Johann Gabriel Seidl
Das goldene Ringlein
Johann Gabriel Seidl

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Johann Gabriel Seidl.

Das goldene Ringlein.

Die Herbstsonne warf ihre scheidenden Strahlen eben auf die waldigen Abhänge des Kamm in Obersteier, der seinen goldumschimmerten Gipfel stolz in dem ruhig spiegelnden Schwarzensee beäugelte. Tiefe Stille lag über das ganze kühle Putzental mit allen seinen Verzweigungen und Nebenkesseln ausgebreitet. Von den Inneralpen herüber erscholl kein Herdengeglock mehr, denn die Alpe war bereits »aufgelassen«. Nur der Neualpenbach rauschte von den nördlichen Vorbergen herab mit dumpfem Gebrause in den See und belebte die unendliche Einsamkeit. Das Gold auf den Höhen erblaßte mehr und mehr; ein violetter Duft umsäumte den Rand der Gebirge, und die durchsichtige Kristallhelle des Horizontes ging allmählich in ein dämmeriges Tiefblau über. Die Lust wurde kühler; einzelne Windstöße pfiffen aus den Felsklüften am Ufer her, und schwere, weißlichgraue Wolken wälzten sich über den Lercheckspitz im Süden und rangen und wogten um sein Horn und senkten sich in seine Einsattelungen nieder, als ob sie dort ihr Nachtlager halten wollten. Der See fing zu murren und seine Wogen zu kräuseln an, und im Tale dunkelte es früher als gewöhnlich.

Bangen Herzens trat Rosel aus der Fischerhütte, die knapp am westlichen Ufer des Sees stand, und spähete rechts und links und betrachtete mit ängstlichen Blicken die aufsteigenden Wolken. Wie eine schwere Ahnung drückte es die Brust des Mädchens, und sie atmete tief auf, wie wir in bösen Träumen tun oder wenn der Alp uns drückt. Langsam schlich sie am Ufer auf und nieder und heftete ihr Auge erwartungsvoll auf den schmalen Fußpfad, der am gegenüberliegenden Abhange dem waldigen Kamm zuführt. Aber die Gestalt, welche sie dort zu sehen erwartete, wurde noch immer und immer nicht sichtbar, und sie tröstete sich zuletzt damit, daß es wohl schon etwas zu dunkel sei, um einen einzelnen Menschen zu erkennen, der jenen Bergpfad herabwandelt. Sie mochte ihren Lenz, den wackeren Älpler, wohl übersehen haben, so getreu und scharf auch sonst die Augen der Liebe für den Gegenstand sind, den sie erspähen wollen. Gewiß löst er, dachte sie sich, hinter dem Gestrüppe schon einen Kahn los, um ihr entgegenzuschiffen und ihren freudigen Willkommsgruß mit feurigen Küssen zu erwidern. Sich in ihr Schicksal ergebend, setzte sie sich daher auf einen modrigen Baumstrunk am Ufer nieder und sah sehnsüchtig in die Gegend hinaus, deren Umrisse in der sinkenden Dämmerung immer undeutlicher zu werden begannen.

»Ei nun denn,« sprach sie zu sich selbst, »wenn ihn deine Augen auch nicht erreichen, vielleicht ist deine Stimme glücklicher! Er muß ja in der Nähe sein! Wo sollt' er denn nur weilen? Seit wir uns kennen, verging kein Abend, wo er nicht vor der Hütte noch mir entgegengejauchzt, oder, wenn es schon finster war, nicht an mein Fensterlein geklopft hätte. Wenn er vermutete, daß ihn etwas abhalten könnte, so hat er mir's immer vorher gesagt, damit ich um seinetwillen nicht in Angst wäre! Vielleicht will er mich überraschen?! – Warte, warte, du Böser! – Wenn du meine Stimme hörst, so sollst du dein mutwilliges Zögern wohl aufgeben! Ich will dich locken, du loser Vogel, du!«

Und nun preßte sie das jugendfrische Gesichtchen mit dem lieblichen Grübchenkinne zwischen dem Zeigefinger und Daumen der rechten Hand, ihr linker Arm, quer über den Schoß gelegt, diente jener Stütze lässig zur Unterlage, und laut und schwellend begann sie in die Abendlandschaft hinaus zu singen:

»Mein Herzerl is trai,
Is kan Falschheit dabei;
Wann's a nid is von Gold,
Is's do just, wie's sein sollt'!

I geh' wohl zum Brünnerl,
I trink' aba nid,
Und i wart' auf mein Büab'l,
Aba kima tut's nid.

Schau' auffi, schau' abi,
Schau' hin und schau her;
Such' üb'rall mein Büab'l,
Schau's gleichwöllst nid her.

A Fischerl in Wassa,
Und's Wasser in Fisch,
Und mein Lenz is ma liaba,
Wia's Geld auf'n Tisch.

Mein Schatz is a Jaga,
A lustig's Mand'l,
Er tragt an schean Gamsbart,
Und a Sammatband'l.

Und er is schon mein Schatz,
Und er kann's gar nid laug'n;
I kenn eam's in Herzen an,
Und in die Aug'n!

Was glaubst denn, was moanst denn?
Wo bleibst denn, wo loahnst denn?
'N Büabl sein g'rechta Platz,
Is bei sein Schatz!«

Leise verhallte der brechende Ton ihrer Stimme. Der Widerhall gab neckend aus den Klüften und Gräben das Schlußwort ihres Liedchens wohl sechsfach zurück; aber die Kehle, die es allein in der rechten Weise erwidern konnte, ließ sich noch immer nicht hören.

»Noch einmal will ich es versuchen,« flüsterte sie kleinlaut vor sich hin, »wenn er mich jetzt auch nicht hört, so hört er mich heute wohl nicht mehr. Dann muß ich ihn dem Schutze Gottes anheimstellen und ruhig abwarten, was der Morgen bringen wird!«

Mit ungestümerem Pochen stand sie auf und stieg den Felsenvorsprung hinan, welcher etwa hundert Schritte weit von der Hütte tiefer in den See hineinragt. Dort steht man ziemlich frei, und die Stimme kann ungehemmt über die Wasserfläche hintönen. Oft vernahm Lenz von dieser Stelle aus den Ruf seiner geliebten Sennin, oft winkte sie ihm von dort aus mit dem flatternden Busentuche zu, wenn er den Bergsteig gegenüber herabklomm, oder schwenkte ihm den schön bebänderten Hut entgegen, wenn er auf leichtem Kahne fröhlich heranruderte. Mit aller Kraft der Stimme sang sie nun dort ihre ländliche Alpenweise, daß es rings widerhallte, und nach jedem Absatze lauschte sie mit gespanntem Ohre, ob nicht ein lieberes Echo als das der fühllosen Felsen den Ruf der Liebe beantwortete. Endlich kam es ihr vor, als ob eine bekannte Stimme fernher die Melodie ihres Jodlers wiederholte. Sie wirbelte ihn nochmals und lauter über den See hin und horchte voll banger Erwartung. Zuerst stimmten die Felsen den Chor an; kaum war aber dieser verklungen, als leiser und gedehnter eine menschliche Kehle den ganzen Jodler wiederholte. – »Er ist es,« rief sie freudig aus, »er hat mich nicht vergessen! Ich werde ihn heute noch sehen! Die bösen Drachen haben ihm nichts zuleide getan, und die neckenden Bergmänner seine Schritte nicht verlockt in den Abgrund!«

Mit gestärktem Mute lief sie nun ihrer Hütte zu, sah bei dem Geltvieh nach, bei den zehn reinlichen Kühen, die sie zählte, und bei den meckernden Ziegen, und richtete, was noch zu schaffen war, um das letzte Stündchen des Tages mit ihrem Herzliebsten recht nach Behagen verplaudern zu können.

Indessen war die Nacht hereingebrochen. Neuerdings stiegen trübe Ahnungen und bängliche Besorgnisse in Rosels Herzen auf. Fast besorgt, etwas Trauriges sehen zu müssen, wenn sie vor die Hütte trete, zögerte sie lange, die Türe zu öffnen. Ein geängstigtes Herz ist abergläubisch und knüpft seine Hoffnungen an das Kleinlichste. So tat es auch Rosel. – »Wenn der Span (der hellflackernd neben dem Herde stak) noch dreimal lustig knistert, ehe das Gewicht der Wanduhr abschnarrt, so sehe ich ihn heute noch,« sagte Rosel zu sich selbst und blickte starr auf den Zeiger der Wanduhr, der immer näher gegen den gefürchteten Punkt rückte, wo das Gewicht abschnarren sollte. Der Span aber brannte ruhig fort wie eine Kerze, als täte er ihr es zum Trotze. Jetzt schlug die Uhr neun, rasselnd erscholl das Losungszeichen, und der Span hatte nicht ein einziges Mal noch geknistert. Der Angstschweiß trat auf die Stirne der Sennin. Nur wer die Qual des bangen Erwartens kennt, mag ihre Unruhe ermessen. Wohl zehnmal trat sie an die Türe, um hinauszurufen in die Nacht; wohl zehnmal zog sie den Fuß wieder zurück und beschwichtigte ihr klopfendes Herz, so gut es ging, mit dem kargen Troste: »Was nützt es dir? Soll er kommen, so wird dich sein Eintreten um so freudiger überraschen! Soll er nicht kommen, so wird ihn auch dein ängstliches Spähen nicht herbeizaubern!«

In dieser Stimmung harrte sie noch manche Viertelstunde lang, ohne etwas erharren zu können. In wildem Reigen jagten die Wolken am Himmel hin, vom dunstigen Südsturme fortgewälzt. Nur selten blickte der Mond durch einen Riß des schwarzgefalteten Schleiers hervor, der über das Tal ausgebreitet lag. Der See warf hohe Wellen und schlug mit ungestümerem Brausen als seit langer Zeit an die Ufer. Das Putzentaler Bächlein, das sich bei ruhigem Wetter lautlos in den See verliert, machte sich durch sein Rauschen bemerkbar und ließ vermuten, daß im nordöstlichen Bergwinkel ein Regenguß niedergegangen sei. Pfeifend strich der Wind quer über das Wasser hin, oft augenblicklich seine Richtung verändernd.

»Lieber Gott!« seufzte Rosel, welche das unheimliche Knistern und Klirren der Balken und Fenster aus der Hütte getrieben hatte, »wenn dieses Unwetter meinen Lenz auf dem See überrascht hätte! Vielleicht sah er als kundiger Weidmann den dröhnenden Sturm voraus und zögerte deshalb, zu mir herüberzurudern! Und ich Unvorsichtige verlockte ihn durch meinen Ruf, sich aus Liebe zu mir der Gefahr preiszugeben! – Wenn ihm etwas Übles begegnet, so bin nur ich schuld! – O verhüt' es, lieber Gott! Ich will ihn ja gerne, zur Strafe für meine Unbesonnenheit, nicht eher wiedersehen, als bis im Frühjahre die Alm wieder grün wird! – Gern will ich dir an der alten Föhre in der Inneralm ein schönes Bild mit Rauschgold und Bändern aufhängen, wenn du mir nur diesmal ein tröstliches Zeichen gibst, daß er glücklich dem Tode im Wasser oder den Ringen der großen Wasserschlange entrinnen werde!«

Betend sank sie am Ufer auf die Knie und blickte mit tränennassen Augen zum Himmel empor, von welchem eben durch einen Wolkenspalt der Mond ihr ins Gesicht leuchtete, als ein heftiger Windstoß die Wellen des Sees brausend gegen die Stelle warf, wo sie kniete, daß ihr der Gischt fast die Kleider benetzte. Erschrocken sprang sie zurück; aber ihr Entsetzen erreichte die höchste Stufe, als sie von dem Ungestüme der Flut einen leeren Nachen mit abgerissenem Seile knapp an das Ufer getrieben sah. Sie bog sich fast unwillkürlich über das Weidengebüsch hin, an welchem das schwanke Fahrzeug eben vorüberstreifte. Ein Strahl des Mondes, der eben auf das Schifflein fiel, ließ sie einen Hut gewahren, der im Vorderteile desselben lag; das grüne Band und der Gemsbart bestätigten ihre Ahnung, daß es der Hut ihres Lenz sei. Mit verzweifelter Anstrengung streckte sie, mit der linken Hand sich am Weidenstamme festklammernd, die Rechte nach dem Seile aus, um den Kahn ans Ufer zu ziehen; aber eine neue Welle, welche ihn kräftig wegstieß, entriß ihr das schon Erfaßte wieder mit solcher Gewalt, daß sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Ermattet sank sie zurück und sah nur von weitem noch das Schifflein wie zum Spotte über die Wellen hintanzen. Trostlos wankte sie in die Hütte und bemerkte dort erst, daß ihre rechte Hand blutete. Das durch die Gewalt des Wassers derselben entwundene Seil hatte sie wundgerieben und zugleich das goldene Ringlein vom Finger gerissen, welches Lenz am Tage des ersten Kusses ihr zum Andenken gegeben hatte.

 

 

Der stürmischen Nacht folgte ein stiller, grauer Herbstmorgen. Ringend und wogend senkten sich die Nebel ins Tal hinab und glitten langsam über den Spiegel des wieder beruhigten Sees dahin. Dann hoben sie sich wieder und kletterten hier und dort einen Fels oder ein Horn hinan, zwängten sich, dichter geballt, durch die Bergeinschnitte und Wassergräben und kehrten wieder, als ob Gnomen ihnen den Durchzug wehrten, in den großen Kessel des Seetales zurück, über welchen bereits, durch einen mattschimmernden Strahlenkreis bemerkbar, ziemlich hoch die Sonne stand. Unbemerkt war sie über dem Kamm aufgestiegen und bekämpfte schon seit Stunden das Heer emporqualmender Erd- und Wasserdämpfe.

Es mochte von der zehnten Vormittagsstunde nicht mehr ferne sein, als der Nebel, der sich allgemach in feinen Staubregen aufgelöst hatte, gänzlich verschwand und das heiterste, sonnigste Blau im großen stundelangen Becken des Sees sich abspiegelte. Die frischaufatmende Gegend glich einer Schweizerlandschaft im Frühlinge. Nur die leichte, blendende Flockendecke, die der gestrige Regensturm auf den Einsattelungen der Kaiserscharte und auf dem Horne des Lercheckspitzes zurückgelassen hatte, gemahnte das Auge, daß es frischgefallenen Schnee, den Vorboten des nahen Winters, nicht bräunliches Kees, den letzten Rest des entschwindenden, vor sich habe. Laue, wohltätige Sonnenstrahlen milderten den scharfen Hauch der Alpenlüfte und blitzten aus den taubeperlten Kelchen lieblicher Genzianen ( Gentiana caulescens, rubricata), welche der nächtliche Regen hervorgelockt hatte, millionenfach zurück.

Ein süßer Trost kam in Rosels Seele, als sie erwacht aus dem wüsten traumlosen Schlafe, in den die Ermattung sie geworfen hatte, vor die Hütte trat und ihr die Natur so reizend, so liebevoll, so arglos entgegenlächelte, als hätte sie nie etwas in ihrem Vorrate gehabt, was Herzen schrecken und brechen kann. Die frische Gottesluft in langen Zügen einschlürfend, stand sie am Ufer und schaute auf die schimmernde Wasserebene hinaus, als sie von der andern Seite einen Nachen abstoßen sah. Mehr als tröstliche Ahnung, eine süße, mit jedem Ruderschlage sich steigernde Hoffnung erfüllte des Mädchens Herz. Der Nachen kam näher und steuerte in gerader Richtung der Stelle zu, wo sie stand, als ob sie das Ziel wäre, dem er zuflog. Sie wollte rufen, aber eine freudige Beklemmung ließ ihr den Schrei im Munde ersterben; sie wollte mit dem Busentuche winken, aber Spannung und Ungeduld lähmten ihren Arm; nur ihr Auge weigerte den Dienst nicht, unabgewendet starrte es auf das sanftgewiegte Schiffchen hin, in welchem sie zwei männliche Gestalten erblickte. Jetzt schien eine derselben ihrer ansichtig geworden zu sein. Ein wohlbekannter Jodler hallte herüber, daß die Berge wiedertönten und das fröhliche Erkennungszeichen zehnfach zurückgaben. Kein Zweifel! Es war die Stimme ihres Lenz! – Der böse Berggeist hat ihn nicht behalten, um aus den Tropfen seines Blutes Granaten zu gießen; der scheußliche Drache hat ihn nicht hinabgerissen in die Finsternis seiner moosigen Bergschlucht; die riesige Wasserschlange hat ihre Ringe nicht um ihn geflochten, um ihre Brut am Seeborne mit ihm zu füttern! – Er lebt! Er schwenkt den Hut und hat seine Sennin nicht vergessen.

So jubelte sie und stand noch immer, als der Nachen bereits am Ufer entlang herabglitt, um anzulegen. Noch hatte der Fischer von der Außeralm den Kahn am Pflocke nicht festgebunden, als Lenz schon am Ufer die Büchse flink über die Schulter warf, seinen Hut mit dem stattlichen Gemsbart in die Stirne drückte und, den Dienst seines Fuhrmannes, der ihm einen »guten Anblick« wünschte, mit einem herzlichen Händedruck erwidernd, über das Weidengestrüpp wegsprang, um seiner lieben Sennin entgegenzueilen.

Ein brennender Kuß und eine stumme, stürmische Umarmung waren sein Willkommsgruß, der sie aus ihrer Betäubung erweckte. – »Bist du's wirklich, Lenz?« schluchzte sie, und ein Tränenstrom war seine Antwort. Dann folgten Liebkosungen und Fragen und zuletzt die Bitte um Erzählung der Ereignisse, welche ihn abends vorher abgehalten hatten, mit dem gewohnten Gasselspruche sich vor ihrem Fenster Einlaß zu erbitten.

»Ja, liebste Rosel,« sprach er mit einem tiefen Seufzer, »gestern wär's bald mein letztes Ende gewesen. Ich dachte wohl nicht mehr, deine Hütte zu sehen und dich! Ich sagte der Alm mein Lebewohl, und glaubte meine Büchse für ewige Zeiten beurlaubt zu haben! So nahe, Kind, als gestern, war mir der Tod noch nie, selbst vor fünf Jahren nicht, als ich unterm Gupfe des Dachsteines, abgeschnitten von aller Welt, auf einem einschichtigen Felsen stand. Wohl tausend Klafter tief gähnte der Abgrund zu meinen Füßen, und mein Notschuß erreichte nur das Ohr der Gemsböcke, die pfeifend über das Kees wegsprangen. Ober mir, höher als ich, wenn ich mir selbst auf den Kopf stiege, ragte die Kalkwand empor, über die ich hinabgetaumelt war. Gesicht und Hände bluteten mir, und nur ein fußbreites Streiflein von frischem Gleck lief, wie ein grünes Band, längs der senkrechten Felslehne zum nächsten Geröll hinüber. Ich entblößte die Füße, benetzte sie mit dem Blute, das mir warm aus fünf Wunden rieselte, damit sie klebricht würden und nicht abglitschten, empfahl mich meinem Gott, und trat, mit halbem Leib ins Reich des Todes hinaushangend, meinen Gang an, der durch des Himmels Gnade kein Todesgang wurde! – Nun ist's vorüber, hab' ich gleich nicht vergessen, wie arg es war. Aber in der verflossenen Nacht, als sich gestern und heute schieden, da war's ärger, Kind! – Drum sag' ich, es soll der Mensch sich nicht von seinem Elemente trennen, der Fischer nicht vom See, der Älpler nicht von der Alm! Ich hätt' es bald teuer bezahlt! Noch dreht sich mir das Herz im Leibe um, wenn ich an die gräßlichen Bilder denke, die auf mich eindrangen. Nicht nur mein Leben war bedroht, liebe Rosel, stelle dir vor, auch meine Treue war's. Ich habe den Beweis noch in den Händen, daß es wirklich so gewesen ist, und ich nicht bloß in der Todesangst mir's eingebildet habe! Doch nun bin ich gerettet, habe dich wieder, und bin zugleich um das Bewußtsein reicher geworden, daß der liebe Herrgott einen Menschen, der ein reines Herz hat, in jeder Not beschirmt und vor dem Falle bewahrt!«

Mit Schaudern hörte Rosel, wie arg ihr armer Lenz bedroht war. Als sie aber von der Hutspitze bis zu den Bundschuhen ihn gemustert und sich überzeugt hatte, daß ihm auch kein Härchen gekrümmt sei, als sie vernahm, daß er nebst der Lebensgefahr auch die Treuprobe glücklich bestanden habe, da verwandelte sich ihr Entsetzen in Neugierde. Sie wollte alles wissen, alles erfahren und vergaß dabei auf alles, was sie selbst ihm zu sagen hatte, sogar auf das goldene Ringlein, dessen Verlust ihr doch nichts mehr ersetzen konnte, denn der goldenen Ringlein gibt es wohl auf jedem Jahrmarkte die Fülle, aber nicht an jedes knüpft sich das Andenken des ersten Kusses.

Indes Rosel ihm ein wohlschmeckendes Schmalzkoch zurichtete, erzählte er ihr, neben dem Herde lehnend, sein nächtliches Abenteuer. Es war folgendes:

Später als gewöhnlich war Lenz gestern den Bergpfad vom Kamm herabgestiegen. Ein Wildschütz, dem er lange schon auf der Spur war, hatte ihn tiefer ins Gebirg' gelockt. Vielleicht war's sein Glück, daß ihn der Zufall mit keinem dieser wüsten Gesellen zusammenführte. Ohne einen Schuß getan zu haben, eilte er nun dem Ufer des Schwarzensees zu, um während der Dämmerung auf seinem klaren Spiegel noch wohlgemut auf und nieder zu schiffen, und dann zu seiner lieben Sennin zu eilen, die indes ihr Tagewerk vollendet haben würde.

Keines Unfalles gewärtig band er den Nachen vom Pflocke los, den wohlbekannten Nachen, der ihn so oft schon über die ruhige Wasserfläche, oft auch über grollende Fluten, an das Ziel getragen hatte. Unbekümmert um die Wolken, die von Süden heraufzogen, und um die einzelnen Windstöße, die ihn gegen die Stürme in den Windfällen der Urwaldung wie Weste bedünkten, schiffte er längs dem oberen Ufer des Sees dahin. Eben war die vollste Stille der Dämmerung eingetreten; einzelne Sterne wurden sichtbar, und das drohende Gewölk schien sich zerstreuen zu wollen. Lenz befand sich gerade in der Nähe seines Lieblingsplätzchens. Dies war nämlich ein großer Block, welcher am obern Ende des Sees aus dem Wasser hervorragte. Wahrscheinlich hatte der Sturm einmal einen mächtigen Baumstamm gebrochen und herabgeschleudert, welcher hier im Wasser stecken blieb, und dessen bemooster Strunk nun wie ein Polstersitz die Fischer und Älpler zur Rast einlud. Gerne banden sie an einem der kahlen Äste, die er wie hilfeflehend ausstreckte, den Kahn fest, setzten sich auf den seltsamen Seestuhl und bliesen auf der ländlichen Schwebbelpfeife ihr Abendlied, oder sangen ihre Schnaderhüpfeln in die Welt hinaus, und jodelten dazu, daß die ganze Umgebung wußte, wie lebensfröhlich dort ein Alpenbewohner sei. Und so tat es auch gestern Lenz. Wie ein König des Schwarzensees thronte er auf dem einsamen Baumsessel, nachdem er seine Büchse und seinen Jägerhut in das Schifflein gelegt hatte, und erwiderte, das Gesicht in die Hände und die Arme aufs Knie gestützt, den herübertönenden Ruf der Liebe beiläufig mit folgenden G'stanzeln:

»Mein Herzel in Leib,
Fangt ma z'stuchez'n an,
Wann i d'rauf denk'n tu',
Was i für an Schatz han!

Descht ob'n auf der Alm,
Wachst a seidengrau's Hai,
Und zwa blutjunge Laitl'n,
Valieb'n sie hald glei!

Wann kan Fischerl nid war',
Wurd kan Raischerl nid g'macht,
Wann kan Dirnd'l nid war,
Gang' kan Bua bei da Nacht.

Und wan der Weg glei weit is,
Und's Nachterl hübsch lang,
Und wan's Dirnderl nur rar is,
Is nit schad um an Gang!

's Nachterl is finster,
Es glitzert kan Stern:
Wann soll i denn kima,
Wann hast d'as denn gern? –

Dö Fischerln in See
Schwimman hin, schwimman he,
Schwimman auf und nieda;
Kim nur haind glei wieda!« – –

Aber plötzlich brauste der Wind heftiger, und die Wolken jagten sich im wilden Reigen über die Berge her. Aus der Dämmerung ward, wie durch einen Zauberwink, finstere Nacht, und dumpfes Sausen kündigte ihm an, daß der See in übler Laune sei. »Ha,« dachte er sich, »jetzt ist es Zeit, der Warnung des Elements zu gehorchen und dem sicheren Ufer zuzusteuern. Nicht geheuer ist es in solchen Augenblicken auf den Fluten. Unheimliche Geister bewohnen ihr kristallenes Haus, und die mächtige Wasserschlange, welche die Fischer von der Außeralm erst vor einem Monate wieder gesehen haben wollen, ist mehr als eine Fabel.« – Ein frostiger Schauer überlief ihn, und in ängstlicher Hast bückte er sich, um den Kahn, mit welchem der Wind sein Spiel trieb, heranzuziehen. Aber ein heftiger Stoß, in welchem der losgelassene Süd schwül und stickend herblies, spritzte ihm eine Welle ins Gesicht, daß er Mühe hatte, sich festzuklammern. Er rieb sich die Augen, und langte ungestümer nach dem Taue, mit dem das Schifflein befestiget war, fuhr aber mit einem Schrei des Entsetzens zurück. Derselbe Windstoß hatte den Nachen weggerissen und trieb ihn bereits, ein Spiel der hochgehenden Wogen, in den See hinaus. Lenz rief und rief, aber umsonst. Das fühllose Fahrzeug tanzte, seines Angstrufes spottend, lustig über die Fluten hin; der pfeifende Sturm verwehte seine Worte, und der See kräuselte, siedend und schäumend, die Wasser empor, ohne sich um den ausgesetzte Bergbewohner zu kümmern. Er konnte seine sonderbare Lage gar nicht begreifen. Wie oft saß er hier, wie oft besuchte er den See; jedes Gestrüpp, jeder Fels, jede kleine Strömung war ihm bekannt; er hätte nie gedacht, daß man auf einer so oft besuchten, so genau bekannten Stelle in Todesangst geraten könne. Neckend trieb der Wind den untreu gewordenen Kahn bald näher, bald weiter; oft streckte Lenz den Arm aus, um danach langen zu können, so nahe hatte ihn eine günstige Woge herangeschaukelt; aber ein neidischer Windstoß warf ihn wieder ebenso schnell in die Mitte des Sees hinaus. Lenz konnte nichts tun, als sich mit Geduld und Gottvertrauen in sein Schicksal fügen.

Heftiger tobte der Sturm; dichter ballten sich die Wolken zusammen, und finsterer lagerte die Nacht mit ihrem feuchten, qualmenden Nebel und dem gespenstigen Gefolge ihrer Schreckenbilder und Dunstgestalten um den armen Älpler her. Mit hohlem Gemurmel schlugen die Wellen an seinen Sitz und leckten lüstern bis zu seinen Füßen empor. Nur manchmal warf aus zerreißenden Wolken der Mond einen Blick herab, um ihn das Schauerliche seiner Lage nur noch deutlicher erkennen zu lassen. Ein fast unbezwingbarer Schwindel ergriff ihn, wenn er vor sich hinsah, und im halben Schimmer nichts erblickte, als die tausend wirbelnden und kräuselnden Windungen des Wassers; es war ihm, als ob der Pflock, auf den er sich mit beiden Händen festklammerte, selbst schwankend durch die Fluten hintriebe. Mit jeder Minute stieg seine Angst. Ewig lange Stunden der Qual brachte er so zu, bis es ruhiger wurde, die Wellen des Sees sich legten, der Sturm schwieg und aus abquillendem Nebel die Mondenscheibe hell und klar hervortrat. Noch einmal versuchte er es, ob seine Stimme von keinem Fischer oder Älpler vernommen würde, aber auch diesmal vergebens. Er fühlte sich nun überzeugt, die Nacht in dieser unheimlichen Umgebung zubringen zu müssen. Von seinem Nachen war keine Spur zu entdecken, und die Hoffnung, daß derselbe Wind, der ihm das Werkzeug seiner Rettung entführte, es ihm auch wieder zubringen könnte, schwand immer mehr, denn kein Lüftchen regte sich jetzt, als ob der Odem der Berge sich erschöpft hätte.

Langsam rückte die Zeit vorwärts. Es mochte gegen Mitternacht sein. Ein schwere Betäubung bemächtigte sich der Sinne des Ausgesetzten. Gewaltsam ermunterte er sich wieder und sann dieses und jenes, und gab sich alle Mühe, die Bilder und Erscheinungen, die sich ihm vors Auge drängten, abzuwehren; aber seine lebhafte Einbildungskraft und die Erinnerung an all die Märchen und Sagen, die er von Kindheit auf gehört und an die er auch zum Teile geglaubt hatte, ließen ihm keine Ruhe. Mit grinsenden Gespenstern und scheußlichen Fratzengesichtern bevölkerte sich die Gegend vor ihm, und ein Heer neckender Gnomen und boshafter Kobolde tanzte und hüpfte und schaukelte sich, so weit seine Blicke reichten, auf den flimmernden Fluten und auf rauchenden Nebelstreifen. Die kalten Schweißtropfen traten ihm auf die Stirne, und halb ohnmächtig kauerte er sich auf seinem Sitze zusammen, um nicht eine Beute der Unholde zu werden, welche sich an ihn herandrängten und ihre Polypenarme nach ihm ausstreckten, um ihn hinabzuziehen in das kühle Kristallhaus. Jetzt nahte das Fürchterlichste; seine Haare sträubten sich empor, und ein eisiger Krampf lähmte seine Glieder. Ein Ungetüm so lang als der See, den schuppigen Rücken in tausend Ringe zusammenschiebend und wieder auseinanderschnellend, wälzte sich heran und schlang sich, den tückischen Kopf mit den stechenden Feueraugen hoch emporgereckt, in immer engern Kreisen um den Baumstrunk. In brünstiges Gebet sich ergießend, harrte er, bis das Scheusal ihn zusammenschnüren oder den moosigen Block, auf dem er saß, wie ein Stäbchen aus dem Grunde ziehen und zersplittern würde. Aber plötzlich zerfloß die Erscheinung wieder im Nebel, um einer andern, noch gefährlicheren Platz zu machen. Es kam ihm nämlich vor, als ob sein Nachen wieder heranschwankte. Und in dem Nachen saß eine Gestalt mit himmlisch schönen Zügen. Ein leichtes Nebelkleid umfloß den zarten Leib der wunderbaren Maid, die ihm, winkend und lockend, zulächelte. Was die Märchen der Fischer von den holden Nixen und schmeichelnden Wasserfrauen erzählen, glaubte er verwirklicht vor sich zu sehen. Mit der rechten Hand berührte die reizende Fee den Saum der Fluten, welche, der leisen Berührung gehorchend, das Schifflein ruhig fortwiegten; in der linken hielt sie ein funkelndes Goldringlein empor. Als sie ihm so nahe gekommen war, daß er seinen Hut und seine Büchse im Kahne deutlich erkennen konnte, öffnete sie den lieblichen Mund und flötete mit leiser, rührender Stimme: »Komm, lieber Älpler! Ich kenne dich schon lange! Schon lange hab' ich dich umschwebt. Auf Klippen und Scharten schirmte ich dich vor dem Falle; vor dem Zahne der Drachen und vor den Schlingen der Berggeister hab' ich dich bewahrt, und du willst mich nicht kennen!? – Sieh – ich habe dich hergelockt auf diese Stelle; ich habe dich eben jetzt gegen die Wasserschlange geschützt, die schon ihre drohenden Ringe um dich zog! Folge mir, in meinem Reich ist's kühl und still. Du sollst meinen kristallenen Thron teilen, und meine Nixen sollen dir ein schwellendes Lager bereiten auf duftenden Wasserlilien. Mir dienen die plätschernden Quellen und die rieselnden Bächlein; die lustigen Fischlein umhüpfen mich, und die fallenden Sterne suchen mich heim in heiteren Nächten. Komm, komm! Täusche meine Sehnsucht nicht länger! – Ich weiß wohl, daß irdische Liebe dich fesselt und daß du Treue bewahren willst, weil du an Treue glaubst! Armer, betörter Sterblicher! Auf Erden blüht dieses edle Kraut nicht; es ist seltener als das Edelweiß in den Klüften der Alpen! Sieh dies goldene Ringlein! Kennst du es? Es ist das Kleinod, welches du deiner Geliebten am Tage des ersten Kusses an den Finger stecktest; weil du heute nicht kamst, so hielt sie dich für treulos und warf es in die Flut. So wenig baut sie auf deine Beständigkeit, so schnell gibt sie dich auf. Morgen schon ersetzt ein anderes Ringlein vom Wildschützen auf der Außeralm die Stelle des deinigen. Und du willst dich noch länger täuschen lassen? – Du dauerst mich! Sieh, mein Reich steht dir offen; meine dienstbaren Geister harren, dich festlich zu empfangen. – Zögere nicht länger, und verwandle mein Flehen nicht in zürnenden Ungestüm. Verschmähte Liebe ist Wut! Wenn du mir nicht willig folgst, so lass' ich meine brausenden Quellen aus und meine orgelnden Stürme und gebiete meiner Dienerin, der Wasserschlange, daß sie dich umklammere und dich hinabreiße in mein smaragdenes Haus zum Opfer meiner Rache!« – So hörte er in ferner Betäubung die reizende Wasserfrau bitten und drohen; er sah das goldene Ringlein blitzen zwischen den Fingern ihrer linken Hand, und ein schrecklicher Zweifel stieg auf in seinem Innern. Aber ein Gedanke an Gott, den Hort treuer Liebe, besiegte seinen Zweifel wieder, und er schrie mit lauter Stimme: »Fahre hin, Ausgeburt der Hölle! Ich baue auf irdische Treue mehr als auf höllische Versprechungen! Und wenn du mich hundertmal fragst, ob ich dir folgen will, so ruf' ich hundertmal: Nein!«

»Nein,« brüllten die Felsen am Ufer zurück; »nein,« donnerten die Wogen, und »nein,« wimmerte es, wie der Seufzer einer Sterbenden, durch die schwirrenden Lüfte hin. Und die Gestalt sank wie ein Nebelgebild in die Fluten, und der Nachen trieb wieder neckend in die Mitte des Stromes hinaus.

Lenz war in völliger Erschöpfung auf die Äste zurückgesunken, welche die natürliche Lehne seines Ruhesitzes bildeten. Ohne sich klar bewußt zu sein, lehnte er so, bis der schneidende Morgenwind und der fallende Tau ihn aus seiner Betäubung weckten und ihm den Anbruch des Tages meldeten. Wie froh war er, als der erste Sonnenstrahl durch die ringenden Nebel brach. Mit Tränen der dankbarsten Rührung betete er zu seinem Gott, der ihn aus Not und Gefahr so glücklich errettet hatte, und weihte den Baumstrunk, welcher ihm zum Pfühle gedient, nun auch zu einem Betschemel im Dome der Alpenwelt ein.

Seinen Nachen konnte er zwar nicht erblicken, aber sein Hilferuf ward vom Ufer alsbald erwidert. Nicht lange währte es, so ruderte der Fischer von der Außeralm auf demselben Schifflein, das ihn gestern hierher gebracht hatte, heran, um ihn wohlbehalten seiner lieben Sennin entgegenzuführen. Der gute Fischer mochte wohl geahnt haben, woher der Notruf erscholl. Mit lächelnder Miene nahm er den Älpler in den Kahn auf, und reichte ihm mit freundlichem Gruße den Hut und die Büchse, die er im aufgefangenen Nachen gefunden hatte, und nebst diesen auch ein goldenes Ringlein, welches ebenfalls, wie er sagte, am Boden des Fahrzeuges lag. Staunend erkannte Lenz das goldene Ringlein, das Rosel am Finger trug, und der Zweifel, ob, was er geschaut und erfahren, Traum oder Wahrheit sei, fing an von neuem ihn zu quälen. Erst als er die liebe Sennin von weitem am Ufer erblickte, und sie erwartungsvoll auf den See hinausstarren sah, jubelte er laut auf in dem frohen Bewußtsein, daß sie ihn nicht vergessen habe. –

So erzählte Lenz seiner Rosel. Bald schaudernd und angstvoll, beruhigt und gerührt, lauschte sie seiner Erzählung und liebkoste ihn und dankte Gott für seine Rettung.

Aber das goldene Ringlein, dessen Verlust und Wiederfinden ihr als wahre Fügung des Himmels erschien, war ihr nun doppelt wert, und mit Tränen der innigsten Rührung steckte sie es wieder an den Finger.