Christian Friedrich Daniel Schubart
Zur Geschichte des menschlichen Herzens
Christian Friedrich Daniel Schubart

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Christian Friedrich Daniel Schubart

Zur Geschichte des menschlichen Herzens

Wann wir die Anekdoten lesen, womit wir von Zeit zu Zeit aus Engelland und Frankreich beschenkt werden, so sollte man glauben, daß es nur allein in diesen glücklichen Reichen Leute mit Leidenschaften gebe.

Von uns armen Teutschen liest man nie ein Anekdötchen, und aus dem Stillschweigen unserer Schriftsteller müssen die Ausländer schließen, daß wir uns nur maschinenmäßig bewegen und daß Essen, Trinken, Dummarbeiten und Schlafen den ganzen Kreis eines Teutschen ausmache, in welchem er so lange unsinnig herumläuft, bis er schwindlige niederstürzt und stirbt. Allein, wann man die Charaktere von seiner Nation abziehen will, so wird ein wenig mehr Freiheit erfordert, als wir arme Teutsche haben, wo jeder treffende Zug, der der Feder eines offenen Kopfes entwischt, uns den Weg unter die Gesellschaft der Züchtlinge eröffnen kann.

An Beispielen fehlt es uns gewiß nicht, und obgleich wegen der Regierungsform der Zustand eines Teutschen bloß passiv ist, so sind wir doch Menschen, die ihre Leidenschaften haben und handeln, so gut als ein Franzos' oder ein Brite.

Wann wir einmal teutsche Originalromanen und eine Sammlung teutscher Anekdoten haben, dann wird es den Philosophen leicht werden, den Nationalcharakter unserer Nation bis auf die feinsten Nuancen zu bestimmen. Hier ist ein Geschichtchen, das sich mitten unter uns zugetragen hat; und ich gebe es einem Genie preis, eine Komödie oder einen Roman daraus zu machen, wann er nur nicht aus Zaghaftigkeit die Szene in Spanien und Griechenland, sondern auf teutschen Grund und Boden eröffnet.

Ein B. Edelmann, der die Ruhe des Landes dem Lärm des Hofes vorzog, hatte zween Söhne von sehr ungleichem Charakter.

Wilhelm war fromm, wenigstens betete er, sooft man es haben wollte, war streng gegen sich selber und gegen andere, wann sie nicht gut handelten, war der gehorsamste Sohn seines Vaters, der emsigste Schüler seines Hofmeisters, der ein Zelot war und ein misanthropischer Verehrer der Ordnung und Ökonomie.

Carl hingegen war völlig das Gegenteil seines Bruders. Er war offen, ohne Verstellung, voll Feuer, lustig, zuweilen unfleißig, machte seinen Eltern und seinern Lehrer durch manchen jugendlichen Streich Verdruß und empfahl sich, durch nichts als durch seinen Kopf und sein Herz. Dieses machte ihn zwar zum Liebling des Hausgesindes und des ganzen Dorfes; seine Laster aber schwärzten ihn an in den Augen seines katonischen Bruders und seines zelotischen Lehrmeisters, der oft vor Unmut über Carls Mutwillen fast in der Galle erstickte.

Beede Brüder kamen auf das Gymnasium nach B., und ihr Charakter blieb sich gleich.

Wilhelm erhielt das Lob eines strengen Verehrers des Fleißes und der Tugend und Carl das Zeugnis eines leichtsinnigen, hüpfenden Jünglings.

Wilhelms strenge Sitten litten auch auf der Universität keine Abänderung; aber Carls heftiges Temperament ward vom Strom ergriffen und zu manchem Laster fortgerissen.

Er ward ein Anbeter der Kythere und ein Schüler des Anakreon. Wein und Liebe waren seine liebste Beschäftigung, und von den Wissenschaften nahm er nur so viel mit, als er flüchtig erhaschen konnte. Kurz, er war eine von den weichen Seelen, welche der Sinnlichkeit immer offenstehen und über jeden Anblick des Schönen in platonisches Entzücken geraten. Der strenge Wilhelm bestrafte ihn, schrieb seine Laster nach Hause und zog ihm Verweise und Drohungen zu. Aber Carl war noch zu flüchtig, wie eine Moral zu leben, und seine Verschwendung und übermäßige Gutheit gegen arme Studierende versenkte ihn in Schulden, die so hoch anschwollen, daß sie nicht mehr verborgen werden konnten. Darzu kam noch ein unglückliches Duell, das ihm die Gunst seines Vaters entzog und ihn in die Verlegenheit setzte, bei Nacht und Nebel die Akademie zu verlassen. Die ganze Welt lag nun offen vor ihm und kam ihm wie eine Einöde vor, wo er weder Unterhalt noch Ruhe fand.

Der Lärm der Trummel schreckte ihn von seinen Betrachtungen auf, und er folgte der Fahne des Mars. Er ward ein Preuße, und die Schnelligkeit, womit Friedrich sein Heer von einem Wunder zum andere fortriß, ließ ihm nicht Zeit, Betrachtungen über sich selber anzustellen. Carl tat immer brav und wurde in der Schlacht bei Freiberg verwundet. Er kam in ein Lazarett, ein Extrakt des menschlichen Elends schwebte hier immer vor seinen Augen. Das Ächzen der Kranken, das Röcheln der Sterbenden und der brennende Schmerz seiner eigenen Wunde zerrissen sein zärtliches Herz, und der Geist Carls richtete sich auf, sah mit ernstem Unmut auf seine Laster, verfluchte sie; und dieser Carl entschloß sich, tugendhaft und weise zu werden. Er hatte sich kaum etwas erholt, so schrieb er den zärtlichsten Brief an seinen Vater und bemühte sich, durch das offene Geständnis seiner Laster, durch das traurige Gemälde seines Unglücks, durchReue und ernste Gelübde die väterliche Vergebung zu erweinen. Umsonst! Der strenge Wilhelm unterschob seinen Brief, und Carl erhielt keine Antwort. Es ward Friede, und das Regiment, worunter Carl stund, wurde abgedankt. Ein neuer Donner in Carls Herz! Doch ohne sich lange der unbarmherzigen Welt zu überlassen, entschloß er sich zu arbeiten. Er vertauschte seine Montur mit einem Kittel und trat bei einem Bauren, anderthalb Stunden von dem Rittersitze seines Vaters, als Knecht in Dienste. Hier widmete er sich mit so vielem Fleiße dem Feldbau und der Ökonomie, daß er das Muster eines fleißigen Arbeiters war. In müßigen Stunden unterrichtete er die Kinder seines Bauren mit dem besten Erfolge. Sein gutes Herz und seine Geschicklichkeit machten ihn zum Lieblinge des ganzen Dorfes. ja, er wurde unter dem Namen des guten Hansen auch seinem Vater bekannt, mit welchem er oft unerkannt sprach und mit Beifall belohnt wurde. Einstmals war der gute Hans mit Holzfällen im Walde beschäftigst; plötzlich hörte er von ferne ein dumpfes Geräusch. Er schlich mit dem Holzbeile in der Hand hinzu und – welch ein Anblick! – sah seinen Vater von verlarvten Mördern aus der Kutsche gerissen, den Postillion im Blute liegen und bereits den Mordstahl auf der Brust seines Vaters blinken. Kindlicher Enthusiasmus entflammte jetzt unsem Carl. Er stürzte wütend unter die Mörder hinein, und sein Beil arbeitete mit so gutem Erfolge, daß er drei Mörder erlegte und den vierten gefangennahm. Er setzte hierauf den ohnmächtigen Vater in die Kutsche und fuhr mit ihm seinem Rittersitze zu.

«Wer ist mein Engel?» sagte der Vater, als er die Augen wieder aufschlug. «Kein Engel», erwiderte Hans, «sondern ein Mensch hat getan, was er als Mensch seinen Brüdern schuldig ist. » – «Welcher Edelmut unter einem Zwilchkittel! Aber sage mir, Hans, hast du die Mörder alle getötet?» – «Nein, gnädiger Herr, einer ist noch am Leben.» – «Laß ihn herkommen !» Der entlarvte Mörder kommt, stürzt zu den Füßen des Edelmanns nieder, fleht um Gnade und spricht schluchzend: «Ach, gnädiger Herr, nicht ich! ein anderer! Ach – dürft' ich hier ewig verstummen!» – «Ein anderer! So donnere den verfluchten andern heraus», sprach der Edelmann. «Wer ist dann der Mitschuldige dieses Mordes?» – «Ach, ich muß es sagen: der Junker Wilhelm. Sie lebten ihm zu lang, und er wollte sich auf diese verfluchte Weise in den Besitz Ihres Vermögens setzen. Ja, gnädiger Herr, Ihr Mörder ist Wilhelm.» – «Wilhelm?» sagte der Vater mit dumpfen Tone, schlug die Augen zu und blieb unempfindlich liegen. Hans blieb wie die Bildsäule des Entsetzens vor dem Bette seines Vaters stehen. Nach einigen Augenblicken dieser schrecklichen Unempfindlichkeit erhub der Vater die brechenden Augen und schrie im Tone der Verzweiflung: «Keinen Sohn mehr? Keinen Sohn mehr? – Ha, jene scheußliche Furie, mit Schlangen umwunden, ist mein Sohn – die Hölle nenne seinen Namen! Und jener Jüngling mit Rosenwangen und fühlendem Herzen ist mein Sohn Carl, ein Opfer seiner Leidenschaften – dem Elende preisgegeben! Lebt vielleicht nicht mehr!» – «Ja, er lebt noch», schrie Hans, dessen Empfindungen alle Dämme durchbrachen, «er lebt noch und krümmt sich hier vor den Füßen des besten Vaters. Ach, kennen Sie mich nicht? Meine Laster haben mich der Ehre beraubt, Ihr Sohn zu sein! Aber kann Reue, können Tränen ... » – hier sprang der Vater aus dem Bette, hob seinen Sohn von der Erde auf, schloß ihn in seine zitternden Arme, und beede verstummten. – Dies ist die Pause der heftigsten Leidenschaft, die den Lippen Schweigen gebietet, um die Redner des Herzens auftreten zu lassen. – «Mein Sohn, Mein Carl ist also mein Schutzengel», sagte der Vater, als er zu reden vermochte, und Tränen träufelten auf die braune Stime des Sohnes herab. «Schlag deine Augen auf, Carl! Sieh deinen Vater Freudentränen weinen.» – Aber Carl stammelte nichts als: «Bester Vater», und blieb an seinem Busen liegen. Nachdem der Sturm der Leidenschaften vorüber war, so erzählte Carl dem Vater seine Geschichte, und beede überließen sich alsdann der Freude, einander wiedergefunden zu haben. «Du bist mein Erbe», sagte der Vater, «und Wilhelm, diese Brut der Hölle, will ich heute noch dem Arme der Justiz überliefern.» – «Ach Vater», sagte hierauf Carl, indem er sich auf das neue zu den Füßen des Vaters warf, «vergeben Sie Ihrem Sohne! Vergeben Sie meinem Bruder!» – «O welche Güte des Herzens», rufte der entzückte Vater aus, «deinem Verleumder, der, wie ich erst kürzlich in seinem Schreibpulte fand, deine Briefe vor mir verbarg, diesem Ungeheuer, der in sein eigenes Blut wühlte, kannst du vergeben? Nein, das ist zuviel! Doch will ich den Bösewicht den Bissen seines Gewissens preisgeben! Er soll mir aus den Augen und seinen Unterhalt deiner Güte zu danken haben.» Carl kündigte seinem Bruder dieses Urteil mit den sanftmutigsten Ausdrücken an und machte ihm zugleich einen hinlänglichen Unterhalt aus. Wilhelm entfernte sich, ohne viel Reue zu äußern, und wohnte seit der Zeit in einer angesehenen Stadt, wo er und sein Hofmeister das Haupt einer Sekte sind, die man die Sekte der Zeloten heißt. Carl aber wohnet noch bei seinem Vater und ist die Freude seines Alters und die Wollust seiner künftigen Untertanen.

Diese Geschichte, die aus den glaubwürdigsten Zeugnissen zusammengeflossen ist, beweist, daß es auch teutsche Blifil und teutsche Jones gebe. Nur schade, daß die Anzahl der ersteren so groß unter uns ist, daß man die andern kaum bemerkt. Wann wird einmal der Philosoph auftreten, der sich in die Tiefen des menschlichen Herzens hitiabläßt, jeder Handlung bis zur Empfängnis nachspürt, jeden Winkelzug bemerkt und alsdann eine Geschichte des menschlichen Herzens schreibt, worin er das trügerische Inkarnat vom Antlitze des Heuchlers hinwegwischt und gegen ihn die Rechte des offenen Herzens behauptet!