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»Ruiniert!« Sein Bruder hatte es ihm soeben kurz und bündig mitgeteilt, daß er ruiniert sei! Er wiederholte das Wort mechanisch, es wollte keinen rechten Sinn für ihn annehmen. »Ruiniert!«
Er lächelte, während er es aussprach, als ob es sich um etwas Komisches handle.
»Ja, vollständig ruiniert!« wiederholte der Bruder, jedoch in ganz anderem, strengem, zurechtweisendem Ton – einem Ton, der in das kurze Wörtchen »ruiniert« eine vorwurfsvolle Strafpredigt zusammenfaßte – »vollständig ruiniert! Wir haben gestern mit Hunter zwei Stunden lang hin und her gerechnet. Nach Begleichung deiner Schulden bleibt dir bei sehr sorgfältiger Anlage deines Restchens Kapital ein Einkommen von dreihundert Pfund!«
»Dreihundert Pfund!« sprach der Ruinierte langsam vor sich hin, »dreihundert Pfund!« wiederholte er, »und davon soll ich leben!«
»Es ist alles, was du übrigbehältst,« wiederholte der Bruder mit einer Art grausamer Genugtuung, als ob er hätte sagen wollen: Da hast du's, ich hab' dir's immer gesagt!
»So! Ah, du vergißt doch etwas,« entgegnete ihm der Jüngere phlegmatisch, »den Kredit, mein Lieber, den treuesten Freund schwungvoller Verschwender, den Marechal Bertrand, der ruinierte Taugenichtse nach St. Helena begleitet!«
Das Gesicht des älteren Bruders wurde ernst, ja, es nahm einen geradezu bestürzten Ausdruck an.
In London war es, wo dieses inhaltreiche Zwiegespräch stattfand, und zwar an einem regnerischen Maitag – welcher Maitag in London wäre nicht regnerisch! – in einer vornehmen Junggesellenwohnung im zweiten Stock eines Hauses in Berkley square.
Das Haus war von außen schokoladenfarbig, rauchgeschwärzt, kahl und häßlich, wie fast alle Londoner Häuser, aber das Zimmer, in welchem sich die beiden Brüder aufhielten, war ein kleines Meisterstück von geschmackvoll organisierter Wohnlichkeit. Schöne geschnitzte alte Holzmöbel drängten sich zwischen tiefe niedrige Lehnsessel, mit persischen Teppichen bedeckte Ottomanen und allerhand künstlerisch wertvollen Raritätenkrimskrams; in den Geruch von türkischem Tabak wehte der Duft frischer Blumen. Alles, was die Saison an Treibhausblumen Malerisches und Wohlriechendes zu bieten hatte, stand in Fayencekrügen, hoch aufgeschossenen Kelchgläsern oder auch in kleinen, mit Goldarabesken ausgeschmückten Vasen aus venezianischem Glase umher. Der Farbeneffekt war überall berücksichtigt.
Durch die offenen Fenster strömte die feuchte Regenluft, im Kamin flackerte ein gemütliches Holzfeuer.
An den Wänden des für seine Dimensionen ziemlich niedrigen Gemachs hingen statt der bei Junggesellen üblichen Odalisken und Tänzerinnen Bilder von wirklichem Wert, ein Corot mit von Wind gepeitschtem Frühlingslaub und irrsinnig durcheinandertanzenden Luftgeistern, ein Old Crome usw. und verschiedene Landschaften von Claude Monet. Das kleine Gemach war offenbar das Nest eines Epikureers, dessen Sinne durch ihren Kontakt mit einer sehr idealistischen Seele geadelt worden waren.
Man fühlte unwillkürlich Sympathie mit dem geschmackvollen Menschen, der sich diese Umgebung geschaffen, in welche er übrigens vortrefflich hineinpaßte.
Er war ein Engländer, und vom Kopf bis zu den Füßen Engländer; aber er gehörte zu jenem aus dem genußlästernden Pharisäertum der englischen Durchschnittsmenschen kühn hervorragenden Typ, den der alles ausgleichende Widerspruchsgeist in England gezeugt hat.
Seine Genußfähigkeiten ließen nichts zu wünschen übrig, und seiner Genußsucht legte er wenig Beschränkung auf. Nebenbei war er impulsiv heftig, eigensinnig, aber sehr weichherzig und von fast frauenhaftem Zartgefühl.
Seine äußerliche Erscheinung entsprach dem inneren Menschen. Er war groß, schlank, mit einem Körper, der durch allerhand ritterliche Übungen zugleich gestählt und geschmeidig gemacht worden war, die Füße lang und schmal, eher groß als klein, die Hände sehr schön, dabei gebräunt und kräftig mit schlanken Fingern, aber etwas zu stark ausgearbeiteten Ballen. Der Kopf hatte eine in England keineswegs seltene Ähnlichkeit mit Lord Byron, krauses, kurz gehaltenes hellbraunes Haar, eine breite, gerade Stirn, kurze Nase, Mund und Kinn ungewöhnlich schön geschnitten, die Oberlippe etwas kurz. Daß er die Augen nicht beständig in dem konventionellen Begeisterungsausdruck weit aufgerissen und emporgerichtet hielt, wie Lord Byron auf seinen zahlreichen Büsten und Bildern, versteht sich von selbst.
Man konnte es nicht leugnen, Jack Ferrars war ein sympathisches Menschenexemplar, aber er hatte auch seine Fehler. Er war leichtsinnig und besaß einen tadelnswerten Hang, Schulden zu machen.
Infolgedessen hatte Jacks Ausspruch über den Kredit seinen älteren Bruder nicht wenig aufgeregt.
»Kredit!« rief er, »Kredit! Begreifst du es denn nicht, daß es eine Gewissenssache ist, einen Kredit anzustrengen, der keine Berechtigung mehr hat zu existieren! Wer soll denn deine Verpflichtungen decken?«
Jack steckte die Hände sehr tief in die Taschen. »Du wahrscheinlich!« sagte er träge und schob die Augenbrauen in die Stirn.
»Ich? Ja, wie komme ich dazu, für deinen Leichtsinn zu büßen!«
Sir Bryan Ferrars bildete einen fast komischen Gegensatz zu seinem Bruder. Er war in jeder Beziehung der englische Durchschnittsmensch, sagen wir lieber, um jeglicher Kränkung seiner werten Persönlichkeit vorzubeugen, der englische Durchschnittsgentleman. Seine Großmutter väterlicherseits war zwar eine Wäscherin gewesen, und sein Großvater hatte sich vom Arbeiter zum reichen Fabrikanten hinaufgearbeitet, aber ersteres hatte er vergessen und das zweite glaubte er nicht mehr. Daß sein Großvater mütterlicherseits ein Earl gewesen, hörte im Gegenteil nie auf, ihm gegenwärtig zu sein. Er war mittelgroß, kahlköpfig, tadellos rasiert, tadellos gekleidet, blaß, korrekt, ohne eine andere Individualität außer der allgemeinen seines Standes und seiner Nation, und machte den Eindruck einer farb- und geschmacklosen Frucht, die ohne Sonnenschein gereift ist.
»Wie komme ich dazu, für deinen Leichtsinn zu büßen?« ereiferte sich dieser Musterengländer.
»Die Unterstützung armer Verwandten ist eine Steuer, die ein Mensch wie du für seine Vornehmheit zahlt!« entgegnete ihm Jack, und dabei blies er, bequem in seinem Polsterstuhl zurückgelehnt, Rauchringe an den Plafond.
»Du hast kein Verständnis für die Eigenschaft, welche die Zivilisation zusammenhält, das heißt für Pflichtgefühl!« ereiferte sich der Baronet, welcher unter den anderen für die Menschenkategorie, der er angehörte, charakteristischen Eigenschaften auch diejenige besaß, keinen Spaß zu verstehen.
Jack blinzelte durch den bläulichen Rauchvorhang, welcher ihn von seinem Bruder trennte, mit einem sehr humoristischen Gesichtsausdruck zu ihm hinüber. »Aber mein Lieber, wie soll ich's denn anfangen, um zu existieren? Von dreihundert Pfund kann ich nicht leben, nicht einmal in Boulogne. Hm! Ich könnte mich allenfalls mit meinem chinesischen Freund Ten ar hae ins Einvernehmen setzen und eine Teehandlung eröffnen in Bondstreet, falls du dich entschließt, mir das nötige Kapital vorzustrecken!«
»Ich verfüge über kein bares Geld,« erwidert der Baronet eisig; »im übrigen muß ich aufrichtig sagen, daß mich's dünkt, du könntest etwas anderes unternehmen, als ... was ... was schließlich unsere Familie diskreditieren müßte.«
»Ja, aber was soll ich denn tun?« und Jack schob die Brauen fragend in die Stirn.
»Vor allem kannst du deine Kunstschätze verkaufen!« rief der Baronet unwirsch, indem er den Blick über die mit Bildern geschmückten Wände gleiten ließ. »Deine Ausgaben in dieser Richtung standen ohnehin nie im Einklang mit deinen Verhältnissen.«
»Ah! mich von meinen Lieblingen trennen, hm! Hast du vielleicht die Absicht, mir sie abzukaufen zu ermäßigten Preisen, Bryan?«
»Ich wäre nicht abgeneigt.«
»So, so! Das ist ja sehr schön! Nun, wir können gleich den Überschlag machen. Meinen Old Crome – dreihundert Pfund.«
»Zweihundertfünfzig Pfund wäre wirklich schon ein sehr schöner Preis,« fiel der Baronet lebhaft ein. »Bei der letzten Auktion bei Christie verzeichnete man entschiedene Baisse der alten englischen Landschafter.«
»So, dann will ich die nächste Hausse abwarten!« entgegnete Jack phlegmatisch. »Den Corot tausend Pfund.«
»Jack! Bist du verrückt?« rief Sir Bryan, welcher dieses Angebot als ein direktes Mordattentat auf seine Börse zu betrachten schien, »fünfhundert Pfund wäre reichlich bezahlt!«
»Meinungsverschiedenheit zwischen zwei gleich kompetenten Kunstrichtern!« erwiderte Jack und zog die Schultern in die Höhe. »Ich schätze meinen Corot auf tausend Pfund.«
»Hm! Soll ich dir einen Sachverständigen schicken, der dir die Bilder abschätzt?« fragte Sir Bryan nach einem Weilchen.
»Nein, danke, das besorge ich selbst, aber nach weiterer Überlegung habe ich den Gedanken aufgegeben, mich von meinen Bildern zu trennen.«
»Wie willst du denn deine Existenz einrichten?«
»Ich will von meinen Renten leben,« versicherte Jack mir Humor.
»Das ist nicht möglich!« entschied Sir Bryan, »aber du weißt, wie sehr ich mich stets bemüht habe, dir beizustehen. Es ist mir nie auf eine Kleinigkeit angekommen!«
»Du warst immer großmütig gegen mich, dieses Tintenfaß verdanke ich dir!« bemerkte Jack und deutete auf ein riesiges Unding, das seinen Schreibtisch verunstaltete und auf dem zwei Graburnen, von zwei Sphinxen bewacht, aus einer schwarzen Marmorplatte hervorragten. »Also, was hast du mir für einen Vorschlag zu machen?«
»Deine Universitätserziehung berechtigt dich zu einer Stellung in der Kirche. Ich habe eine Pfarrei zu vergeben, sie steht zu deiner Disposition.«
»Hm! Fünfhundert Pfund jährlich, und, wenn es hoch hergeht, zweimal des Monats eine Einladung zu Tisch im Herrenhaus! Etwas Lockenderes weißt du für mich nicht?« fragte Jack gedehnt.
»Nein!« sagte Sir Bryan kurz, fast ungeduldig. Der leichtsinnige Ton seines Bruders verdroß ihn. »Überlege dir die Angelegenheit – komm morgen zum Essen zu uns, nein, lieber zum Lunch, es fällt mir soeben ein, zum Essen haben wir ein paar Menschen eingeladen, und die Londoner Speisezimmer sind so unbequem klein!«
»Entschuldige dich nicht weiter, 's ist nicht der Rede wert!« Jack lachte gutmütig.
»Hm! – natürlich, unter Verwandten kann man offen sein!« Der Baronet zog seine Uhr. »Meine Zeit ist um,« rief er, »ich muß ins Haus!The house – familiärer Ausdruck für das Parlament Also adieu, Jack – auf morgen. Überleg' dir meinen Vorschlag – es ist ein schöner Garten bei der Pfarrei!« Damit verschwand dieses Muster eines tugendhaften Briten und liebevollen Bruders.
Die Hände tief in den Taschen, die Achseln bis zu den Ohren hinaufgezogen, blieb Jack inmitten des Zimmers stehen und blickte mit einem sehr kuriosen Lächeln vor sich hin. Da öffnete sich die Tür, hinter welcher der Baronet verschwunden war, noch einmal.
»Hast du etwas vergessen, Bryan?« frug Jack.
»Ja, meinen Regenschirm – da ist er, danke,« und dann, auf den knorrigen Griff des Regenschirms gestützt, blickte der Baronet seinen jüngeren Bruder gedankenvoll an. »Es ist mir etwas eingefallen!« meinte er.
»Nun was?«
»Du könntest heiraten.«
»Ich?« fuhr Jack etwas erstaunt auf. »Wie fällt dir denn das ein? So gut ich mich erinnere, habe ich letzterer Zeit keine junge Dame durch besondere Aufmerksamkeiten kompromittiert, verdiene also in dieser Richtung keine Strafe.«
»Ach was, es handelt sich nicht um schlechte Witze, sondern um die Befestigung deiner Verhältnisse.«
»Ergo! – Verlob' dich so schnell als möglich mit einem wehrlosen jungen Ding, das eine Million im Sack und – unglücklicherweise für sie – ein unbeschäftigtes Herz in der Brust hat, und mach' dir dann vor dir selber weis, daß du dich in sie verliebt hast, damit du doch eine anständige Entschuldigung dafür bei der Hand hast, dich recht faul in der Wolle auszustrecken!« sagte Jack.
»Du bist ein Schwatzbold – wie andere Leute Trunkenbolde sind!« predigte ihn der Baronet an.
»Ja, infolgedessen wolltest du mich auf deiner Kanzel verwenden!« rief Jack, »aber – hm! – wenn ich schon meine Schwatzsucht überhaupt berufsmäßig ausbeuten soll, so möchte ich es lieber mit dem Parlament versuchen! Apropos! Könntest du mir nicht zu einer politischen Karriere verhelfen? – Oder fürchtest du meine Rivalität?«
»Ah! Laß mich zufrieden!« ärgerte sich der Baronet, »ich habe keine Zeit mehr zu verlieren! – Es war nur so ein Vorschlag!«
»Hast du an eine bestimmte Persönlichkeit gedacht?« fragte Jack.
»Natürlich!«
»An wen?«
»An Mary Winter!« sagte der Baronet ruhig. »Ich sehe gar nicht ein, warum du nicht Mary Winter heiraten solltest?«
»Warum solltest du nicht Mary Winter heiraten?«
Von seinem langen Gespräch mit dem Bruder war Jack nichts im Gedächtnis geblieben als der eine Satz. Er sah sich in dem behaglichen Gemache um. Ein sonderbares Gefühl beschlich ihn – das Gefühl eines Menschen, der eine Hotelrechnung auflaufen sieht, die er nicht mehr bezahlen kann. »Ich werde kündigen müssen,« murmelte er vor sich hin. Zum erstenmal begriff er, welche vollständige Veränderung seiner Lebenslage, welches Abbrechen all seiner bequemen Gewohnheiten mit der Einbuße seines Vermögens verbunden war! »Hm! von dreihundert Pfund Sterling jährlich leben oder Schulden machen!« murmelte er vor sich hin.
Bisher hatte es ihn sehr wenig geniert, Schulden zu machen. Von seinen bequemen, kostspieligen Gewohnheiten war das einfach die bequemste und kostspieligste gewesen. In der festen Hoffnung, daß sich das alles sehr schnell in Ordnung würde bringen lassen nach dem Tode einer alten Tante, die ihn zu ihrem Erben einzusetzen versprochen, hatte er mit dem vollendetsten Gleichmut seine drei, vier, ja unter Umständen fünf per mese gezahlt. Aber – aber –
Es gibt drei Anlässe, bei denen auch die gutmütigsten Frauenzimmer sinnlos grausam werden: wenn ihre Eitelkeit beleidigt, ihre Eifersucht gereizt oder ihr Anstandsgefühl verletzt wird. Dies letztere Verbrechen (manchmal ist es nur eine Taktlosigkeit) hatte er seiner Tante Jessamy gegenüber auf sein Gewissen geladen.
Die Tante Jessamy war eine achtzigjährige unverheiratete Dame gewesen, der nur drei Dinge warm am Herzen gelegen hatten: ihre Religion – ihre Prüderie – und ihr Vetter Jack. Sie ging mit einem Paar so mächtig großer Scheuleder bewaffnet durch das Leben, daß es ihr wirklich gelungen war, achtzig Jahre alt zu werden, ohne eine Ahnung von der Sündhaftigkeit der Welt und der sie bevölkernden jungen Männer zu gewinnen.
Einmal bei einem Wettrennen, wo Jack sie nicht erwartet hatte, erblickte sie ihn in Gesellschaft mehrerer anderer sehr heiterer junger Leute auf einem Drag, eine hübsche junge Person neben sich. Sie machte ihm von weitem Zeichen. Er wurde dunkelrot. Ein guter Freund von ihr, der Jack nicht wohlwollte, klärte sie auf über die Situation. Die Folge davon war, daß sie eine schlaflose Nacht verbrachte, den nächsten Tag aber ihren Anwalt zu sich berufen ließ, mit dessen Hilfe sie ihr Testament vollständig umstürzte. Sie starb, ehe sie Zeit gefunden, sich mit Jack zu versöhnen und ihre Übereilung zu bereuen.
Bei Eröffnung ihres Testaments stellte es sich heraus, daß sie ihr ganzes Vermögen der Errichtung eines Hospizes für unverdorbene christliche Jünglinge im Ostend von London, einem Young men's home auf frömmster Basis, gewidmet hatte.
Es war eine unangenehme Überraschung für Jack, und die Folge davon, das eingehende Prüfen seiner Verhältnisse, bei dem sich die merkwürdige Schmälerung seines Vermögens herausstellte, war noch unangenehmer.
»Nicht mehr Schulden machen zu dürfen!« grübelte er vor sich hin, »nicht mehr Schulden machen zu dürfen!«
Dreihundert Pfund Sterling – nichts als dreihundert Pfund Sterling jährlich, und die bezog er von zwei Häusern in einer entlegenen Vorstadt von London. Freilich waren Baugründe damit verbunden – Baugründe, die, wie sie sonst auch aussehen mögen, immer einen glänzenden Tummelplatz für die Hoffnungen von Menschen abgeben, welche momentan in Geldnöten sind. – Ja, die Baugründe würden einmal eine runde Summe abwerfen – aber wann? – und indessen ... Er fing an, sich die Sache ernstlich zu überlegen. Plötzlich blieben seine Gedanken vor einem Hindernis stehen, das ihm Mißtrauen erregte, obgleich sich dahinter eine sehr annehmbare Zukunft ausbreitete. »Nun –« er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, »nun – hm –« diesmal nahmen seine Gedanken das ihm Mißtrauen erregende Hindernis, »nun, es ist schließlich recht töricht, einen klugen Rat nur deshalb nicht zu befolgen, weil er uns von einem dummen Menschen erteilt worden ist. Warum sollte ich denn Mary Winter nicht heiraten? – eigentlich –«
Er streckte die langen Arme aus, dehnte und reckte sich wie ein Schuljunge, ehe er sich entschließt, an die Ausarbeitung eines besonders langweiligen Pensums zu gehen, dann sprang er auf, nahm Hut und Stock, eilte die Treppe hinab auf die Straße, bestieg den ersten Hansom, der ihm begegnete, rief ihm zu: »Ivylodge, Putney,« worauf er todesmutig der weiteren Entwicklung seines Lebensschicksals entgegenrollte.
Mary Winter war eine Stiefkusine Jacks, eine Tante von ihm Marys Stiefmutter; infolgedessen hatten sie so beiläufig denselben Großvater, sonst hatten sie freilich sehr wenig miteinander gemein.
Ein auf Kinder und Kindeskinder hinab die Menschheit einengendes Kastensystem gibt es nicht in England. In keinem Lande von Europa wird dem menschlichen Ehrgeiz eine freiere, individuellere Entwicklung gegönnt als dort. Mit Hilfe einer Universitätserziehung kann es dort ein jeder zu dem Höchsten bringen, was das Land – unter der Krone – zu bieten hat, d. h. zum Hosenbandorden und zur Aufnahme in den Klub White – siehe Lord Beaconsfield.
Aber wenn es keine undurchdringliche Exklusivität in England gibt, gibt es hingegen zwei streng geschiedene Menschenklassen – die Klasse, die sich amüsiert, und die Klasse, die sich langweilt. Natürlich ist hier nur von den gebildeten Klassen die Rede.
Daneben gibt es freilich noch eine dritte Klasse – die große Klasse des Volks; die aber hat weder Zeit, sich zu unterhalten, noch Zeit, sich zu langweilen. Außerdem, daß sie die harte Arbeit für die Nation besorgt, dient sie derselben zu einem Objekt für nationalökonomische Betrachtungen, ebenso wie zu allerhand humanen oder inhumanen Experimenten, und bildet sozusagen den Hintergrund für die beiden anderen Klassen – einen sehr düsteren Hintergrund, von dem sich die eine Klasse in bunter Farbenfreudigkeit, die andere in schlichtem Grau abhebt.
Die Klasse, die sich amüsiert, besteht aus dem glänzendsten Teil der Aristokratie und allem, was zu dem intimen Verkehr dieses Teils derselben gehört – der ganze Rest der Gebildeten, alles, was in den blendenden Zauberkreis nicht aufgenommen ist, gehört zu der Klasse, in der man sich langweilt.
In der Klasse, die sich amüsiert, bildet der Genuß, zu einer Kunst veredelt, ja beinahe zu einer Wissenschaft ausgearbeitet, die einzige ernstliche Lebensaufgabe der Menschen. In der zweiten Klasse wehrt man ihn als ein Blendwerk des Teufels von sich ab, und wird derselbe als ein kontrebander Artikel an der Grenze der tugendhaften Gemeinde konfisziert. Die menschliche Natur fordert natürlich ihr Recht – manchmal in recht ungebärdiger Weise, aber – davon vorläufig nichts Näheres.
Obgleich Jack Ferrars eigentlich Marys Vetter war, gehörte er doch zu der Klasse, in der man sich amüsiert – und Mary gehörte zu der Klasse, in der man sich langweilt.
Das kam so. Jacks Großvater war, wie bereits erwähnt, ein intelligenter Arbeiter gewesen, der sich durch langes, beharrliches Streben, durch die Erfindung eingreifender Webstuhlverbesserungen, durch scharfsinnige Kombinationen und unvorhergesehene Glückszufälle erst zum Kompagnon seines Chefs, dann zum selbständigen Inhaber einer der bedeutendsten Firmen in Manchester emporgeschwungen hatte. Mit sechzig Jahren war er ein steinreicher Mann, der außer weitläufigen Webereien und Spinnereien noch verschiedentliches andere sein eigen nannte – einen ausgedehnten Landbesitz in Oxfordshire, mit einem Park, der für sich allein größer war als manches deutsche Rittergut, mit einem Glashaus, in dem er jahraus, jahrein Weintrauben pflücken konnte, die an kolossalen Dimensionen mit den Trauben Josuahs, biblischen Angedenkens, zu wetteifern vermocht hätten, und mit einem Herrenhaus, das er nach eigenem Geschmack – manche Menschen bedauerten es – aus einer malerischen Ruine elisabethanischen Stils in ein etwas nüchternes, modernes Gebäude hatte umbauen lassen, in dem die Zimmer so groß waren, daß in jedem einzelnen eine Dorfkirche samt ihrem Glockenturm Platz gefunden hätte, und aus dessen Erdgeschoß man durch zwei Klafter hohe Spiegelscheiben auf einen Lawn hinaussah, der sich wie ein grüner Plüschteppich zwischen mächtigen Rhododendronhecken und hochstämmigen Eschen hinzog.
Außer dem allem besaß er zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Erziehung der Tochter, welche um mehrere Jahre älter war als der Sohn, fiel noch in ein verhältnismäßig unentwickeltes Stadium des Ferrarsschen Familienehrgeizes hinein. Sehr begabt, sich mit allerhand interessanter Lektüre beschäftigend, mit einem dringenden Wunsch nach künstlerischer Schönheit behaftet, hatte Jane Ferrars das gedrückte, von beängstigenden religiösen Schimären verfinsterte Leben in den wohlhabenden, aber beschränkten Kreisen, denen die Ferrars damals angehörten, nicht zum Aushalten gefunden. Sie hatte sich nach einem weiteren Ausblick in die Welt gesehnt und hatte es schließlich durchgesetzt, daß ihr Vater sie behufs der Ausbildung ihres Malertalentes nach Paris gesandt hatte. Dort verbrachte sie zwei Jahre. Ein Roman, so hieß es, hatte sich während dieser zwei Jahre abgespielt. Sie hatte sich in einen jungen französischen Maler verliebt. Nach einer kurzen Verlobung hatte sich das Verhältnis gelöst. Der alte Ferrars hatte die Verbindung nicht zugeben wollen, und der junge Maler, Armand Sylvains hieß er, hatte ohne Einwilligung desselben, das heißt ohne eine starke pekuniäre Unterstützung, nicht heiraten können. Man war auseinandergegangen ohne Groll, das heißt Armand Sylvains hatte seine Feigheit und verhältnismäßige Gleichgültigkeit in die Form einer auf den ritterlichsten Gründen beruhenden Entsagung zu kleiden gewußt, und Jane Ferrars war zu stolz gewesen, die ritterlichen Gründe des näheren zu prüfen. Kurze Zeit darauf kehrte sie nach Manchester zurück. Alles in ihr war gebrochen außer ihrer Selbstachtung. Ihre Stellung im Hause ihres Vaters gestaltete sich in der Folge peinlich, und zwar als ihr ehrgeiziger Bruder nach einem glänzenden Debüt im Parlament sich mit der Tochter des Earls von Fenniston, Lady Emily St. Clair, vermählt hatte.
Lady Emily St. Clair zeigte ihrer Schwägerin zwar die wärmsten Sympathien, Janes Bruder aber wurde immer ehrgeiziger und ungemütlicher.
Der alte Ferrars hatte sich nun gänzlich von seinen Geschäften und auf das von ihm erstandene großartige Landgut Westburne zurückgezogen. Hier machte Lady Emily die Wirtin; die arme Jane wurde mehr und mehr gegen die Wand gedrängt. Schließlich, nur um sich aus dem Wege zu räumen, heiratete sie den ersten besten achtbaren Mann, der ihr seine Hand anbot, einen Witwer, Vater von zwei Kindern, an denen sie Mutterstelle vertrat. Er hieß James Winter, war seines Zeichens Solicitor und ein durchaus anständiger, uninteressanter Repräsentant der ewig bedrückten, ewig sich vor irgend etwas schämenden, ewig nach irgend etwas strebenden und zugleich vor Angst, bei diesem Streben ertappt zu werden, vergehenden englischen Mittelklasse, welche Jane unsympathisch war und vor der sie um wenige Jahre früher nach Paris zu flüchten versucht hatte.
Sie hatte nie einen gemeinschaftlichen Gedanken mit ihrem Manne, sie redete fast nie mit ihm, aber sie hielt ihm sein Haus ordentlich, sah, daß seine Mahlzeiten pünktlich auf den Tisch kamen, und bekümmerte sich, so gut es ging, um die Erziehung seiner Kinder.
Jane, die einst so lebenslustige, lebensmutige Jane Ferrars, gehörte durch ihre Heirat nun ein für allemal zu der Welt, in der man sich langweilt.
Immer mehr schied sich ihr Leben von dem des Bruders. Alljährlich aber verbrachten beide Geschwister doch ein paar Wochen unter demselben Dach, dem Dach des neu umgebauten alten Herrenhauses in South-Oxfordshire.
So kam es, daß Jack mit seiner kleinen Stiefkusine Mary Winter auf dem Rasenplatz vor den großen Spiegelfenstern Krocket gespielt hatte.
Während er nun in seinem Hansom an einer Endlosigkeit von schokoladefarbiger Architektur vorbei dem Wohnsitz seiner Tante Jane in Putney entgegenrollte, dachte er an die alten Zeiten zurück.
Er sah seinen Großvater vor sich, genau, er hätte nach ihm greifen können, einen grobknochigen, hageren alten Mann mit tiefgefurchtem rotem Gesicht, gegen das seine buschigen weißen Brauen und sein kurz gestutzter weißer Backenbart – seine Oberlippe trug er natürlich glattrasiert – seltsam abstachen. Er hatte kurze schwielige Hände, an denen immer etwas schwarz blieb, so sehr er sie auch waschen mochte; er lernte es nie, den Buchstaben H angemessen zu verwenden, und steckte beim Essen das Messer in den Mund.
Jeder Diener im Hause paßte besser hinein als der alte Herr, dem das Haus gehörte. Er machte immer den Eindruck eines zufällig hineingeratenen Fremden – er fühlte sich auch stets als solchen. Er war unvertraut mit seinen Dienern, mit seinen Gästen, ja selbst mit seinen eigenen Kindern, und obgleich er das dringende Bedürfnis fühlte, dieselben so oft und viel wie möglich unter seinem Dache zu beherbergen, wich er ihnen aus, wo er konnte. Den Kopf vorgebeugt, die Hände auf dem Rücken und beständig vor sich hinmurmelnd, pflegte er häufig in irgendeiner entlegenen Allee seines Parkes auf und nieder zu gehen, wobei er darüber nachzugrübeln schien, warum ihm sein sauer erworbener Reichtum durchaus den Genuß nicht bieten wollte, den er sich davon versprochen. Wenn er überhaupt dazu kam, mit seinen Angehörigen zu reden, war seine Art zugleich despotisch und gereizt, dabei hatte er etwas Scheues und Mißtrauisches in seinem Blick.
Wenn der kleine Jack, von Spielen und Jauchzen müde, des Abends in seinem kühlen weißen Bettchen lag, so passierte es ihm nicht selten, sich mit dem Problem der Sonderbarkeiten seines Großvaters zu beschäftigen. Warum war der Großvater ganz anders als Jacks zweiter Großvater, Lord Fenniston?
Dennoch schloß er eines Tags Freundschaft mit diesem kuriosen Großvater, der den Buchstaben H mißbrauchte und immer mit dem Messer aß.
Der alte Herr hatte eine ausgesprochene Vorliebe für den munteren braunlockigen Jungen gefaßt, eine Vorliebe, die mit allerhand linkischen Ängstlichkeiten recht rührend gepaart war. Von Zeit zu Zeit machte er dem Buben kleine Geschenke, drückte ihm mit wichtiger Miene einen Schilling in die Hand und sah dann eilig von ihm weg.
Wenn Jackie mit seinem Bruder und seinen Kusinen Krocket spielte, so blieb der Alte neben dem Spielplatz stehen, mit ausgespreizten Beinen, das Gesicht voll Runzeln und Sorgen, und sah ihnen zu, wobei sein Blick sich jedoch immer wieder auf Jack richtete. Einmal näherte sich ihm Jack freundlich und fragte ihn, ob er nicht mitspielen wolle. Der alte Herr schien dermaßen überrascht von der unerwarteten Liebenswürdigkeit des Kindes, daß ihm die Hände davon zitterten. »No – no ... thank you, my boy, thank you, dear!« stotterte er und ging seiner Wege.
Ein andermal sah Jack den alten Herrn einsam unter einer alten Ulme auf einer Bank sitzen, eine schwere Hand auf jedem Knie. Jack schmeichelte sich an ihn heran und sagte ihm etwas Nettes, Zutunliches, setzte sich neben ihn und plauderte ihm allerhand vor, um ihn zu zerstreuen. Plötzlich aber, mit der naiven Unzartheit der Kinder, deutete er auf die Hände des alten Herrn und fragte halblaut und fast feierlich beklommen, als ob es sich um die Aufklärung eines unheimlichen Geheimnisses handle: »Großpapa! Warum hast du immer schwarze Hände?«
Der alte Mann zuckte zusammen, blickte aufmerksam und als ob ihm etwas ganz Neues daran auffiele, auf die Hand herab, die der Kleine gerade betrachtete, und verbarg sie beschämt in seiner Tasche. Als aber Jackie, welcher sofort merkte, daß er eine Dummheit gemacht, auf seine Knie kletterte und ihn umarmte, zuckte es in seinem roten, derbgeschnittenen Gesicht. Er zog die große Hand, die er soeben versteckt, nur weil er sich geschämt, daß dieselbe bis zur Stunde ihrer endgültigen Verwesung den Stempel harter Arbeit tragen sollte, von neuem hervor. Dann die kleine, zarte Hand des Knaben auf seiner schwieligen Rechten ausbreitend, sagte er: »Ich hab' mir die Hände schwarz gemacht, damit du die deinen recht weiß behalten kannst, Jackie!«
Jackie verstand die Worte damals noch nicht ganz, aber sie prägten sich ihm tief ins Herz hinein, und von Stund' an war er des Großvaters geschworener Freund.
Leider ertrug der alte Herr das Nichtstun nur kurze Zeit. Kaum ein halb Dutzend Jahre, nachdem er sich von seinen Geschäften zurückgezogen, starb er, ohne daß der Arzt eine andere Krankheit an ihm festzustellen vermocht als vollständige Abnahme aller seiner Kräfte.
Und nun war Jacks Vater der unumschränkte Herr in dem großen Hause mit den zwei Klafter hohen Spiegelscheiben im Erdgeschoß. Allerhand geschmackvolle Veränderungen wurden an dem prächtigen Gebäude vollzogen; es wurde mit ebendemselben Eifer alt gemacht, mit dem es Jeremiah Ferrars früher neu gemacht hatte. Es wurde dadurch zweifelsohne viel hübscher, und die Gäste, die sich nach der anstandshalber eingehaltenen Trauerzeit einfanden, um den Komfort von Westburne-Hall mitzugenießen und seine neuerworbenen Kunstschätze zu bewundern, waren alle viel lustiger und angenehmer als die, welche den Großvater Ferrars besucht. Aber Jackie dachte doch noch oft mit Rührung an den armen alten Mann zurück, und manchmal sagte er sich: Er hat sich die Hände schwarz gemacht, damit wir die unseren weiß behalten können.
Und einmal, da es besonders lustig zuging und der große Platz vor dem Schloß ganz rot war von Jägern auf feurigen Voll- und Halbblutpferden, die wie Atlas glänzten, wurde Jackie plötzlich so entsetzlich zumute, daß er Mühe hatte, die Tränen zurückzudrängen. Ihm war's, als ob sich all die glänzenden Herrschaften darüber freuten, daß sein armer, reicher Großvater tot war.
Infolge seiner glänzenden politischen Tätigkeit, die sich gegen den Hintergrund des von seinem Vater erworbenen Geldes gut ausnahm, wurde der Gatte Lady Emily St. Clairs zur Würde eines Baronets erhoben.
Er hieß nun Sir John Ferrars und betraute einen berühmten Heraldiker mit der Mission, ihm einen authentischen Stammbaum zu liefern. Der Heraldiker förderte die merkwürdigsten Dinge über die Vergangenheit der Familie Ferrars ans Tageslicht.
Jack wurde in ausschließlich aristokratischen Kreisen erzogen. Nichtsdestoweniger behielt er seine Beziehungen zu seiner Tante Jane stets aufrecht. Er schrieb ihr lange Briefe aus Eton, und als er später in Oxford, natürlich in dem exklusiven Christchurch college, die Universität besuchte, machte er seiner Tante und seinen Kusinen sogar einmal zwei Tage lang die Honneurs der malerischen alten Universitätsstadt. Aber was er auch dagegen tun mochte, den Mädchen gegenüber fühlte er sich bei jedem Wiedersehen fremder. Mit seiner Tante war das anders, an der hing er immer mit der warmen Sympathie, welche verwandte Seelen über jede räumliche oder zeitliche Trennung hinaus füreinander bewahren. Wenn er sie wiedersah, freute er sich jedesmal und begegnete ihr mit der Zärtlichkeit eines Sohnes. Aber er sah sie seltener, immer seltener, und um ihre beiden Stieftöchter hatte er sich in den letzten Jahren so wenig bekümmert, daß er heute, wo er mit der Absicht, Brautschau zu halten, nach Ivylodge fuhr, nicht mehr genau wußte, welche von beiden Mary und welche Sarah war.
Ein lauter Streit, in den Jacks Kutscher mit einem anderen Kutscher geraten und der sich um ein falsches Ausweichen drehte, weckte ihn aus seinen Träumereien. Er blickte auf und bemerkte, daß London, das eigentliche London, bereits hinter ihm lag. Anstatt durch lange Reihen brauner Eintönigkeit, zeichnete sich die Architektur hier durch allerhand malerische Launen aus.
Die Häuser schlossen sich nicht mehr eng aneinander. Meist aus Rohbau ausgeführt, standen sie vereinzelt in frischen, grünen Gärten. Hohe Eschen und Ulmen ragten über die altväterischen ebenso wie über die nur altväterisch tuenden Giebeldächer hinaus in die feuchtgraue Luft empor. Große Rhododendronhecken mit eigentümlich durchsichtig erscheinenden blaßlila Blütenklumpen wuchsen dazwischen. An der einen Straßenseite streckte sich ein Stück unbebauter Hutweide hin, dann kam eine gotische Kirche mit starren, ernsten Spitzbögen, dann Gärten, immer wieder Gärten, und mehr launenhafte Architektur, meist elisabethanischen Stils.
Krr! Der Wagen hielt vor Ivylodge, dem Hause, das Mrs. Winter seit dem vor einem Jahre erfolgten Tode ihres Gatten bewohnte.
»Also das ist Putney?« (der Name des Vororts, in welchem die Villa belegen war) murmelte Jack vor sich hin, indem er seinen Blick über die Gärten und hohen, meist mit Hohlziegeln eingedeckten Dächer schweifen ließ. »Höchst unfashionabel, aber hübsch. Ich habe große Sympathien für Putney!« Und er nickte aufmunternd mit dem Kopf, als fordre er ganz Putney auf, sich nicht vor ihm zu genieren, überhaupt nicht in Verlegenheit darüber zu geraten, weil sich einmal ein so großer Herr bis hier heraus verirrt hatte. Er betrachtete alles mit der Neugier eines Touristen. Paris, Kalkutta und San Franzisko kannte er genau, in Putney war er nie gewesen, Wimbledoncommon war für ihn eine Entdeckung. Er hatte seine Tante noch nie hier besucht.
Ein griesgrämiger alter Diener öffnete ihm die Tür des Hall. Ein Geruch von heißem Wachstuch und Hammelbrühe schwebte ihm entgegen. Seine Vorliebe für Putney nahm etwas ab. Er hatte eine Abneigung gegen Hammelbrühe und Wachsleinwand. Auf seine Frage, ob sich die Damen zu Hause befänden, zögerte der Diener mit der Antwort. Endlich murmelte er: »Ja ... aber ...«
Jack gab ihm eine Karte mit der Weisung, selbe vorzuzeigen und ihm dann Bescheid zu sagen, ob er empfangen werden würde. Er hatte keinen Zweifel daran.
Was jedoch hatte das »Aber ...« des Dieners bedeutet? Hatte sich vielleicht eine seiner beiden Kusinen verlobt? War der Bräutigam anwesend? – Er fing eben an, sich zu ärgern, als sich die Tür öffnete und der Diener ihn bat, in das Drawingroom zu treten.
Das Drawingroom war ein langes, verhältnismäßig niedriges Gemach mit einer sehr hellen Wandtapete und ebenfalls in hellen Farben gehaltenen Möbeln. Die Fenster reichten bis auf den Boden herab und blickten auf einen sammetweichen Lawn hinaus, der, freilich in sehr verkleinertem Maßstab, Jack an den Rasenplatz vor dem Manorhouse erinnerte, auf dem er seinerzeit mit seinen Kusinen Krocket gespielt. Eine Traueresche, deren Äste sich lang über den Boden hinschleppten und einen breiten, beständig im Winde zitternden Schatten über das zarte, kurze Gras warfen, stand auf dem Lawn.
Vor dem Kamin, in dem ein leichtes Holzfeuer brannte, saß eine alte Dame mit langen, ihre Ohren verdeckenden Scheiteln und einem mit Weiß verbrämten schwarzen Häubchen, der kleidsamen Witwentracht der Engländerinnen. Ihr mit Krepp besetztes faltiges schwarzes Kleid floß in harmonischen Falten an ihren Gliedern hin. Ein niedriges Teetischchen stand neben ihr. Hinter ihr breitete sich ein japanischer Schirm aus. Welch reizendes Bild! dachte Jack bei sich. Er empfand aufrichtige Freude, die Tante wiederzusehen. Trotz ihrer weiblichen Anmut, der stillen, anspruchslosen Anmut einer alten Frau, die das Fieber des Lebens vergessen hat und für die selbstsüchtige Eitelkeiten nicht mehr existieren, erinnerte sie ihn an den Großvater mit den schwarzen Händen. Ihre Hände waren sehr weiß, und ihr Gesicht war viel zarter und schöner als das des alten Herrn, aber etwas von der scharfen, schlichten Intelligenz, mit welcher sich der Alte seinen Lebensweg gebahnt – etwas von der ungebrochenen Gefühlskraft, die ihm bis zum Schluß angehaftet, sprach aus ihren Zügen. Nur blitzte aus ihren dunkelblauen Augen ein fast übermütiger Sinn für Humor, der dem alten Ferrars gänzlich gefehlt und den sie wohl von ihrer schönen irländischen Mutter geerbt haben mochte, die bekanntlich nur eine Wäscherin gewesen war.
Als Jack eintrat, blickte sie freundlich auf. Eine leichte Röte trat auf ihre Wangen, die Röte schneller Erregung bei schwächlichen alten Frauen.
»Du, wirklich!« rief sie. »Ich traute meinen Augen kaum, als ich deinen Namen auf der Karte las, die mir Smith hereinbrachte. Ich dachte, es müßte ein anderer Jack Ferrars sein!« Ihre Stimme war heiser und zitterte ein wenig, aber sie drückte eine rührende, ängstlich verhaltene Freude aus. Er eilte auf sie zu und zog ihre Hand an seine Lippen.
»Was fällt dir denn ein, dich unserer plötzlich wieder zu erinnern, you young scapegrace (du junger Bösewicht)!« rief sie.
Jack, dem der Gedanke, was ihn eigentlich zu diesem Besuche veranlaßt, daß er nämlich mehr oder weniger auf Brautschau nach Ivylodge gekommen war, plötzlich schwer aufs Herz fiel, wurde etwas verlegen – dann vergaß er alle seine bösen Absichten und rief, sich in einem niedrigen Stuhl zu Füßen der alten Dame niederkauernd:
»Ach, auntie! frag' mich nicht, freu' dich lieber ein wenig, daß ich da bin!«
»Das tu' ich auch!« versicherte die alte Frau. Dabei legte sie dem jungen Menschen ihre beiden Hände auf die Schultern und betrachtete ihn freudig stolz, mit der Freude, mit der ein alter, bereits erkaltender Mensch sich an einem jungen blühenden Leben freut, und mit dem Stolz, den wir für unser eigen Fleisch und Blut fühlen, wenn es uns in einer verklärten, veredelten Form begegnet.
Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände, küßte ihn auf beide Augen und streichelte ihm die Wangen.
Diese warmen, spontanen Liebkosungen hatten für ihn einen eigentümlichen Reiz – etwas, fast tierisch Instinktives sprach aus ihnen – die naive Zärtlichkeit des Volks.
»Und ob ich mich freue, du böser Mensch du! – Weißt du, daß du noch viel schöner geworden bist, seit ich dich das letztemal gesehen habe!«
»Verdirb mich doch nicht, Tante Jane!« verwies er ihr ernsthaft.
»Als ob das nicht längst geschehen wäre, wenn die Gefahr überhaupt naheläge!« lachte die alte Frau. »Aber jetzt erzähl' mir hübsch, was du alles getan hast die ganze Zeit. – Nimmst du eine Tasse Tee, mein Junge?«
»Mit Vergnügen, Tante!«
»Ich will frischen machen für dich.«
Als er protestieren wollte, fiel sie ihm ins Wort und meinte: »Laß mich nur, du sollst dich recht wohl fühlen bei mir – einen Menschen, den man liebhat, nach Herzenslust zu verwöhnen, das ist das größte Vergnügen, das uns alten Leuten noch zu Gebote steht!« Sie klingelte, ließ die Flamme unter dem Teekessel frisch anzünden und aus einem geheimen Fach ihres Vorratsschranks eine ganz besondere Sorte von Tee hervorholen, die ein Verwandter persönlich aus China mitgebracht und die sie nur bei feierlichen Gelegenheiten ans Tageslicht zog.
Er plauderte und lachte mit der alten Frau, erzählte hier und da eine kleine Anekdote, die an Schlüpfrigkeit grenzte, für die sie ihm einen kleinen Schlag versetzte und an der sie sich doch besonders freute.
Mit einemmal hatte Jack einen sonderbaren Einfall. »Willst du ein klein wenig stillsitzen – so – genau so wie jetzt, Tante, ich möchte dich gern abzeichnen, genau so, wie du sitzest – und mit den fliegenden japanischen Störchen im Hintergrund.«
Sie war zu allem bereit. Nach einigem Suchen und mit der Nachhilfe Smiths fand er endlich eine Feder und einen Bogen Papier, die sich zur Ausführung seines Planes schickten. Er machte sich ans Werk. Die alte Frau sah ihm zu, wohlwollend, lachend.
»Es ist seltsam, wie du auf mich wirkst, mein Junge!« sagte sie. »Hast du einmal aufgemerkt im Frühling, wie's da zuweilen in dem ältesten Holzwerk kracht und pocht? Etwas von der großen Bewegung, die zu der Zeit draußen die Blätter aus den Bäumen heraustreibt, schleicht sich durch das tote Holz, und es träumt vom Leben. Wenn du bei mir bist, so ist's mir auch, als schliche der Frühling an mir vorbei und ich träumte vom Leben. – 's ist recht schade, daß du nicht mein Sohn bist!« murmelte sie.
»Nun, wer weiß – was nicht ist, kann werden!« meinte er, von seiner Zeichnung aufblickend, und lachte gezwungen.
»Nein,« sagte sie, »das täte kein gut! Meine Stieftöchter sind beide brave Mädchen, aber für dich taugen sie nicht. Ein Sonnenstrahl in einem Keller eingesperrt, das wäre so beiläufig dein Zustand in der Ehe mit Sarah oder Mary. Du bist ein Tageskind und ein Sommerkind – die beiden Mädchen sind Nacht- und Winterkinder. Punkt zwölf Uhr mittags schlug's, als du deine blauen Augen zum erstenmal öffnetest – anstatt zu weinen, lachtest du. Mir hast du ins Gesicht gelacht, du Schlingel, ich war's, die dein kleines Leben zuerst in Empfang nahm. Sarah und Mary sind beide Nacht- und Winterkinder. Ich war ja nicht anwesend, als sie zur Welt kamen, aber ich will wetten, daß sie beide damals dem Leben aufs kläglichste entgegengeheult haben.«
Jack seufzte nachdenklich vor sich hin. »Das Profil ein klein wenig dem Kamin zuwenden, Tante,« bat er; dann nach einem Weilchen setzte er hinzu: »Wo bleiben denn eigentlich meine Kusinen?«
»Ich erwarte sie von einem Moment zum anderen,« sagte Mrs. Winter. »Mary ist in die Stadt gefahren, um bei Lady Byng einem Meeting beizuwohnen, welches zugunsten des Wahlrechtes der Frauen in England gehalten werden soll – und Sarah hat irgend etwas Wichtiges im Distrikt zu tun.«
»Sie führen beide ein sehr ernstes Leben,« meinte Jack.
Die alte Frau zuckte mit den Achseln. »Was willst du!« rief sie. »Sie haben beide sehr viel Geld und sehr viel Zeit. Sarah hat einen Lebenszweck, und Mary sucht ihn. 's ist in der Umgebung, in der sie aufgewachsen sind, nicht einmal ein Wunder. Ich selber war viel zu müde, um den drückenden Einflüssen, von denen sie von Jugend an umgeben waren, entgegenzuarbeiten. Und so sind sie geworden, wie sie sind, zwei ausgezeichnete Mädchen, traurig wie englisches Novemberwetter, ohne ein Fünkchen Lebensfreudigkeit im Leib. Sie sind, glaube ich, überzeugt davon, daß die Lebensfreudigkeit unter allen Umständen ein Verbrechen ist! – Deine Lebensfreudigkeit ist noch nicht in Verlust geraten – was, mein Junge?«
»Bis dato nicht,« sagte Jack etwas kleinlaut.
»Bewahre sie dir so lange als möglich!« rief die alte Frau. »Siehst du – sie mögen sagen, was sie wollen, eine ehrliche, frische Lebensfreudigkeit ist der Weihrauch, der Gott im Himmel am sichersten zusagen muß. Sie tun mir einfach leid, die traurigen Schwärmer, die unter Heulen und Zähneklappern die Gottheit feiern! Sie singen alle falsch, und ich bin fest überzeugt, der liebe Gott hält sich zu ihren Serenaden die Ohren zu!«
»Was ist denn Sarahs Lebenszweck?« fragte nicht ohne Neugierde Jack.
»Sarahs Lebenszweck,« begann sie – sie konnte nicht ausreden, da im selben Augenblick ein junges Frauenzimmer in einem salvation bonnet, das heißt einem schwarzen Hut von besonders unkleidsamer Form, wie sie speziell für die weiblichen Mitglieder der salvation army fabriziert werden, die Tür aufriß und mit den Worten »Endlich ist es mir gelungen, mit dem Polizeichef des Distrikts selbst zu sprechen, er wird mir für den nächsten Sonntag einen Konstabler zur Verfügung stellen!« auf das Paar vor dem Kamin zutrat. Dieses anziehende Wesen war Jacks älteste Kusine Sarah.
Kaum fünf Minuten später hatte der junge Mann erfahren, was den Lebenszweck seiner energischen Base ausmachte. Sie arbeitete dahin, Großbritannien von der Trunksucht zu befreien. Sie hatte selbst einen Eid abgelegt, ihr Lebtag lang keinen Tropfen geistigen Getränks zu sich zu nehmen, und wenn es gälte, bei einer etwaigen Schwächung ihres kräftigen Organismus durch einen Schluck Wein ihr Leben zu retten! Nun tat sie aufopfernd ihr möglichstes, ihre Landsleute zu demselben Abscheu gegen geistige Flüssigkeiten zu bekehren.
Sie hatte vergangenen Sonntag drei Stunden damit verbracht, in einer geschlossenen Droschke vor der geheimen Tür eines offiziell des Sabbats halber geschlossenen Public house zu lauern, um die unschuldigen Kinder abzufangen, die von ihren pflichtvergessenen Eltern dahin abgeschickt worden waren, gesetzwidrige Erfrischungen, oft in Form einer harmlosen Kanne Bieres, abzuholen. »Und denke dir, nicht weniger als achtzehn solcher kleinen Sünder habe ich ertappt,« erklärte sie Jack triumphierend; »ich habe mir ihre sämtlichen Namen aufgeschrieben und sie der Polizei gemeldet.«
»Du?« rief Jack entsetzt.
»Gewiß, ich persönlich! Ich stehe mit allen Polizeileuten des Distrikts in Korrespondenz,« teilte sie nicht ohne einen gewissen Stolz ihrem Vetter mit.
»Das halte, wie dir's beliebt,« erwiderte Jack, dem die Reize dieser Korrespondenz nicht einzuleuchten schienen; »aber wie kannst du die armen Würmer anzeigen, das ist ja gräßlich!«
»Die Anzeige richtet sich nicht gegen die Kinder, sie geht gegen die Eltern,« versicherte Sarah.
»Aber das Elend davon wird auf die Kinder zurückfallen!« rief Jack; »wenn die armen Knirpse anständige Eltern haben, so kam es nicht darauf an, sie um ihre kleine Sonntagserfrischung zu bringen; wenn sie im Gegenteil mit schlechten und versoffenen Eltern behaftet sind, wie du's ja annimmst, dann wehe den armen Dingern. Krumm und lahm werden sie gedroschen dafür, daß sie sich haben fangen lassen. Und die Eltern verschaffen sich ihren Fusel auf eine andere Manier.«
»Ach, mein lieber Jack, wenn man einen Patienten von einer bösen Krankheit kurieren will, geht es selten ohne Schmerzen für ihn ab,« dozierte Sarah. »Glaube du übrigens nur ja nicht, daß ich es mit der Strenge allein versuche. Ich trachte die Kinder durch allerlei unschuldige Zerstreuungen zur Mäßigkeit herüberzulocken. Heute kannst du sofort einem der kleinen Teefeste beiwohnen, welche ich jeden Sonnabend veranstalte, um die zarte Jugend zu bewegen, sich meiner Sache anzuschließen.«
»The reverend Jessaiah Juniper,« meldete in diesem Moment Smith.
»Ah, mein Bundesgenosse!« rief Sarah, indem sie dem eben Eintretenden die Hand entgegenstreckte. Jack sah auf und erblickte einen Menschen, dessen Beine ein X beschrieben, dessen Haare ihm wie blauschwarzer Blumendraht fast horizontal rings um den Kopf herumstarrten und dessen Gesicht die Farbe einer Tasse schwarzen Kaffees aufwies, in die sich zufällig ein Tropfen Milch verirrt hatte.
Während er auf Mrs. Winter zuschritt, richtete er die Augen zuerst gegen den Himmel, dann, sich tief vor ihr verneigend, senkte er sie zu Boden. Seine Weste reichte bis zu seinem hohen geraden Stehkragen hinauf, sein faltiger Rock flatterte ihm weit über die Knie hinab. Er hatte vergessen, seine Galoschen abzulegen, und die Hand, welche nicht damit beschäftigt war, seinen Hut an sein Herz zu drücken, umfaßte den knorrigen Griff eines gewaltigen schwarzen Regenschirms.
Alles das war Jack nicht sehr neu. »Der Prediger der Armendistrikte in voller Montur,« sagte er sich. Regenschirm, Augenaufschlag und Galoschen kannte er genugsam, befremdlich schien ihm an diesem Geistlichen nur die Farbe.
»Erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Neffen Mr. Jack Ferrars vorstelle,« sagte Mrs. Winter.
Jack stand auf, und der Missionar verbeugte sich; dann, sich an Sarah wendend, frug er, immer noch den Hut auf dem Herzen: »Ist unsere Gemeinde versammelt?«
»Nein, noch nicht, doch erwarte ich die Kinder von einer Minute zur anderen. Wenn Sie gestatten, so will ich die letzten Vorbereitungen überwachen. Sie können sich indessen mit Mama unterhalten.«
»We're in for it,« murmelte Mrs. Winter, der diese Unterbrechung ihres vertraulichen Gedankenaustausches mit ihrem Lieblingsneffen wenig zu behagen schien, und Jack schielte nach seinem Hut. »Laß mich nicht im Stich,« flüsterte ihm mit humoristischer Energie die Tante zu. Und so blieb er denn, blieb nicht nur der Tante zuliebe, sondern weil ihm plötzlich einfiel, daß sein Besuch in Ivylodge ja eigentlich einen wichtigen Zweck hatte, und daß er, wenn er diesmal unverrichteter Sache davonflog, sich kaum entschließen würde, ein zweites Mal bis nach Putney auf Brautschau zu gehen. Freilich, wenn Mary auch nur im mindesten an Sarah erinnerte! – Er lächelte grimmig vor sich hin. Da Jack und Mrs. Winter beide stumm blieben, fühlte sich der Reverend Jessaiah Juniper gedrungen, die Kosten der Unterhaltung allein zu bestreiten.
Halb Scharlatan, halb Dummkopf, gab er mit großer Selbstgefälligkeit eine Reihe von religiösen Gemeinplätzen zum besten, welche einer nach dem anderen mit derselben geläufigen Regelmäßigkeit von seinen Lippen fielen wie die Getreidekörner aus einer Dreschmaschine.
Diese Art aufdringlicher Freigebigkeit mit landläufiger religiöser Fabrikware war Jack ebensowenig unbekannt als der Regenschirm, der Augenaufschlag und die Galoschen des Reverend. Befremdlich blieb ihm an dem heiligen Manne noch immer ausschließlich seine Hautfarbe sowie sein äußerst sonderbarer Gesichtstypus.
Halb mechanisch begann er neben die Silhouette der alten Frau die groteske Figur des schwärzlichen Rätsels hinzuzeichnen. Jessaiah Juniper, welcher, mit der Schnelligkeit und Spürkraft eines Barbaren begabt, sofort merkte, worauf es Jack abgesehen hatte, reckte, weit entfernt, Jacks Beschäftigung übelzunehmen, selbstgefällig den schwarzen Hals aus dem steifen Hemdkragen heraus und nahm eine effektvolle Stellung an. Als nun Jack, sehr belustigt, mit einer höflichen Entschuldigung die Feder niederlegte, rief der Reverend fast bestürzt aus: »Bitte, lassen Sie sich nicht stören, ich bin es gewohnt, die Aufmerksamkeit zu erregen, mein lieber junger Freund! Eine Photographie von mir war in Regentstreet ausgestellt; eine Zeitlang wurde sie öfter verlangt als die von Mr. Gladstone und Mme. Sarah Bernhardt. Ich gehöre zu den Merkwürdigkeiten Londons. Oh, mein lieber junger Freund, haben Sie noch nie von dem afrikanischen Missionar im Eastend von London gehört, nicht von dem armen Neger, der aus der Wildnis kam, um mitten in der Zivilisation den weißen Menschen den Gott ins Gedächtnis zurückzurufen, den sie vergessen hatten?«
Der liebe junge Freund erwiderte hierauf mit bewunderungswertem Ernst: »Ich hatte noch nie von ihm gehört, aber ich freue mich sehr, ihn kennenzulernen; und wenn Sie mir wirklich gestatten wollen...« Hiermit nahm er die weggelegte Feder wieder auf und bat den Sendboten des Himmels aus Afrika, den Kopf ein wenig nach rechts zu wenden, sich aber im übrigen durchaus nicht stören zu lassen; reden möge er so viel ihm gefalle, er, Jack, würde mit größter Aufmerksamkeit zuhören.
Der Missionar lächelte salbungsvoll; dann, seine schwarzen Hände hin und her knetend, begann er mit flötender Stimme: »Es würde Sie gewiß interessieren, etwas über meine Persönlichkeit zu erfahren, etwas Näheres, meine ich.«
»Oh, außerordentlich!« versicherte Jack nicht ohne Aufrichtigkeit und zeichnete eifrig weiter.
Mit den automatischen Gesten und den aus einer mechanischen Eintönigkeit künstlich herausgeschraubten Betonungen eines seine Biographie abwerkelnden Wunderkindes oder anderen Jahrmarktphänomens begann der Missionar: »In Neuorleans erblickte ich das Licht der Welt, ein Sklave unter Sklaven. Von frühester Jugend an zeichnete ich mich aus durch die Sittlichkeit meines Betragens und die rasche Entwicklung meines Verstandes. Mein Vater war ein Neger, meine Mutter eine Quaderone; von ihr habe ich jenen Tropfen weißen Bluts, der die Einheit meines schwarzen Wesens stört. Dieser »weiße« Blutstropfen ist der wunde Punkt in meinem Leben, ich schäme mich seiner, denn mein Herz schlägt nur für Afrika. Von Jugend an schlug es nur für Afrika! Obgleich mein Herr mich angesichts meiner ungewöhnlichen Begabung im Lesen und Schreiben sowie in anderen vornehmen und nützlichen Wissenschaften unterweisen ließ und auch nicht müde wurde, mich durch allerhand seinen übrigen Sklaven vorenthaltene Verwöhnungen an sich zu locken, fuhr ich dennoch fort, mich hinüber zu sehnen nach Afrika. Meine Vaterlandsliebe rührte meinen Herrn, und nachdem er eines Tages zufällig ohne böse Absicht zwei betrunkene Sklaven totgeprügelt, schenkte er mir die Freiheit. Ich wurde zum Missionar ausgebildet und erreichte als vierundzwanzigjähriger Jüngling das Ziel meiner Wünsche – das Land meiner Väter – Sierra Leone. Ich wollte unter meinen Landsleuten das Licht verbreiten, von dem meine Seele durchdrungen war. Aber – o Schmach! – ich sah meinen Landsleuten zu ähnlich, um Eindruck auf sie zu machen. Um den Menschen zu imponieren, muß man sich von ihnen unterscheiden, merken Sie sich das, mein lieber junger Freund! Alas!« – Indem wendete er mitten aus seinem psalmodierenden Gejammer heraus den Kopf nach Jacks Federzeichnung. »Sehr bedeutend und auch gut getroffen, mein Bildnis!« rief er aus; »aber das Haar ist zu kurz. Ich lege großen Wert auf mein Haar, meinem langen Haar und schwarzen Gesicht verdanke ich vorzugsweise meinen jetzigen großartigen Wirkungskreis unter den Armen von London. Doch, um den Faden meiner Erzählung von neuem, aufzunehmen – als es sich immer deutlicher herausstellte, daß meine Tätigkeit in Afrika unfruchtbar blieb, ich zu alledem das Klima meiner angebeteten Heimat durchaus nicht vertrug, überredeten mich meine Freunde dazu, nach London überzusiedeln. Hier bin ich – ich darf es wohl sagen – in meiner bescheidenen Art eine Persönlichkeit geworden – ich – der Missionar aus Afrika! Menschen, die dem »Wort« gegenüber jahrelang taub geblieben' sind, die kommen, um es von meinen Lippen zu vernehmen. Sie kommen, um meine langen Haare anzuschauen und mein schwarzes Gesicht, und dann spreche ich zu ihnen von Jesus!«
Der Reverend Jessaiah Juniper streckte mit einer andächtigen Gebärde die Arme ins Leere, dann, sich aus seiner allgemeinen Menschenliebe heraus zu Jack direkt wendend, meinte er: »Würden Sie vielleicht wünschen, meine Photographie zu besitzen, mein werter junger Freund? Vielleicht wird es bei so mancher prüfend an Sie herantretenden Lebensschwierigkeit von Bedeutung für Sie sein, sich dieser Stunde zu erinnern – der Unterredung mit dem Sohn der Wildnis, der aus Afrika gekommen ist, um den Barbaren der Zivilisation das Licht zuzuführen. Hier haben Sie das Bild!« Der Missionar aus Afrika zog es aus seiner Brusttasche und fuhr fort: »Es ist von demselben Photographen aufgenommen worden, der auch das Konterfei Mr. Gladstones ausgeführt hat. Hier, mein hochgeschätzter junger Freund!« hier überreichte Juniper Jack die Photographie.
Mrs. Winter hatte bereits mehrmals ungeduldig mit den Achseln gezuckt, jetzt gähnte sie unverblümt. Das Repertoire Junipers war klein; dieselbe Rede, welche er soeben Jack gehalten, und in welche er neben dem Phrasenschwulst eigener Erfindung so manchen Absatz aus über ihn verfaßten Zeitungsartikeln ohne weitere Zubereitung oder Adaptierung kaltblütig einverleibt, hielt er mit derselben Selbstgefälligkeit allen Menschen, denen er zum erstenmal begegnete – Mrs. Winter kannte jedes Wort davon auswendig. Jack jedoch, welchem dieses rhetorische Kunststückchen neu war, belustigte sich daran nicht wenig. Ein solcher Ausbund von selbstgefälligem Schwindel und naiver Heuchelei war ihm selbst in London noch nicht begegnet.
»Ich bin Ihnen sehr verbunden für dieses Zeichen Ihrer Gunst,« sagte er, sich vor Juniper verbeugend, mit einer so genauen Nachahmung der Redeweise und Betonung des Missionars aus Afrika, daß Mrs. Winter sich die Lippen beißen mußte, um nicht herauszuplatzen; »aber dies Andenken würde unendlich an Wert für mich gewinnen, wenn Sie es freundlichst mit Ihrer Unterschrift ausstatten wollten!«
Jessaiah Juniper verzog die dicken Lippen zu einem geschmeichelten Lächeln; dann an das Tischchen, an welchem Jack gezeichnet hatte, herantretend, tauchte er eine Feder in die Tinte ein, setzte sich, und beide Ellenbogen auf den Tisch stützend, den Kopf beinahe auf den linken Arm gelegt, malte er langsam und mit der unbeholfenen Präzision eines Menschen, der spät schreiben gelernt hat, auf die Rückseite des Konterfeis:
All for Jesus und Africa!
Jessaïaa Juniper.
Mit einer tiefen Verbeugung nahm Jack das Bildchen in Empfang und steckte es zu sich.
»Sie haben mir eine große Ehre erwiesen, Mr. Juniper!« versicherte er.
»O bitte, nothing to speak of,« wehrte Juniper bescheiden den Dank des jungen Mannes. »Ich freue mich allezeit nur zu sehr, jemandem zu begegnen, der sich für Jesus und Afrika interessiert. Jesus und Afrika!« Die letzten Worte sprach er singend und indem er die Endsilbe des Wortes Afrika laut ausklingen ließ. Dann fuchtelte er mit beiden Händen, wie jemand, der Schwimmübungen macht, in der Luft herum und sang vor sich hin:
»Let's steal away to Jesus,
Let's steal away to Jesus,
For he's a jolly good fellow,
For he's a jolly good fellow!«
Der Bleistift stockte in Jacks Hand, sein Blick wuchs sozusagen fest auf Jumpers schwarzem Gesicht. Er hätte jede Wette eingehen mögen, daß er Juniper bereits früher gesehen, und zwar – Doch ehe er den vor ihm hergaukelnden Gedanken noch zu erhaschen vermocht, trat Sarah herein und rief mit strahlenden Augen: »If you please, Mr. Juniper es ist alles bereit!«
Jessaiah Juniper erhob sich und folgte dem Ruf.
»Willst du dir den Schwindel ansehen?« fragte Mrs. Winter, »dann gehe ihnen nach.«
Jack ging, sich den Schwindel anzusehen.
In einem großen Raum, den Sarah auf eigene Kosten für ihre Zwecke an die rückwärtige Seite des Hauses hatte anbauen lassen, befand sich ein halbes Hundert Kinder, reihenweise mit ängstlich erwartungsvollen Gesichtern auf gelb lackierten Bänken kauernd. Alle nett, sauber gewaschen, einige von ihnen bildhübsch, so daß Jack eine fast unabweisbare Lust empfand, ihnen die Wangen zu streicheln. Jegliche derartige weichliche Gefühlsäußerung war jedoch bei der vor sich gehenden Handlung verpönt. Auf einer mit scharlachrotem Tuch bezogenen Estrade stand ein altes schwarzes Klavier, an dem ein junger Mann in schwarzem Anzug und mit langem, straffem, weißblondem Haar saß und sofort anhob, aus einer schauerlich klingenden Molltonart in die andere zu modulieren. Auf dem anderen Ende der Estrade saßen in mächtigen geradwinkligen Lehnstühlen wie krönungsgewärtige Monarchen Sarah Winter und Jessaiah Juniper.
Der Saal war mit großen Plakaten verziert, auf denen sich gegen einen effektvoll düsteren Hintergrund schwarze Flammenzacken abhoben – das Feuermeer der Hölle, in dem unglückliche Menschenleiber sich mit grauenerregenden Gliederverrenkungen herumwanden. Diese angenehmen und erheiternden Kunstwerke waren mit in großen, scharlachroten Buchstaben ausgeführten Devisen beiläufig folgenden Wortlauts geschmückt: »Where shall I go after death« – »Utter annihilation« – »Eternal torture« – »My own doing« usw. Jack merkte, daß der Jüngling am Klavier von den Tasten hinweg diese erbaulichen Wandverzierungen ununterbrochen mit einem begeisterten Gesichtsausdruck anstarrte. Wie Jack später erfuhr, war er ein Zimmermaler, in welchem Sarah ein großes Genie entdeckt und von dem sie demgemäß diese schauerlichen Dekorationen hatte anfertigen lassen. Jack setzte sich auf eine der gelben Bänke neben ein kleines Mädchen mit großen blauen Augen und langem gelbem Haar, das damit beschäftigt war, seinen noch kleineren Bruder zu beruhigen, der bereits vor Beginn der Zeremonie angefangen hatte zu heulen.
Der Pianist auf der Estrade – er hieß Abraham Bray – schlug mitten aus seinen wimmernden Modulationen heraus einen mordlustig klingenden Akkord in die Tasten, worauf er heiser krähend das Bußlied von Beethoven mit frei ins Englische übersetztem Text zu singen anhob. Sarah und Juniper stimmten, jeder nach einer anderen Richtung hin, falsch mit ein, und die Kinder auf den Bänken zitterten. Nach Beendigung des Bußliedes trug der Pianist noch einen Trauermarsch vor, um die Nerven seines armen kleinen Publikums recht mürbe zu machen, worauf sich Sarah erhob und, an den Rand der Estrade vortretend, ein offenbar selbst verfaßtes Traktätchen vorlas, in welchem sie ihren kleinen Zuhörern die fürchterlichen Folgen der Trunksucht durch allerhand Beispiele darlegte.
Ein paar der armen Wichtchen fingen an zu wimmern. Es ging Jack durch Mark und Bein. Der Gesichtsausdruck Sarahs bewies ihm jedoch, daß sie diese schwachen und ängstlichen Wehlaute als ein Zeichen ihres Erfolges betrachtete, weshalb sie mit verdoppeltem Eifer ihren grausamen Hinweis auf die irdischen Folgen des Trunklasters fortsetzte. Als sie geendigt, trat Jessaiah Juniper vor und machte den Kindern durch einen sehr effektvollen Vortrag die ewige Verdammnis klar, welche sich im Jenseits an die irdischen Folgen der Trunksucht zweifelsohne anschließen müsse. Seine schwarze Gestalt hob sich eigentümlich ab von dem Scharlach der Estrade, er ballte die Fäuste, fletschte die weißen Zähne, stampfte mit den Füßen, heulte und sang dazwischen. Wie von heimlichen elektrischen Strömungen angezogen, starrten ihm die Haare um den Kopf.
Die Kinder stießen sich die Fäustchen in die Augen, um das zähnefletschende Ungeheuer nicht zu sehen. Viele von ihnen hielten sich die Ohren zu, die meisten weinten bitterlich, Jack spielte es in allen Nerven. Er hob einen der armen Bälge auf seine Knie und streichelte ihn.
Indem unterbrach sich Juniper und heftete seine gelblichweiß aus seinem Gesicht herausstechenden Augen auf Jack. Zugleich trat Sarah von der Estrade herunter und auf Jack zu. »Was tust du da?« fuhr sie ihn an.
»Ich bin Mitglied des Tierschutzvereins,« entschuldigte er sich matt witzelnd und drückte mit seiner warmen, braunen Hand das Köpfchen des noch immer schluchzenden Würmchens, das er auf den Knien hielt, an seine Schulter.
»Ich kann das nicht zugeben!« rief Sarah schroff, »es ist gegen unsere Statuten, die Kinder zu trösten während der Vorträge. Meine Mutter konnte sich's nicht abgewöhnen, ich mußte sie bitten, unseren Versammlungen fernzubleiben. Du solltest doch einsehen, daß man den Kindern die Wahrheit nicht vertuschen darf, um ihre Nerven zu schonen!«
»Ich sehe gar nichts ein, als daß ich dieser Tierquälerei nicht länger beiwohnen kann!« rief Jack ärgerlich, setzte seinen kleinen Schützling nieder, machte die winzigen Fingerchen, die sich ängstlich an ihn klammern wollten, so zart, als es anging, von sich los und marschierte, den Kopf hoch in der Luft, mit langen Schritten zum Zimmer hinaus.
»Nun, wie findest du das Meeting?« fragte ihn Mrs. Winter, welche er nicht mehr in ihrem Wohnzimmer, sondern in dem Garten fand.
»Abscheulich!« schrie Jack fast, und seine hübschen, dunkelumsäumten blauen Augen blitzten zornig und finster aus seinem sonst so gutmütigen und freundlichen Gesicht heraus. »Auf was ist denn diese Quälerei eigentlich abgesehen?«
»Du bist nicht bis zu Ende geblieben?« fragte Mrs. Winter.
»Nein,« erwiderte Jack unwirsch, »mitten in dem Vortrag des Missionars aus Afrika bin ich hinausgeworfen worden, weil ich mir erlaubt hatte, einen zwei Schuh hohen Knirps, der aus Angst vor der Hölle zitterte, ein wenig zu trösten!«
»Ist mir geradeso geschehen,« erwiderte ihm lächelnd die Tante, »aber du hättest ausharren sollen, die Pointe des Unternehmens ist interessant.«
»Was ist denn die Pointe des Unternehmens?« brummte Jack.
»Nachdem die Kinder durch verschiedene Nervenerschütterungen recht aufgeregt worden sind, wird ihnen ein Dokument vorgelesen, durch dessen Unterschrift sie sich verpflichten, ihr Lebtag lang keinen Tropfen geistigen Getränkes zu genießen. Sie unterschreiben alle, die, welche schon schreiben können – natürlich! Wie sollten sie auch nicht, die armen gepeinigten Würmer! Dann werden sie aufgenommen in eine Körperschaft, die unter dem Namen the bands of hope die Zukunft von Old England befestigen soll.«
»Und dann?« murmelte noch immer unzufrieden Jack.
»Nun, dann werden die Kinder mir überlassen,« erklärte Mrs. Winter; »es wird mir vergönnt, sie zur Belohnung ihrer guten Vorsätze mit ein paar Erfrischungen zu erfreuen! Infolgedessen kehren sie ja schließlich auch mit ziemlich hellen Augen nach Hause zurück!« Die alte Frau lächelte nicht ohne eine gewisse Traurigkeit, dann sich ihre schönen irischen blauen Augen – ganz dieselben Augen, wie sie Jack hatte – reibend, fügte sie hinzu: »Die Trunksucht ist ja ein fürchterliches Laster und Übel bei uns zulande, aber ich wäre froh, wenn Sarah versuchen wollte, sie durch weniger lächerliche und gemeinschädliche Mittel zu bekämpfen. Heigh ho! – Na, denken wir an erquicklichere Dinge, ich lasse den Kindern den Tee heute hier im Garten servieren. Willst du mir nicht helfen, sie ein wenig zu amüsieren?«
»Ich kann mich leider nicht so lange aufhalten,« erwiderte Jack zerstreut. »Ist Mary noch nicht zurück?« fragte er dann in etwas mürrischem Tone.
»Nein, aber ich erwarte sie jeden Augenblick,« erwiderte Mrs. Winter, »um fünf Uhr wollte sie zu Hause sein.«
»Die sucht ja, wie du sagst, erst ihren Lebenszweck!« rief Jack. »In welcher Richtung, wenn man fragen darf?«
»Ach, sie wechselt, sie fügt sich gewöhnlich dem Beispiel irgendeiner klügeren und bedeutenderen Freundin. Vorläufig kämpft sie mit Lady Byng für das Wahlrecht der Frauen in England. Sie ist sehr nett und ladylike, legt vielleicht ein klein wenig zuviel Wert auf äußere Vornehmheit!«
»Ah! Da sieht sie wohl auch den Lebenszweck in der Richtung der äußeren Distinktion?« spottete Jack.
Die alte Frau legte ihm ihre nichts weniger als aristokratische, aber warme, weiche Hand auf den Arm. »Schmäh' mir die Mädchen nicht,« bat sie einschmeichelnd.
»Ach was,« stöhnte Jack, indem er dem grobkörnigen Kies des Gartenwegs einen so derben Fußstoß gab, daß ein kleiner Schwarm schwärzlicher Kieselchen davon in die Höhe stob. »Du bist ja selbst nicht zufrieden mit ihnen!«
»Das ist nicht das richtige Wort! Ich habe nicht die geringste Veranlassung, unzufrieden mit ihnen zu sein; leid ist mir um die armen Dinger, das ist alles!« sagte Mrs. Winter.
»Aber warum gestattest du ihnen ihre Torheiten?« ereiferte sich Jack.
»Weil sie sich ohne diese Torheiten totlangweilen müßten,« erklärte ihm Mrs. Winter. »Mein lieber Jack, in unseren Kreisen – in den Kreisen des höheren Mittelstandes – dem Kernpunkt der Nation, wie die Zeitungen sagen, da ist das Leben in England so langweilig, daß mein irisches Blut dazu gehört, es auszuhalten ohne eine Monomanie, einen sogenannten Lebenszweck! Jede Frau, die irgendwie mitzählt im englischen Mittelstand, hat ihren Lebenszweck; die eine arbeitet gegen die Trunksucht, die andere verwendet sich für die Sanierung der Spitäler oder für die Verbesserung der Kanalisation in den Vororten Londons, eine dritte hält Vorträge über die moderne Auffassung des Christentums und macht dir klar, daß die Offenbarung überflüssig sei, um dir die Existenz der Gottheit zu beweisen, und noch eine andere agitiert für die Abschaffung des Korsetts und die Einführung des griechischen Peplums als weibliche Alltagstracht! – Ja, ich versichere dir, der ganze Kreis des englischen Mittelstandes kommt mir vor wie ein immenser Zirkus, in dem jede Frau auf ihrem eigenen Steckenpferde hohe Schule reitet, und mein Gott! mit welcher Überzeugung, mit welchem Ernst! Die Männer haben weniger Zeit für derlei Dummheiten, die haben zu tun; aber die Frauen, was sollen die wohl mit ihrer Zeit anfangen! Arbeit im Hause gibt es keine für sie, sie sind versorgt und verhätschelt wie die Prinzessinnen; mit allem sind sie versorgt, nur nicht mit gesunder Zerstreuung!«
»Aber dann begreife ich nicht, warum du die Mädchen veranlaßt hast, in diesen Kreisen weiter zu vegetieren!« rief Jack heftig, indem er zugleich kleine Zweiglein von den Büschen brach, die den Weg, welchen er jetzt mit seiner Tante ging, beschatteten.
»Was willst du! Es hat sich so gemacht!« sagte die alte Frau gleichmütig. »Deine Mutter war eine entzückende Frau und wir hatten einander immer lieb, sie und ich, aber anzufangen wußte sie eigentlich nur etwas mit mir, wenn sie krank war. Und als sie starb, schliefen nach und nach alle Beziehungen zwischen uns und deinem Vater ein. Dein Vater war ein schrecklich ehrgeiziger Mensch, der mir's nie verziehen hat, daß ich einmal zufällig seiner Frau von unserer Mutter erzählte, die, wie du vielleicht weißt, eine Wäscherin war!«
»Ja, ich weiß,« nickte Jack, »es ist auch der wunde Punkt in Bryans Leben; ich bringe ihn jedesmal darauf, wenn ich ihn ärgern will, er ist seinem Erzeuger genau nachgeraten.«
»Meine Mädchen paßten zu eurer amüsanten Welt noch schlechter als ich. Sie haben beide das schwerfällige Puritanerblut ihres Vaters in den Adern.« Die Augen der alten Frau wurden träumerisch starr wie die Augen von alten Leuten, die plötzlich, anstatt vor sich hinzublicken, in die Vergangenheit zurücksehen. »Er war ein Ehrenmann, dein Onkel Christopher,« sagte sie, »zu beklagen habe ich mich über ihn nicht, er war ein Musterehemann.« Sie faltete die Hände und streckte beide Arme vor sich hin. »Nun, meine Pflicht habe ich redlich erfüllt; aber was ich mich in meiner Ehe gelangweilt habe, es ist nicht zu beschreiben! Du bist der erste Mensch, dem ich's sage, nun – und meine Stieftöchter sind dem Vater nachgeraten. Mary ist übrigens nett, sie wird dir gefallen; das einzige, woran es ihr gebricht – Doch da ist sie.«
Den schmalen Gartenpfad entlang, auf die beiden zu, schritt ein junges Mädchen, eher groß als klein, schlank, mit sehr langer, etwas flacher Taille und allzu steil abfallenden Hüften, mit einem von schlichtem braunem Haar umrahmten, regelmäßig geschnittenen Gesicht, an dem der Mund mit den leicht hervorstehenden Zähnen allein nicht schön war. Sie hatte ihren Hut bereits im Hause abgelegt und trug ihr Haar mit geschmackvoller Einfachheit im Nacken in einen Knoten zusammengedreht, glatt gescheitelt, ohne jegliches modisches Gekräusel über der reinen, weißen Stirn; die braunen Augen blickten gerade und klar unter den feingezogenen blonden Brauen hervor; ihr Gesicht, ihre Haltung, ihr Anzug – ein graues Leinwandkleid mit schwarzen Schleifen –, alles war durchaus hübsch und ladylike«.
»Aber sie ist ja reizend!« sagte sich Jack, indem er sie nicht ohne eine gewisse innere Aufregung beobachtete.
Indem begegneten seine Augen denen des jungen Mädchens. Sie erkannte ihn und wurde plötzlich dunkelrot, was sie allerliebst kleidete.
»Sie ist ja wirklich nett, sehr nett!« dachte Jack mit gesteigertem Wohlgefallen, und beschleunigten Schrittes an sie herantretend: »entzückend ist sie!«
»How d'ye do, Mary?« rief er mit seiner weichen, herzlichen Stimme und streckte ihr seine Hand entgegen. Aber da mit einemmal war die Röte von ihren Wangen verschwunden, sie war wieder blaß und kühl. Kaum die Fingerspitzen in seine voll ausgestreckte Hand legend, erwiderte sie mit einer leisen, eintönigen, jeder Modulation baren Stimme:
»0 thank you, I am very well, and how are you?«
Diese Stimme allein genügte, um Jack aus allen seinen Himmeln zu reißen; es war, als ob jemand leise und spitz immer denselben Ton auf dem Klavier angetippt hätte. Nein, sie war weder entzückend noch reizend, sie war ein genau nach der vorschriftsmäßigen Schablone zugeschnittenes, musterhaftes englisches Mädchen.
»Nun, habt ihr doch irgendeinen Erfolg erzielt bei eurem Meeting?« fragte er nach einem Weilchen; es kam ihn plötzlich recht schwer an, mit seiner Kusine Konversation zu machen.
»Oh, auf den Erfolg kommt es ja nicht an,« erwiderte sie immer in demselben eintönigen Stakkato, »auf einen augenblicklichen Erfolg kann man auch gar nicht rechnen, aber man muß doch seine Pflicht tun!«
»Hm! Und du hältst es für deine Pflicht, über die Wahlberechtigung des weiblichen Geschlechts zu predigen?« murmelte Jack unzufrieden. »Ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, meinem geknechteten Geschlecht zur Freiheit zu verhelfen,« versicherte Mary, und diese heroischen Worte klangen gerade so matt und farblos, wie wenn sie über die momentane Beschaffenheit des Wetters eine Bemerkung gemacht hätte.
»Und könntest du dich nicht etwa irgendeiner näherliegenden Beschäftigung widmen?« bemerkte nicht ohne einen leisen Beigeschmack von Ironie Jack Ferrars.
»Welche meinst du wohl?« fragte etwas unruhig werdend Mary und schlug die braunen Rehaugen erst flüchtig zu ihm auf, dann sogleich wieder zur Erde nieder.
»Nun, allenfalls der, dich in deinem Heim nützlich und deine Umgebung glücklich zu machen!« stieß Jack ärgerlich hervor.
»Ich vernachlässige meine häuslichen Pflichten keineswegs,« beeilte sich Mary ihm zu erwidern. Ihre Artikulation war um ein Atom schneller geworden, verlangsamte sich jedoch wieder, indem sie hinzufügte: »Ich führe das ganze Haus und rechne alle Abend mit der Köchin!«
»Ja, sie ist eine sehr pünktliche Rechnerin!« versicherte aufmunternd Mrs. Winter, welche dem sich mühsam hinschleppenden Zwiegespräch der beiden jungen Leute bis dahin schweigend beigewohnt hatte, und dabei strich sie der Stieftochter freundlich über den langen, etwas dünnen Oberarm. Mary nahm diese Liebkosung mit einem leichten Zusammenzucken entgegen, wie ein Mensch, der zugleich scheu und kitzlig ist. Es entging Jack nicht.
Nein, im Vergleich zu Mary war ja Sarah noch amüsant! Er änderte sofort ihr gegenüber seinen Ton, der anfangs etwas Forschendes gehabt, so als ob er unter ihrer matten Hülle einen tieferen Gehalt gesucht hätte, und sprach von oberflächlichen Dingen.
»Diese Traueresche ist ein sehr schöner Baum,« bemerkte er.
»Oh yes very fine indeed« fiel's von ihren Lippen.
»Es ist merkwürdig, wie früh die Rhododendron in diesem Jahre blühen.«
»Astonishing – isn't it ...«
In diesem Moment kündigte ein bis in den Garten hereintönendes hart rhythmisierendes Geräusch, welches vielleicht einen Triumphmarsch vorstellen sollte, an, daß »die Tierquälerei im Saal« ihren Abschluß gefunden hatte.
Der Garten füllte sich plötzlich mit verweinten Kindern. Mrs. Winter sprach noch einmal die Hoffnung aus, daß Jack ihr bei der Aufheiterung der kleinen Bande beistehen werde. Er jedoch wiederholte ihr, daß er sich durchaus nicht länger bei ihr aufhalten könne. Es war auch wirklich kein Grund für ihn vorhanden, seinen Besuch weiter auszudehnen. Die Sache war für ihn erledigt.
Was sollte er noch hier? Er hatte sich bereits von seinen Kusinen verabschiedet und trat nun mit seiner Tante durch die weit geöffneten Glastüren in das Wohnzimmer zurück, in welchem er mit ihr Tee getrunken.
Die alte Frau heftete einen tiefen, forschenden Blick auf ihn. »Was hat dich denn eigentlich veranlaßt, uns wieder einmal aufzusuchen?« fragte sie.
Jacks Ohren brannten, als hätte man ihm Brennnesseln um den Kopf gepeitscht.
»Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen von euch,« murmelte er hastig.
»Abschied? Reisest du nach Indien, um Tiger, oder nach den Kordilleren, um irgend etwas anderes zu jagen?«
»Kaum so weit, Tante, und nicht zum Zeitvertreib,« erwiderte Jack düster; »ich muß ganz einfach von England fort, weil mir das Leben hier zu teuer ist. Ich bin ruiniert!«
»Ruiniert!« rief die alte Frau erschrocken.
»Ja!« Jack lächelte schwach das Lächeln, mit dem jeder halbwegs wohlerzogene Mann seine Verstimmung zu übertünchen pflegt. »Heute morgen hat mir mein Bruder die Tatsache mitgeteilt. Bei sorgfältiger Placierung des Kapitalrestchens, das mir übrigbleibt, verfüge ich über ein Jahreseinkommen von dreihundert Pfund Sterling!«
»Oh, mein armer Junge, wie hast du das denn angefangen?« fragte die alte Dame bestürzt.
»Still, still, Tante Jane, bedaure mich nicht, 's war alles meine Schuld,« erwiderte Jack gerührt.
»Als ob das ein Grund wäre, jemanden nicht zu bedauern!« rief Mrs. Winter, und ihre blauen irischen Augen standen voll Tränen. »Aber was wirst du denn jetzt anfangen, du verwöhnter, unbehilflicher Mensch?«
»Bryan hat mich aufgefordert, mich dem geistlichen Stande zu widmen, da er mir darin eine gewisse Beförderung versprechen kann. Ich selbst ...«
»Nun, was hast du selbst dir ausgedacht?«
Immer noch brannten Jacks Ohren, er blieb stumm, zuckte nur mit den Achseln. Nach einer kleinen, unbeholfenen Pause sah er sich um, als ob er etwas vergessen habe.
»Was suchst du?« fragte ihn Mrs. Winter.
»Die Zeichnung, die ich nach dir gemacht, ich möchte mir sie gern aufheben zum Andenken,« erwiderte Jack.
Die alte Frau fand das Blatt. Ehe sie es Jack reichte, sagte sie: »Merkwürdig, wie gut das Ding ist! Du hast doch enormes Talent, Jack!«
»Meinst du?« antwortete Jack nachdenklich, dann fügte er hinzu: »Jetzt – in diesem Moment ist's mir eingefallen – vielleicht, wenn ich mein bißchen Talent ausbildete, könnte ich damit etwas verdienen!«
»Daran zweifle ich nicht,« versicherte die alte Frau, »wenn – du die nötige Ausdauer zum Arbeiten hast.«
»Die Ausdauer ergibt sich aus meiner schmalen Rente von selbst!« witzelte Jack.
»Hm! Die Sache ist zu überlegen!« murmelte Mrs. Winter. »Wo würdest du studieren?« »Wo kann man Malerei studieren?« fragte Jack. »Doch nur in Paris.«
»Hm!« Wieder wurde der Blick der alten Frau starr. Sie sah weit in die Vergangenheit zurück, noch weiter, als da sie mit Jack über ihre Ehe gesprochen. »Wann würdest du abreisen?«
»In den nächsten Tagen,« sagte Jack, »sobald ich meine traurigen Geschäfte geordnet habe.«
»Nun – wenn's dabei bleibt – wenn du wirklich nach Paris gehst, um Maler zu werden – so laß mich's wissen, bevor du abreisest, ich möchte dir einen Empfehlungsbrief geben an einen alten Freund. Er ist freilich, seit ich ihn zum letztenmal gesehen, ein sehr berühmter Mann geworden, aber ich denke, er wird sich meiner dennoch erinnern. Adieu, mein Junge – God bless you – ich habe mich sehr über deinen Besuch gefreut.«
Jack bestieg den Hansom, welchen er – das Sparen war ihm noch nicht sehr geläufig – indessen die ganze Zeit über hatte warten lassen.
Ein süßer Duft drang über die roten Ziegelmauern der Gärten zu ihm herüber. Die Erinnerung an die hübsche, vornehme und doch so unendlich steif langweilige Erscheinung seiner Kusine umschwebte ihn mit unabweisbar zäher Zudringlichkeit.
An was fehlte es ihr denn – an was denn? – Mein Gott! – an Spontaneität, an Wärme, an Leben fehlte es ihr!
Und plötzlich tauchte vor seinen Augen eine ganze Legion genau ebenso anmutiger, wohlerzogener, langweiliger Geschöpfe auf, denen es gleichermaßen an Leben fehlte.
»Es läßt sich nicht leugnen, es ist ein englischer Nationalfehler,« sagte sich Jack, und wie er darüber nachdachte,, wollte es ihn bedünken, als ob sich seine Landsleute insgesamt des Lebens schämten, – ihre Bewegungen, ihre Art zu reden, zu urteilen – alles war ja gleichermaßen schablonenhaft. Sie hatten eine nationale Physiognomie – keine Individualität. In ihrer Angst, das Leben könnte irgendeine anstößige Forderung stellen, unterdrückten und verleugneten sie es dermaßen, daß sie ihren Stolz hineinzusetzen schienen, nicht mehr Menschen, sondern bloß durch eine gewisse allgemeine sittliche Konvention in Bewegung gesetzte Automaten zu sein. Wenn es diesen Verblendeten schließlich gelungen war, das Leben vollständig aus sich auszurotten, dann triumphierten sie in dem Gefühl ihrer großartigen Vollkommenheit und blickten auf alle weniger leblosen Geschöpfe mit schnöder Verachtung herab.
Unter diesem Verbande der Seligen hieß das Leben – Sünde. Das Komische war, daß das malträtierte, von dem Cant – so hieß ja die große Anstandslüge – in Fesseln gehaltene Leben doch immer wieder sein Recht verlangte, und in welch vehementer Weise!
So sehr wie am heutigen Tage waren ihm diese verschiedentlichen englischen Nationalübel freilich noch nie aufgefallen. Er fragte sich, ob es vielleicht in den Kreisen, in welchen er bisher verkehrt hatte, in der Welt, in der man sich amüsiert, um ein Beträchtliches anders sei? Da aber war er mit der Antwort nicht so schnell bei der Hand.
Eine gewisse schablonenhafte Totschlächtigkeit machten sich seine Landsleute, trotz bedeutend freierer und gefälligerer Formen, auch in der »Gesellschaft« zur Regel.
Eigentliche Lebendigkeit bewiesen die Engländer, und besonders die Engländerinnen, auch dort erst, wenn ihr Blut durch lustige Sportübungen oder auch durch ein starkes Sportinteresse in Wallung gebracht worden war.
Der Sport war das einzige, was die Engländerinnen elektrisierte, nebenbei war er das große Sicherheitsventil, was sie vor den häßlichen Verirrungen bewahrte, in welchen sich auch in der besten Gesellschaft das durch den Cant künstlich zurückgehaltene Leben leider nur zu oft einen unschönen Ausweg schuf.
»Sport! – Sport!« – ja, unter dem Einfluß des Sports wurden die Engländerinnen reizend, heiter, ungezwungen. Unwillkürlich atmete Jack freier bei dem Gedanken an die Wirkung des Sports, zugleich ließ er den Blick über seine Umgebung schweifen. Die Gegend kam ihm mit einemmal merkwürdig bekannt vor. Er steckte den Kopf unter dem Dach seines Cabs heraus – ein paar vierspännige Drags rollten an ihm vorbei. Er erkannte mehrere gute Freunde, die ihm lustig zuwinkten. »Wo bin ich denn eigentlich?« fragte er sich, »da muß ja Hurlingham irgendwo in der Nähe sein.«
Am Weg nach Putney hinaus hatte er, zu tief in die bösen Absichten, die ihn so ex abrupto zu seinen arg vernachlässigten Verwandten führten, versunken, die Tatsache übersehen. Jetzt verkrümmte er humoristisch die Mundwinkel. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, daß in London, oder wenigstens in dessen nächster Umgebung, die Welt, in der man sich langweilt, so nahe liegt neben der Welt, in der man sich amüsiert.
Und wie man sich amüsiert in Hurlingham! – Jack gedachte jetzt nicht ohne einen kleinen Seufzer des herrlichen Parkes, in dem jeden Sonnabend während der Saison die Polo-Matches abgehalten werden. Wie oft hatte er die Matches mitgeritten! Er war natürlich Mitglied des Hurlingham-Klubs. Eine plötzliche Lust wandelte ihn an, noch einen Blick zu tun in dieses Paradies des Sports, das für ihn eigentlich ein verlorenes Paradies geworden war.
Er dirigierte den Kutscher nach Hurlingham.
Da Mietwagen, mit Ausnahme von Remisen, keinen Zutritt haben zu diesen elysäischen Feldern höchster Exklusivität, so mußte der Wagen vor dem Eingang halten. Jack erinnerte sich jetzt erst daran, daß er seine Eintrittskarte nicht bei sich hatte, aber der einarmige Pförtner machte keine Schwierigkeiten, ihn einzulassen. Man kannte ihn so gut in Hurlingham.
Man hatte noch nicht begonnen aufzubrechen. Noch in ihrer ganzen Großartigkeit standen die Equipagen, welche ihre Last vornehmer Menschen hier ausgeladen hatten, nebeneinander, eine ordentliche Wagenfestung. Vierspännige Drags, elegante zweisitzige Viktorias, schwerfällige Huit-Ressorts, altväterische Kutschen mit Kutschern in Perücken auf dem Bock und gepuderten Bedienten mit langen vergoldeten Stöcken auf einem Trittbrett hinter dem Wagen stehend.
Die elegantesten unter diesen Luxusgefährten kannte Jack alle. Stumm und humoristisch, mit dem aus Anstandsgefühl entspringenden Humor derjenigen, die sich selbst ihre Bedrücktheit nicht eingestehen wollen, sann Jack über den Wechsel alles Irdischen nach, während er die wundervoll gepflegten Wege zwischen den weiten, sammetgleichen Rasenplätzen einherwanderte, über welche sich, leicht vom Hauch des Spätfrühlings bewegt, die malerisch ausgezackten und durchbrochenen Schatten der alten Eschen und Ulmen länger und länger hindehnten. Hier und da rollte ein Break oder Mailcoach an ihm vorüber in dem langsamen Tempo einer Equipage, welche ihren Herrn erwartet.
Er ging auf den Platz zu, wo die Polo-Matches gehalten wurden. Eine Anzahl der schönsten Frauen sowie der elegantesten alten und jungen Dandies von London umdrängte die Einfriedigung, hinter welcher acht junge Männer in weißen Flanellanzügen und mit gelben Ledergamaschen, die Arme bis über den Ellenbogen entblößt, auf weißen, breitschulterigen Doppelponys über eine smaragdgrüne Fläche einem weißen Ball nachrasten, den sich die beiden Parteien unter den Reitern mit langen an Krockethämmer erinnernden Instrumenten streitig machten. Bald fliegt der Ball dahin, bald dorthin. Mit atemloser Spannung beobachtet das Publikum die Evolutionen desselben sowie die der Streiter.
Eine Musikkapelle, bestehend für diesmal aus echten ungarischen Musikanten, spielt mit wiegenden Rhythmen einen Walzer von Strauß – spielt ein einschmeichelndes Akkompagnement zu geplauderten Liebesduetten, die ringsum die weiche Frühlingsluft durchschwirren.
In kleinen bunten Zelten sitzen alte Damen, echt englische alte Damen, über die Gebühr stark, in sehr jugendlichen Toiletten und mit schöngeschnittenen, leider meist kupferigen Gesichtern. Sie lassen sich von weißhaarigen Verehrern lachend und von den Schmeicheleien, die sie abwehren, geschmeichelt, längst vergangene Triumphe ins Gedächtnis zurückrufen und zum hundertstenmal die Tatsache versichern, daß die Frauen von heute nicht mehr so schön sind wie die Frauen, die vor dreißig oder vierzig Jahren Regen und Sonnenschein machten am sozialen Himmel von London.
Jack, an dessen Ohr diese Redensarten vorbeigleiten, fragt sich angesichts der köstlichen Blumenlese von weiblicher Anmut, welche sich seinem Auge bietet, ob das möglich war.
Ein Gefühl wehmütigen Wohlbehagens überkommt ihn. Er genießt die Musik, er genießt die weiche, nach grünem Laub und feuchtem Rasen duftende Luft, genießt den Anblick der hübschen jungen sowie der liebenswürdigen alten Frauen, freut sich an dieser Quintessenz aristokratischer Vornehmheit, in welcher sich ein Kontingent erfolggekrönten Strebertums nicht störend, nein, nur pikant kurzweilig hineinmischt.
Man hat ihn erkannt, schöne Augen schimmern ihm ein freundliches Willkommen zu, braune Männerhände mit wie Opale flimmernden mandelförmigen Nägeln strecken sich ihm entgegen. Er verweilt nicht lange, wendet sich ab – schlendert von neuem seinen einsamen Weg durch den Park. Die schwermütigen Lieder, die der Frühlingswind in den Kronen der alten Eschen singt, mischen sich lieblich mit der in der Ferne verschwimmenden Tanzmusik, die Schatten, die sich über den Rasen hindehnen, werden bleicher und bleicher. – Jetzt sind sie ausgelöscht.
Es fängt an zu regnen – es fängt immer an zu regnen in London, wenn man es am allerwenigsten erwartet. Erst nur ein Tropfen da und dort, etwas wie ein verstärktes Blätterrauschen, das über den Park hinzieht, dann immer ungestümer – ein prasselnder Platzregen, der Jack veranlaßt, das Kasino aufzusuchen, das winzige Kasino von Hurlingham.
Sein Weg führt ihn am Treibhaus vorbei. Eine Schar von Damen hat sich hineingeflüchtet. Über eine Palisade buntester Kalzeolarien sieht er sie hinausblicken, betrübt und lachend zugleich, durch das schiefe Glasdach des Treibhauses.
Wie hoch und schlank, wie gut gewachsen, wenn auch meistens etwas flach in der Taille, diese jungen Geschöpfe sind! Welch herrlicher Teint, welch gesunder Freimut im Gesichtsausdruck, und die entzückenden Näschen und kurzen, feingeschnittenen Oberlippen. Auch Engländerinnen!
Ein Zorn überkommt ihn, ein echter Proletarierzorn darüber, daß die Kluft zwischen der englischen Welt, in der man sich amüsiert, und der, in welcher man sich langweilt, so tief, und die Mauer zwischen Putney und Hurlingham so hoch ist! Es ist ungerecht – in keiner Nation ist der Mittelstand so dürftig, die Aristokratie so reich bedacht wie in England. Dort hat die Aristokratie alles, Schönheit, Grazie, Temperament, Geist, und mehr als das – die Anmut vollständiger Natürlichkeit.
Nachdem sich Jack genugsam über diese ungerechte Verteilung irdischer Glücksgüter aufgeregt, beruhigt er sich mit dem Gedanken, daß es im Grunde genommen keine weniger exklusive Gesellschaft gibt, als die englische, daß jeder den Einlaß dazu gewinnt, wenn er Geld hat oder Macht, sich den Eingang zu ihr zu ertrotzen, und ob er sich wohl oder übel in ihrem Schoß befindet, hängt gänzlich von ihm selber ab.
Dann fragt er sich, ob man so etwas malen könne, wie diese Schönheiten hinter den Kalzeolarien durch das regenüberrieselte Glasdach gesehen – ob Nittis etwas Derartiges zustande gebracht hätte. Wie reizend und wie eigenartig ist doch das Bild!
Fast alle im Kapotthut, unterschieden sich seine Landsmänninnen im übrigen auf das nachdrücklichste in ihrem Anzug. Schwere Sammetkleider, dunkelrot oder violett zwischen weißem Musselin, schwarze Spitzenkleider zwischen Kleidern aus hellstem Foulard, dunkle knappe Tuchkostüme – Schöpfungen von Worth, von Redfern und Elise, kleidsam bis in die exzentrischsten Modeunarten.
Endlich macht Jack den Blick von dem hübschen Farbenwirrwarr los, tritt in das Tearoom des Kasinos und greift nach einer Zeitung, findet keine andere als das »Field«, ein Sportblatt, welches in zwei Dutzend Exemplaren aufliegt. Das Tearoom ist fast leer. Nur ein junger Mann, der offenbar einer Abteilung weiblicher Verwandtschaft aus der Provinz die Honneurs von Hurlingham macht, steht im Begriff, mit seinem Anhang das Zimmer zu verlassen. Im Hinausgehen hört ihn Jack sagen:
»Awfully jolly isn't it – well we might have some more books about the place!« Die Worte begleitet er jedoch mit einem zufriedenen Lachen, das deutlich ausfpricht, wie schade, wie wenig schick er's fände, wenn das vornehm unwissende Sportparadies Hurlingham sich durch die Anschaffung einer Bibliothek erniedrigen wollte.
Jetzt ist Jack allein seinen eigenen Gedanken überlassen. Sie sind nicht angenehmer Natur. Mit einemmal stürzt durch die Tür, die offen geblieben ist, eine große schlanke Frau mit dem reizendsten, von goldblondem Haar umschimmerten Gesichtchen, das je unter einem Kapotthut von Elise gesteckt hat.
Der Kapotthut besteht eigentlich nur aus einem Kranz von blaßlila und gelblichen Orchideen, dazu trägt sie ein weißes Kleid, das tüchtig naß geworden ist, und einen lose übergeworfenen dicken Zobelkragen, den sie mit beiden Händen rechts und links von ihrem Hals krampfhaft festhält.
»Ah, Jack! Bist du's? ruft sie dem jungen Mann entgegen. Er erkennt seine Schwägerin Lady Klara, die Frau seines Bruders.
Sie hat sich außer Atem gelaufen, die Löckchen auf ihrer Stirn sind ein wenig verschoben, aber dennoch ist ihre ganze Erscheinung von verblüffender Vornehmheit und bezwingender Anmut. Sehr gut angezogen mit instinktivem Raffinement ohne Klügelei, sehr groß, fast einen halben Kopf höher als die durchschnittliche weibliche Menschheit, ein wenig selbstbewußt, aber so naiv und so gerechtfertigterweise, daß man sich ihrem Selbstbewußtsein unterordnet, ist sie eine der bestrickendsten Vertreterinnen einer bestrickenden Menschenklasse.
»Jack, du hier – ich hab' dich beim Polo erblickt, nur einen Moment, dann bist du verschwunden. Ich bin dir nachgelaufen durch den ganzen Park, nirgend könnt' ich dich finden – Charley Dearing sucht dich ebenfalls. Ich bin vom Regen überrascht worden, und erhitzt dazu; ich bin nur froh, daß ich dich endlich gefunden habe. Ach, laß mir eine Tasse Tee bringen.« »Ist's nicht schon etwas spät?« fragt Jack.
»Was liegt an der Zeit!« erwidert ihm seine Schwägerin, »ich möchte gern ein wenig mit dir plaudern; wenn's nicht so spät wäre, wäre das ganze Zimmer voll Menschen.«
Binnen kurzem sitzt Jack seiner Schwägerin gegenüber an einem sehr niedrigen Tischchen, das ihm kaum bis an die Knie reicht, und sieht zu, während sie Tee trinkt; den braunen Hurlinghamkuchen, den der Kellner mit dem Teeservice gebracht, läßt sie unberührt. Sie ist nur durstig – Hunger fühlt sie keinen.
Jack betrachtet sie mit Wohlgefallen. »Auch eine Engländerin!« denkt er bei sich. »Wie schade, daß Mary der nicht etwas ähnlicher sieht.« Und wieder kommt ihm der Proletarierzorn darüber, daß diese Leute »alles für sich haben sollen, nicht nur ihre Stellung und physische Schönheit, sondern auch noch den sprühenden Lebensmut und diese bezaubernde Natürlichkeit, diese insolente Natürlichkeit von Menschen, die gänzlich damit zufrieden, wie Gott und das Leben sie gemacht, es als vollständig überflüssig ansehen, an sich herumzukünsteln.«
Jede Affektation wurzelt in einem Gefühl der Unsicherheit. Sie ist die Schminke, die der Mensch auflegt, weil ihm sein Teint nicht genügend schön vorkommt.
»Ich weiß alles!« ruft sie aus, indem sie ihn über den Rand ihrer Teetasse anblickt. »Alles, Bryan hat mir alles erzählt.« »Nun, was weißt du?« fragt in einen fast scherzenden Ton verfallend Jack.
»Daß du ruiniert bist, daß du keinen Heller mehr hast – you silly boy!«
»Oho!« wendete Jack hier ein, »da bist du falsch unterrichtet worden. Ich besitze noch immerhin ein jährliches Einkommen von dreihundert Pfund – und im übrigen Baugründe, die eines schönen Tages...«
»Eine Million abwerfen werden,« erklärte Lady Klara trocken, »wir kennen das – Baugründe oder Familienprozesse, das sind beides Fallen, die der Gewissenhaftigkeit eines Menschen gelegt werden, um ihn vor sich selbst zu entschuldigen, wenn er Lust hat, über seine Verhältnisse zu leben. Ich weiß etwas davon zu erzählen. Wenn meine Familie nicht auf Baugründe hin ausgegeben hätte, was sie nicht bezahlen konnte, so wäre ich jetzt nicht deine Schwägerin. Das hätte ich eigentlich nicht sagen sollen – es ist mir so entschlüpft, übrigens – hm! – dein Bruder kann ganz zufrieden sein, und seine Kinder werden sich ihrer Mutter nie zu schämen haben, Bryan braucht nichts zu bereuen. Die einzige, die etwas zu bereuen hat, bin ich. Ach!« – sie lehnt in ihrem niedrigen Sessel zurück und reibt sich mit ihren zarten Fäusten beide Augen – »Tücke des Schicksals! – Zwei Jahre nach meiner Hochzeit wurde der Wert der Baugründe realisiert – ein immenser Wert! Heutzutage wäre ich eine der besten Partien des Königreichs – heigho! – Nun, es muß auch so gut sein! Ich bin nicht hergekommen, um dir vorzulamentieren, sondern um dich zu trösten. Was willst du denn jetzt eigentlich anfangen?«
»Ich ... Klara ... ich habe meinen Plan. Wenn meine Geschäfte hier geordnet sind, will ich nach Paris – mich einschränken und die Malerei studieren,« erwiderte Jack.
»So!« Lady Klara lehnte die Arme auf den niedrigen Teetisch, der vor ihr stand, und sah Jack von unten hinauf mit Begeisterung an. »Das ist ein prachtvoller Einfall – du willst Künstler werden!«
Jack nickt, dann fügt er lächelnd hinzu: »Für den Fall, daß Bryan nicht findet, daß ich dadurch ein Verbrechen an der Ferrarsschen Familienrespektabilität begehe!«
»Ach, laß die Ferrarssche Hochachtlichkeit in Ruh! Ein Künstler – das ist herrlich. Du hast ja so viel Talent! Du weißt, die beiden Bilder meiner Kinder, die du voriges Jahr in Rotstift für mich gezeichnet, hab' ich mir einrahmen lassen. Sie hängen in meinem Schlafzimmer. Ein Maler! – Da kannst du ja kolossal viel Geld verdienen. Sir John Millais, sagt man, verdient zehntausend Pfund im Jahre!«
Wie die echte Frau, die sie ist, sieht Lady Klara nur ein glänzendes Ziel, ohne sich über die Länge des Weges zu demselben irgendwelche Gedanken zu machen. Das Problem der Zukunft ihres Schwagers ist für sie gelöst. »Ich bin froh, daß du dich zu etwas Vernünftigem entschlossen hast,« versichert sie. »Bryan faselte mir etwas davon vor, du solltest Mary Winter heiraten. Wie sollst du Mary Winter heiraten ... Unsinn! – Du kommst natürlich morgen zu Tisch?«
»Bryan hat mich ausgeladen, er sagte mir, ihr hättet ein paar Menschen, und euer Speisezimmer sei sehr eng!« erwidert Jack mit vollendetem Ernst.
»Ja, er hat mir auch etwas dergleichen vorerzählt,« sagt Lady Klara. »Ich hab' ihm darauf erklärt, daß, wenn er dich nicht einladet, ich das ganze Diner abbestelle. Da hast du's.«
»Aber Klara!«
»Komischerweise hat er dich eigentlich sehr gern, nur hat er leider zwei Dinge noch bedeutend lieber: sein Geld und die Ferrarssche Familienrespektabilität. Er wird sich sehr freuen, wenn du kommst. Komm übrigens, wann du willst, wir wollen dich noch ein wenig genießen, solang du in London bist. Und noch eins, Jack, Bryan meinte, du solltest deine Kunstschätze verkaufen. Er sagt, du verlangst für deinen Corot taufend Pfund. Ich weiß, er ist mehr wert, aber wenn du mir ihn um den Preis überlassen willst...«
Jack steigt das Blut bis in die Stirn hinauf.
»O du dummer Junge!« lacht Lady Klara ihn gutmütig aus, »das ist ja ein Geschäft, ein einfaches Geschäft.«
In diesem Augenblick steckt ein sehr blonder Dandy den Kopf zur Tür herein – Sir Charles Dearing.
»Awfully sorry,« ruft er, »aber – da bist du ja, Jack. Ich wollte Ihnen soeben mitteilen, daß ich den Bösewicht nirgend finden kann, Lady Klara.«
»Wenigstens haben Sie sich ein wenig Bewegung gemacht,« meint Lady Klara, indem sie sich erhebt. »Es wird spät, sehr spät, wir müssen fort.«
Sie treten aus dem Kasino hinaus in den Park. Er ist fast leer, nur hier und da begegnet man einem vierspännigen Drag, der in wirbelnder Hast dem Ausweg zueilt.
Lady Klara und Jack benutzen den Drag Sir Charles Dearings, um sich nach London zu begeben.
Es befinden sich noch andere Damen auf dem Drag, rings um Jack herum summen lustige Stimmen. Durch die jetzt dämpfend herabsinkende Dämmerung schimmert das regengenäßte Laub der alten Eschen von Hurlingham märchenhaft, die Blätter singen und rauschen.
Jack ist sehr still, er denkt nach. – Das ist auch England! Aber welch minimaler Teil von England! Und wenn man genau hinsähe, recht genau, so fände man auch hier Spuren von Cant – Cant, der tyrannischen Prüderie, die das englische Leben in Fesseln hält.
Vierzehn Tage später, am Abend vor seiner Abreise, sandte Jack Lady Klara seinen Corot zum Geschenk. Als er den nächsten Morgen eben im Begriff war, das Kupee zu besteigen, welches ihn nach Dover befördern sollte, erblickte er seine Schwägerin, ein rosiges, blondlockiges Kind an jeder Hand.
»Wir sind gekommen, um Onkel Jack adieu zu sagen und ihm Glück zu wünschen!« rief Lady Klara ihm zu.
Er küßte Mutter und Kinder tiefgerührt.
Er nahm den Eindruck von etwas Liebem, Reinem. Warmherzigem auf seine Reise mit. »Auch eine Engländerin!« murmelte er für sich, während der Zug sich mit ihm entfernte, und dann erinnerte er sich des Grußes, welchen Lord Byron an Miß Mercer hatte durch seinen Freund vermitteln lassen vor seinem berühmten Abschied von der Heimat.
»Sagen Sie Miß Mercer, daß, wenn ich das Glück gehabt hätte, eine Gattin zu besitzen, die ihr gleicht, es nie mit mir so weit gekommen wäre, wie es gekommen ist.«
Als er dann den Bord der »Invikta« bestiegen und nun die weißen, an ihren flachen Kämmen grün umsäumten Kreidefelsen von Alt-England in der Ferne verschwinden sah, nahm er die Parallele zwischen sich und Lord Byron von neuem, und zwar recht übermütig auf. Freilich würde er wahrscheinlich nie ein Pendant zu Childe Harold schreiben, und Gott sei Lob und Dank ließ er keine Lady Byron in der Heimat zurück.
Von Lady Byron schweiften seine Gedanken sofort ungebeten zu Mary Winter hinüber. Der Weg war weit.
»Poor little Mary,« murmelte er vor sich hin, wahrlich, die hatte keine Ähnlichkeit mit Lady Byron – nein, hm! – nein, und doch – irgend etwas Verwandtes war zwischen den beiden – und Mary und ihre Schwester Sarah in eine Person vereint, würden eine zweite Lady Byron abgeben, wie man sich selbe nur wünschen oder lieber nicht wünschen konnte – steif, musterhaft, tadellos und erbarmungslos, ehrgeizig hart, hoffärtig und ihren dereinst heißgeliebten Mann bis in das Grab hinein mit widerlichen Verleumdungen, zum mindesten schmutzigen Anschuldigungen verfolgend.
»Poor little Mary!« murmelte er noch einmal, indem er sich ihrer platten Unbedeutendheit erinnerte. »Hm! Wenn ich mir vorstelle, daß ich eine meiner beiden Kusinen heiraten sollte! – Brr! – Ich möchte lieber einen Igel streicheln als Sarah – und lieber als Mary streichelte ich – ja, was denn? – einen Frosch!«
Die Wellen begannen heftiger gegen die hölzernen Flanken des Schiffes anzuschlagen – ein leises Mißbehagen beschlich den jungen Mann. Um es zu überwinden, verfügte er sich in das Restaurationslokal und ließ sich ein Glas Kognak mit Selters geben.
Es war noch hell am Nachmittag, als er Paris erreichte und der Zug, der ihn von Calais der Hauptstadt entgegengeführt, mit einem gellenden Pfiff in der Gare du Nord hielt.
Ein Gefühl leichtsinniger Lebenslust hatte ihn überkommen. Während er von Calais durch das grau abgetönte und sich in ferne Goldnebel auflösende Grün der sich lang und flach hindehnenden Landschaft sauste, war's ihm zumute gewesen, als ob man ihm langsam eine schwere, atemhemmende Last von den Schultern zöge.
Leichtherzig wie seit langem nicht sprang der ruinierte Taugenichts aus dem Eisenbahnwagen auf den Asphalt der Gare du Nord. Instinktiv sah er sich nach seinem Faktotum um. »Clerk!« rief er etwas ärgerlich darüber, daß sich der Diener nicht sogleich zeigte. Dann lächelte er über sich selbst, indem er sich erinnerte, daß er ja Clerk mit verschiedenen anderen luxuriösen Bequemlichkeiten, mit seiner ganzen von materiellen Sorgen freien Verschwenderexistenz in England zurückgelassen habe. Ein geradezu komisches Gefühl ratloser Unbeholfenheit überkam ihn. Da eilte ein Mann in weißer Bluse und mit einem weit vorspringenden viereckigen Schirm an der Mütze auf. ihn zu; die Finger an die Mütze legend, sagte er: »Milor!«
Ihm freundlich zunickend, deutete Jack auf sein nicht sehr umfangreiches Handgepäck und trat, von dem Kommissionär gefolgt, in die Ankunftshalle.
Der große, sehr hohe Raum, in dessen schmutzig graue Eintönigkeit die verschiedenen Obst- und Bücherbuden einen lustig bunten Farbenklecks hineinmalten, heimelte ihn an. In den Fensternischen saßen wie sonst ein paar Französinnen mit krausen, weißen Häubchen und glatten Frisuren und plauderten lebhaft gestikulierend, und ein blinder Bettler blies auf einem Waldhorn die Marseillaise. Es war eigentlich nervenangreifend, aber Jack fand es reizend. Alles in ihm vibrierte vor Vergnügen, und dabei blieb sein Gesicht natürlich so vornehm ruhig, als es seine Landsleute nur irgendwie von ihm hätten wünschen können.
Der Kommissionär brachte das Handgepäck in einen offenen Wagen, in welchen Jack einstieg. Nachdem er dem Manne ein Trinkgeld gereicht, das den guten Franzosen einigermaßen zu überraschen schien, rief er dem Kutscher den Namen des Hotels zu, in dem er gewöhnlich abzusteigen pflegte: »Hotel Castiglione, Rue Castiglione.«
Erst als der Kommissionär die Frage an ihn richtete: »Milor hat kein großes Gepäck?« fiel's ihm ein, daß seine Ankunftsgeschäfte noch nicht alle besorgt wären.
Nachdem er seinen Gepäckschein, den er bis dahin nicht die Gewohnheit gehabt hatte selber aufzubewahren, sehr lange gesucht und endlich in seiner Westentasche gefunden hatte, übergab er ihn dem bereits leise in sich hineinlachenden Franzosen, und als dieser frug: »Will Milor auf das Gepäck warten?« da rief Jack ganz erstaunt über die Zumutung: »Kommen Sie damit nach ins Castiglione, und Sie, Kutscher, fahren zu.«
In dieser praktischen Art begann Jack sein neues Leben, welches ihm von nun an nicht mehr als dreihundert Pfund jährlich kosten durfte. Mit großem Behagen lehnte er sich in seinem schäbigen Fuhrwerk zurecht und ließ die Blicke über seine Umgebung schweifen. War das dieselbe Gotteswelt, die er vor kaum acht Stunden so gedrückt und gelangweilt verlassen? Ja, es mußte wohl dieselbe sein, oder jedenfalls ein Winkelchen derselben Welt – aber ein Winkelchen, dem ein günstiges Klima und die lustig sanguinische Körperbeschaffenheit seiner Bewohner wenigstens etwas von jener Lebensfreudigkeit bewahrt, die seine arme alte Tante Jane als den Weihrauch gepriesen, der Gott im Himmel am wohlgefälligsten sein müsse. Wie zitterte und fieberte das alles rings um Jack herum von Leben! – dem Plusschlag des Weltalls, dessen geringste, eigenmächtige, unkonventionelle Manifestation in seinem Vaterlande bei neun Zehntel von dessen Bewohnern als eine Sünde galt. Er blickte auf die hohen, von eisernen Balkonen umgürteten Häuser mit ihren großen, nahe beieinander stehenden Fenstern, welche die Mauern fast durchsichtig erscheinen ließen; die vielen großen Fenster verliehen den Häusern eine offenherzige Physiognomie, und über die eisernen Balkone wehten grüne Schlingpflanzen, überall regte sich das Leben und die Lebensfreudigkeit. Selbst aus den hoch in der Luft schwebenden Mansardenfensterchen blühten Blumen, Geranien und Nelken glühend rot.
Vor den Türen der Cafés aus den breiten Fußwegen saßen zahlreiche Familien von ehrlichen Bürgern, ungeniert ihre billigen, manchmal etwas allzu aufdringlich nach heißem Fett und Zwiebeln duftenden Speisen genießend.
Jack lächelte über ihre spitzigen und hastigen Bewegungen und konnte nicht umhin, sich zu gestehen, daß seine Landsleute, mit denen es ihm beliebte, sich augenblicklich auf den Kriegsfuß zu stellen, bis in die untersten Klassen hinein bedeutend vornehmer aussahen als diese Pariser Bourgeois–aber diese Bourgeois, unbefangen komisch, wie sie waren, schienen sich ihrer Existenz zu freuen–und wann konnte er das von seinen Landsleuten behaupten?
Der Wagen hielt mit einem etwas unvorsichtigen Ruck vor dem Hotel. Das Pferd glitschte aus, raffte sich aber sogleich wieder auf und spreizte nun seine steifen Vorderbeine etwas befremdlich weit auseinander. Ein Geruch von gebranntem Asphalt verband sich mit dem Duft frischer grüner Blätter. Man sah das buschige Laub des Tuileriengartens in der Perspektive der Rue Castiglione. Rechts und links von dem Hotel gleichen Namens blinkten glänzende Schaufenster voll allerhand reizender Sächelchen, meistens Nippsachen und altertümlicher Krimskrams, welcher auf geschmackvolle Müßiggänger lauerte. Zwischen verschiedenen Albernheiten, alten Schnallen, Straßknöpfen und falschen Nielen entdeckte Jack plötzlich eine kleine Emaildose mit einem Schäfer in einem blaugrünen Landschaftchen geschmückt, die er mit kundigem Auge als ein Meisterstück bezeichnete und, ohne sich's weiter zu überlegen, schnurstracks um einen sehr billigen Preis (so schien's ihm) kaufte Hierauf trat er in das gastlich weit offen stehende Tor des Hotels, in dem ihm der Wirt sofort entgegenkam, um ihm zu melden, daß das von »Monsieur« telegraphisch bestellte Zimmer bereitstände.
Man kannte ihn in diesem Hotel, ersparte ihm infolgedessen den Mylordstitel, welchen sonst seine Haltung sowie sein Gesichtsschnitt bei allen Franzosen untergeordneter Kategorie herausforderten.
»Wollte Monsieur sofort speisen oder wollte er sich erst in sein Zimmer hinaufbegeben, um sich zu »debarbouillieren«?«
Jack zog es vor, sich erst zu »debarbouillieren«, und folgte dem ihm geschäftig voraneilenden Wirt in ein für ihn bereitstehendes großes luftiges Zimmer.
»Monsieur hat diesmal seinen Kammerdiener nicht mitgebracht?« fragte der Wirt.
»Nein.«
»Nun, dann will ich jemand heraufschicken, der Monsieur behilflich ist,« sagte der Wirt, indem er sich mit einer höflichen Verbeugung zurückzog.
Jack wollte sich ohne Bedienung behelfen und sofort Ernst machen. Er schnallte seine Pakete auf, zerrte alles heraus, was darin war, konnte nichts finden und stand ratlos mitten in einem Chaos von ungeduldig durcheinandergeworfenen Effekten, als der Kellner eintrat und sich seiner Unbeholfenheit erbarmte. Denn unbeholfen war Jack–er merkte es zum erstenmal, und es ärgerte ihn, es war für den Lebensweg, welchen er von nun an zu gehen verurteilt war, eine sehr unbequeme Eigenschaft. Er hatte sich immer für praktisch gehalten und für abgehärtet, er war es auch, sobald Sportangelegenheiten in Betracht kamen. Wenn es galt, wußte er ein Pferd nicht nur zu satteln und zu zäumen, sondern auch es zu füttern und zu versorgen wie ein Stallknecht von Profession; er war unermüdlich auf der Jagd, scheute vor keinem schlechten Wetter noch vor irgendeiner anderen Unbequemlichkeit. Im gewöhnlichen Leben aber war er verweichlicht und verwöhnt wie ein zweijähriges Kind oder wie eine junge Dame aus gutem Hause.
Nachdem er sich gewaschen und umgekleidet, überließ er es der Barmherzigkeit des Kellners, seine Effekten in Ordnung zu bringen, und ehrlich hungrig ging er hinunter, um das Diner einzunehmen, welches im Speisesaal seiner harrte.
Das kleine Diner war, mit Berücksichtigung von Jacks im Castiglione längst bekannten Liebhabereien angerichtet, ausgezeichnet, der Tisch mit einer appetitlichen Reinlichkeit und Präzision gedeckt, wie sie nur Franzosen kennen. Jack sagte sich, daß er schon lange nicht so gut gegessen oder sich in so behaglicher Stimmung befunden, dennoch beschlich ihn langsam ein Gefühl, für das er anfänglich keinen Namen zu finden gewußt hätte. Das Heimweh war's nicht, etwas anderes–eine Sehnsucht nach warmer, menschlicher Teilnahme, ein Gefühl der Verlassenheit, der Vereinsamung, und als er etwas später in dem kleinen Höfchen mit seinen exotischen Topfgewächsen den Kaffee nahm, freute er sich, als ihm plötzlich der große schwarze Pudel des Hotels, ein alter Bekannter von ihm, den lockigen Kopf auf den Schoß legte und ihm die Hand leckte.
Nach dem Kaffee bummelte er erst ein wenig draußen unter den Bogengängen, welche die Rue Castiglione entlang laufen, dann wanderte er bis auf die Place de la Concorde hinaus. Die Wasser plätscherten eintönig in den schwarzen Becken. Links von Jack hoben sich weiße Standbilder ab, gespensterhaft hell, gegen den dunklen Hintergrund der Kastanienbäume in dem Tuileriengarten, rechts zog sich das Blättermeer der Champs Elysees, von allerhand glänzendem Blendwerk durchflimmert, feurigen Lichtarabesken jeder Art an den Fassaden der großen Cafés. Er trat bis an das Seineufer vor. Ein paar Dampfschiffe, groß, undeutlich, schattenhaft, nur von einer oder zwei rotbrennenden Laternen aufgehellt, lagen auf dem Wasser, das in seiner schwarz hinrollenden Rastlosigkeit den Abglanz der Sterne auffing und rauschend weitertrug, und drüben erhob sich das Paris der Rive gauche ebenfalls dunkel, großartig, ein endloses Gerage von hier und dort grell durchleuchteter Finsternis. Zu seinen Füßen rauschte die Seine, und aus der Ferne ertönte der heisere Lärm der Großstadt, und über das alles hin schwebte aus einem der Cafés der Champs Elysees, von leichtsinnigem Rhythmus getragen, eine traurige Walzermelodie. Ein geschminktes Frauenzimmer kam an ihm vorüber und lachte ihm zu. Ihm schauderte. Nein, so lustig, wie er es sich anfänglich gedacht, war Paris nicht. Aber wie viel Lebenspoesie, wie viel »süßer Schmerz der Existenz« mischte sich auch in diese immense Nachtschwermut!
In ihm regte sich der Wunsch, irgend etwas von dem Gebilde festzuhalten, es in seiner Weise wiederzugeben – die erste Unruhe des Künstlertriebes. Er hätte Worte finden mögen, es zu beschreiben, oder Farben, es zu malen. Und plötzlich verkleinerte sich die ihn umgebende Endlosigkeit, er sah nichts vor sich als ein paar große schwarze Baumsilhouetten am Seineufer, in weiter Ferne, und neben ihnen das dunkle Wasser mit dem Sternenlicht. Sah ein Bild...
Warum war das noch nicht gemalt worden? Ach, wenn er es versuchen könnte! Warum sollte er es nicht versuchen? Ein aufdringlicher Moschusduft wehte ihm entgegen – wieder eine von den Pariser Nachtschwärmerinnen, die sich ihm einschmeichelnd näherte, eine hübsche blondgefärbte Person mit starren, glasigen schwarzen Augen. Diesmal wendete er sich geradezu zornig von ihrer Zudringlichkeit ab. Er ging ein paar Schritte, in Gedanken an sein zukünftiges Bild vertieft, als er plötzlich vor Staunen und Bewunderung zusammenfuhr. Die Seine entlang kam ein junges Frauenzimmer, dürftig gekleidet, aber von königlicher Erscheinung. Eine hohe, biegsame Gestalt, ein Gesicht von zugleich aristokratischer Distinktion und antikem Stil, lange, dunkle Augen unter kräftig gezogenen, gegen die Schläfen zu zart auslaufenden Brauen, die Nase kurz und gerade, der Mund eher groß, aber von wunderbarer Schönheit, besonders die Oberlippe herrlich herausgemeißelt.
In ihrer ganzen Persönlichkeit bis zu dem leichten Schleier, den sie um den Kopf geknüpft trug, war ein Gemisch von Dürftigkeit und Vornehmheit, welches ihr einsames Dahinwandeln bei hereinbrechender Nacht doppelt zweideutig machte. Noch obendrein ging sie langsam. Ehe er sich selber Rechenschaft davon abzulegen imstande war, was er tat, wie von dem Magnetismus ihrer blassen Schönheit angezogen, trat er auf sie zu und sprach sie an. Sie fuhr zusammen und blieb stehen. Sie hatte nicht verstanden. Jack wiederholte seine Formel – die alte Formel, die, von Faust angefangen, jedem jungen Manne dazu gedient hat, ein Gespräch mit einem hübschen Frauenzimmer auf der Straße einzuleiten. Das zweitemal hatte sie begriffen. Sie zuckte zusammen, sah ihn an mit einem Blick, dessen zornige Verzweiflung ihm unvergeßlich bleiben sollte, dann schoß sie, ohne ihn auch nur einer Zurechtweisung gewürdigt zu haben, an ihm vorüber mitten in das Wagengewirr auf der Place de la Concorde hinein.
Ehe er sich dessen versah, war sie verschwunden.
Er stand noch ein Weilchen wie angewurzelt. Sein Blut pochte. Er ärgerte sich wütend über sich selbst, erstens weil er sich geirrt und dadurch – um sich seines eigenen Ausdrucks zu bedienen – bewiesen hatte, daß er ein Esel sei, und zweitens, weil er ein junges, schönes Mädchen, das ihn nach dieser schroffen Abweisung seiner Huldigungen nun von einem ganz anderen Standpunkte aus interessierte, verletzt hatte.
Er konnte ihren Blick nicht vergessen, ihren stolzen, empörten, traurigen Blick. Ihm war's, als ob ihre Augen zu ihm gesprochen hätten: »Was nützt es mir, daß ich so vornehm wie eine Königin aussehe, du wagst es doch, die Hand nach mir wie nach der ersten besten auszustrecken, nur weil ich ein dürftiges Kleid trage und allein ausgehen muß, mit einem Wort, weil ich arm bin und unbeschützt.«
Alles, was ritterlich und warmherzig in ihm war – und das war sehr viel –, bäumte sich in ihm auf bei dem Gedanken.
Er hätte ihr nachstürzen und ihr auf den Knien die Schmach abbitten wollen, die er ihr angetan.
Mit einem Wort, der exzentrische und heißblütige Jack hatte sich auf den ersten Blick in die schöne Unbekannte verliebt.
Aller Aussicht nach war er freilich dazu bestimmt, ins Leere hinaus zu lieben.
Ärgerlich sah er über die Place de la Concorde hinüber, wo sie verschwunden war. Wie ein Meer von wogenden Schatten, mit grellen Lichtstreifen und Flecken untermischt, breitete sich Paris vor ihm aus. In diesem verwirrenden Labyrinth ohne jeglichen Anhaltspunkt ein unbekanntes Frauenzimmer zu suchen, war Wahnsinn. Er trachtete sich seine Torheit auszureden und ging die laternendurchflimmerten Kastanienalleen entlang auf das erste beste Café chantant zu. An der Schwelle des Tempels leichtgeschürzter Musen wandte er sich um, die mißtönende Heiterkeit widerte ihn an. Er zeigte der »Horloge« den Rücken und ging einfach in sein Hotel zurück. Zum erstenmal fand er einen Pariser Abend lang, sehr lang, und um so länger, als ihm das Einschlafen schwer fiel.