Heinrich Seidel
Rotkehlchen
Heinrich Seidel

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Heinrich Seidel

Rotkehlchen.

Herr Dusedann war zweiunddreißig Jahre alt und im besten Begriff, ein Junggeselle zu werden. Er besaß ein großes Vermögen, und obgleich er aus diesem Grunde keinen bestimmten Beruf erwählt hatte, so waren seine Tage dennoch dermaßen mit Thätigkeit und Arbeit angefüllt, daß er zu Heiratsgedanken gar keine Zeit fand. Daran war aber seine große Sammelleidenschaft schuld und ein ihm innewohnender Drang, alles ins Gründliche zu treiben. Verwandte besaß er keine mehr, außer seiner etwas altmodischen Tante Salome, die stets eine schneeweiße Haube und hellblonde Seitenlöckchen trug und von einer ewigen Unruhe erfüllt war. Trotz ihres Alters war sie sehr flink auf den Beinen und klimperte den ganzen Tag mit ihrem Schlüsselbund treppauf treppab vom Boden in den Keller, von der Küche in die Kammer. Dann saß sie plötzlich wieder in ihrem sauberen Zimmer und nähte, aber ehe man es sich versah, hatte sie Hut und Mantel angethan und war fort in die Stadt, hetzte die Verkäufer in den Läden, daß sie nur so flogen, und war mit einer merkwürdigen Geschwindigkeit aus den entferntesten Gegenden wieder zurück. Sie konnte laufen wie die Jüngste, und betrieb dies auch in solchen Momenten, wo im Drange der Geschäfte ihr solches notwendig erschien. Es war dann seltsam zu sehen, wie die alte Dame den Korridor entlang huschte, daß die Löckchen flogen, oder wenn sie mit flinken Füßen die Treppe hinabschnurrte.

Sie achtete alle Neigungen und Liebhabereien ihres Neffen wie Heiligtümer, sie kannte alle seine Lieblingsgerichte und kochte sie in anmutiger Abwechslung, sie schob unter alle seine Gewohnheiten und Wünsche sanfte Kissen der Zuvorkommenheit, kurz, Herr Dusedann hätte sich in dieser Hinsicht wie im Himmel fühlen müssen, wenn er nicht von Jugend auf daran gewöhnt gewesen wäre, und deshalb solchen Zustand für selbstverständlich hielt. Da nun alle Unzuträglichkeiten des Junggesellenstandes für ihn wegfielen, seine mannigfaltigen Liebhabereien ihn mehr als genügend beschäftigten und außerdem eine angeborene Schüchternheit ihn den Verkehr mit dem weiblichen Geschlechte meiden ließ, so ist es nicht zu verwundern, daß Herr Dusedann sich ganz wohl fühlte und nicht im mindesten darauf verfiel, eine Veränderung dieses Zustandes anzustreben.

Seine Lust, alle möglichen Dinge zu betreiben und zu sammeln, hatte sich erst herausgebildet, als er von der Universität zurückgekehrt war und nun gar nicht wußte, was er mit der vielen Zeit in seinem großen Hause anfangen sollte. Zuerst verfiel er auf allerlei schrullenhafte Dinge. So legte er unter anderem eine Sammlung von Porzellanhunden an und brachte es in kurzem auf hundertdreiundneunzig Stück verschiedener Exemplare. Sie wurden auf einer pyramidenförmigen Etagere systematisch geordnet und boten einen Anblick dar, der ebenso komisch als seltsam war. Hierdurch ward er auf die Thatsache hingeführt, daß es in Porzellan noch manche andere Dinge gibt, die nicht zu verachten sind, daß Majolikageräte besonders geeignet erscheinen, die Begier eines Sammlers zu entzünden, und alte venetianische Glaswaren eine geradezu dämonische Anziehung auszuüben im stande sind. So füllte sich allmählich sein Haus mit einer Unzahl von sonderbaren Gerätschaften, Tellern, Krügen, Tassen und Gläsern, aus denen niemand jemals aß oder trank, und deren einziger Reiz oft nur darin bestand, daß ein anderer sie nicht hatte.

Jedoch diese Dinge mußten untergebracht werden und die Schränke, in denen dieses geschah, die Möbel, auf denen sie standen, mußten sich im Einklang mit diesen Zeugen einer untergegangenen Kultur befinden. So befiel ihn zu alledem ein Fanatismus für alte Möbel, gebauchte Kommoden, braun und gelb eingelegt und mit Messingbeschlägen verziert, riesige altersbraune Wandschränke mit ungeheuren Ausladungen und Gesimsen und einer Geräumigkeit, daß man darin spazieren gehen konnte, seltsame Schreibsekretäre mit bunten eingelegten Blumen verziert und ausgestattet mit einem komplizierten System von Schiebladen, Schränken und Geheimfächern und allerlei spaßhaften Ueberraschungen.

Zu alledem gesellten sich allmählich große Mappen mit Kupferstichen angefüllt, seltene Bücher, Münzen, Holzschnitzereien, Bernstein- und Perlmutterarbeiten, Kuriositäten aller Art, seltene Erzstufen und Krystalldrusen, japanische und chinesische Lack-, Email- und Bronzewaren, so daß sein Haus und sein Zimmer schließlich mit all diesen Dingen so gespickt und besetzt war, wie ein alter Ostindienfahrer mit Seemuscheln.

Demnach geschah aber etwas, das seiner Lust am Sammeln und Hegen eine neue Wendung gab. Er besuchte zufällig eine Ausstellung von lebenden Vögeln, nahm einige Lose und hatte das Schicksal, ein paar Sonnenvögel zu gewinnen. Diese anmutigen und reizvollen Tiere, die Schönheit des Aussehens, drolliges Benehmen und herrlichen Gesang miteinander vereinen, machten einen tiefen Eindruck auf ihn und erweckten Appetit nach mehr. Er suchte sofort die Bekanntschaft eines stadtbekannten Vogelliebhabers und stürzte sich mit Feuereifer auf die Erlernung dieser ihm ganz neuen Dinge. Im Umsehen hatte er auf sämtliche Fachzeitschriften abonniert und eine Anzahl von Werken über Vogelkunde erworben. Es gelang ihm sogar, für eine Menge Geld sich in den Besitz von Johann Andreas Naumanns Naturgeschichte der Vögel Deutschlands zu setzen, jenes seltenen und großartigen Werkes, das in der Litteratur aller Völker seinesgleichen sucht. Es war ihm, als sei er nun erst hinter das Wahre und Richtige gekommen, und diese ganz neue Leidenschaft hatten die zwei kleinen chinesischen Piepvögel angerichtet.

Nach Anweisung jenes Vogelkundigen richtete er ein schönes sonniges Zimmer seines Hauses zur Vogelstube ein, die mit Springbrunnen und Teich und rieselndem Gewässer ausgestattet, an den Wänden mit Borke und alten Baumstämmen bekleidet und mit Nistkästen und Futtergeschirren der neuesten und besten Konstruktion versehen war. Unter großen Kosten ward dieser Raum stets mit neuen lebenden Gesträuchen und Tannenbäumen versehen. Zugleich ließ er einen Schrank bauen von weichem Holz, mit unzähligen Schiebladen versehen und außen gar anmutig mit gemalten Vögeln und deren Futterpflanzen verziert. Die Schiebladen wurden mit entsprechenden sauberen Inschriften versehen und gefüllt mit Kanariensamen, Hanf, Hirse, Sonnenblumenkernen, Haselnüssen, Mohnsamen und was sonst zum Vogelfutter dient, als da sind getrocknete Holunder und Ebereschebeeren, kondensiertes Eigelb, Eierbrot und solcherlei mehr. An den Seiten des Schrankes aber hingen in sauberen Säcken Ameisenpuppen und getrocknete Eintagsfliegen, während oben drauf sechs große mit Flor verbundene Häfen prangten, in die er zwei Pfund Mehlwürmer zur Zucht eingesetzt hatte.

Nachdem alle diese Vorbereitungen getroffen waren und er die Vogelstube mit einer reichen Anzahl von in- und ausländischen Tierchen besetzt hatte, war ihm ein Feld zu reichlicher und dauernder Thätigkeit eröffnet. Wie nun bei allen solchen Liebhabereien eins das andere mit sich bringt, so ging es auch hier, und Herr Dusedann suchte bald seinen Ehrgeiz darin, die schwierigsten und seltensten Vögel in Gefangenschaft zu halten. Bald hatte er außer seiner Vogelstube ein ungeheures Flugbauer in einem anderen Zimmer aufgestellt. Darin befanden sich alle vier einheimischen Laubvogelarten, Goldhähnchen, Schwanzmeisen, Bartmeisen, Baumläufer, Zaunkönige, kleine Fliegenschnäpper und andere zärtliche Vögel, die viel Aufmerksamkeit und Wartung erfordern. In demselben Zimmer flogen zwei Eisvögel umher, die in einem großen Wasserbassin alltäglich eine große Menge von lebenden kleinen Fischen erhielten. Hier konnte er manche Stunde sitzen und diesen schnurrigen, schön gefärbten und metallisch glänzenden Vögeln zusehen, wie sie von ihrem Beobachtungsaste aus plötzlich kopfüber ins Wasser plumpsten und jedesmal mit einem Fischlein im Schnabel auf ihren Sitz zurückkehrten. Wie sie dann den Fang hin und her warfen, bis er mundgerecht lag und ihn unter mächtigem Schlucken hinabwürgten. Wie sie dann eine Weile geduckt und mit ein wenig gesträubten Federn dasaßen, als sei diese ganze Angelegenheit eine verdrießliche und nachdenkliche Sache und mehr Geschäft als Vergnügen.

Im Laufe der Zeit ward diese Menagerie immer größer und reichhaltiger und ihre Wartung, Beobachtung und Pflege verschlang alle Zeit, die Herrn Dusedann so reichlich zur Verfügung stand.

*

Da geschah es, daß sich seine Wünsche auf den Besitz eines sprechenden Graupapageien richteten und er sich das Glück, ein solches Tier sein eigen zu nennen, mit den glänzendsten Farben ausmalte. Natürlich sollte es ein Genie sein, keines von jenen Tieren mit mangelhafter Schulbildung, die mit: »Wie heißt du,« »Papa,« und »eins, zwei, drei, hurra!« ihren ganzen Sprachschatz erschöpft haben. Nun erfuhr Herr Dusedann durch einen Vogelhändler, daß in der Stadt ein alter pensionierter Beamter lebe, der einen wunderbaren Papagei »klüger als ein Mensch« besitze, und nachdem er sich vieles von den Künsten dieses Wundervogels hatte erzählen lassen, empfand er deutlich, das Leben würde seines schönsten Reizes beraubt sein, wenn er diesen Vogel nicht sein eigen nennen dürfe. Da er von dem Händler hörte, daß der Beamte nicht in den besten Verhältnissen lebe, da er gelähmt sei und von seiner geringen Pension drei Töchter zu erhalten habe, und infolgedessen wohl geneigt sein dürfte, gegen ein gutes Gebot den Vogel zu verkaufen, so steckte Herr Dusedann eines Tages sein Portemonnaie voll Goldstücke und machte sich auf, den Beamten, der Roland hieß, zu besuchen. Dieser wohnte in einem ärmlichen Hause in der Vorstadt, in einer Gegend, wo die Straßen schon anfangen, häuserlos zu werden. Als Herr Dusedann an die Thür klopfte, rief eine etwas schnarrende Stimme: »Herein!« und er trat in ein ärmliches, aber freundliches Zimmer. Gegenüber der Thür auf einem alten, vielbenutzten Sofa lag ein Mann von einigen fünfzig Jahren mit blassen, aber freundlichen Gesichtszügen und vor ihm auf dem Tische stand ein großes Drahtbauer mit dem erwünschten Vogel.

»Guten Morgen,« sagte der Papagei.

Herr Dusedann erwiderte diese Höflichkeit und stellte sich dann dem Herrn Roland vor.

»Bitte, nehmen Sie Platz,« sagte der Papagei.

Herr Roland lächelte: »Der Vogel nimmt mir die Worte aus dem Munde,« sagte er dann. »Womit kann ich dienen?«

Herr Dusedann setzte sich, räusperte sich ein wenig und indem er seine Augen auf den Papagei richtete, der eine dämonische Anziehungskraft auf ihn ausübte, sagte er: »Ich bin ein großer Vogelliebhaber, Herr Roland. Ich habe von Ihrem außerordentlichen Papagei gehört und bin gekommen, Sie um die Erlaubnis zu bitten, die Bekanntschaft dieses Vogels zu machen.«

»Siehst du, wie du bist?« sagte der Papagei. Dann ging er seitwärts auf seiner Sitzstange entlang, verbeugte sich ein paarmal, sah ungemein pfiffig aus und sagte: »Oooh!«

»Ein doller Vogel!« rief Herr Dusedann mit dem Ausdruck der innigsten Bewunderung und zugleich quälte ihn der beängstigende Gedanke, ob er auch wohl genug Goldstücke in sein Portemonnaie gesteckt habe.

»O er kann noch viel mehr!« sagte Herr Roland und betrachtete seinen Liebling mit leuchtenden Augen. Der Papagei, wie um dies zu bestätigen, fing an zu singen: »Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß!« Dann krähte er wie ein Hahn, gackerte wie eine Henne und bellte so ausgezeichnet, daß der talentvollste Hund noch hätte von ihm lernen können. Mit diesen Leistungen schien er selber zufrieden zu sein, denn er brach scheinbar vor Entzücken in ein ungeheures Gelächter aus.

»Kolossal!« rief Herr Dusedann. Da nun ein Augenblick der Stille eintrat, indem sich der Vogel mit seinem Futternapf beschäftigte, hörte man eine anmutige Mädchenstimme im Nebenzimmer singen, so wie man bei der Arbeit vor sich hinsingt. Obgleich Herrn Dusedanns Aufmerksamkeit durch den Papagei sehr in Anspruch genommen war, bemerkte er dies doch, und durch eine Ideenverbindung fiel ihm seine Vogelstube ein, wenn das Abendrot seitwärts hineinschien, in den dämmerigen Ecken die kleinen Vögel fast alle schon schliefen und nur noch ein Rotkehlchen sein träumerisch liebliches Abendlied sang. Er horchte eine Weile auf die anmutige Stimme. »Ganz wie ein Rotkehlchen,« dachte er.

Der Papagei war ebenfalls aufmerksam geworden, er sträubte die Kopffedern und sprach mit sanftem Ausdruck: »Wendula! Wendula Roland!« Dann wanderte er wieder seitwärts, verbeugte sich ein paarmal und sagte wieder: »Oooh!«

»Er meint meine Tochter,« sprach der Alte, »er hört sie singen.«

Herr Dusedann war durch und durch begeistert für diesen Vogel. Er faßte Mut, tastete heimlich nach der wohlgefüllten Rundung seines Portemonnaies und sagte: »Sie wissen, Herr Roland, ich bin ein Vogelliebhaber. Ich habe hundertdreizehn Vögel zu Hause. Es ist mein höchster Wunsch, auch einen so gelehrigen Papagei zu besitzen. Sie verzeihen deshalb meine Anfrage. Es könnte ja sein, daß . . . und, wenn es wäre . . . auf den Preis sollte es mir nicht ankommen . . .« Herr Dusedann sah den Alten erblassen und dies verwirrte seine Rede . . . »Der Händler sagte vierhundert Mark,« fuhr er fort . . . »dies hätte man schon öfters bezahlt . . . Aber, wenn Sie nicht wollen . . . fünfhundert würde ich geben.«

Es erleichterte ihn sichtlich, daß er dies Angebot los war; der Papagei aber sang: »O du lieber Augustin, alles ist weg, weg, weg!« schwang sich in seinen Ring und schaukelte sich, daß das Bauer bebte.

Der Alte sah auf ihn hin. »Das ist ein schönes Stück Geld,« sagte er, und seine Stimme klang etwas heiser, »allein der Vogel gehört meiner Tochter, er ist ein Andenken von meinem einzigen Sohne, der in der See ertrunken ist.« Dann rief er: »Wendula!«

Die Thür des Nebenzimmers öffnete sich und ein junges Mädchen von etwa achtzehn Jahren trat herein. Ihre Gestalt war mittelgroß und von jener schlanken, elastischen Fülle, die zugleich den Eindruck von Zartheit und Kraft hervorbringt. Sie trug ein olivenbraunes Kleid und ein rotes Tüchlein, das den oberen Teil der Brust bedeckte. Sie sah mit großen dunklen Augen etwas verwundert auf den Fremden hin. »Wendula,« sagte der Papagei, »Wendula Roland!«

»Wie ein Rotkehlchen,« dachte Herr Dusedann unwillkürlich wieder.

Der Alte sprach jetzt: »Dies ist Herr Dusedann. Er wünscht deinen Papagei zu kaufen. Er will sehr viel Geld dafür geben – fünfhundert Mark. Du kannst über dein Eigentum frei verfügen und ich will dich nicht beeinflussen.«

Das junge Mädchen sah auf ihren Vater, auf den Papagei und dann auf Herrn Dusedann. Sie besann sich einen Augenblick, öffnete dann die Thür, deren Drücker sie noch in der Hand hielt, sprach mit einer kurzen Handbewegung: »Ich bitte«, und ging in ihr Zimmer zurück. Herr Dusedann folgte ihr. Sie schloß die Thür sorgfältig, schaute dann dem jungen Mann mit den großen dunklen Augen gerade ins Gesicht und schüttelte ein wenig den Kopf.

»Es geht nicht,« sagte sie dann eindrücklich, »es geht wirklich nicht.«

Herr Dusedann wollte etwas sagen; er wußte nur durchaus nicht was.

Dann fuhr sie fort: »Der Vater hängt zu sehr an dem Vogel. Wenn die Schwestern in der Schule sind und ich in der Wirtschaft zu thun habe, da ist er oft lange allein. Er kann ja nur ganz wenig an seinem Stocke gehen und kommt nie aus dem Hause. Da liegt er dann auf seinem Sofa und spricht mit dem Vogel und lehrt ihn neue Künste. Ach, der ist ja so klug und wird alle Tage klüger – es ist manchmal ganz unheimlich, was der für einen Verstand hat.«

Sie sah Herrn Dusedann noch einmal eindrücklich an, nickte ein wenig und fuhr dann fort: »Nicht wahr, Sie sehen das ein? Alle Tage würde sich der Vater nach dem Vogel sehnen, und er hat ja so wenig vom Leben.«

Es war sonderbar, Herr Dusedann hatte nicht mehr die geringste Lust, den Papagei zu kaufen, ja es kam ihm fast wie eine Art von schwarzherziger Abscheulichkeit vor, daß er jemals eine solche Absicht hatte hegen können.

»O gewiß . . . natürlich . . . Jawohl . . . durchaus!« stotterte er, denn das junge Mädchen, das so frei und schlank vor ihm stand und ihm so gerade in die Augen sah, flößte ihm jene Verwirrung ein, die ihn stets jungen Mädchen gegenüber befiel, zumal wenn sie hübsch und anmutig waren. Aber diese Empfindung war sehr stark mit Wohlgefallen gemischt. Herzhafter setzte er hinzu: »Ich würde ihn nie kaufen! nie!«

Sie lächelte ein ganz klein wenig, es war wie ein Sonnenlicht, das durch eine Lücke windbewegter Zweige flüchtig über eine Rose gleitet. Dann hielt sie ihm die Hand hin und sagte: »Gut, nun ist es abgemacht!«

In diese warme Mädchenhand einzuschlagen, war ein gefährliches Unternehmen, allein es gelang über Erwarten gut und durchrieselte Herrn Dusedann gar angenehm bis ins Herz hinein. Dann gingen sie wieder zu dem Alten hinein, der sichtlich erfreut war, als er das Resultat der Verhandlungen erfuhr. Der Papagei, als der Held des Tages, ward nun aus seinem Bauer hervorgenommen und setzte sich auf Wendulas Finger. Er mußte »Küßchen geben«, zuerst dem jungen Mädchen, dann Herrn Dusedann, was wiederum eine verfängliche Sache war. Dann sträubte er die Nackenfedern und bat: »Köpfchen krauen!« dann sang er: »Ich bin der kleine Postillon,« und blies überaus schön ein Postsignal, dann weinte er wie ein kleines Kind, hustete wie ein alter Zittergreis und entwickelte alle seine sonstigen Talente – mit einem Wort, er war entzückend. Herr Dusedann lebte ganz auf und verlor seine Schüchternheit, ihm gelangen zu seiner eigenen Verwunderung die schönsten zusammenhängenden Sätze und beim Abschied sprach er in wohlgesetzten Worten die Bitte aus, seinen Besuch wiederholen zu dürfen, um diesen außerordentlich gelehrten Papagei noch einmal bewundern zu können. Dies ward ihm in Gnaden gewährt.

*

Herr Dusedann, was ist mit Ihnen vorgegangen? Weshalb schauen Sie zuweilen so nachdenklich in die Wolken und so tiefsinnig in den Himmel, als wollten Sie die Geheimnisse des Weltalls ergründen? Weshalb, im Gegensatz dazu, sind Sie dann wiederum so lustig und trillern allerlei Liederchen und hüpfen sogar in zierlichen Bocksprüngen, obgleich Sie doch sonst so gesetzt und ebenmäßig einhergingen? Woher kommt Ihr plötzliches intensives Interesse für Sylvia rubecula, auf deutsch Rotkehlchen genannt, da Sie doch sonst für diesen Sänger keine übermäßige Vorliebe verrieten? Was soll man dazu sagen, daß Sie alle die anderen zierlichen Tierchen in Ihrer Vogelstube kaum eines Blickes würdigen und nur diesem einen Rotkehlchen mit fast verliebten Blicken nachfolgen? Sind denn die Sonnenvögel weniger anmutig, die Sperlingspapageien nicht so drollig und die vielen kleinen afrikanischen Finken nicht ebenso niedlich als sonst? Was hat Ihnen das Blaukehlchen gethan, daß Sie es gar nicht mehr beachten, wenn es im Sonnenschein auf dem Bauche im Sande liegt und sein seltsam liebliches Liedchen ableiert? Was soll es bedeuten, daß Sie alle Tage Ihre Spaziergänge in jene armselige Vorstadt richten und dann auf die Chaussee hinauslaufen, wo es nichts zu sehen gibt als Pappeln und winterlich öde Sandfelder? Wenn Sie dann an einem gewissen Hause vorbeikommen, weshalb schleichen Sie denn wie ein Verbrecher daher und wagen kaum hinzusehen? Wissen Sie wohl noch, was neulich passiert ist an jenem sonnigklaren Dezemberfrosttage, als die Welt so frisch und jungfräulich im ersten Dauerschnee dalag? Dieser freudige kalte Tag mußte wohl Ihren Mut befördert haben, denn Sie wagten es, mit großer Kühnheit nach dem Fenster des bewußten Hauses zu blicken, aber als Sie dort ein junges schlankes Mädchen bemerkten, das mit großen dunklen Augen auf Sie hinschaute, da wurden Sie rot wie eine Purpurrose und zogen sehr tief Ihren Hut ab, während das Mädchen sich freundlich verneigte und auch, wohl im Widerschein Ihres Antlitzes, ein wenig anglühte. Sie liefen dann wieder auf die öde Chaussee hinaus und geruhten, sich ein wenig närrisch zu benehmen, absonderlich wieder erklecklich zu hüpfen und allerlei Poesieverse in den Wintertag hinein zu deklamieren. Dero Gedanken waren unbedingt an einem anderen Orte, denn Sie bemerkten weder den großen grauen Würger, Lanius excubitor L., der im Sonnenschein auf dem Pappelwipfel saß, noch die Eisvögel, Alcedo ispida L., die an dem noch nicht zugefrorenen Bach mit Fischfang sich erlustierend, in der Sonne wie Edelsteine glänzten. Obgleich doch solcherlei Schauspiel sonsten von Ihnen mit besonderem Wohlgefallen betrachtet wurde, Herr Dusedann! Sie werden sich erinnern, daß Sie späterhin auf der Chaussee noch andere Merkwürdigkeiten trieben, absonderlich, daß Sie plötzlich in großen Schreck gerieten, indem Sie sich bewußt wurden, ganz laut einen Namen in den schneeglänzenden Wintertag hinausgerufen zu haben, und zwar lautete dieser: »Wendula! – Wendula Roland!« – Was soll man davon denken, Herr Dusedann? Sie sahen sich zwar sofort erschrocken um und beruhigten sich erst, als Sie bemerkten, daß auf der ganzen weiten Chaussee kein Mensch zu sehen war. Sie suchten sich einzureden, nur die Liebe zum Wohlklange habe Sie veranlaßt, diesen melodischen Namen auszurufen, aber ob Sie sich dieses geglaubt haben, ist noch sehr die Frage.

Ja, es war eine merkwürdige Veränderung mit Herrn Dusedann vorgegangen. Acht Tage lang hielt er es aus, ohne den Anblick des wunderbaren Papageis zu leben, dann trieb es ihn mit magnetischer Gewalt, sich wieder nach ihm umzusehen. Das nächste Mal konnte er diese Sehnsucht nur noch drei Tage lang unterdrücken und dann stellte er sich ein um den anderen Tag ein, so daß er binnen kurzem im Hause Roland eine bekannte Erscheinung ward. Auch eine beliebte. Der Alte freute sich, jemand zu haben, mit dem er plaudern konnte, die beiden jüngeren Töchter Susanne und Regina fanden einen harmlosen Spielgefährten in ihm, dessen Taschen allerlei Süßigkeiten bargen, und Wendula – ja wer wollte das ergründen, was in der Tiefe ihrer dunklen Augen verborgen lag. Aber das muß gesagt werden, daß sie heller aufleuchteten, wenn die Thürglocke erklang und der bekannte Schritt auf dem Gange hörbar ward. Als bemerkenswert muß auch verzeichnet werden, daß Herr Dusedann, der bekanntlich doch nur kam, um den Papagei zu sehen, zuweilen nach längerem Aufenthalt wieder fort ging, ohne ihm mehr als einen halben Blick geschenkt zu haben, eine Inkonsequenz, die aus den sonstigen Charaktereigenschaften dieses jungen Mannes nicht genügend erklärt werden kann.

Da die Weihnachtszeit herannahte, so waren auch in diesem Hause vielerlei Geheimnisse im Gange, und Herr Dusedann genoß das ehrenvolle Vertrauen, von allen drei Mädchen in ihre verschiedenen Unternehmungen eingeweiht zu werden, so daß ihm als einem Weihnachtsbeichtvater das ganze Gewebe gegenseitiger Ueberraschungen klar vor Augen lag. Diese Dinge rührten ihn und gefielen ihm gar wohl, zumal er seine Eltern früh verloren hatte und einsam ohne Geschwister aufgewachsen war. Dies alles berührte ihn als etwas Neues und seltsam Liebliches und zum erstenmal in seinem Leben ward ihm klar, daß er in seiner Kindheit trotz allen Ueberflusses doch vieles entbehrt habe, das kein Reichtum schaffen kann.

Es kam einmal zur Sprache, daß er dieses Fest noch niemals in Gegenwart von Kindern gefeiert habe, immer nur, so lange er denken konnte, mit der alten Tante Salome am Abend des ersten Weihnachtstages. Diese zierte dann einen Tannenbaum auf mit allerlei dauerhaften Schmuckdingen, die sie sorgfältig in einer Schieblade aufhob, und deren manche noch aus seiner Kinderzeit stammten. Den Grundstock ihrer Bescherung bildeten stets sechs Paar selbstgestrickte Strümpfe und darum gruppierten sich einige wertlose Kleinigkeiten, »denn was soll ich dir schenken, mein Junge,« sagte sie, »du hast ja alles!« Dazu hatte sie aber stets nach alten geheimnisvollen Familienrezepten eine Unzahl der verschiedensten Kuchen gebacken, die keines von beiden aß und die später so allmählich fortgeschenkt wurden. Herrn Dusedanns Gegengeschenk bestand jedoch, seit er mündig war, stets aus einem Schächtelchen mit Goldstücken, die Tante Salome in ihre Sparbüchse that. Nach der Bescherung gab es Karpfen zum Abendessen, und Herr Dusedann braute dazu aus einer Flasche Burgunder, einer Flasche Portwein und ein wenig echtem Jamaika-Rum einen Punsch, worin sich Tante Salome regelmäßig einen kleinen Spitz trank. Danach wurde feierlich zu Bette gegangen und die Sache war erledigt.

Wie es kam, ist nicht mehr mit Genauigkeit festzustellen, allein, als man über diese Dinge redete und Herr Dusedann zwischendurch den Wunsch äußerte, dies Fest einmal in Gemeinschaft mit Kindern zu feiern, da war er, ehe man sich's versah, eingeladen. Dies ging insofern ganz gut, als die Familie Roland das Fest am heiligen Abend feierte, und Herr Dusedann somit seine eigenen geheiligten Familientraditionen nicht zu durchbrechen nötig hatte, eine Tempelschändung, die zu verüben er auch wohl nicht gewagt haben würde. Da nun seine Kühnheit in der letzten Zeit schon bedeutend zugenommen hatte, so gelang es ihm, in wohlgesetzter Rede den Wunsch anzusprechen, daß ihm erlaubt sein möchte, sich an diesem Abend ganz als ein Mitglied der Familie zu betrachten, und man ihm nicht verübeln möge, wenn er sich in jeder Hinsicht an der Bescherung beteilige. Daß die Familie Roland dagegen nichts einzuwenden hatte, stimmte ihn so fröhlich, daß er auf dem Rückwege nach seiner Wohnung eine große moralische Kraft anwenden mußte, in dem frisch gefallenen Schnee der Straße nicht einigemal vor Vergnügen Kobold zu schießen. Das ehrwürdige Blut der Dusedanns aber, das in seinen Adern floß, war stark genug, diese hasenfüßige That zu verhindern.

*

Von diesem Tage an wurde Herr Dusedann viel mit Paketen gesehen. Da aber in dieser Zeit solches eine häufige Zierde des Mannes, insonderheit des Familienvaters und des alten guten Onkels ist, so fiel das weiter nicht auf. Aber der junge Mann zitterte doch oftmals bei seinen Einkäufen davor, daß ihn ein Bekannter dabei überraschen möge. Zwar bei der großartigen Kinderkochmaschine, die er für Regina einkaufte und der für Susanne bestimmten Puppenstube von märchenhafter Pracht hätte er schon leicht eine Ausrede finden können, allein was sollte er sagen, wenn ihn jemand gefragt hätte, für wen der kostbare olivenbraune Seidenstoff bestimmt sei und die wunderbare goldene, mit Perlen behängte Halskette, die der erste Juwelier der Stadt nach den Zeichnungen eines bedeutenden Künstlers ausgeführt hatte. Wenn er behauptet hätte für Tante Salome, so wäre diese Lüge doch gar zu durchsichtig gewesen. Und so kaufte er in einer Art von Rausch noch allerlei Dinge, die ihm passend und angenehm erschienen. Daß sein Beginnen sehr auffallend war, kam ihm gar nicht in den Sinn, dazu hatte er zu einsam gelebt und zu wenig Begriff von dem Wert des Geldes.

Als er kurz vor Weihnachten zu der Familie Roland kam, traf er den Alten allein und in sehr trübseliger Stimmung. Nach einigen Worten der Einleitung fragte dieser mit bebender Stimme: »Möchten Sie den Papagei noch kaufen, Herr Dusedann?«

Als dieser ihn verwundert anblickte, fuhr er fort: »Ich werde sehr bedrängt durch eine Schuld, die ich zur Zeit meiner schweren Krankheit, der mein jetziges Leiden folgte, eingehen mußte. Bis jetzt habe ich sie in kleinen Raten vierteljährlich vermindert, allein nun will der Geldgeber nicht mehr warten. Außerdem ist das Weihnachtsfest vor der Thür und der erste Januar mit seinen Ausgaben. Es ist ja auch ein großer Luxus für einen Mann wie mich, ein so kostbares Tier zu halten. Ich habe mir die Sache überlegt. Ein sogenannter roher Graupapagei, der frisch angekommen ist und noch nichts versteht, kostet nur sechsunddreißig Mark. Ich schaffe mir von dem übrigen Gelde einen solchen an, einen, der noch graue und nicht gelbe Augen hat, also noch jung ist, und dann will ich mich dahinter setzen, daß er bald ebensoviel lernen soll als dieser.«

Herrn Dusedann schoß ein glänzender Gedanke wie eine Sternschnuppe durch den Kopf.

»Gewiß,« sagte er, »den Papagei kaufe ich gerne, aber Sie müssen ihn noch eine Weile behalten, bis ich mich auf ihn eingerichtet habe. Nicht wahr? Im nächsten Jahre hole ich ihn mir.« Da er gerade genügend mit Geld versehen war, so zählte er die fünfhundert Mark auf den Tisch und verabschiedete sich. Zu Anfang war er ein wenig betroffen und ergriffen, denn zum erstenmal in seinem Leben war ihm menschliche Not entgegengetreten, allein diese Stimmung verlor sich bald, denn es lag ja in seiner Hand, diesen Menschen, die er achtete und liebte, von seinem Ueberflusse mitzuteilen. Der Mond, der an diesem Abend in Herrn Dusedanns Zimmer schien, hatte einen wunderlichen Anblick. Er sah diesen Herrn in seinem Bette liegen und in höchst seltsamer Weise alle Augenblicke sich die Hände reiben, ja sogar zuweilen unter der Bettdecke mit den Beinen ziemlich strampeln. Der gute alte Mond glaubte, daß Herrn Dusedann fröre; freilich er konnte nicht wissen, daß in dem Zimmer sehr schön geheizt war und Herr Dusedann bloß vor lauter Vergnügen nicht einschlafen konnte.

Am Morgen des vierundzwanzigsten Dezember erwachte Herr Dusedann so erwartungsvoll und freudig wie ein richtiges Kind, das diesen seligen bevorstehenden Abend kaum abzuwarten vermag. Er packte alle seine eingekauften Schätze sorgsam in eine ungeheure Kiste und bestellte dann einen Dienstmann, der die Weisung erhielt, diese am Abend um fünf Uhr in der Rolandschen Wohnung abzuliefern. Nur eine Schachtel behielt er zurück und machte sich damit um ein Uhr auf den Weg, um sie persönlich abzuliefern. Sie enthielt einen Beitrag zur Ausschmückung des Tannenbaums, denn er hatte sich extra auserbeten, an diesem feierlichen Akte teilnehmen zu dürfen. Er fand den Alten und die beiden Kinder zusammen in dem Vorderzimmer. »Wir dürfen nicht hinein,« sagte Susanne und zeigte auf die Nebenthür: »Wendula putzt auf!«

»Aber ich darf doch?« fragte Herr Dusedann.

»Ja, Sie dürfen. Wendula hat's gesagt.«

Er klopfte jetzt und ward durch einen schmalen Thürspalt hineingelassen.

»Ich habe doch was blinken sehen,« rief Regina triumphierend.

Wendulas Gesicht war von der eifrigen Thätigkeit rosig angehaucht und ihre dunklen Augen strahlten. Sie hatte die Aermel ein wenig aufgestreift, daß die schönen weißen Arme zur Hälfte sich zeigten. Die Grundlage alles Tannenbaumaufputzes, die Silber- und Goldäpfel, hatte sie bereits angehängt, und diese schimmerten freundlich aus dem dunklen Grün hervor. Herr Dusedann packte seine Schachtel aus. Es waren lauter Vögel darin, Marzipan-, Zucker- und Schokoladevögel, die er mit großer Mühe aus allen Zuckerwarenfabriken und Konditoreien der Stadt zusammengesucht hatte, Papageien, die sich in Ringen schaukelten, Schwäne, Gänse, Enten, Hühner, Kanarienvögel und alles mögliche. Zu seinem großen Bedauern hatten aber die buntesten und prächtigsten dieser wohlschmeckenden Tiere mehr aus einer exotischen Zuckerbäckerphantasie ihren Ursprung genommen, als daß sie treue Nachbilder der Wirklichkeit gewesen wären. »Wie würden Sie nun dies Geschöpf nennen?« sagte er und hielt ein solches Gebilde empor, »Fasanen-Möwen-Schwan-Geier ist die kürzeste Bezeichnung, denn von allem ist was drin.«

»Ich nenne ihn Piepvogel,« sagte Wendula, »und hänge ihn an den Tannenbaum.«

Er beteiligte sich an dieser Arbeit, stellte sich aber ein wenig ungeschickt dabei an. »Wir wollen uns in die Arbeit teilen,« sagte Wendula, »ich hänge an und Sie reichen mir die Sachen zu.«

Herr Dusedann war es zufrieden. Aber war es notwendig, daß bei diesen Verrichtungen die Hände sich so oft trafen und die Augen so lange aneinander hafteten? War bei den Beratungen über den besten Ort für irgend einen Gegenstand es gar nicht zu vermeiden, daß die Schultern sanft aneinander ruhten und die Hände sich wieder begegneten? Was sollte es bedeuten, daß beide so oft lachten über Dinge, die nichts Komisches an sich hatten, und dann wieder bei einer ähnlichen Gelegenheit ohne jeden ersichtlichen Grund verstummten? Seit wann bedurfte Wendula, eine so behende Persönlichkeit, unbedingt der Hilfe, um auf einen Stuhl zu steigen, und fraglos der Unterstützung, wenn sie wieder herab wollte?

Endlich hatte sie die letzten Lichter an dem oberen Kranz der Zweige befestigt, stand auf ihrem Stuhl und betrachtete ihr Werk. »Nun ist alles fertig!« sagte sie mit einem kleinen Seufzer.

»Wie schade!« meinte Herr Dusedann. Dann sahen sie sich in die Augen und er reichte ihr die Hände, um ihr beim Absteigen behilflich zu sein.

Sie glitt an ihm hernieder und lag in seinen Armen. Dann küßten sie sich. Herr Dusedann hielt sie fest umschlossen und fragte ganz leise: »Auf immer?«

»Nun und immerdar!« sagte Wendula noch leiser.

Sie mochte wohl den Tannenbaum mit ihrem Kleide gestreift haben, denn es fiel etwas plötzlich herab. Sie erschraken beide und fuhren auseinander. Herr Dusedann nahm es auf; es war ein kleines Pfefferkuchenherz, in zwei Teile zerbrochen. Er reichte es Wendula hin, diese paßte die zerbrochenen Hälften aneinander und gab dann die eine Herrn Dusedann. Beide aßen ihren Anteil stillschweigend auf, lachten dann wie die Kinder und gingen Hand in Hand hin, Herrn Roland um seinen Segen zu bitten.

Die beiden Kinder waren anfangs ganz erstarrt, allein dies ging bald in ausgelassene Lustigkeit über, sie sprangen beide jauchzend im Zimmer herum, der Papagei sang und pfiff, blies, krähte, bellte und trompetete, und Herr Dusedann mußte bald mit der einen, bald mit der anderen herumtanzen, so daß Herr Roland sich zuletzt in komischem Entsetzen die Ohren zuhielt.

Als nun zuletzt die große Kiste ankam und die Bescherung losging, und Herr Roland seinen Papagei feierlichst zurückgeschenkt erhielt, da war ein solcher Ueberfluß von Liebe, Glück, Dankbarkeit und anderen schönen Empfindungen an diesem Orte vorhanden, daß es ein wahres Wunder war, wie das alles in der engen Wohnung Platz fand.