nämliche, wie gestern. Wie Espenlaub zitterte sie am ganzen Leibe, schlug die Hände krampfhaft vors Gesicht, und erwiderte die Frage ihres Gatten, wie sie sich fühle, mit einem noch ängstlicheren: »Zurück, zurück!«
Weder Amalie, noch ihr Gemahl, welchem sie das Geheimnis der Unglücklichen mitgeteilt hatte, wollten schon jetzt, wo noch nicht alle Hoffnung aufzugeben war, den sonderbar Ergriffenen von dem Grunde dieser ihm unerklärlichen Erscheinung unterrichten. – »Wenn sich das Übel wieder gibt,« dachten sie, »so ist es ja zur Erhaltung des häuslichen Friedens unumgänglich notwendig, Adolfinens Seelenleid einem Gatten geheim zu halten, welcher weder Bildung, noch Gefühl genug besäße, um solch ein tiefgewurzeltes Wehe schonend zu entschuldigen. Sollte sie aber – was leider nur zu wahrscheinlich war – dem Überreiz ihres Nervensystems erliegen, wozu ein Geheimnis profanieren, in welchem die Unglückliche den einzigen Trost für ein zerstörtes Dasein fand?« – Starinsky und Droschke wurden daher mit der Erklärung hingehalten, daß in Adolfinens Organismus lange schon eine Störung vorbereitet gewesen sein müsse, zu deren Ausbruch zufällig jene grelle Schilderung Anlaß gab, worüber man sich jedoch damit vertrösten könne, daß wahrscheinlich jedes andere ähnliche Begebnis, etwa ein Unglücksfall auf offener Straße, oder ein Leichenzug, oder eine ergreifende Lektüre u. dgl. eine gleiche Wirkung gehabt haben würde. Der Rittmeister ließ sich bald überreden, und wußte sich auch im Kreise seiner Kameraden bei Wein und Kartenspiel möglichst zu beruhigen. Aber Vater Droschke fand keine Ruhe; fast stündlich eilte er zu seiner kranken Tochter und belauschte jeden Atemzug der Dahinsiechenden und erinnerte sich wohl mehr als hundertmal mit immer lauterer Selbstanklage an seinen voreiligen Jubelruf: »Sie ist versorgt, sie ist versorgt!«
Am meisten litt Amalie, welche sich den Vorwurf, zu einer so unglücklichen Verbindung geraten zu haben, mit jedem Besuche schmerzlicher erneuern mußte. Selbst von ihrem eigenen Gatten fand sie sich diesfalls wenig beschwichtigt, denn er konnte es nicht verhehlen, daß an des Rittmeisters Seite für Adolfinen keine Genesung möglich sei.
Nach wiederholten Anfällen, welche in der höchsten Potenz nahe an Wahnsinn grenzten, verfiel die Unglückliche in ein deutlich ausgesprochenes Nervenfieber, welches von dem Arzte für höchst bedenklich erklärt wurde. Amalie fürchtete nun mehr als je, daß die Kranke in den Phantasien ihrer Fieberhitze an sich selbst zur Verräterin werden und ihrem Gatten, den man nun nicht länger fern halten konnte, einen offenen Blick in ihr unbewachtes Innere gönnen würde; allein wunderbarerweise blieb sie sich selbst in diesem Zustande getreu und äußerte wohl unverhohlen ihren Abscheu gegen Ernests Mörder, ohne jedoch im geringsten den Grund davon ahnen zu lassen. Droschke war in Verzweiflung und bat seinen Eidam dringend, Adolfinens Ruhe nicht mehr zu stören. Immer schwächer wurde die Leidende: ihre Züge veränderten sich auffallend, und eben als der Arzt sie für unrettbar verloren erklärte, äußerte sie zum erstenmal wieder, daß sie sich ganz wohl fühle und nun keine Schmerzen mehr empfinde. Eine überirdische Ruhe schien über ihr blasses, eingefallenes Antlitz ausgegossen, als sie eines Tages nach Amalien verlangte, um ihr, wie sie sagte, etwas Wichtiges mitzuteilen.
Nur ungern ließ der Arzt seine Frau zu ihr, da er nicht nur die Krankheit selbst für ansteckend erklären mußte, sondern Amalien so sehr angegriffen sah, daß er nicht wenig Grund hatte, für die Mutter seiner Kinder auch in geistiger Hinsicht besorgt zu sein. Allein dem Wunsche der Todkranken konnte er diese, vielleicht letzte Bitte nicht abschlagen.
Als Amalie kam und, hingerissen vom Gefühle, ihre Freundin umarmen wollte, winkte ihr diese fern zu bleiben und sprach mit leiser Stimme: »Tritt nicht näher, liebe, einzige Vertraute meines Herzens! Auf meiner Zunge sitzt der Tod. Ich wollte dich nur bitten, daß du dir meinetwegen keinen Vorwurf machst! Ich danke dir vielmehr, danke dir innig; denn ich fühle es klar, nur auf diesem Wege konnte ich eher dahin kommen, wohin ich mich sehne. Schon winkt mir ein bekanntes Antlitz; – ich komme, Ernest, – ich komme! Lebe wohl, Amalie! Tröste meinen Vater, und sag ihm: Jetzt erst ist seine Tochter – versorgt!«
Es waren ihre letzten Worte. In einer Stunde darauf, während sie, ruhig lächelnd, mit emporgeschlagenen Augen dalag, – war sie nicht mehr. –
»Ihr unglückliches Duell hat Ihnen Ihre Frau gekostet!« rief Amalie mit schneidender Ironie dem Rittmeister zu, welcher mit mehr Rührung, als man ihm zugetraut hätte, an das Lager der Verklärten trat.
»Weiß Gott!« schwor er, sich eine Träne aus dem Auge wischend, »ich duelliere nicht mehr in meinem Leben. Der junge Jäger muß mir's angetan haben!«
Droschke stand vernichtet und fand weder Worte noch Tränen, aber seinen starren Mienen merkte man es an, daß der Tod seiner Adolfine auch ihm das Herz gebrochen habe.
Amalie aber gelobte es sich stillschweigend in die Hände ihrer verklärten Freundin, nie mehr zu einer Verbindung zu raten, wobei ein Herz sich Zwang antun soll.
Die ganze Stadt sprach teilnehmend von dem unglücklichen Schicksale des liebenswürdigen Geschöpfes, dessen sie sich seit langem zu rühmen hatte; aber niemand als der Arzt und seine Frau wußten um den eigentlichen Grund dieses betrübenden Ereignisses. Sie bewahrten das Geheimnis, das ohnedies niemanden zur Beruhigung dienen konnte, getreulich, bis durch dessen Enthüllung niemand mehr zu kränken war. Doch dieser Zeitpunkt trat gar bald ein, denn der Rittmeister ging, ehe er noch zum Eskadronschef vorrückte, in Pension, und übersiedelte in eine andere Provinz. Droschke aber lag schon im nächsten Jahre auf dem Friedhofe neben seiner Tochter, welcher er einen einfachen Grabstein hatte setzen lassen, worauf als Inschrift der Ausdruck seines voreiligen Jubels eingegraben war, nämlich die drei Worte: »Sie ist versorgt!«