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Es ist eine merkwürdige Geschichte und ich glaube nicht, daß in Friedenszeiten so etwas geschehen könnte – der Mensch muß durch die Aufregung und die Exaltation um ihn her erst ein wenig rabiat gemacht sein, um durch so kecke Streiche sich selber zu helfen; und dann muß er, um so glorreich damit durchzudringen, auch noch als Spießgesellen einen so außerordentlichen Onkel haben, wie ich ihn im Onkel Peter besitze, meinem teuren sarkastischen Onkel Peter! Ich habe nie begriffen, wie man nur so gut und doch so durchtrieben sein kann, wie dieser brave Onkel Peter mit seinem struppigen, impertinent blonden Haar, seinen pfiffigen, blauen Augen und seinem pockennarbigen Gesicht, das gar nicht schön ist und doch eine so gute Seele birgt! Vielleicht erklärt es sein langer Aufenthalt in einem Champagnergeschäft in Frankreich. Die Bravheit hat er aus Deutschland mitgebracht, und der Champagner hat seine Intelligenz moussieren machen, und der Geschäftsverkehr mit den geriebenen Franzosen hat ihn schlau gemacht.

Soviel ist gewiß, er ist den Herren Franzosen gewachsen, und wenn das Geschäft des Herrn Andre Mounier sich seit zwanzig Jahren in wachsendem Gedeihen befunden, so ist das nicht zum geringsten Teile das Verdienst des ersten Buchhalters und Prokuraführers Peter Bartholdi. Herrn Andre Mounier, dem hitzigen und sehr selbstbewußten Prinzipal, ist sein Glück ein wenig zu sehr zu Kopfe gestiegen und er würde sich, fürcht' ich, in viele bedenkliche Spekulationen gestürzt haben, wenn nicht Onkel Peter als sein getreuer Ekkard ihn immer im rechten Augenblick davon zurückzuhalten gewußt hätte – im rechten Augenblick, und das war immer der letzte – die zwölfte Stunde. Er hütete sich wohl, wenn Herr Mounier für irgendein Ding Feuer gefaßt hatte, ihm zu widersprechen und ihm Einwürfe zu machen, im Gegenteil, er fand die Sache sehr beachtenswert, sehr verheißungsreich und ließ Herrn Mounier seine Phantasie damit beschäftigen; er ließ ihn seine Untersuchungen darüber anstellen, seine Berechnungen machen; nur ganz zuletzt, wenn es darauf ankam, die Unterschrift zu geben und sich zu binden, warf Onkel Peter irgendein kaustisches Wort, eine scharfe Bemerkung in die Sache, wie einen kleinen, in einen Dampfkessel gespritzten Wasserstrahl, der die ganze Dampfmasse niederschlägt, und wie der Dampf im Kessel wurde Herrn Mouniers Spekulation zu Wasser. Als der neue Crédit foncier gegründet wurde ... aber das würde langweilig werden, wollte ich auf Einzelheiten all dieser Schwindelunternehmungen eingehen, für welche man die Unterschrift der großen Firma André Mounier in Rheims suchte; es genügt, wenn ich andeute, daß ich meinen guten Onkel Peter im Verdacht habe, er habe auch einige Schwindelunternehmungen zu Wasser gemacht, welche darauf ausliefen, die Hand Demoiselle Henriettens, der liebenswürdigen, einzigen Tochter des Herrn Mounier, zu gewinnen – Spekulationen, die von Leuten aller Art, Kaufmannssöhnen, Gutsbesitzern, hoffnungsvollen unbesoldeten Maitres de Requête, Räten an unserem Appellhofe – einer Legion von Leuten ausgingen ... denn was Freier anbetrifft, so hatte Demoiselle Henriette deren zehn an jedem Finger. Kein Wunder, denn Henriette ist nicht allein sehr reich, sondern sie ist auch bildhübsch und so liebenswürdig – ach, so bezaubernd liebenswürdig!

Das zu schildern geht völlig über meine ungeübte Feder hinaus. Ich kann es nur erraten lassen durch die Wirkungen, welche diese gefährliche Liebenswürdigkeit auf mich geübt hat.

Als ich, von dem Onkel Peter berufen, das väterliche Haus verließ, um, bevor ich in das Geschäft meines Vaters einträte, mich noch ein Jahr lang in einem auswärtigen größeren Hause auszubilden und völlige Gewandtheit im Französischen zu erlangen, und nun in Rheims bei Herrn Mounier anlangte, machte Henriette einen Eindruck auf mich, der nicht gerade sehr vorteilhaft war. Dies freie Wesen, dieser ungebundene Ton, mit dem sie im Kreise ihrer zahlreichen Verehrer verkehrte, die Unbefangenheit, womit sie diesen Kreis um sich her duldete und jede Huldigung ohne weiteres annahm, das alles mißfiel mir; meine deutsche Schwerfälligkeit nahm Anstoß daran, daß ein junges Mädchen redete, sich gab und mit Herren scherzte, wie es in Deutschland nur eine verheiratete Frau tut; ihre Sicherheit dabei schien mir nicht jungfräulich genug; und indem ich mich eingeschüchtert fühlte und sehr unzufrieden mit der Schattenrolle war, welche ich in diesem Kreise spielte, übertrug ich etwas von dieser Unzufriedenheit auf sie, ich rächte mich für dieselbe durch mein Urteil über sie; just so, als ob ich sie dadurch für meine eigene Schwerfälligkeit, die mich so in den Hintergrund drängte, strafen könne.

Zu meiner Verwunderung war Onkel Peter stets ihres Lobes voll. Und wenn er von ihr sprach, von ihrer Herzensgüte, ihrer gründlichen Ausbildung, die wahrhaft bewundernswürdig sei, da sie wie alle Französinnen aus guten Häusern in einem lächerlich beschränkten Kreise von Vorstellungen aufgezogen sei und sich im Grunde alles selbst angeeignet habe, so war in seinem Gesichte auch nicht der kleinste Zug ironischen Spottes zu bemerken, der sonst so oft aufleuchtete, wenn er irgend jemanden lobte. Und ich denke, was er sagte, der gute Onkel Peter, war sein Ernst; er mußte auch Demoiselle Henriette kennen, denn er stand in einem sehr vertrauten Verkehre mit ihr; sie hatten ein kleines Komplott zusammen für die Ausübung von Handlungen der Wohltätigkeit gestiftet; zuweilen gingen sie zusammen allein aus, und verschwanden abends nach den Geschäftsstunden auf ganze Stunden. Demoiselle Eugenie, die Busenfreundin Henriettens, war die dritte im Bunde... sie war die Tochter eines invaliden Majors, der in Rheims lebte; leider konnte sie bei den kleinen Expeditionen in die gemeinsame Unterstützungskasse wohl wenig mehr einschießen als ihren Fonds von großer Gutmütigkeit, denn sie war arm.

Sie war arm! Seltsam, wie bald mir dies mitgeteilt wurde, nachdem ich in Rheims angekommen und in Herrn Mouniers Haus von Onkel Peter eingeführt worden. Man kann in Indien nicht mehr Gewicht darauf legen, ob jemand von der Brahminen- oder der Pariakaste, in Amerika nicht mehr, ob einer ein Weißer oder Farbiger, in meiner Vaterstadt in Deutschland nicht mehr, ob einer katholisch oder ein Ketzer ist, als in diesem heutigen Frankreich, dem Lande der Gleichheit und Brüderlichkeit, Gewicht darauf gelegt wird, ob einer reich oder arm ist. Und bei einem jungen heiratsfähigen Mädchen nun gar!

Dabei fällt mir ein, daß ich erwähnen muß, daß Herr Mounier Protestant war; er stammte eigentlich aus der Schweiz, aus Genf, wo er noch Verwandte besaß und sein väterliches Haus noch von einer unverheirateten Schwester bewohnt wurde, einer gottesfürchtigen Dame, die ein wenig als Familienorakel betrachtet zu werden schien. Er hatte sich in Rheims, wo er eine Französin geheiratet, vor etwa fünfundzwanzig Jahren etabliert. Er machte aus diesem Umstande, seiner helvetischen Konfession, wie die Franzosen sagen, nicht »grand cas« – desto mehr aus seinem Franzosentum – ich glaube, er hätte den umgebracht vor Zorn, der ihm gesagt, daß sein Großvater ein deutscher Schweizer gewesen und Müller geheißen – daß sein Vater sich in Mounier höchst eigenmächtig umgetauft... und doch war dem so; Onkel Peter hatte es herausgebracht, und wenn er sich einmal über ihn ärgerte, nannte er ihn hinter seinem Rücken immer »dieser Herr Müller!«

Herr Mounier machte in Rheims ein offenes Haus, das heißt in den Abendstunden, nach dem Diner empfing er seine Freunde und Bekannten aus der Stadt, denen Henriette dann die Honneurs des Hauses machte, denn Frau Mounier war seit zwei Jahren tot; sie war lange leidend gewesen, hatte sich zuletzt wegen des milderen Klimas am Genfer See aufgehalten und war dort, in Genf, bei der dort lebenden Schwester des Herrn Mounier gestorben. In diesen Abendkreisen, zu denen ich freien Zutritt hatte, herrschte die ungebundenste Heiterkeit; Fräulein Henriette war natürlich der Mittelpunkt, Fräulein Eugenie hielt sich stiller im Hintergrunde; sie war in größeren Kreisen schweigsam, und ich empfand dann eine gewisse Sympathie für ihre Lage; es schien mir so schäbig und elend von diesen Franzosen, daß sie ihre Aufmerksamkeiten und Huldigungen so ungleich verteilten, weil das eine Mädchen reich, das andere arm war. Es entstand zwischen uns die Freimaurerei der Vernachlässigten, Zurückgesetzten – denn ich mit meinem unbeholfenen Wesen, meinen deutschen Manieren, meinem ungeläufigeren Französisch-Sprechen wagte mich kaum in den engeren Kreis, dessen Sonne Fräulein Henriette war.

Nach und nach, wie ich mich an französische Sitten mehr gewöhnte, und besser alle die Redewendungen und Feinheiten der Unterhaltung, den »Jargon des Salons« verstehen lernte, änderte sich jedoch mein Urteil über Henriette. Ich sah, daß, was ich in ihrem Wesen zu frei und rückhaltlos gefunden, durch den nun einmal in der französischen Gesellschaft herrschenden Ton gerechtfertigt oder wenigstens entschuldigt sei; daß sie sich doch mit vollendetem Takte unter ihren Anbetern zu bewegen, daß sie sie alle vortrefflich in ihren Schranken zu halten wisse, und keinem das Recht gebe, sich irgend bevorzugt zu halten. Sie hatte eine gewisse neckische Weise mit ihnen umzugehen, und alle Huldigungen, welche über das Niveau der Phrasen, mit denen die Franzosen nun einmal gewohnt sind um sich zu werfen, hinausgingen, trafen auf einen graziösen Spott, der sie vortrefflich zurückwies.

Von mir nahm sie im ganzen sehr wenig Notiz. Nur wenn ein Streit über irgendeine Tatsache entstand, eine ernstere Frage aufgeworfen wurde, die der eine so und der andere so beantwortete, und wobei sich die gründliche Unbekanntschaft der Franzosen nicht nur mit allem, was man bei uns aus Büchern lernt, sondern auch mit Verhältnissen ihnen nur ein wenig fern liegender Lebenskreise oder gar anderer Nationen usw. oft komisch entwickelte – nur dann wandte sie sich an mich. Wir wollen unseren Deutschen fragen, sagte sie dann, der hat mehr gelernt als ihr alle – o, sie sind so gelehrt und gelehrig, die Deutschen; man kann aus jedem einen Soldaten und einen Professor machen; jeder von ihnen wird mit einer Pickelhaube auf dem Kopf und einem Buch unter dem Arm geboren.

Ich war weit entfernt, auf alle solche Fragen aus dem Schatze meiner Bildung eine befriedigende Antwort geben zu können. Konnte ich es nicht, so fühlte ich mich äußerst beschämt und war höchst ärgerlich, diesen windigen Stutzern nicht imponieren zu können ... allmählich, wie ich den ganzen erstaunlichen Umfang dessen, was sie nicht wußten, wahrnahm, wurde ich kecker und ließ mich nicht mehr beschämen; ich gab immer eine Antwort, wobei ich durch Entschiedenheit ersetzte, was mir an innerer Sicherheit, ob es auch richtig sei, was ich sage, abging. Die Sicherheit hatte ich wenigstens, daß niemand sich in einen gelehrten Streit mit mir darüber einlassen werde. Zuweilen auch lag Henriettens samtweiches, braunes Auge auf mir mit einem wie nachdenklichen oder fragenden Ausdruck. War es eine Frage, weshalb ich so im Hintergrunde bleibe und nicht auch um das Glück, ihr huldigen zu dürfen, ringe und mich wie die andern selig zeige, wenn sie ein Wort an mich richte? War es eine solche Frage, die in ihrem Auge lag, so hätte ich eine kurze Antwort darauf gehabt: ich bin zu hochmütig und trotzig, mein Fräulein! Mit dem Trotz strafe ich freilich nur mich selber, denn ich ärgere mich innerlich oft ganz rasend, wenn ich Sie so umgeben sehe und mich mit Aschenbrödelgefühlen in den Schatten drücke; aber ich bin nun einmal so trotzig – was wollen Sie!

»Mich wundert,« sagte ich eines Abends zu Fräulein Eugenie, mich auf einen entfernten Eckdiwan, wo sie die auf dem runden Tische vor ihr liegenden Albums durchblätterte, neben sie setzend, »mich wundert, daß Herr Mounier so ganz ohne Sorge bei all diesem geselligen Leben und Treiben in seinem Hause ist!«

»Was sollt' er besorgen?« fragte Eugenie, ihre Aufmerksamkeit von den Photographien nur abwendend, um mir einen flüchtigen Seitenblick zuzuwerfen und dann sich ihren Bildern wieder zuwendend – nebenbei gesagt, ich habe nie begreifen können, wie man sich für ein Photographiealbum interessieren kann – nichts in der Welt drückt mehr die allgemeine Monotonie des heutigen Menschengeschlechts aus, wie alle diese im selben Kostüme, in demselben Farbenton, in demselben Format, mit demselben Gesichtsausdruck abkonterfeite Visitenkarten-Gesellschaft!

»Was sollt' er besorgen?« fragte Fräulein Eugenie und ein kühles Lächeln spielte um ihren feingeschnittenen Mund.

»Nun, nur was die Herren Papas eben zu besorgen pflegen: daß sein Töchterchen sich einmal in einer schwachen Stunde in einen dieser Herren verliebt, und der Magnet ihres Herzens dann nicht just – auf Metall zeigt!« »Ach,« antwortete sie achselzuckend; »darüber kann er ruhig sein! Henriette weiß viel zu gut, daß man ihr den Hof macht, weil sie so reich ist, und daß alle diese Leute sich sehr wenig um sie kümmerten, wenn sie nicht ihr großes Vermögen hätte.«

»Aber wenn es nun einem gelänge, ihr die Überzeugung zu geben, daß es ihm nicht um ihr Vermögen zu tun sei, daß er eine wahrhafte Neigung für sie empfinde?«

»Wie wollten Sie das anfangen?« fragte mich Eugenie, indem sie plötzlich mit dem spöttischen Lächeln mich anblickte, das oft über ihre Züge glitt und etwas mehr von Menschenverachtung ausdrückte, als ein deutsches junges Mädchen haben könnte.

»Ich?« sagte ich.

»Nun ja, Sie!«

»Aber wie kommen Sie dazu, es so zu wenden? Glauben Sie etwa, ich hätte Lust...?«

»O, ich glaubte nur, Sie hätten Lust, die stumme Sprache Ihrer Blicke, die ich doch so oft aus der Ferne bewundernd auf Henrietten liegen und allen ihren Bewegungen folgen sehe, endlich in Worte zu übersetzen.«

»Ach – ich habe nicht daran gedacht...«

»Desto besser für Sie,« antwortete Eugenie. »Henriette hat ein recht gründliches Mißtrauen gegen die Männer, und wenn ihr einer auch gefallen sollte, sie wird ihn dennoch fern halten, überzeugt, daß nichts als schnöder Eigennutz und Habgier ihn zu ihr führen; auch dann, wenn er selber vielleicht sich einbildet, er meine es redlich...«

»Ah bah – ihre Stunde wird doch einmal schlagen!« fiel ich ein.

»Weshalb?« sagte Fräulein Eugenie. »Muß denn jedem Mädchen einmal seine Stunde schlagen? Das ist eine deutsche Idee, Herr Bartholdi; in Frankreich überläßt man den Eltern, den Weiser auf der Uhr des Herzens zu stellen. Die Eltern und ein wenig auch die Herren Notare, welche beiderseits das Geschäftliche regeln, verstehen das am besten. So macht man passende Ehen...«

»Passende – aber auch glückliche?«

»Sind sie in Deutschland, wo die Herzen wählen, glücklicher? Ist das eigentlich nicht etwas sehr Unzivilisiertes und Wildes, sich bei dem wichtigsten Lebensgeschäfte so bloß von seinen Leidenschaften und Gefühlen beherrschen zu lassen, und seinen Trieben zu folgen, blindlings ...?«

»Ohne den Notar zu fragen? Nun ja, Sie mögen recht haben, Fräulein,« antwortete ich lächelnd; »der gebildete Mensch weiß, daß eine Million etwas sehr Dauerhaftes und die Gefühle etwas sehr Flüchtiges sind. In Deutschland ›verschießt‹ man sich in ein junges Mädchen, und heiratet sie, um sehr oft zu sehen, daß man sich eben verschossen hat, und das Rot der Liebe dann auch sehr bald ins Fade verschießt. In Deutschland sucht man ein Herz mit gleicher Fülle der Gefühle, und in Frankreich einen Sack mit gleicher Fülle an Goldstücken. Je weiter aber in der Kultur ein Volk ist, desto klarer durchschaut es, wieviel schwerer ein Fünffrankenstück wiegt wie ein Gefühl ... Aber denkt Fräulein Henriette auch so?«

»Glauben Sie, ich dächte so?« lachte jetzt Fräulein Eugenie fröhlich auf.

»Nein, wahrhaftig nicht,« entgegnete ich. »Und Ihre Freundin?«

»Daß sie nicht ganz so denkt, beweist sie am besten dadurch, daß sie sich immer noch nicht entschließen kann, den Mann zu nehmen, den ihr Vater ihr längst ausgesucht und vorgeschlagen hat.«

»Ah – Herr Mounier hätte...«

»Sie brauchen nicht zu erschrecken; ich sage Ihnen, daß sie ihn nicht nehmen mag.«

»Und wer ist dieser unglückliche Glückliche?«

»Ein junger Mann in einem Pariser Geschäfte, Kompagnon eines Bankhauses dort...«

Diese Mitteilung, welche mir völlig neu war – selbst Onkel Peter hatte es mir mit keiner Silbe verraten, und er wußte doch sicherlich darum – erregte in mir ein außerordentlich unangenehmes Gefühl, welches weit stärker war, als es sich durch die moralische Entrüstung über die französische Art, Ehen zusammenzukuppeln, rechtfertigen ließ; es fiel mir ein Druck auf die Brust, mein Herz schlug langsamer – seltsam, was ging es mein Herz denn an?

»Ist er jung und hübsch?« fragte ich nach einer Pause mit einer Unbefangenheit und einem Anschein von Gleichgültigkeit, die mir sehr schwer wurde zu heucheln.

»Was verschlägt das, wenn sie auch von ihm denkt, er suche nur ihr Geld, und ihn deshalb nie nehmen wird?«

»Fräulein Henriette steht also entschieden nicht auf der Höhe der französischen Bildung und sympathisiert mit der deutschen Wildheit?« sagte ich.

»Ganz entschieden,« gab Eugenie lachend zur Antwort. »Um sie zu gewinnen, müßte man ihr eine aufrichtige Neigung beweisen; dazu aber wird sie es nicht leicht kommen lassen, da sie von vornherein jede vertraulichere Annäherung eines Mannes zurückweist, überzeugt, daß jeder nur nach ihrem Gelde freit... Sie sehen also, wie hoffnungslos der ganze Schwarm ist, der sie umgibt. Wollen Sie trotzdem Ihr Glück bei ihr versuchen, Herr Bartholdi, so lassen Sie sich nicht abschrecken. Von der deutschen ›Unkultur‹ und ›Wildheit‹ läßt sie sich vielleicht eher einreden, daß sie ganz ehrlich und uneigennützig ist!«

Diese Reden Eugeniens beschäftigten mich außerordentlich. Mein Gott, es war so natürlich! – Doch einem so verführerisch hübschen und liebenswürdigen jungen Mädchen gegenüber sich sagen zu müssen, daß man umsonst um sie werben werde, weil sie nie an die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit des Gefühls, das man bei ihr geltend machen werde, glauben würde – das war ärgerlich; es war etwas Stachelndes, Reizendes, Verletzendes darin. Wie gern hätte ich ihr trotzig gesagt: »Stellen Sie mich doch auf die Probe– werfen Sie allen Ihren Reichtum von sich, tragen Sie keine Seide und keinen Schmuck mehr, ziehen Sie in ein Häuschen, das unter den letzten in der äußersten Vorstadt steht, ernähren Sie sich mit dem Sticken dieser kunstreich verschlungenen Buchstaben im Zipfel des feinen Battisttuches, das Sie eben zum Munde führen, und sehen Sie dann, ob ein ehrlicher deutscher...«

Ich wurde in diesen Gedanken durch einen Schlag auf meine Schulter unterbrochen. Es war Onkel Peter, der neben mir stand und mit gerunzelter Braue auf mich niederblickte.

»Weshalb sehen Sie mich so unzufrieden an, Onkel Peter?« sagte ich aufstehend; »ich habe nichts verbrochen, ich bin im Gegenteil mit sehr tugendhaften Gedanken beschäftigt.«

»So?« sagte er, zur Seite gehend und mit einem Winke mich sich nachziehend, in eine nahe Fensterbrüstung hinein, »diese tugendhaften Gedanken halten dich aber, wie ich sehe, nicht ab, Fräulein Eugenie sehr heftig die Cour zu machen, du leichtsinniger Bursche du! Laß dich warnen! Du verlierst deine tugendhaften Gedanken und Redensarten umsonst bei ihr; sie hat längst gewählt und ihr Herz an einem solideren Orte als bei dir untergebracht!«

»Hat sie? Nun, ich wünsche ihr alles Glück dazu; ich habe nie im entferntesten daran gedacht, sie ihrer Wahl untreu zu machen!«

»Was dir auch wohl schwer würde, tugendhafter Jüngling. Es ist ein talentvoller, junger Arzt, für den ihr Herz schlägt. Also hör auf, ihr den Hof zu machen. Ich habe für dich etwas anderes im Auge. Wenn du meinst, ich hätte dich hierher nach Rheims kommen lassen, um ...«

Herr Mounier trat eben zu uns und unterbrach das Gespräch in dem Augenblicke, wo ich, betroffen von Onkel Peters Andeutung, eine hastige Frage auf der Lippe hatte. Herr Mounier hatte ein Telegramm aus Paris bekommen, über dessen Inhalt er in ein langes, angelegentliches Gespräch mit dem Onkel Peter geriet; endlich verschwanden beide, wahrscheinlich um sich in die Geschäftsräume zurückzuziehen und dort ihre dringende Angelegenheit zu erledigen – ich sah den Onkel Peter den Abend nicht wieder und war also über das, was er andeuten wollte, meinen Konjekturen überlassen. Am andern Morgen hörte ich, als ich in die Geschäftsräume kam, daß er nach Paris gereist sei, um dort eine Forderung, die bei einem fallit gewordenen Hause ausstand, zu sichern. Der Onkel Peter wohnte, muß ich hier einschalten, im Hause des Herrn Mounier; ich hatte eine Mietwohnung, ziemlich in der Nähe, in der Stadt.

Wer weiß, aus welchen Keimen unsere Gedanken entstehen? Und wie Pflanzen aufwachsen, oft auf einem Grunde, auf den sie gar nicht zu gehören scheinen? Eine junge Birke, die sonst den weichen Sandboden liebt, wächst auf alten Mauertrümmern auf – wie oft sieht man es! Der Wind hat den Samen dahin geworfen, die Luft ihn getragen. So fallen auch in uns, wie aus der Luft herangeweht, Samenkörner, die da gedeihen, obwohl der Boden unseres Gemüts der just für sie ungeeignetste und verkehrteste von allen scheint!

Ich hatte gegrübelt über Onkel Peters Wort: »Meinst du, ich hätte dich hierher nach Rheims kommen lassen, um...« und »ich habe für dich etwas anderes im Auge.« – Das hatte mich zu der Frage geführt: Wollte er mir am Ende gar andeuten, er habe den hochfliegenden Gedanken, aus mir und Henriette... sanguinische Idee! Er sieht ja, daß sie sich nicht um mich kümmert, und ich kaum je Gelegenheit finde, ein Wort mit ihr zu wechseln ... vielleicht denkt er, den Herrn Mounier dafür zu gewinnen, und es dann nach französischer Manier als ein Geschäft abzumachen? Dafür müßt' ich denn doch danken! Für solch ein Geschäft, für eine Frau, die ich als Objekt eines Ehekontraktes bekäme, danke ich!

Es kam eine vollständige patriotische Entrüstung über mich. Nein, sagte ich mir, zu solch einer schmachvollen Behandlung des Heiligsten gibt sich ein richtiger Deutscher nicht her! Dieser Onkel Peter sollte sich schämen, so verwelscht zu sein. Wenn ich je Henriettens Hand erringen könnte, dann – nun ja, es wäre ein Glück, ein unendliches Glück – aber ohne daß ich vorher ihr Herz gewonnen, ich mir selbst und ganz allein – ohne das würde ich ihre Hand von mir schleudern, weit ab! Und ihr Herz zu gewinnen... Eugenie sagt ja, das sei unmöglich. Unmöglich, weil auch sie in dieser französischen verdammten Welt aufgewachsen ist, wo man schon gar nicht mehr an die ehrliche Reinheit und Redlichkeit einer Leidenschaft glaubt! Es ist aber doch abscheulich, ganz abscheulich von ihr, solch ein Mißtrauen! Wenn ich denke, daß es mir unmöglich sein soll, ihr zu beweisen, gründlich zu beweisen, wie schändlich unrecht sie mir damit tut, so kocht mir das Blut vor Zorn. Ich will, ich muß es ihr zeigen, daß wir Deutsche anders sind als ihre Pariser Windbeutel!

Ich sann hin und her, wie ich es ihr beweisen könne. Es bohrte in mir und stachelte mich mehr, als ich sagen kann. Wie in einem Menschen, dessen Liebe zurückgestoßen und der zugleich dabei aufs bitterste an seiner Ehre gekränkt ist. War's denn nicht auch die bitterste Ehrenkränkung eines ehrlichen Menschen, die es nur geben konnte? Ihn einer redlichen tiefen Neigung, einer völligen und ganz selbstlosen, ja zu jeder Aufopferung bereiten Hingabe des Gemüts gar nicht für fähig zu halten? Was mir Eugenie von Henriettens Mißtrauen gesagt, kränkte mich so tief und bitter, daß ich einen vollständigen Haß gegen sie hätte fassen können; ich weiß nicht, was ich ihr hätte antun mögen, um sie zu strafen, zu überwinden, zu beschämen! Es war mir, als werde ich nicht eher wieder ruhig atmen, nicht leben können, bis ich sie beschämt!

Aber das war ja nicht möglich, wenn es mir nicht gelang, in irgend ein Verhältnis, auf irgend einen Fuß des Vernehmens und Verkehrs mit ihr zu kommen, der es mir möglich machte, ihr gründlich zu zeigen, daß nicht alle Männer von demselben Teige gebacken sind wie die Dandies und Roués, die sie umgaben!

Es war mir unmöglich, an meinem Pulte zu sitzen und zu arbeiten. Ich verließ die Geschäftsräume und wollte draußen einen kleinen Spaziergang in der frischen Luft machen. Als ich die Treppe hinabstieg, begegnete mir Fräulein Henriette. Sie war im weißen Morgenkleide und sah überaus reizend aus. Es war wohl die natürliche Folge der Beschäftigung meiner Gedanken mit ihr in den verflossenen Stunden, daß mir das Herz heftig aufklopfte und mir ein wenig schwindelte, als ich sie erblickte. Nichtsdestoweniger ärgerte ich mich darüber. Sie blieb auf dem mit exotischen Pflanzen besetzten Absatz der Treppe stehen, reichte mir einen offenen Brief, den sie in der Hand hatte, und sagte, mich sehr freundlich ansehend:

»Ich bin auf dem Wege zum Kabinett Ihres Onkels, Herr Bartholdi; wollen Sie mir den weiteren Weg ersparen und ihm sagen, er möge diesen Brief lesen und ein wenig Kundschaft über den Menschen, der ihn mir geschrieben, einziehen – wenn er die Wahrheit sage, wollten wir, Ihr Onkel und ich, zu ihm gehen...«

»Mein Onkel ist nach Paris abgereist.«

»Nach Paris?«

»Wußten Sie es nicht?«

»Nein. Niemand hat es mir gesagt. Wohl denn, geben Sie mir den Brief zurück. Die Sache eilt ja nicht; der Mann muß dann warten, bis Ihr Onkel zurückkommt.«

»Ich denke,« sagte ich, den Brief behaltend, »es ist die Bittschrift irgend eines armen Teufels in drückender Not. Und das sollte nicht eilen? Eile haben solche Sachen immer ... vielleicht ist die bitterste Not da, vielleicht hungert der Unglückliche – also warten Sie nicht bis mein Onkel, vielleicht erst nach Tagen, Wochen von Paris zurückkehrt – nehmen Sie mich zu Ihrem Adjutanten an, lassen Sie mich die Erkundigung einziehen und Sie alsdann als trostreichen Engel in die Hütte der Armut begleiten ... um rückhaltlos offen zu sein, Fräulein Henriette, gestehe ich Ihnen, daß Sie damit zugleich an mir selbst ein gutes, sehr gutes Werk tun ...«

Ich zwang mich, diese Worte mit einem Auflachen, so unbefangen und mutwillig wie nur möglich, hinzuzusetzen.

Fräulein Henriette war zu sehr daran gewöhnt, direkte und indirekte Liebeserklärungen anzuhören, als daß sie nicht aus diesem Schluß meiner Rede sofort auch eine herausgehört hätte. »Ah,« sagte sie errötend, »Sie wissen doch, daß ich meine guten Werke nicht verschwende, sondern erst über meine Leute Erkundigungen einziehe, ob sie es verdienen. Sie sind sehr kühn, dies von der Vorsicht gebotene Verfahren auch gegen sich herauszufordern. Es wäre Ihnen gewiß nicht angenehm, Monsieur Bartholdi!«

»Weshalb nicht? Ich hätte nichts davon zu fürchten. Übrigens ist es in meinem Falle nicht nötig; daß ich Ihrer Güte würdig bin, kann ich Ihnen sofort beweisen.«

»Etwa durch ein Sittenzeugnis vom Pfarrer?«

»Nein, durch unbedingte Offenheit und Vertrauen.«

Sie machte eine sehr graziöse Bewegung mit der Hand, deren abwehrende Bedeutung jedoch nichts Schmeichelhaftes für meine versprochene Offenheit enthielt.

»O, das kennt man,« rief sie lachend aus, und wendete sich zum Gehen.

»Meine Offenheit kennen Sie nicht, Fräulein Henriette; ich habe noch nicht die geringste Gelegenheit gehabt, sie Ihnen zu beweisen. Ich ergreife desto hastiger diesen Augenblick, wo ich Sie so allein spreche, um Ihnen ein Geständnis zu machen ...«

Sie errötete wieder. Verlegenheit und Unruhe in ihrem Wesen deutete ganz hinreichend an, daß der ganze Schrecken über sie kam, der ein Mädchen überfällt, welches eine Liebeserklärung voraussieht und dieser um alles in der Welt willen zuvorzukommen sucht; sie wollte sprechen, aber ich schnitt ihr das Wort ab, indem ich rasch fortfuhr:

»Sie sind sehr liebenswürdig, Fräulein Henriette, und sollen sehr reich sein. Sie beehren meinen Oheim Peter mit Ihrer Freundschaft. Mein Oheim Peter aber ist schlau. Er hat den schönen Plan gefaßt, seinem teuren Neffen Theodor Bartholdi die Hand seiner liebenswürdigen und reichen jungen Freundin zuzuwenden. Und deshalb, obwohl ich daheim im Geschäfte meines Vaters, das nicht viel weniger bedeutend ist als das Ihrige, außerordentlich nötig bin, hat er bei meinem Vater ausgewirkt, daß ich herüberkomme, mit der ostensiblen Absicht, mein Französisch zu verbessern und das Ausland gründlicher kennen zu lernen ...«

»Ah, was Sie da sagen?« fiel Henriette überrascht ein.

Ich konnte nicht fortfahren, denn einer unserer Kommis kam eben die Treppe herab; wir mußten schweigen, bis er außer Gehörweite war. Ich beobachtete unterdessen ihr Gesicht, das sich in keiner Weise erhellt zeigte, sondern mit den schmollend aufgeworfenen Lippen auf ein klein wenig inneres Empörtsein deutete, daß Onkel Peter so ihre Gunst auszubeuten vorhabe und so über sie zu disponieren wage!

»Es ist wirklich sehr ehrlich, daß Sie mir das sagen, Monsieur Bartholdi,« sagte sie, als der Kommis die unterste Treppenstufe erreicht hatte... »es scheint, Sie sind wie Ihr Monsieur Bismarck und halten Offenheit für die beste Diplomatie; aber sagen Sie Ihrem Onkel...«

»O, ich werde mich hüten, ihm etwas zu sagen! Wenn ich ihm die Wahrheit sagte, würde er mich sofort wieder nach Hause senden, und davor eben fürcht' ich mich.«

»Die Wahrheit? Wieso das?«

»Nun, daß er nicht daran denken darf, seinen Zweck zu erreichen. Daß Sie einen Kreis viel glänzenderer, geistreicherer, unterhaltenderer Verehrer haben, als ich bin, und jedenfalls einen daraus vorziehen; daß ich mich nicht in den französischen Ton des Verkehrs einer jungen Dame mit ihren Bewerbern finden kann; daß er mir viel zu rückhaltlos vorkommt, und daß meine pedantische, steife, deutsche Natur es nie dahin bringen wird, sich bis zu Ihnen durchzudrängen und Ihre Gunst zu gewinnen; daß ich danach auch gar kein Verlangen habe; daß ich mich ganz gern darauf beschränke, mich, während Sie der Mittelpunkt aller Huldigungen sind, mit Ihrer Freundin Eugenie zu unterhalten, die vernachlässigt ist und doch in ihrem Charakter viel von dem hat, was einem Deutschen zusagt ... Sehen Sie, wenn ich das alles dem Onkel Peter ganz offen sage, so sagt er: ›Du bist ein Pinsel, mein Junge, ein größerer wie je aus Eberborsten zusammengebunden wurde. Geh und trag deine borstige Einfalt nach Deutschland zurück; hier bist du dann überflüssig, und in deines Vaters Kontor ist ein Drehschemel vor einem großen Hauptbuch ledig – gehe mit Gott und meinem Segen und reise heimwärts‹. Und sehen Sie, heimwärts reisen, das eben möcht' ich nicht.«

Auf den Zügen Henriettens lag das unverhohlenste Erstaunen, während ich so redete. Sie schien anfangs beinahe außer Fassung geraten über eine Erklärung, welche so ganz das Gegenteil war von dem, was sie erwartete, und über die unerhörte Offenheit dieser Erklärung; jetzt aber fiel sie mit blitzenden Augen und hochwogender Brust ein:

»Also, heimkehren möchten Sie nicht – wohl um der Unterhaltungen mit Fräulein Eugenie nicht verlustig zu gehen?«

»Wenn es so wäre, Fräulein Henriette? Vielleicht aber auch nur, um eben nicht Rheims verlassen zu brauchen, in dem ich mich glücklich fühle, und nicht in der Heimat wie ein Pferd arbeiten und den langweiligen Drehschemel besteigen zu brauchen, der mir dort droht. Darum mache ich Ihnen eben diese offene Erklärung. Es war die unumgänglich notwendige Einleitung zu meiner Bitte an Sie. Sie haben mein Schicksal in Ihren Händen. Wenn Sie mir erlauben, Ihnen ein klein wenig den Hof zu machen, wenn Sie zuweilen in Gegenwart meines Oheims mir ein freundliches Wort, eine kleine Gunst gewähren, die ohne alle Bedeutung für uns bleibt, so bleibt mein Oheim in seinen Illusionen und ich ... ich bleibe in dem schönen Rheims.«

»In der Nähe Ihrer Flamme?« warf Henriette spöttisch dazwischen.

»In der Nähe meiner Flamme!« wiederholte ich lachend.

»Und zu dem Ende soll ich Sie in der Abwesenheit Ihres Onkels zu meinem Aumonier an dessen Stelle erwählen?«

»Es wäre ein wahrer Exzeß von Liebenswürdigkeit!« sagte ich.

Sie lachte laut auf, aber es war etwas Gezwungenes in diesem Lachen. Ohne weiter zu antworten, lief sie dann die Treppe hinab und verschwand unten um die Korridorecke.

Ich blickte ihr nach und atmete tief auf. Ich war ein wenig innerlich »bouleversiert«, wie die Franzosen das nennen; hätte ich meine Gedanken frei gehabt, so hätte ich mich selbst bewundert über die freche Keckheit, womit ich vorgegangen war und meine Rolle gespielt hatte; wahrhaftig, ich würde mir so viel kecke Schlauheit selbst nicht zugetraut haben; auch wäre ich sicherlich nie darauf gekommen, ohne des Oheims Peter Wort: »Ich habe für dich etwas anderes im Auge« – da lag's, darin lag der Keim, des Pudels Kern, das Embryo der ganzen Komödie, die ich gespielt hatte. Aber wenn ich den Kopf auch viel zu voll und das Herz viel zu voll hatte, um über mich selbst beschauliche Betrachtungen anzustellen, in großer Zufriedenheit mit mir selbst, gemischt mit einer gewissen Dosis Angst, war ich dennoch. Es war mir doch gelungen, Fräulein Henriette gründlich klar zu machen, daß ich nicht nach ihrem Gelde freie, daß ich die Vorteile, welche meines Oheims Stellung mir bot, um eine glänzende Partie zu machen, gründlich verschmähte, und daß ich ein außerordentlich offener und ehrlicher Deutscher sei! Zugleich hatte ich mir einen Platz in ihrer Nähe gesichert. Unter dem Anschein größter Harmlosigkeit konnte ich jetzt mit ihr verkehren; ich war sicher, ihr den Hof machen zu dürfen, wie ich wollte – sie durfte mich nicht abweisen, es hätte zu sehr ausgesehen, als ob ihre Eitelkeit durch meine Erklärung verletzt sei – das war eine Rücksicht, in deren Fessel Fräulein Henriette von diesem Augenblicke an lag – und damit beschwichtigte ich meine Angst, die Sorge, daß ich sie wirklich durch meine Worte verletzt, daß meine naive Offenherzigkeit über das hinausgegangen, was ein verwöhntes junges Mädchen, ohne beleidigt zu werden, anhört.

Zu ihrem »Aumonier« erwählte Henriette mich nicht, obwohl ich ein wenig darauf gehofft hatte. Auch sprach ich mit ihr nicht wieder in den Tagen, während welcher der Oheim abwesend blieb. Als dieser zurückgekommen, am nächsten Gesellschaftsabend, nahm ich keck eine Gelegenheit wahr, mich eines leergewordenen Sessels neben ihrem Platze zu bemächtigen, und begann mit all der Unbefangenheit, welche es mir gelang zur Schau zu tragen, ein Geplauder. Sie wechselte leicht die Farbe, und dann sah sie mit einem bedeutungsvollen Blicke und einem verschmitzten Lächeln zu meinem Oheim hinüber. Oheim Peter, der eben in der Entfernung mit einem Herrn von der Präfektur redete, schielte vergnügt herüber. Das gab ihr offenbar die Lust zu lachen, aber sie unterdrückte es ... sie ging auf mein Geplauder mit einer gewissen Zurückhaltung ein; sie versuchte mich aufzuziehen, dem Gespräche ironische Wendungen zu geben; aber es gelang ihr nicht recht; sie zeigte am Ende Spuren von Verdrossenheit. Desto erfreuter sah ich, daß sie auf das kleine Komplott mit mir ohne Widerstreben eingehe.

Und was nun in der nächsten Zeit folgte – was soll ich es lange schildern? Es folgten Tage, wo ich sehr stark von Fräulein Henriette mißhandelt wurde; wo sie mich mit allen Neigungen neckte, denen nach der Anschauung eines Franzosen ein Deutscher durchaus ergeben sein muß, und mich sehr spöttisch fragte, ob ich es noch aushalten könne ohne Bier, Schucrout und »Meerschaum«, unter welchem letzteren sie sich eine Art Tabak oder eine lange Studentenpfeife vorstellte; ob ich nicht von diesen geliebten Dingen gezogen bald heimwärts reisen werde; ob ich es noch aushalten könne in Rheims, in einer Gesellschaft, in welcher mir der Ton des Verkehrs so tadelnswürdig scheine usw., was sie eben aufzubringen wußte in einer inneren Gereiztheit, welche mir durchaus nicht entging, und die nichts hatte, was mich entmutigte – ich sah daraus, daß es ihr doch nicht gleichgültig gewesen, was ich zu ihr gesprochen; daß ich, der nicht daran denken konnte, ihr vor den anderen zu gefallen, nun doch zu Werke gebracht, sie mir gegenüber in eine gewisse gereizte Aufregung zu bringen, und das war jedenfalls besser, als sie unbeachtet und fremd aus der Ferne zu bewundern. Aus ihren Neckereien, auf die ich antwortete so gut ich konnte, entwickelten sich dann weitere Beziehungen und Anknüpfungen; zu reden, zu plaudern gab es nun immer zwischen uns, je länger, desto lebhafter, und endlich glaubte ich wahrzunehmen, daß Henriette eine kleine Befriedigung darin finde, wenn sie mich so an sich fessele und den Unterhaltungen mit Eugenie entziehen könne.

So verging einige Zeit, bis ich auffallenderweise auch wahrnahm, daß ich Fortschritte in der Gunst oder, um mich so auszudrücken, in der Beachtung des Herrn Mounier machte; Herr Mounier ließ sich öfter zu Unterhaltungen mit mir herab, fragte mit anscheinender Teilnahme nach allen Verhältnissen meiner Heimat, meiner Eltern, und am Ende solch einer Unterhaltung lud er mich dann gewöhnlich für den andern Tag zu Tische, was früher bloß Sonntags stattgefunden hatte. Mich machte das alles sehr glücklich; ich benützte die vermehrten Stunden, welche ich in Herrn Mouniers Kreise zubrachte, um mich immer gründlicher in Henriette zu verlieben, und ich kann sagen, daß diese Gründlichkeit nach und nach zu einem wahren Abgrund wurde – ich kümmerte mich dabei nicht im geringsten um Onkel Peters Sarkasmen, der sich schadenfroh die Hände rieb und mir, als ob es die heiterste Sache von der Welt für ihn sei, zuraunte:

»Theodor, mein Junge, was wird das geben? Du wirst dich in Henriette verlieben! Verlieben bis zur Bewußtlosigkeit! Und dann werden wir eine bürgerliche Tragödie erleben! Du wirst dich totschießen, mein Werter. Rein tot, ich seh' es kommen! Aus Liebesgram tot! Solch eine deutsche Schwärmerseele ist zu allem fähig: nur nicht die Dinge praktisch anzufassen. Nur nicht energisch aufs Ziel loszugehen! Nur nicht sich klar zu machen, was er eigentlich will, und dann mutig zu wagen, was er will. Energisch belagern, Bresche schießen, stürmen – das bringt ans Ziel ... aber das ist uns nicht edel und sentimental genug, das überlassen wir diesen unsittlichen, windigen Franzosen, die verstehn's! ... O du armer Jüngling!«

Ich ließ den Oheim Peter reden. Ich merkte sehr wohl, was solche Äußerungen bezweckten. Aber ich wollte mich nun einmal nicht von ihm beeinflussen lassen in dieser Angelegenheit. Was hatte er dareinzureden? Es widerstrebte mir, daß sich irgend ein anderer mischen sollte in mein Gefühl für Henriette. Ich mußte selbst am besten wissen, der Takt meines Herzens mußte es mir sagen, wenn es Zeit sei zu »stürmen«: vielleicht fehlte mir auch ein wenig der Mut noch, und ich verbarg dies vor mir selber in dem Trotz, womit ich mir sagte: der Oheim Peter soll sich um seine eigenen Sachen kümmern!

Ich ahnte ja nicht, was der Oheim Peter bereits hinter unserem Rücken mit dem Herrn Mounier ausgemacht; wie er von diesem bereits die Zusage der Hand Henriettens für mich erhalten hatte, vorausgesetzt, daß ich die Neigung Henriettens gewinnen werde.

So standen die Dinge, als eines Tages wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Nachrichten von den Verhandlungen im Corps legislatif, die Erklärung des Ministers Gramont hineinschlugen – am selben Tage kam Monsieur Lorry, der Kompagnon eines Pariser Bankhauses, von dem mir Fräulein Eugenie gesagt, daß Herr Mounier ihm ursprünglich die Hand Henriettens zugedacht, und daß sie in diese Verbindung nicht eingewilligt. Es war ein Herr, dem es an Stattlichkeit nicht fehlte; ob er ein guter Finanzier war, weiß ich nicht, Talent zu einem guten Perückenmacher hatte er, man brauchte nur das Toupet anzusehen, womit er den Haarmangel seines Schädels zu verhüllen verstand; im übrigen hatte er sich so erhaben hoch in allen Dingen auf die Spitze der Pariser Zivilisation gestellt, daß mein blödes deutsches Verständnis ihm bis dahin nicht folgen konnte und ich mich enthalten mußte, ein Urteil über den Mann und das, was er sagte, zu fällen. Ich kann nur die Tatsache berichten, daß er viel, sehr viel sagte, daß er ohne Unterlaß etwas sagte. Vielleicht war es die patriotische Erregung des Herrn Lorry, welche ihn so viel sagen ließ; er brachte uns die Nachricht, daß der Krieg beschlossene Sache sei, er kannte ganz genau den Umfang der französischen Rüstungen, den Marsch der Truppen, ihre Heerführer, die Aufstellungen, welche sie nehmen, die vernichtenden Schläge, welche sie im Handumdrehen diesen lächerlichen Preußen beibringen würden, die nicht beim ersten Gedanken an einen Krieg mit der großen Nation vor Angst in ein Mauseloch gekrochen seien. Weshalb er eigentlich nach Rheims gekommen, weiß ich nicht; es war vielleicht der Wunsch, sein gutes Glück noch einmal bei Fräulein Henriette zu versuchen, mit Herrn Mounier die Sache in Ordnung zu bringen; nebenbei, schien es, wollte er Herrn Mounier bereden, die Eroberung des linken Rheinufers, welche nun innerhalb der nächsten Wochen bevorstand – Monsieur Lorry war in diesem Punkte sicher, er wußte es vom Marschall Leboeuf selber – zu benützen und ein Champagnergeschäft in Köln zu etablieren. Herr Mounier schien nicht übel Lust zu haben, auf diesen Punkt einzugehen; was den andern betraf, so entzogen sich die Verhandlungen natürlich meiner Kenntnis. Ich weiß nur, daß Onkel Peter wie ich plötzlich mit auffallender Kühlheit behandelt wurden, obwohl Onkel Peter viel zu klug war, sehr schroff den Deutschen hervorzukehren und viel in die Siegeszuversicht dieser Franzosen hineinzureden, während ich sehr betroffen, sorgenvoll und gepeinigt an den Schiffbruch dachte, in den dieser Zwischenfall, dieser verfluchte, unnütze, vom Zaun gebrochene Krieg meine Liebeshoffnungen ziehen könne. Herr Lorry war übrigens jetzt viel zu beschäftigt, um lange in Rheims bleiben zu können; er zog, ob von seiner Reise befriedigt oder nicht, das weiß ich nicht, wieder ab und kehrte nach Paris heim – gewiß war ein solcher Mann da jetzt unentbehrlich; wenn man ihn reden hörte, so mußte man sich fragen, wie ohne ihn der Marschall Leboeuf nur fertig werden könne!


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